Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Edwin ist plötzlich schwul - und das in seinem Alter! Robert heißt die neue Liebe. Und um Edwins Sohn Micha und den Rest der Familie kennenzulernen, lädt Robert alle an die Ostsee ein. Es könnte ein so schöner Urlaub sein - doch da verschwindet Edwins Enkel Niklas mitsamt seinem Mitschüler Jay, dessen Vater ausgerechnet Michas Chef ist. Für die bunte Reisegruppe beginnt eine Suche, die auf einen besonderen Campingplatz führt ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 315
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Weitere Romane von Benjamin Vahldiek sind im Engelsdorfer Verlag erschienen:
Das Geheimnis im Märchenpark
ISBN 978-3-96940-231-3 (Festeinband)
ISBN 978-3-96940-331-0 (Softcover)
Auch erhältlich als ungekürztes Hörbuch.
Rätselhafter Besuch im Märchenpark
ISBN 978-3-96940-395-2 (Festeinband)
ISBN 978-3-96940-394-5 (Softcover)
Ferien vom Märchenpark
ISBN 978-3-96940-493-5 (Festeinband)
ISBN 978-3-96940-494-2 (Softcover)
Chaos im Märchenpark
ISBN 978-3-96940-669-4 (Festeinband)
ISBN 978-3-96940-670-0 (Softcover)
Benjamin Vahldiek, Jahrgang 1980, lebt in Berlin und arbeitet dort als Lehrer. Neben seiner Märchenpark-Reihe hat er Texte für Anthologien verfasst.
www.benjaminvahldiek.com
instagram.com/benjaminvahldiek
tiktok.com/@benjaminvahldiek
facebook.com/ben.vahldiek
Edwin
pensionierter Lehrer
Robert
Edwins neuer Freund, Hotelier
Micha
Edwins Sohn
Niklas
Edwins Enkel, Michas Sohn
Trudi, Rudi
Edwins Eltern, Michas Großeltern
Mona
Michas Ex-Frau, Niklas' Mutter
Dörte
Monas Schwester
Colette
Michas aktuelle »Freundschaft Plus«
Stella
Roberts Tochter
Jonathan
Michas neuer Vorgesetzter
Sharon
Jonathans Frau
Jayden
Jonathans und Sharons Sohn
Willi
Camper
So eine Schnapsidee, ein Buch über seine Familie zu schreiben,
dachte Micha.
Drogen, Prügeleien und viel zu viele nackte Tatsachen!
Welcher Verlag hätte den Mut, es zu veröffentlichen?
Teil 1: Familienfreuden
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Teil 2: Gute Erholung!
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Teil 3: Der nackte Wahnsinn
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
»Heute sage ich es ihm.« Edwin wollte sich durch das Haar fahren, doch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er eine Glatze hatte. »Bist du noch da?« Er starrte auf das Display seines Smartphones.
»Wo sollte ich sonst sein?« Roberts Stimme klang heiser – wie immer, wenn er gerade erst aufgewacht war.
»Und warum reagierst du nicht?«
Robert gähnte so laut, dass Edwin das Telefon von seinem Ohr weghielt: Wenn er etwas hasste, war es hemmungsloses Gähnen – dicht gefolgt von durchgesuppten Sandalen, in denen hornhautverkrustete Füße steckten.
»Was soll ich machen?«, fragte Robert. »Schließlich verkündest du mir nicht das erste Mal, deinem Sohn offenbaren zu wollen, dass du nicht mehr auf Quarktaschen stehst.«
»Du bist ordinär!«
»Ich bin ehrlich. Und so müde, dass ich im Stehen einschlafen könnte, wenn ich nicht noch in der Falle liegen würde. Sofern dir nach einem Mann ist, der Goethe rezitiert, ruf mich nach meinem ersten Liter Kaffee zurück!«
Edwin grinste. »Ich mag dein Timbre am frühen Morgen.«
Robert unterdrückte ein erneutes Gähnen. Für das nächste Onlinemeeting mit New York sollte er eine Vertretung besorgen: Er musste nicht mehr überall mitmischen, schon gar nicht bei Konferenzen, die seinen Tag-Nacht-Rhythmus auf den Kopf stellten. »Mein Timbre … wie das klingt! Ich bin doch keine Operndiva, die Koloraturen schmettert!«
Nun musste Edwin lachen. »Ein Glück. Du hörst dich eher an wie ein unehelicher Sohn von Joe Cocker und Bonnie Tyler.«
Theatralisch seufzte Robert. »Ich bin zu alt, um deren Kind sein zu können.«
Edwin blinzelte: Das dort drüben musste Micha sein – sofern Edwin das ohne seine Brille, die er im Ultraschallreinigungsgerät liegen gelassen hatte, richtig beurteilen konnte. Innerlich fluchte er darüber, das monströse Maschinchen gerade heute mal wieder benutzt zu haben: Es nahm Platz weg, fraß Strom und konnte die Gläser auch nicht gründlicher putzen als er selbst. Doch manche Geschenke musste man in Ehren halten. Die von der verstorbenen Frau zum Beispiel, der Mutter seines Sohnes, der (darüber bestand inzwischen kein Zweifel mehr) auf Edwin zugelaufen kam. »Ich muss auflegen.«
»Falls du dich wirklich überwindest und dein Coming-out hast«, sagte Robert, »lade ich dich heute Abend ins La Cocotte ein.«
»Coming-out … ich bin keine sechzehn mehr! Micha lebt nicht hinterm Mond. Ich weiß, dass er nicht vom Stuhl kippt, wenn ich ihm ganz nüchtern sage, was los ist.« Edwin spürte ein Stechen in der Brust. Um ehrlich zu sein, hätte er nichts dagegen gehabt, die Sache beschwipst über die Bühne zu bringen.
»Leg eine andere Platte auf!« Robert machte ein Geräusch zwischen Schnaufen und Ächzen – wahrscheinlich quälte er sich gerade von seinem Matratzenlager hoch, um die Kaffeemaschine anzuschmeißen, noch bevor er aufs Klo ging. »Du wolltest es ihm bereits die letzten beiden Mittwochs sagen.«
»Mittwoche.«
»Hä?«
»Es heißt Mittwoche, nicht Mittwochs.«
»Kannst du dir vorstellen, wie anstrengend es ist, einen ehemaligen Deutschlehrer zum Mann zu haben?«, fragte Robert. »Besonders wenn man damals in der Schule für jeden Aufsatz eine Vier minus bekommen hat?«
»Armer schwarzer Kater!«
Robert schnurrte.
»Reserviere im Cocotte schon einmal den Tisch«, sagte Edwin zu Robert, während er Micha zuwinkte, »die Wette wirst du verlieren!«
»Wie würdest du dich verhalten, wenn dein Vater dir mitteilt, dass er schwul ist?«, fragte Robert.
Edwin verdrehte die Augen. »Du willst mir bloß Angst machen, um dich vor dem Abendessen zu drücken. Aber mein Entschluss steht und ich werde keinen Rückzieher machen!«
Als er antwortete, klang Robert ernst. »Ich möchte vermeiden, dass du enttäuscht bist. Du weißt, wie es bei Stella lief.«
»Dass du dich bei deiner Tochter geoutet hast, ist zwanzig Jahre her. Die Zeiten ändern sich.«
»Die Zeiten schon. Aber nicht die Menschen.« Es knarrte. Das musste die Tür des Küchenschranks gewesen sein, aus dem Robert gerade die Dose mit dem Kaffeepulver holte. »Rechne mit allem – auch mit dem Schlimmen! Ich liebe dich.« Er legte auf.
Edwin schürzte die Lippen. Beim besten Willen konnte er sich nicht vorstellen, dass Micha Ewigkeiten kein Sterbenswörtchen mehr mit ihm reden würde, so wie Stella es bei Robert getan hatte. Sein Sohn und er waren ein eingespieltes Team – in den tränenreichen Nächten, in denen Carmen das erste Mal im Krankenhaus war und Micha aus Angst, seine Mutter zu verlieren, kaum atmen konnte, hatte Edwin an seinem Bett gesessen, über seinen Rücken gestreichelt und ihm versichert, dass alles gut würde – auch wenn er selbst nicht daran glaubte. Als Micha Liebeskummer hatte, war Edwin es, der mit ihm spontan eine Woche zum Angeln gefahren war: »Wenn dir schon die Frau vom Haken springt, lass uns wenigstens ein paar Fische fangen!« Selbst als Michas Exfrau Mona – nachdem sie herausgefunden hatte, dass ihr Neuer Enrico zwar ein Hengst im Schlafzimmer, ansonsten aber eine Kanalratte war – sich plötzlich an Michas und ihren Sohn Niklas, Edwins Enkel, erinnerte und wieder öfter bei den Männern aufschlug, war das Team unzertrennlich.
Seit Edwin sich im Ruhestand befand, gehörte es zu einem lieb gewonnenen Ritual, dass die zwei sich im Café Singerl zum Frühstück trafen, bevor Micha ins Büro musste.
»Du siehst aus, als wolltest du beichten«, begrüßte Micha seinen Vater.
Wieder stach es in Edwins Brust. Jetzt oder nie! »Ach, beichten ist ein großes Wort. Aber ich muss dir wirklich etwas sagen, was ich schon längst hätte tun müssen.«
»Hat es Zeit, bis wir sitzen?« Micha umschloss den Türgriff: eine Brezel aus Messing, die man in den Achtzigerjahren noch am Eingang jeder zweiten Bäckerei fand, während sie heute eine Antiquität darstellte.
Eine Antiquität … so wie ich, dachte Edwin, doch sofort verdrängte er jeglichen Anflug von Alterslarmoyanz in den hintersten Winkel seines Hirns. »Natürlich hat es so lange noch Zeit«, entgegnete er – und murmelte in seinen Dreitagebart: »Es ist sogar besser, wenn du sitzt.«
»Bäh!« Micha verzog das Gesicht und schob die Tasse Kaffee über die fleckige Marmortischplatte zu Edwin. »Heute ist die Brühe noch schlimmer als sonst! Warum treffen wir uns immer hier? Gegenüber hat eine spitzen Espresso-Bar aufgemacht.«
Aus einem silbernen Kännchen goss Edwin Sahne in seinen Kaffee. »Dein Herr Vater ist in einem Alter, in dem er lieber auf gepolsterten Stühlen zwischen molligen Damen sitzt, die Schwarzwälder Kirschtorte in sich hineinschaufeln, als auf einem verchromten Barhocker zwischen Yuppis und Hippern.«
»Hipster meinst du.« Micha schüttelte sich. »Die schlafen um diese Zeit noch.« Er sah auf die Uhr. »Gut möglich, dass sie gerade erst ins Bett gegangen sind. Ehrlich Papa, beim nächsten Mal sollten wir …«
»Spare dir deinen Atem!« Edwin rührte um. »Mir ist ein altmodischer Filterkaffee oder eine Schokolade mit Sprühsahne lieber als ein Chai Latte mit linksgedrehtem Schaum aus Sojamilch und einem Bio-Keks aus Dinkelmehl dazu.«
Micha faltete die Hände. »Du enttäuschst mich.«
»Wieso?«
»Weil du vergessen hast, zu erwähnen, dass der Keks selbstverständlich glutenfrei ist.«
»Ich Hammel, wie konnte ich nur!« Als Edwin die Tasse anhob, ärgerte er sich darüber, dass seine Hand zitterte. »Wobei ein Dinkelkeks nahrhafter ist als die Buttercreme-Sünden, die hier serviert werden.«
Micha musterte die Vitrine, in der sich gemächlich die Torten drehten, als führen sie auf der Kirmes Karussell. Am frühen Morgen war die Auswahl noch üppig, doch spätestens zum Nachmittag, wenn die Rentnerhorden den Laden stürmten, würde sie minütlich schrumpfen. Die Cholesterinwerte der Stammkundschaft mussten für jeden Arzt Anlass sein, um ein ernstes Gespräch über ungesunden Lebenswandel zu führen!
»Außerdem wird man hier in Ruhe gelassen«, ergänzte Edwin. »Keine Dauerbeschallung mit Musik, kein Personal, das einen ständig fragt, ob man noch etwas möchte – womöglich noch in Englisch, um sich global zu geben …«
»Das ist mir letztens passiert«, sagte Micha. »Ich war mit Viet und Ulli in dem Café am Opernplatz und der Kellner hat konsequent englisch mit uns geredet – und das mit dem breitesten bayrischen Dialekt, den du dir vorstellen kannst.«
Lachend widmeten die beiden sich ihrem Frühstück, das Kellnerin Rosi gerade vor ihnen abgestellt hatte.
»Was macht Niklas?«, fragte Edwin nach einer Weile.
Micha stöhnte. »Er pubertiert.«
»Ist er nicht nervös? Immerhin wird er nächste Woche sechzehn.«
»Warum sollte er nervös sein?«
»Ich dachte, dass er vielleicht groß feiert. Mit erster Bowle. Musik. Mädchen.«
»Papa, du hörst dich viermal älter an, als du bist!«
Wie aufs Stichwort spürte Edwin neben dem Bruststechen ein weiteres im Kreuz. »Ist das uncool, ja? Macht die heutige Ju - gend etwas anderes, um den Kick zu kriegen?«
»Keine Ahnung.« Micha griff in den Brotkorb und nahm sich ein Mehrkornbrötchen. »Aber definitiv uncool sind Männer, die steil auf die Siebzig zugehen und sich darin abmühen, cool zu reden.«
Edwin schaute sich um. »Meinst du mich?«
Micha nickte zu den einzigen beiden anderen Gästen neben dem verschnörkelten Garderobenständer: zwei dauergewellte Ladys mit riesigen Hüten, die sich ein Sektfrühstück gönnten und ausgelassen tratschten. »Sofern die beiden Grazien sich dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlen, bleibst lediglich du übrig, den ich meinen könnte.«
Edwin wollte etwas erwidern, doch Micha redete weiter.
»Niklas feiert bloß mit der Familie, aber nicht mit der halben Schule.« Dieses Mal stöhnte Micha nicht nur, sondern seufzte herzerweichend. »Du weißt doch, ein gutes Buch zieht er jedem Sozialkontakt vor. Besonders jetzt.«
»Jetzt?«
Micha, der gerade dabei war, Butter auf eine der Brötchenhälften zu schmieren, hielt inne und blickte Edwin fest in die Augen. »Du hast es vergessen.«
»Natürlich habe ich das nicht!«, log Edwin und dachte fieberhaft nach, was sein Sohn meine konnte. »Es ist …« Er hustete.
Micha machte eine abwehrende Geste. »Gut, dass du nie zur Bühne gegangen bist! Deine Schauspielfähigkeiten sind noch schlechter als die von diesem Schnösel, der den Oberarzt in der Kurpfalzklinik spielt! Aber ich helfe deinem verrosteten Hirn auf die Sprünge: Was war am Elften dieses Monats vor zig Jahren?« Micha zog die Stirn in Falten. »Wie viele Jahre sind es jetzt eigentlich genau?«
Edwins Augen weiteten sich. »Tut mir leid, mein Lieber, für einen Moment ist es mir wirklich entfallen.«
»Du wirkst fahrig heute früh.« Micha musterte Edwin wie ein Wissenschaftler, der feststellen wollte, ob das Versuchskaninchen bunte Flecken auf dem Fell bekommen hatte, nachdem ihm das Testmedikament verabreicht worden war. »Sicherlich hängt es damit zusammen, dass du mir vorhin dringend etwas sagen wolltest – und nun eine Frage nach der anderen stellst, um nicht mit der Sprache herausrücken zu müssen.«
»Wie praktisch, wenn ich eine Diagnose brauche, gehe ich nicht mehr zu Frau Doktor Schlotz, sondern zu meinem Sohn.« Edwin lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ich meine es ernst, ich hätte daran denken sollen, dass Niklas mies drauf ist, wenn der Tag der Scheidung zwischen dir und Mona näherrückt.«
»Ich meine es auch ernst.« Micha legte eine Scheibe Käse auf eine Hälfte des Brötchens. »Du wolltest mir vorhin etwas Wichtiges mitteilen. Also Schluss mit dem Ablenkungsmanöver und raus mit der Sprache!«
Edwin nahm einen kräftigen Schluck Kaffee und trommelte mit den Fingerkuppen auf der Tischplatte. »Ich bin verliebt.«
Micha, der gerade abbeißen wollte, ließ das Brötchen sinken. »Jetzt noch?«
»Noch bin ich nicht mumifiziert!« Tadelnd schüttelte Edwin den Kopf. »Und wenn ich dich daran erinnern darf: Mit über vierzig gehört man auch nicht mehr zur Generation Snowflake!«
Micha führte das Brötchen wieder zum Mund. Er biss so energisch zu, als wäre es lebendig und er müsste ihm die Kehle mit den Zähnen durchtrennen, um es zu erlegen. »Mer mid mie Mümime?«, fragte er kauend.
Edwin beugte sich vor. »Wie bitte?«
Micha schluckte. »Wer ist die Glückliche?«, wiederholte er.
Längst hatte sich Edwins Herz in einen rödelnden Vorschlaghammer verwandelt. Er rieb sich die Schläfen, atmete ein. »Nicht die Glückliche. Der Glückliche!«
»Der Glückliche?« Micha starrte seinen Vater an, als habe dieser ihm verraten, die Behauptung, man könne die Chinesische Mauer vom Mond aus sehen, sei nichts weiter als ein Mythos.
Edwin schwieg.
Ohne seinen Blick von Edwin zu lösen, löffelte Micha Konfitüre auf die andere Brötchenhälfte: die, auf die er kurz zuvor bereits drei Scheiben Salami gelegt hatte. »Meinst du damit …? Heißt das etwa …?« Entgeistert biss er ab, woraufhin sich sein Gesicht zu einer Fratze verzog. Micha spuckte den Wurst-Mar - melade-Unfall in die Papierserviette. »In deinem Alter!«
Edwin hob die Augenbraue. »Was hat das denn damit zu tun?«
»Wenn man so alt ist wie du, kommt es öfter vor, eine neue Hüfte zu erhalten, als die sexuelle Präferenz zu wechseln.«
»So alt wie ich? Unverschämt! Kannst du es noch abwarten oder willst du mich direkt erschlagen, um mich endlich begraben zu können?«
Micha zog die Tasse mit dem vorhin noch verschmähten Kaffee wieder zu sich und trank. Offensichtlich musste er den Nachgeschmack des Brötchens mit dem Spezialbelag loswerden. »Ich meine doch nur …«
»Ich bin im Ruhestand, mein Sohn! Mein Leben lang habe ich meinen Hintern in Lehrerkonferenzen plattgesessen und mir von Kolleginnen mit Zimtlatschen und Betroffenheitsvisagen aberwitzige Hypothesen darüber anhören dürfen, warum Lisa-Marie aus dem Erdkunde-Leistungskurs Drogen nimmt und dass Mehmet nur deshalb sein Abitur nicht geschafft hat, weil er die halbe Nacht am Zocken ist.« Edwin holte Luft und bemühte sich, leiser zu sprechen – die Hutladys schielten bereits neugierig hinüber. »Ich habe mindestens hundert Kartons Rotstifte aufgebraucht, drei Millionen Elternsprechtage ertragen und zehn Liter Tränen getrocknet. Und ganz nebenbei einen Sohn großgezogen … was mir, wie ich finde, außerordentlich gelungen ist.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Micha.
»Ist das so schwer zu begreifen?« Edwin schüttelte den Kopf. »Ruhestand heißt, ich kann endlich das machen, was ich will! UND STERBEN GEHÖRT NICHT DAZU!«
»Bravo, mein Herr!« Die Lady mit dem cremefarbenen Hut klatschte in die Hände, als säße sie – zu viel Kirschlikör intus – in der ersten Reihe eines Konzerts von André Rieu und seinen bumsfidelen Musikern, während die Lady mit der neckischen Kopfbedeckung in Altrosa das Sektglas hob und Edwin zuprostete.
Edwin rang sich ein Lächeln ab, dann wandte er sich wieder an Micha und starrte ihm in die Augen.
»Das ist es, was du willst?« Seit er nicht mehr rauchte, hatte Micha nie so stark das Verlangen nach einer Zigarette verspürt wie gerade eben. »Zusammen sein mit … mit einem … einem Typen?«
»Nicht mit einem Typen. Ich möchte mit Robert zusammen sein!« Edwin wischte sich über die nasse Stirn. »Und ich möchte, dass du ihn kennenlernst.«
»Robert …« Fahrig stocherte Micha mit der Gabel in seinem Obstsalat herum. »Oder soll ich Papa zu ihm sagen?«
»Sei nicht kindisch!«
Micha schob eine Weintraube an den Rand des Schälchens. »Entschuldige. Ihr habt mich nicht so erzogen, dass ich intolerant bin.« Er schob weiter; die Weintraube landete auf der Tischplatte und bildete zusammen mit dem fleckigen Marmor - muster ein trauriges Stillleben. »Es ist nur … als ich heute aus dem Haus gegangen bin, hatte ich nicht damit gerechnet, dass mein Vater plötzlich schwul ist.«
Edwin musste grinsen. »Wie du weißt, bin ich immer für eine Überraschung gut.«
Micha sammelte die Weintraube ein und ließ sie in seinem Mund verschwinden. »Ich hatte keine Ahnung. Nichts bemerkt habe ich … in all den Jahren.«
Aus Edwins Grinsen wurde ein Lachen, dass die Ladys erneut lange Hälse machten. »Meinst du, mir geht es anders?«
»Dass diejenigen, die es betrifft, oft selbst nichts mitbekommen, ist nachvollziehbar. Das hat was mit Verdrängung zu tun – aus Angst vor der Wahrheit.« Micha piekste ein Stück Ananas auf. »Dein Enkel kann dir mehr dazu erzählen: Niklas steckt seine Nase ständig in diese Psychologie-Zeitschriften.« Er kräuselte den Mund, nachdem er das Ananasstückchen probiert hatte. »Aus der Dose, ich hab's geahnt!« Schwer schluckend ergänzte er: »Du hättest mir wenigstens ein Zeichen geben können, Papa!«
»Was meinst du?«, fragte Edwin. »Ich bedaure, dass ich nicht mit meiner Federboa und den Regenbogensocken zu unserem Treffen gekommen bin!«
»Mit deiner Federboa? Hast du etwa eine?«
Edwin verschränkte die Arme über dem Bauch. »Ich finde sie leider nicht mehr … sie müsste irgendwo zwischen den Perücken, den Paillettenkleidern und dem Lederharnisch liegen. Nicht zu vergessen: die Dildosammlung in allen Formen und Farben.«
»Hör auf zu spinnen!«, sagte Micha.
»Wer hat denn angefangen? Nur weil ich mich in jemanden verliebt habe, der dem gleichen Geschlecht angehört, heißt das längst nicht, dass ich mich in eine Fummeltrine verwandele, damit auch die letzte Gehirn-Amöbe kapiert, was los ist!«
»Das habe ich nie behauptet!« Micha knetete seinen Nacken. »Wo hast du Rainer kennengelernt?«
»Robert!«
»Meinetwegen! War es … in einer Bar?«
Entgeistert blickte Edwin Micha an. »Wie gut kennen wir uns?«
»Bis vorhin hätte ich dies einfach beantworten können«, entgegnete Micha. »Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher.«
Edwin winkte ab. »Ich gehe in keine Bars mehr, weil man dann viel zu spät ins Bett kommt. Das weißt du genau!«
»Weiß ich das?« Micha knetete heftiger. »Ich meinte auch zu wissen, dass du auf Frauen stehst. Aber diese Information hat sich als obsolet herausgestellt.«
»Falls es dich tröstet«, sagte Edwin, »ich weiß es selbst noch nicht lange.«
»Aber Mama …«, Micha wagte kaum, weiterzureden, »Mama hast du doch geliebt, oder?«
Edwin nickte. »So heftig, dass es wehtat.«
Während er Kellnerin Rosi heranwinkte, fragte Micha: »Ich brauche mir also keine grauen Haare darüber wachsen zu lassen, dass du ein kreuzunglückliches Doppelleben geführt hast und deine Existenz auf einer Lüge aufgebaut ist?«
Edwin stöhnte. »Was für Kitschfilme siehst du dir an?«
Micha zuckte die Schultern. »Ich habe an der Kinokasse zu oft meine Begleiterinnen entscheiden lassen.«
»Vernünftig so!« Rosi hatte sich vor den beiden aufgebaut und hielt sich den Rücken. »Wenn mein Alter die Fernbedienung in die Hand bekommt, kann ich mir den ganzen Abend ansehen, wie Cowboys durch die Wüste reiten und sich gegenseitig den Hut vom Kopf schießen. Null Sinn für Romantik, der grobschlächtige Kerl!«
»Geht es ihm wieder besser?«, fragte Edwin.
Rosi nestelte an der Schleife ihrer tadellos weißen Schürze. »Er raucht wie ein Schlot – so erkältet, wie er behauptet, kann er gar nicht sein.« Sie stierte zum Stuck an der Zimmerdecke. »Wird Zeit, dass mein Egon wieder auf der Baustelle malocht! Ich renne mir hier die Hacken ab, schenke jedem Gast ein extra breites Grinsen – und statt Trinkgeld krieg ich Beschwerden, dass der Kaffee nicht schmeckt!«
Micha zog den Kopf ein – das mit dem miesen Kaffee sollte er heute lieber nicht ansprechen. »Ja, ja, man hat's nicht leicht«, sagte er stattdessen. »Bringst du uns was zur Verdauung, Rosi?«
»Um diese Zeit?« Verdutzt sah Rosi auf die Uhr, die über der Theke hing. »Geht mich ja nix an. Die einen rauchen, die anderen saufen. Und manche tun beides.« Damit machte sie kehrt und wackelte ächzend zurück.
»Warum besuchen wir dieses Café noch gleich?«, fragte Micha Edwin und zeigte auf den Obstsalat. »Wegen der guten Qualität der Speisen oder wegen der reizenden Bedienung?«
Mit dem Kopf deutete Edwin dezent in Richtung der Hutladys. »Wegen der erotischen Gäste.«
Verbittert lachte Micha auf. »Was du unter Erotik verstehst, dürfte in diesem Etablissement nicht zu finden sein.« Er zwirbelte an seinem Bärtchen. »Womit wir wieder beim Thema wären: Wo hast du ihn kennengelernt?«
»Als ich den Führerschein gemacht habe.«
»Den Führerschein? Willst du mich verarschen?«
Edwin lächelte Rosi an, die auf einem Tablett zwei bis zum Rand gefüllte Schnapsgläser balancierte und sie mit einem »Wohlsein!« servierte. Als sie außer Hörweite war, antwortete er: »Keineswegs möchte ich dich zum Narren halten, werter Sohn, auch wenn du es etwas … bürgerlicher ausgedrückt hast.«
»Es muss nicht alles Goethe sein, was man spricht!«
Edwin erinnerte sich an das Telefonat, das er vorhin mit Robert geführt hatte. »Das habe ich heute so ähnlich schon einmal gehört.«
Mit dem Zeigefinger kreiste Micha über den Rand des Schnapsglases. »Dann ist er also eine alte Jugendliebe von dir? Hast du es dir nie eingestehen können oder …«
»Wovon sprichst du?«, fragte Edwin.
Micha legte den Kopf schräg. »Verdammt, du hast den Führerschein bekommen, als du noch nicht einmal Mama kanntest!«
Lachfalten bildeten sich um Edwins Augen. »Ich meine nicht den PKW-Schein, du naives Hascherl! Ich rede vom Internet-Führerschein, den ich an der Volkshochschule gemacht habe.«
»Ach, ich erinnere mich! Das war im letzten Sommer, direkt nach deiner Pensionierung: Senioren entdecken das WWW. Und da hast du Norbert kennengelernt?«
»Robert!« Edwin schnalzte mit der Zunge. »Den dämlichen Kursnamen merkst du dir, aber nicht, wie mein Freund heißt.«
»Dein F...« Micha nippte am Schnapsglas. »Daran muss ich mich erst gewöhnen.«
»Robert ist viel besser mit dem Internet als ich. Aber er kann schlecht abschalten. Deshalb hat er nebenan einen Meditationskurs besucht. Irgendwann sind wir ins Gespräch gekommen.«
Micha kippte nach. Er schüttelte sich, als der Schnaps seine Kehle hinunterlief. »Man kann dich keine drei Sekunden unbeaufsichtigt vor die Tür lassen! Die VHS ist ein Sündenpfuhl!«
Edwin hob sein Glas. »Wer war es denn, der mir damit in den Ohren lag, dass ich mich mit der digitalen Welt vertraut machen muss?«
»Mein Rat liegt mindestens zehn Jahre zurück!«
»Vorher hatte ich keine Zeit, mich damit zu beschäftigen.«
»Jetzt, wo du kein Lehrer mehr bist, brauchst du auch nicht damit anzufangen! Deine Schüler wären garantiert froh gewesen, wenn sie dir ihre Hausaufgaben in die Cloud hätten hochladen können!«
Edwin ließ das Glas wieder sinken. »Schnickschnack! Ob sie die Hausaufgaben in Papierform oder digital nicht gemacht haben, ist einerlei!«
Michas Nasenflügel bebten. »Mit dir zu diskutieren oder mit einem Meerschweinchen in der Zoohandlung zu sprechen – das Ergebnis ist dasselbe.«
»Muss ich mir das gefallen lassen?«, fragte Edwin.
»Heute schon.« Micha prostete Edwin zu. »Auf die Liebe, Papa!«
»Wenn du dich jetzt nicht auf den Weg machst, wirst du zu spät ins Büro kommen«, sagte Edwin mit Blick auf seine Armbanduhr.
Micha machte einen Rundrücken und stützte die Ellbogen auf seinen Oberschenkeln auf. »Ich will nicht. Außerdem ist mir dein Geständnis auf den Magen geschlagen.«
»Bist du sicher, dass es nicht der zweite Schnaps war?«
Micha richtete sich wieder auf. »Was würde Mama wohl dazu sagen, dass du dich in einen Mann verguckt hast?«
Edwins Blick wurde glasig. »Sie hätte mir alles Glück dieser Welt gewünscht.«
»Das tue ich auch!«, sagte Micha. »Aber ein starkes Stück ist es trotzdem. Dass ich so denke, darfst du mir nicht verübeln!«
»Mein Sohn, ich nehme dir nie etwas übel.« Edwin lächelte. »Übrigens habe ich die Grabschale mit Steinkraut bepflanzt, das hatte deine Mutter besonders gern.«
»Das ist aber noch nicht lang her, oder? Als ich das letzte Mal auf dem Friedhof gewesen bin, war davon nichts zu sehen.«
»Hab es vor sechs Wochen getan.«
Micha schoss das Blut in den Kopf. »Dann sollte ich Mama wohl wieder besuchen.«
Edwin beschloss, das Thema zu wechseln, um nicht sentimental zu werden. »Wer kommt alles am Samstag?«
»Zu Niklas' Geburtstag?« Micha kniff die Augen zusammen. »Dörte und Dietmar, Trudi und Rudi. Und natürlich Madame Nimm.«
»Ich wünschte, du würdest nicht so von deiner Ex sprechen. Immerhin habt ihr einen gemeinsamen Sohn!«
»Der bei mir wohnt, weil seine Frau Mama Wert auf persönlichen Freiraum legt!« Micha zog an seinem Finger, bis er knackte. »Madame Nimm ist ein sehr treffender Name: Schließlich hat sie mich geplündert wie einen Weihnachtsbaum.«
»Sie hatte den besseren Scheidungsanwalt, das ist alles.«
Micha schnaufte. »Schnee von gestern.«
»Genau deshalb solltest du sie nicht mehr so nennen.«
»Ist recht, gestrenger Herr Vater!«
»Und deine Freundin?«, fragte Edwin. »Wie heißt sie noch gleich?«
»Colette ist nicht meine Freundin! Sie ist eine Freundin.«
»Hmm …« Edwin spielte an seiner Unterlippe. »Aber ihr macht doch … das eine …«
»Woher weißt du das denn?«
»Niklas hat sich bei mir beschwert«, antwortete Edwin. »Ihr seid nicht gerade leise – er hört euch bis ins Kinderzimmer.«
»Kinderzimmer, ha!« Micha zuckte, als die junge Frau mit geflochtenem Zopf, die gerade das Café betreten hatte, den Stuhl von ihrem Tisch wegzog, dass ein quietschend-knarziges Geräusch ertönte, welches niemand genau beschreiben konnte, obwohl es jeder kannte. »Bald ist der Wurm volljährig.«
»Ist Krokett also deine Freundin oder nicht?«
»Colette, Papa!« Micha hatte die Fersen angehoben, sodass nur noch die Zehen Bodenhaftung hatten, und wippte auf und ab. Er sah aus, als wäre er dazu verdonnert worden, einem schnarchigen Vortrag zu lauschen, obwohl er dringend pinkeln musste. »Hast du mal etwas von Freundschaft Plus gehört?«
Edwins Mundwinkel fuhren zwei Etagen abwärts. »Ich bin nur mit Sechzig Plus vertraut.«
Micha wechselte auf die Fersen, von dort zurück auf die Zehenspitzen, um direkt wieder auf die Fersen umzusteigen. »Colette und ich schlafen miteinander, sind uns aber zu nichts verpflichtet.« Fersen, Spitzen, Fersen, Spitzen – wie ein Turniertänzer, der seine Choreografie noch einmal durchging, bevor er sich in den Glitzerfummel schmiss, um vor die Jury zu treten. »Den ganzen Beziehungsblödsinn ersparen wir uns. Colette hat ihre Arbeit und den Sport um die Ohren – und ich habe zurzeit auch keinen Nerv auf was Festes!«
Edwins Mundwinkel stiegen wieder eine Etage auf – allen Anschein nach blieb ihm eine weitere von Michas Frauengeschichten erspart. »Also kommt sie nicht zum Geburtstag?«
Micha stoppte seine Fußübung. »Samstags ist sie beim Zumba.«
»Ich frage erst gar nicht, was das schon wieder für ein Schweinkram ist.«
»Turnen!«
Kritisch prüfte Edwin die prall gespannte Knopfleiste von Michas Hemd. »Turnen täte dir auch nicht schaden! Als ich in deinem Alter war …«
»Als du in meinem Alter warst, hat Vasco da Gama gerade den Seeweg nach Indien entdeckt.«
»Gehört es sich, so mit dem eigenen Vater zu sprechen?«
»Nur wenn er einen bevormundet!« Micha zog sein Handy aus der Tasche, das gerade einen Signalton von sich gegeben hatte. »Wenn man vom Teufel spricht! Colette hat eine Nachricht geschickt: Zumba fällt aus, sie feiert den Geburtstag mit.«
Edwins Mund fuhr in die Ausgangsposition zurück und formte sich dort zu einem dünnen Strich.
»Was ist?«, fragte Micha.
»Bist du wirklich sicher, dass ihr keine Beziehung führt?«
»Papa, lass das! Was ist los mit dir? Normalerweise reitest du doch auf einem völlig anderem Thema herum.«
»Nämlich?«
»Tu nicht so unschuldig! Jede Frau, die ich dir bisher vorgestellt habe, ist angeblich viel zu jung für mich – und du wirst nicht müde, mir das in schöner Regelmäßigkeit aufs Butterbrot zu schmieren!«
Edwin brummte. »Ich habe beschlossen, mich darüber nicht mehr aufzuregen. Du änderst dein Beuteschema sowieso nicht.«
»Im Gegensatz zu dir!«
Mit der flachen Hand haute Edwin auf den Tisch. »Hör auf zu sticheln! Sag mir lieber, wie Colette in Wirklichkeit heißt. Niklas hat mir gesteckt, dass das nur ihr Pseudonym sei.«
»Donnerwetter.« Micha nickte anerkennend. »Der Junge bekommt mehr mit, als ich dachte.« Er schlug die Beine übereinander und führte seine Fußtanznummer fort, indem er den linken Fuß in einem Tempo kreiseln ließ, als müsste er einen dar - um gelegten Miniatur-Hula-Hoop-Reifen in Bewegung halten. »Von mir hast du es nicht: Colette heißt eigentlich Geilana.«
Edwin stierte ins Nichts. »Wenn mich nicht alles täuscht, hieß die Ehefrau des fränkischen Herzogs Gosbert so.«
»Ich glaube nicht, dass das außer dir Inselbegabtem jemand weiß.« Micha zog die Brauen hoch. »Doch! Colettes Eltern wussten das bestimmt! Aber die breite Masse denkt, Geilana ist der Name einer Pornodarstellerin: Geilana, die wilde Amazone.«
Edwin kicherte wie ein Schuljunge, der in der großen Pause einen versauten Witz auf die Toilettenwand kritzelte. »Das ist nicht von der Hand zu weisen. Dann doch lieber Colette! Auch wenn dieser Name ebenfalls alles außer gewöhnlich ist.«
Heftig nickte Micha. »Sie schwärmt für diese französische Schauspielerin Colette Le Monde.« Er rümpfte die Nase. »Gut, dass sie nicht Lady Gaga zum Vorbild hat.«
»Ist das auch eine Schauspielerin?«, fragte Edwin.
»Nur ab und zu. Für gewöhnlich singt sie.«
Edwin riss den Finger in die Höhe, als wäre die große Pause längst vorbei und er wollte auf die Frage der Lehrerin antworten. »Hat die nicht letztens in der Show vom Florian Silbereisen mit Helene Fischer ein Duett gesungen? Ich meine den Auftritt, wo die Fischer in dem Ring hing und dann von dieser Gaga mit Feuerbällen beschossen wurde, bis ihr Haar in Flammen stand.«
»Das kannst du schön googeln«, sagte Micha. »Es soll sich schließlich bezahlt machen, dass du den Internet-Führerschein gemacht hast. Apropos bezahlen: Jetzt muss ich wirklich flitzen.« Aus der Innentasche des Sakkos zog Micha sein Portemonnaie und öffnete den Druckknopf. »Wenn du schlau bist, Papa: Heirate ihn nicht, diesen Robert! Das kann böse enden.«
»Ich staune! Du hast dir seinen Namen gemerkt.« Edwin machte eine abwehrende Geste. »Steck dein Geld ein! Wer von seiner Ex ausgenommen wurde, dass es nicht einmal für passende Hemden langt, muss seine Kröten zusammenhalten.«
Micha grinste. »Ich bin gespannt, ob Robert wirklich so toll ist, wie du mir erzählt hast. Dass er Hotels besitzt, ist mir jedenfalls sehr sympathisch!«
Edwin wischte sich einen Brotkrumen ab, der vom Frühstück übriggeblieben war und bisher unbemerkt an seinem Pullover gehangen hatte. »Träumst du von ewigem Gratisurlaub?«
Micha stand auf. »Was wären wir ohne Träume?« Er griff seine Aktentasche, hielt kurz inne und sagte dann: »Bring Robert mit am Samstag!«
Edwin wurde blass um die Nase. »Auf keinen Fall! Samstag geht es um meinen Enkel, nicht um meine Beziehung!«
»Du kennst Niklas. Er wird nichts dagegen haben, wenn nicht alle Augenpaare auf ihn gerichtet sind, im Gegenteil!«
»Und was werden Dörte und Dietmar sagen?«
Michas Augen funkelten. »Monas liebreizende Schwester wird einen Herzinfarkt bekommen und der Schwabbelschwager wird ins Bad rennen, um sich zu übergeben.«
»Warum habe ich den Eindruck, dass es dir eher darum geht, die lieben Verwandten zu ärgern, als Robert kennenzulernen?«
»Beides kann man verbinden. Außerdem bin ich seit meiner Scheidung weder mit Dörte noch mit Dietmar verwandt.«
»Da wären immer noch Trudi und Rudi«, sagte Edwin.
»Willst du deinen eigenen Eltern nicht den Mann vorstellen, mit dem du deine Zukunft verbringen möchtest?«, fragte Micha.
»Wenn ich das wüsste! Sie gehen auf die Hundert zu. Sollte ich ihnen wirklich einen derartigen Schock verpassen?«
Micha nickte den Hutladys und Rosi zu, dann strich er Edwin über die Glatze. »Du musst selbst entscheiden. Robert ist jedenfalls willkommen!« Damit eilte er aus dem Café und hätte beinah einen zaundünnen älteren Herrn über den Haufen gerannt, der gerade zur Tür mit der Brezelklinke hereinkam.
Durch die Fensterscheibe starrte Edwin seinem Sohn selbst dann noch hinterher, als er nicht mehr zu sehen war.
»Es ist ein Jammer!«
Edwin schreckte aus seinen Gedanken hoch.
Mit der Getränkekarte fächelte sich die Lady, die den rosafarbenen Hut trug, Luft zu. Als sie Edwin breit angrinste, entblößte sie einen Goldzahn. »Die nettesten Männer sind schwul.«
Die zweite Lady rülpste mit geschlossenem Mund, dass ihr Busenberg sich hob und wieder senkte. »Wir können uns noch so hübsch machen. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen.«
Wie einstudiert seufzten beide gleichzeitig lang und laut.
»Einen schönen Tag, die Damen!« Edwin eilte zum Tresen, beglich in Windeseile die Rechnung und stürzte nach draußen. Er brauchte dringend frische Luft.
»Schau endlich, dass du aus deinem Zimmer kommst!« Micha knallte die Kühlschranktür so energisch zu, dass zwei der daran befestigten Magnete – die saxophonspielende Zucchini und der Brokkoli mit getigertem Lendenschurz – zu Boden fielen. »Ich mache das Brimborium schließlich nur wegen dir!«
Niklas legte den Controller seiner Spielkonsole aufs Bett, die er von Micha zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und schlurfte in die Küche. »Es heißt deinetwegen. Oder sind wir in einer Pöbel-Talkshow?«
Micha goss die aus dem Seitenfach genommene Milch in ein Kännchen. »Das wird sich zeigen. Je nachdem, wie die Familie drauf ist.« Mit einem Schwamm wischte er verschüttete Tropfen von der Arbeitsfläche. »Hör wenigstens heute damit auf, mich ständig zu verbessern!«
»Warum?«, fragte Niklas.
»Weil diese ehrenvolle Aufgabe Deutschlehrer a. D. Edwin übernimmt. Und das reicht mir. Ihr braucht nicht als Klugschei-ßer-Doppelpack aufzutreten.«
Gähnend ließ Niklas sich auf den Küchenstuhl sinken. »Meinst du wirklich, Opa wird darauf achten, was du sagst? Bestimmt ist er viel zu nervös, weil sein Lover mitkommt.«
Mit einer Handbewegung scheuchte Micha Niklas hoch und gab ihm zu verstehen, dass er die Teller ins Wohnzimmer tragen sollte. »Im Gegensatz zu dir Grünschnabel ist dein Opa Edwin keine sechzehn mehr!«, rief er Niklas hinterher. »Das ist nicht die erste Liebelei, die er anschleppt!«
Niklas kam zurück. »In gewisser Weise schon. Einen Kerl hat er noch nie angeschleppt.«
»Fang nicht wieder damit an!«
»Ich auf keinen Fall! Aber für Tante Dörte und Onkel Dietmar verbürge ich mich nicht.«
Micha reichte Niklas das Tablett mit den aufeinandergestapelten Tassen. »Sie sind nun mal in dieser Freikirche.«
Das Tablett fest an seinen Oberkörper gepresst stand Niklas da, als sei er eine Puppe im Schaufenster eines Porzellanladens. »Und das entschuldigt homophobes Verhalten?«
Micha faltete die Hände wie zum Gebet. »Tu mir den Gefallen und reize sie nicht.«
»Hast du das gerade wirklich gesagt?« Niklas stellte das Tablett auf dem Küchentisch ab. »Ich fasse zusammen: Kurz bevor er stirbt, erlebt mein Opa seinen zweiten Frühling …«
Micha prustete los. »Seinen zweiten Frühling – wie köstlich! Das dürften inzwischen einige Frühlinge mehr gewesen sein!«
»Na schön.« Niklas steckte sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Dass Opa jemanden kennengelernt hat, ist also nichts Neues. Aber dass es sich dabei um jemanden mit einem Pimmel handelt, dürfte eine interessante Variante der altbekannten Geschichte sein, korrekt?«
Micha – viel zu fasziniert von Niklas' Rede, als dass er daran dachte, ihn für den Igitt-Begriff zu tadeln – nickte.
»Und im Angesicht der Tatsache«, fuhr Niklas fort, »dass Opa und sein Freund sich an einen Tisch mit Trockenpflaume Dörte und ihrem polternden Dietmar setzen, fällt dir nichts Intelligenteres ein, als zu sagen, dass sie so widerlich daherschwätzen, weil sie gläubig sind? Das finde ich richtig scheiße von dir!«
Micha runzelte die Stirn – Pimmel, Trockenpflaume und nun auch noch Scheiße … das war zu viel, da musste er als Vorzeigevater intervenieren. »Ich dachte, das hier sei eine anspruchsvolle Talkshow und nicht RTL zwei!«
»Lenk nicht ab!«
Micha seufzte. »Ich meine, weil sie religiös sind, könnte sie Opas schwule Phase …«
»Schwule Phase! Es wird immer absurder!« Niklas blickte durch Micha hindurch. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ziehe ich die richtigen Schlüsse, dass Homophobie okay ist, wenn man die Bibel auswendig runterbeten kann?«
»Die Mitglieder von Dörtes und Dietmars Kirche sind drei Zacken schärfer drauf als der Otto-Normal-Gläubige! Es wäre keine Überraschung für mich, wenn dort noch Konversionstherapien stattfinden.« Micha schnappte sich das Tablett und raste ins Wohnzimmer. »Und dreh mir nicht das Wort im Mund um! Ich wollte dir bloß zu verstehen geben, dass laut Bibel der Beischlaf zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen eine Sünde ist.«
Niklas wieselte Micha hinterher. »Erstens ist fraglich, ob Opa in seinem Alter überhaupt noch Sex hat.«
Micha bekam einen Hustenanfall, dass er beinahe das Tablett fallen ließ. »Bitte erspare mir zweitens!«
Niklas hörte ihn gar nicht. »Und zweitens steht in der Bibel noch allerhand anderer Kram, der nicht mit der heutigen Zeit kompatibel ist! Glaubst du allen Ernstes, Inzest und Mord lassen sich in irgendeiner Weise entschuldigen? Oder dass du morgen einer Schlange begegnest, die dir einen Apfel aufschwatzt, um dich aus dem Paradies zu jagen?«
»Welches Paradies?« Micha setzte das Tablett ab und fiel auf die Couch. »Noch ein Wort und ich bekomme mein Magendrücken!«
»Ich bin schon still.« Niklas begann damit, den Tisch einzudecken. Nachher musste er dringend googeln, was diese Konversionstherapie war – etwas Gutes konnte es bestimmt nicht sein! »Aber wenn …«
»KEIN ABER!« Micha vergrub sein Gesicht in den Handflächen.
»ABER WENN die Heilige Dörte oder ihr Göttergatte etwas gegen Opa sagen, werde ich ihn verteidigen!«
Zwischen den gespreizten Fingern linste Micha seinen Sohn an. »Tu das, Geburtstagskind, tu das! Wenn es dein Wunsch ist.«
»Es ist nicht mein Wunsch, es ist meine Pflicht!« Niklas faltete Servietten zu Dreiecken. »Man kann schließlich an den Herrn samt Humbug glauben, ohne derart am Karussell zu drehen wie die zwei Verstrahlten. Mama ist der lebende Beweis!«
»Madame Nimm hat andere Macken.«
Niklas setzte sich auf die Lehne der Couch, auf der Micha lag. »Wie blass du bist. Man könnte meinen, das Jüngste Gericht klingelt gleich bei uns und begehrt Einlass.«
Micha massierte seine Stirn, dass er aussah wie ein qualgezüchteter Faltenhund. »Welch eine vortreffliche Metapher!«
Niklas legte die Hand auf Michas Knie. »Wenn ich mich beherrsche, Dörte und Dietmar nicht anzuspringen, sobald sie einen Fuß über die Schwelle gemacht haben, musst du mir versprechen, nett zu Mama zu sein.«
Micha richtete sich auf. »Ich bin immer nett zu Madame … verzeih, zu deiner Mutter.«
»Ist klar.« Niklas grinste. »Und du hast die DVD-Box von Baywatch