Paradoxa über Politik und Theater - Susanne Schmieden - kostenlos E-Book

Paradoxa über Politik und Theater E-Book

Susanne Schmieden

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Beschreibung

Paradoxa als »Gegenmeinungen« sind zentrales Gestaltungsmerkmal der Texte von Denis Diderot und Bertolt Brecht. Beide gehören nicht nur zu den bekanntesten Theaterdichtern, sondern sind auch politische Autoren. Dies zeigt sich sowohl in der Wahl ihrer Themen als auch in ihrer Formsprache. Susanne Schmiedens ausführliche Lektüre ausgewählter Texte im Zusammenspiel mit zeitgenössischen theoretischen Diskursen demonstriert, dass Theater, Wissenschaft und Demokratie gleichermaßen Gegenmeinungen als ihre Möglichkeitsbedingung betrachten müssen. Für eine demokratische Gesellschaft gilt, diese nicht nur zuzulassen, sondern zum gemeinsamen Tanz aufzufordern.

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Susanne Schmieden, geb. 1986, hat in Luzern im Rahmen eines SNF-Forschungsprojekts von Christine Abbt im Fach Philosophie promoviert. Zuvor studierte sie in Tübingen und Zürich Germanistik, Komparatistik und Philosophie und übte verschiedene Tätigkeiten im Verlagswesen, beim Theater und im Wissenschaftsmanagement aus. Sie hat u.a. in der Zeitschrift Forum Modernes Theater und in Studia Philosophica. Schweizerische Zeitschrift für Philosophie publiziert.

Susanne Schmieden

Paradoxa über Politik und Theater

Zur Bedeutung der Gegenmeinung bei Denis Diderot und Bertolt Brecht

Die Open-Access-Ausgabe wird publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

Doktortitel im Jahr 2020 vergeben von der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Erstgutachterin: Prof. Dr. Christine Abbt (bis Herbstsemester 2019 SNF-Förderungsprofessorin für Philosophie an der Universität Luzern, nun Professorin für Politische Philosophie an der Universität Graz) Zweitgutachter: Prof. Dr. Nikolaus Müller-Schöll (Professor für Theaterwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a. M.)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext:https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld © Susanne Schmieden

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Umschlagabbildung: Foto 76929761 Tyler Olson | Dreamstime.com, Foto 75662108 Tyler Olson | Dreamstime.com

Korrektorat: Dr. Anette Nagel, CONTEXTA Lektorat Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5963-4 PDF-ISBN 978-3-8394-5963-8 EPUB-ISBN 978-3-7328-5963-4 https://doi.org/10.14361/9783839459638 Buchreihen-ISSN: 2700-3922 Buchreihen-eISSN: 2747-3198

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

I.Vorbemerkung

II.Diderots Paradoxa

II.1Das Paradox über den Schauspieler als Drama der Nicht-Identität

II.1.1Das Paradox und der Zuschauer

II.1.2Nicht-Identität als Bedingung von Gleichheit

II.1.3Vom großen Schauspieler zum emanzipierten Zuschauer: Großzügigkeit statt Ressentiment

II.1.4Sklavischer Charakter? Zur politischen Ambivalenz der Analogie von Schauspieler und Sklave

II.2Rameaus Neffe als Antithese zum Paradox über den Schauspieler

II.2.1Verkörperungen zeitgenössischer ›ökonomischer‹ Imperative?

II.2.2Der Neffe und seine vermeintlichen Doppelgänger

II.3Wie denken Sie darüber? Diderot und die Illusionen der anderen

II.3.1Exkurs: Walter Lippmann und die Bilder in unseren Köpfen

II.3.2Rousseau als Gegenspieler Diderots: Theatergegner und Bildermacher

II.4Zwischenfazit: Apologien der Gegenmeinung

III.1937: Dialektik im Stillstand

III.1Verfremdung als Historisierung und Sprachkritik als Erkenntnistheorie

III.2Diderot-Gesellschaft und Thaeter

III.3Exkurs: Ein kurzer Blick auf W. Lippmanns Gesellschaft freier Menschen

IV.Brechts Widersprüche

IV.1Mann ist Mann und das Theater (jenseits) des Politischen

IV.1.1Galy Gays überhörtes Nein

IV.1.2Das (Nicht)Nein(SagenKönnen) als ›Dialektik im Stillstand‹ oder: Vom ›Hören der Stimme des Freundes‹

IV.1.3›Dividuum‹ und Zitierbarkeit …

IV.1.4Notwendiges Postscriptum: Aktualität

IV.2Der Messingkauf: Paradoxa ohne/über Zuschauer

IV.2.1Der Schauspieler, die Einfühlung und der Widerspruch: Ein Echo aus Diderots Paradox

IV.2.2Die ›Theatralik des Faschismus‹ als dunkelste Seite der Einfühlung

IV.3Ein anderes Drama der Nicht-Identität: Die Flüchtlingsgespräche

IV.3.1Pornographie oder die Kunst der (Selbst)Zensur

IV.3.2(K)ein Theater. Nirgends

V.Schluss

Literaturverzeichnis

Verwendete Textausgaben

Literatur zu Diderot und/oder Brecht

Weitere Literatur und Quellen

Danksagungen

Für L. und ihre Generation

Wenn also der Schauspieler der alten Bühne als »Komödiant« bisweilen in die Nachbarschaft des Pfarrers geriet, so findet er sich im epischen Theater an der Seite des Philosophen.1

In welchen Begriffen sollte man die formal ungreifbare Differenz bestimmen, welche die positive Seite von der negativen trennt, den authentischen Gesellschaftsvertrag von einem für immer pervertierten Theater? von einer theatralischen Gesellschaft?2

O Freunde, Demokraten …3

1Walter Benjamin: »Was ist das epische Theater? Erste Fassung«, in: ders.: Versuche über Brecht, hg. und mit einem Nachwort von Rolf Tiedemann, S. 7-21. Hier S. 19.

2Jacques Derrida: Grammatologie, übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a.M. 1983, S. 524. (Hervorh. i. O.)

3Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, übers. von Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M. 2002, S. 409.

I.Vorbemerkung

Den Ausgangspunkt dieser Arbeit bilden zwei zentrale Texte: Denis Diderots Paradox über den Schauspieler (geschrieben um 1769, erstmals erschienen 1830) und Bertolt Brechts Lustspiel Mann ist Mann (vornehmlich in der ersten Fassung von 1926).1 Beide Texte, so die Ausgangsbeobachtung, weisen eine inhaltliche wie formale Radikalität in Bezug auf die Frage von personaler ›Identität‹ respektive ›Nicht-Identität‹ auf, die sich mit Philippe Lacoue-Labarthe unter die Formel eines ›Subjekts ohne Subjekt‹ bringen lässt und – so die Arbeitshypothese – trotz der verschiedenen historischen Kontexte auch und gerade heute von nicht nur philosophischem, sondern auch politischem Interesse ist. In beiden Fällen taucht dieses ›Subjekt ohne Subjekt‹ oder ›Dividuum‹ in der Sphäre des Theaters, mithin als Schauspieler (Comédien) auf. Insofern befindet es sich immer schon im Bereich des Erscheinens, der Darstellung, der Sprache, und nicht in dem des ›Seins‹ oder der unmittelbaren Präsenz. Grob verkürzt befindet es sich also in einem Bühnenraum, und zwar gemeinsam mit anderen, nicht in einem Vakuum begrifflicher Abstraktionen. Die Frage nach der Darstellung des Materials, das dieser Arbeit zugrunde gelegt wird, ist darum in besonderem Maße diffizil.

Der Aufbau der Arbeit folgt der Logik der Gegenstände, der Fragen, die an diese herangetragen werden, sowie jener Fragen, die sich im Verlaufe der Arbeit hinzugesellen. Mit Brecht gesprochen, der 1937 eine Diderot-Gesellschaft2 gründen wollte, die jedoch nie verwirklicht worden ist, lässt sich das Vorgehen somit als ›induktiv‹ bezeichnen:

Die Gesellschaft für induktives Theater [d. i. die Diderot-Gesellschaft, S. Sch.] ist sich bewußt (realizes), daß das Interesse an einer realistischen, d.h. die Realität meisternden (die Realität erlaubenden) Darstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen, an einer Darstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen, welche dieses Zusammenleben erleichtern kann, indem es dasselbe produktiv gestaltet, kein allgemeines ist.3

In dieser Programmatik der geplanten Diderot-Gesellschaft wird ein weiterer für diese Arbeit wichtiger Punkt genannt: Die Beschäftigung mit dem ›Subjekt ohne Subjekt‹, wie es in unterschiedlicher Weise bei Diderot und Brecht auftaucht, ist kein Selbstzweck, keine rein philosophische, philologische oder ästhetische Fragestellung, sondern berührt unweigerlich Fragen nach dem ›gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen‹, wie Brecht es ausdrückt, das heißt, sie berührt das Soziale und das Politische – wie auch immer diese Kategorien konkret definiert werden.

Die Auswahl der zitierten, diskutierten und in die jeweiligen Fragestellungen einbezogenen Texte und Autoren folgt dabei vornehmlich drei Kriterien, nämlich erstens Relevanz (für die hier konkret verhandelten Fragen), zweitens Qualität (in der jeweiligen Sache) und drittens Aktualität (nicht im Sinne der neuesten Publikationen, sondern im Sinne eines tatsächlichen, möglicherweise auch nicht allgemeinen Interesses für unsere Gegenwart). Dies bedeutet im Umkehrschluss notwendigerweise auch, dass mitunter Texte, Namen, Theorien und Bezüge fehlen mögen, die es für ein wirklich umfassendes Bild noch in den Blick zu nehmen gälte. So gesehen handelt es sich um einen Bau von Lücken, dessen Umrisse jedoch trotzdem erkennbar und dessen Ergebnisse keine bloße Wiederholung des anderswo schon Gesagten sein sollten, sondern im besten Falle mithilfe des bereits anderweitig Erarbeiteten andere mögliche Pfade aufzeigen sollten, die dann, vielleicht, weitergegangen werden können.

Erwähnung finden muss hier auch die Tatsache, dass in der vorliegenden Arbeit zumeist keine gendergerechte Sprache Verwendung findet, soll heißen, dass in aller Regel etwa von ›dem Schauspieler‹ (dieser kommt besonders prominent vor) die Rede ist, und zwar aus dem einfachen Grund, weil dies den Diskurs der behandelten Texte abbildet. Dem entspricht keinerlei wie auch immer geartetes Bekenntnis, es ist lediglich der Versuch, die Sache angemessen darzustellen. Eine durchgängige Angleichung an den heute eher üblichen Sprachgebrauch käme in diesem Fall einer Verfälschung des Gegenstandes oder doch zumindest einer nicht sachdienlichen Verwirrung der Leserin gleich. Diese ist somit dazu aufgefordert, je nach Kontext selbst zu entscheiden, ob im jeweiligen Fall beide Geschlechter gemeint sind oder nicht.

Zugleich soll jedoch nicht unterschlagen werden, dass in jüngster Zeit Judith Butler eine Verbindung zwischen Benjamins Brecht-Lektüre, also insbesondere der Bedeutung der ›Geste‹ und dem ›Zitat‹ im ›epischen Theater‹, und ihrer Theorie der Genderperformativität herzustellen versucht.4 Wir werden auf diesen Text in den Kapiteln zu Brecht explizit eingehen und unser Fazit an ihren Überlegungen orientieren.

Zuletzt soll keineswegs verschleiert werden, dass jeder Text unweigerlich Spuren seiner Entstehungsbedingungen mit sich führt, im Positiven wie im Negativen. Das betrifft in erster Linie die Verfasserin selbst: Kein Text, auch kein wissenschaftlicher, kann für sich in Anspruch nehmen, gänzlich ›neutral‹ oder ›objektiv‹ zu sein. Jedes Sprechen ist perspektivisch. In zweiter Linie betrifft dies, grob zusammengefasst, gesellschaftliche und institutionelle Rahmenbedingungen oder das Dispositiv: Kein Text, auch kein philosophischer, kann gänzlich unabhängig sein von jenen ›Sachzwängen‹, die zum Zeitpunkt seiner Entstehung geherrscht haben und die meist erst mit einer genügenden Distanz erkannt und angemessen beurteilt werden können.

Diese letzten Bemerkungen mögen dem einen oder der anderen trivial erscheinen, doch scheinen sie zum Zeitpunkt der letzten Überarbeitung dieses Manuskripts – nämlich im Frühjahr 2021 – mehr denn je wieder notwendig geworden zu sein: »Wir schließen nicht, sondern brechen ab. Sie können, meine Damen und Herren, diese Betrachtungen mit Hilfe jeder guten Buchhandlung fortsetzen, gründlicher aber ohne diese.«5

1Die vorliegende Arbeit ist als Dissertation im Rahmen der SNF-Förderungsprofessur »Fremd- und Vieltun. Zur Verwirklichung demokratischer Freiheit in Formen des Nicht-Identischen« (2015-2019) von Prof. Dr. Christine Abbt an der Universität Luzern entstanden. Der ursprüngliche Titel lautete: »Para-Doxa über Theater. Erscheinungsweisen des Nicht-Identischen bei Denis Diderot und Bertolt Brecht«.

2Vgl. zu diesen Plänen Reinhold Grimm: »Nachwort«, in: Denis Diderot: Paradox über den Schauspieler, übers. von Katharina Scheinfuß und mit einem Nachwort von Reinhold Grimm, Frankfurt a.M. 1964, S. 71-79. Wir beziehen uns im Folgenden durchgängig auf diese Übersetzung. Eine weitere deutsche Übersetzung liegt vor von Felix Rellstab: vgl. Denis Diderot: Paradox über den Schauspieler, übers. und eingeführt von Felix Rellstab, Wädenswil 1981.

3Bertolt Brecht: »Brief an Max (Mordecai) Gorelik, Svendborg, Datierung von Margarete Steffin: 19. März 1937«, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe in 30 Bänden, Briefe 2, Bd. 29, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller, Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1998, S. 24. (Im Folgenden werden alle aus dieser Werkausgabe zitierten Texte folgendermaßen nachgewiesen: GBFA Bandnummer, Seitenzahl.)

4Vgl. Judith Butler: Wenn die Geste zum Ereignis wird, übers. von Anna Wieder und Sergej Seitz, Wien 2019, S. 39: »Meines Erachtens durchzieht die Geste, als ein zitathafter Akt, den Bereich der Sprache und der Performanz. Darüber hinaus denke ich, dass der Doppelsinn des Performativen nicht nur für das Verständnis der Dynamik der Genderperformativität wichtig ist, sondern auch für das Verständnis der Geste, insofern diese sowohl ein Zitat als auch ein Ereignis darstellt und als eine kritische Praxis konzipiert werden kann, die sich gemeinhin akzeptierten Formen der Gewalt entgegenstellt.«

5Walter Benjamin: »Bert Brecht«, in: ders.: Versuche über Brecht, S. 9-16. Hier S. 16. Es bleibt an dieser Stelle zu hoffen, dass dies in Zukunft (wieder) uneingeschränkt möglich sein wird und gute Buchhandlungen, öffentliche Bibliotheken sowie andere Räume öffentlicher Bildung, insbesondere die Universitäten, nicht über kurz oder lang verschwinden werden.

II.Diderots Paradoxa

Denis Diderots Paradox über den Schauspieler, das erstmals 1830 postum erschienen ist, steht im Kontext der Debatte um die sensibilité, also der Einfühlung als Grundfrage der französischen Schauspieltheorie des 18. Jahrhunderts.1 Man kann es lesen »als Analyse der Arbeit des Schauspielers, als philosophische Theorie der natürlichen Gefühle und ihrer theatralischen Darstellung, als Vorschlag einer Theaterreform«2 und, so wäre hinzuzufügen, auch als theory in subjection3.

Anhand paradigmatischer Texte, die entweder in direktem oder aber in indirektem Bezug zu der im Paradox über den Schauspieler dargestellten ›Subjekttheorie‹ stehen, wird Diderots Text im Folgenden zunächst einer mehrfachen Lektüre mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung unterzogen. Dabei – und auch in der vorliegenden Arbeit insgesamt – geht es weniger um Vollständigkeit in Bezug auf die bereits vorhandenen Stimmen zum Paradox (oder den anderen Texten) und den damit in Beziehung tretenden Texten als vielmehr um eine bewusste Konzentration auf diejenigen Positionen, die für die übergeordnete Fragestellung, nämlich für diejenige nach dem Verhältnis von (Nicht)Identität, Theater und Subjektivität, von herausragender Relevanz sind, wobei jene Begriffe im Verlauf der Arbeit selbst erst definiert werden, eben anhand der ausgewählten Texte und Lektüren, also ›induktiv‹.4 Der besondere Reiz dieser Vorgehensweise besteht nicht zuletzt darin, auch scheinbar weit voneinander entfernte Autoren und Gedanken miteinander in Beziehung, mithin in einen Dialog zu bringen.

Der hier im Mittelpunkt stehende und als Dialog angelegte Text, an dem Diderot insgesamt über zehn Jahre gearbeitet hat, ist aus einer Auftragsarbeit hervorgegangen. 1769 sollte er eine Rezension der französischen Übersetzung des Buches Garrick ou les acteurs anglais von Antonio Sticotti verfassen. Das Buch wiederum geht auf ein Gastspiel des englischen Schauspielers David Garrick zurück, das dieser fünf Jahre zuvor in Paris gegeben hatte. Durch die Auseinandersetzung mit Sticottis Buch wird Diderot zu eigenen Überlegungen über den Schauspieler angeregt und schreibt schließlich am 14. November 1769 an seinen Auftraggeber und Freund Melchior Grimm:

[…] mit ein wenig Sorgfalt würde ich vielleicht noch nie etwas geschrieben haben, in dem mehr Feinheit und Scharfblick steckt. Es ist ein schönes Paradox. Ich behaupte, daß es die Empfindsamkeit ist, die die mittelmäßigen Schauspieler macht; die extreme Empfindsamkeit die bornierten Schauspieler; der kalte Sinn und der Kopf die großartigen Schauspieler.5

Diderot bezieht hier eindeutig Stellung und identifiziert sich mit der Position des Ersten im Dialog, welcher seine Position freilich nur im Gespräch mit dem Zweiten entfalten kann, wie wir im Folgenden sehen werden. Die These, wenn man davon überhaupt sprechen kann, scheint zu lauten, dass die großartigen Schauspieler keine großen Gefühle, sondern einen kühlen Kopf und wenig Gefühl haben sollten. Ob es sich dabei um eine deskriptive oder eine normative Aussage handelt, ist nicht eindeutig zu entscheiden.

Wie Richard Weihe richtig bemerkt, geht es im Paradox ganz wörtlich allerdings um die »Meinung über das Schauspielerproblem – ›sur le comédien‹; es heißt nicht: das Paradox des Schauspielers. Seine Auffassung ist nicht widersinnig, sondern eben gerade sinniger als die allgemeine Meinung.«6 Das bedeutet, dass nicht der Schauspieler selbst paradox ist, sondern die vorherrschende Meinung über ihn, nämlich jene, dass er selbst äußerst gefühlvoll sein muss, um gut spielen zu können. Da jedoch der gesamte Dialog unter den besagten Titel fällt und nicht bloß die Meinung oder die Figur des Schauspielers, kann der Titel auch so gelesen werden, dass der gesamte Dialog ein Paradox darstellt, mithin sogar kein Dialog, sondern eben ein Paradox – im Sinne einer eigenständigen literarischen Gattung – ist.

Dass Diderot hier außerdem so deutlich als Autor hervortritt und geradezu identisch zu sein scheint mit der Position des Ersten, ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen entspricht diese Position nicht mehr seiner vorangehenden eigenen Theatertheorie, in der er sich dem Zeitgeist entsprechend für den Gefühlsschauspieler ausspricht,7 zum anderen entspricht dieses eindeutige Bekenntnis und die Parteinahme für eine Seite des Dialogs, dessen Autor er ist, ganz und gar nicht dem Rollenspiel, das dem Verhältnis eines Autors zu seinem Text, noch dazu einem Dialog, eigentlich innewohnt. Dies ist nicht zuletzt dann besonders auffällig, wenn es inhaltlich um die Frage der Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle geht, die sich auch auf das Verhältnis eines Autors zu seinen Figuren übertragen lässt. Vor diesem Hintergrund lässt sich Diderots Aussage, es sei ein »schönes Paradox«, nicht nur auf den Inhalt des Dialogs und die These vom kalten Schauspieler, die er daraufhin in seinem Brief an Grimm paraphrasiert, beziehen, sondern zugleich auf den ersten Teil seines Satzes, nämlich dass er selbst dies behaupte. Im Folgenden werden wir auf die verschiedenen ›paradoxen‹ Ebenen näher eingehen und den Text im Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von (Nicht)Identität, Theater und Subjektivität befragen.

II.1Das Paradox über den Schauspieler als Drama der Nicht-Identität

Obwohl das Paradox über den Schauspieler ein Text über den Beruf des Schauspielers und das Theater ist, über das Wie der gelungenen Darstellung einer Rolle und die jeweilige Wirkung auf den Zuschauer, wird die Form des Textes selbst dabei oftmals vernachlässigt und das Paradox des Titels weitgehend auf die verschiedenen Thesen der Figur des Ersten zum Schauspieler reduziert. Im Lexikon der Filmbegriffe etwa werden drei »Teilparadoxa« in Diderots Text ausgemacht und thesenartig zusammengefasst:

(1) Das Paradox der Natürlichkeit besteht darin, dass der Eindruck von Spontaneität und Authentizität erst durch kaltblütige Strategie entsteht. (2) Wie eine Maschine muss der Schauspieler die natürlichen Anzeichen einer Gemütsbewegung reproduzieren, ohne innere persönliche Beteiligung, will er das Publikum bewegen; der Scharfblick des Schauspielers ist gefordert, nicht seine Empfindsamkeit. Erst wenn der Schauspieler nicht selbst gerührt ist, vermag er zu rühren (Paradox der Rührung). (3) Und schließlich gelingt das Auslösen wahrer Rührung erst dann, wenn man es nicht darauf anlegt, Wirkung zu erzielen (Paradox der Wirkung).8

Diese Thesen sind zwar allesamt richtig und fassen die Kernpositionen gut zusammen, erwecken jedoch den Eindruck, Diderots Text sei ein thesenartig ausgearbeitetes Traktat, was offenkundig falsch ist. Dabei geht gerade die literarische und dramatische Dimension des Textes selbst verloren, die mindestens ebenso wichtig und komplex ist wie die darin verhandelten Positionen. Es ist nämlich keinesfalls Diderot selbst als Philosoph, der diese Thesen aufstellt, vielmehr werden sie innerhalb eines langen und komplex gestalteten Dialogs zwischen zwei namenlosen Gesprächspartnern in unterschiedlichen Variationen aufgegriffen und diskutiert, immer jedoch mit konkretem Bezug zu literarischen Vorlagen, aktuellen Theateraufführungen und Personen des zeitgenössischen gesellschaftlichen Lebens.

Die Gesprächspartner selbst bleiben dabei anonym, sie werden zu Beginn lediglich mit Erster Sprecher und Zweiter Sprecher vorgestellt, im weiteren Verlauf nur noch als Erster und Zweiter bezeichnet. Dabei verhält es sich zwar durchaus so, dass die Position des Ersten diejenige ist, welche Diderot favorisiert, also die, welche er auch in seinem Brief an Melchior Grimm behauptet. Die andere Position wird jedoch nicht einfach verworfen, sie wird nicht argumentativ überwunden, sondern bleibt durch den Zweiten präsent, und dieser ist auch das Movens, welches den Ersten überhaupt zu seinen ausführlichen und oftmals ausschweifenden Ausführungen bewegt. Auch gibt es keinerlei Auflösung oder Synthese, keinen Konsens oder eine irgendwie geartete Einigung, vielmehr wird der Dialog zuletzt durch äußere, nämlich physisch-konkrete Umstände abgebrochen: Man muss sich auf den Weg zum Abendessen machen.

Dabei beginnt der Text bereits mit einer paradoxen Situation, nämlich mit einer Aufforderung zum Schweigen über jenes Thema, das im Folgenden überhaupt erst ausgebreitet werden wird:

ERSTER SPRECHER. Reden wir nicht mehr davon!ZWEITER SPRECHER. Warum?ERSTER. Es ist die Arbeit Ihres Freundes.ZWEITER. Was tut’s?ERSTER. Sehr viel. Wozu Sie vor die Wahl stellen, entweder sein Talent oder meine Urteilsfähigkeit zu verachten, und die gute Meinung herabzusetzen, die Sie von ihm oder von mir haben?ZWEITER. Das wird nicht geschehen, und wenn – dann würde meine Freundschaft für beide, die sich auf ganz andere, viel wesentlichere Qualitäten stützt, nicht darunter leiden.ERSTER. Vielleicht.9

Die Auseinandersetzung um die Frage, ob der Schauspieler Gefühle haben sollte oder nicht, entspinnt sich an den Aussagen eines dritten, am Gespräch selbst nicht teilnehmenden Autors, der ein Freund des Zweiten ist und sich in seiner Arbeit, die wiederum der Anlass des Gesprächs ist, anscheinend für den Gefühlsschauspieler ausspricht. Der Zweite vertritt zwar im weiteren Verlauf diese Position seines Freundes, doch wird durch die Ausgangslage deutlich, dass dies gar nicht genuin seine eigene Position ist, sondern eben jene vom abwesenden Freund artikulierte und den Zeitgeist widerspiegelnde Auffassung, mithin also lediglich der herrschende common sense, die öffentliche Meinung zu jener Frage. Der Erste unterstellt seinem Gesprächspartner dann auch Befangenheit in der Sache, da dieser mit beiden Kontrahenten befreundet sei und somit nicht unabhängig und objektiv urteilen könne. Durch seine Parteinahme würde der Zweite jeweils eine der beiden Seiten, entweder das Talent des besprochenen Autors oder die Urteilsfähigkeit des kritischen Gesprächspartners – des Ersten im Dialog – verachten, wie dieser sagt. Dies jedoch bestreitet der Zweite mit dem Verweis auf »viel wesentlichere Qualitäten«, die beide Freundschaften bestimmten.

Nachdem der Zweite weiter insistiert, äußert sich der Erste schließlich scheinbar widerwillig zu der thematisierten Schrift: »Also gut, wenn es sein muß: seine Arbeit ist gekünstelt, dunkel, geschraubt, schwülstig geschrieben und voller Gemeinplätze. Wenn er sie gelesen hat, wird ein großer Schauspieler nicht besser, ein armseliger Komödiant nicht weniger schlecht sein.«10 Zunächst kritisiert er also ausschließlich deren Stil und nicht etwa die dort dargelegten Thesen zum Schauspieler. Der Vorwurf besteht demnach darin, dass die Arbeit einerseits nicht gut geschrieben sei und andererseits vollkommen wirkungslos bleiben werde, da sie weder einen bereits guten Schauspieler besser noch einen schlechten weniger schlecht mache. Noch bevor er sich aber zur Hauptursache der Meinungsverschiedenheit äußert, nämlich den »Grundeigenschaften des großen Schauspielers«11, kommt er auf die Ambiguität des kritisierten Textes selbst zu sprechen, die sich darin zeigt,

daß sich der französische und der englische Schauspieler, die sich vollkommen einig über die absolute Gültigkeit der Prinzipien ihres Autors sind, gar nicht verstehen und daß in der Fachsprache des Theaters eine weite und große Ungenauigkeit besteht, daß kluge Menschen mit ganz entgegengesetzter Meinung darin das Licht der Wahrheit erblicken.12

Der abwesende Text, auf den Bezug genommen wird, ist also gerade deswegen wirkungslos, so scheint es, weil er ambig ist, jedoch aus der jeweiligen Perspektive der verschiedenen Schauspielertypen, aufgrund der Ungenauigkeit der Fachsprache und nicht zuletzt wegen des schlechten Stils des Autors allen Beteiligten eindeutig erscheint. Sowohl der englische als auch der französische Schauspieler fühlen sich durch den Text in ihren Ansichten und Techniken bestätigt, obwohl ihre Spielweisen und zugrundeliegenden Theorien tatsächlich vollkommen gegensätzlich und unvereinbar sind. Die unkritische Übereinstimmung der Schauspieler mit dem Gelesenen und die tatsächliche Widersprüchlichkeit des Geschriebenen verhindern gerade eine echte Auseinandersetzung damit. Dem abwesenden Autor selbst, der genau wie sein Text freilich immer jenseits des Diderot’schen Textes bleibt und somit von Anfang an nur vermittelt, durch die Stimme eines anderen anwesend ist, scheint dies gar nicht bewusst zu sein, zumindest wird der Effekt als nicht beabsichtigt dargestellt. Was Diderot in Gestalt des Ersten bereits hier implizit kritisiert, ist die nur scheinbare Eindeutigkeit eines Textes, die sich der Kontrolle des Autors über das von ihm Geschriebene entzieht, denn, so bestätigt der Erste seinem Gesprächspartner, »diese Zeichen enthalten so klar beide Bedeutungen, daß sich ihr Freund selbst darüber getäuscht hat.«13

Bereits vor den Thesen zum eigentlichen Paradox des Schauspielers entwickelt der Text demnach eine Dramaturgie, die auf Polarisierung und die Herausstellung von Nicht-Identität, mithin auf Komplexitätssteigerung setzt. Statt einer klaren Argumentationslinie, die auf eine Figur, eine Person, eine Stimme zurückzuführen ist, wird ein Dialog von zweien in direkter Rede inszeniert, dessen Anlass wiederum der Text eines Dritten ist, der gar nicht anwesend ist, weder als Figur noch als Stimme, nicht einmal in Form eines wörtlichen Zitats seines Textes.

Die Form des Paradoxes lehnt sich dabei einerseits an eine gängige Form des Theaters an, andererseits erinnert sie auch an eine Urszene der abendländischen Philosophie: den platonischen Dialog. Anders als Platon jedoch verachtet Diderot weder die Schrift noch das Theater oder die Demokratie, ganz im Gegenteil. Da es – zunächst – keinerlei indirekte Rede oder Regieanweisungen gibt und auch keine Strukturierung in Kapitel, Akte, Szenen oder Ähnliches, erweckt der Text den Eindruck von Unmittelbarkeit, zumal der Dialog in medias res beginnt, dem Text also bereits ein längeres Gespräch vorausgegangen zu sein scheint. Gleichzeitig bewirken die unpersönlichen Bezeichnungen Erster und Zweiter eine Distanzierung, die Sprecher bleiben namenlos, unbestimmt, unpersönlich und gewinnen ausschließlich durch ihre Rede Konturen. Dabei fällt dem Ersten eindeutig die Rolle des Wortführers zu, der Zweite dient als Stichwortgeber, Zuhörer und Stellvertreter der gängigen Meinung, die wiederum der abwesende Dritte in seinem Text formuliert hat.

Da dieser Text jedoch offenbar so undeutlich und widersprüchlich geschrieben ist, dass sich jedermann darin wiederzuerkennen glaubt, findet auch eine Kritik der gängigen Meinung auf zweiter Ebene statt. Diese bezieht sich nicht auf den Inhalt, also auf die Tatsache, dass die Gegenseite eine andere, der eigenen Meinung widersprechende Meinung hat und man diese aus guten Gründen nicht teilt, sondern sie bezieht sich auf den Akt der fraglosen Übereinstimmung mit der gängigen Meinung selbst. Wie Diderot in Gestalt des Ersten gleich zu Beginn deutlich macht, ist grundsätzlich Vorsicht geboten, wenn man die eigenen Ansichten bei einem anderen widergespiegelt zu bekommen meint, denn es ist möglich, dass man dadurch die Widersprüche übersieht, die in den Ansichten selbst enthalten sind. Eine Darstellungsweise, mit der sich die Widersprüche bewusstmachen lassen, ist – das führt das Paradox vor, anstatt es nur als These zu behaupten – der Dialog in seiner zum Paradox gesteigerten Form.

Das Paradox lässt sich dementsprechend auch als eine äußerst lange Szene lesen, die freilich am Ende noch einmal ihre eigene Geschlossenheit und ›Identität‹ als Dialog zur Disposition stellt und somit auch auf dieser Ebene paradox wird. Nachdem der Erste die Geschichte eines anderen Dialogs erzählt und zum Teil wörtlich wiedergegeben hat, beendet er seine Erzählung mit der Frage: »Meinen Sie nicht?«, welche metaleptisch in den vermeintlich eigentlichen Dialog zurückführt, da der Zweite die Frage nicht als Teil der Erzählung, sondern als direkte Frage an sich selbst auffasst, zugleich jedoch geschlafen zu haben scheint und antwortet:

ZWEITER. Ich meine gar nichts. Ich habe Ihnen nicht zugehört.ERSTER. Wie, haben wir nicht weiter diskutiert?ZWEITER. Nein.ERSTER. Was, zum Teufel, haben Sie denn getan?ZWEITER. Ich habe geträumt.ERSTER. Was haben Sie geträumt?14

Zum Schluss also zeigt sich sogar die Form der Kritik am Denken in Identitäten als brüchig und nicht identisch mit sich selbst: Das dargestellte Zwiegespräch erweist sich als Selbstgespräch des einen und als Traum des anderen, beide haben nicht miteinander gesprochen, sondern aneinander vorbei, so scheint es, oder vielmehr beides zugleich. Insofern hat sich die anfängliche Aufforderung, nicht mehr »davon« zu reden, bewahrheitet und der Vorwurf, den der Erste dem Text des abwesenden Autors macht, dass sein Text nämlich widersprüchlich und mehrdeutig sei, fällt auch auf das Paradox zurück, das alles zugleich ist: literarisch gestaltete Theorie über den Schauspieler, Dialog, Theaterstück, Analyse, Kritik, unzuverlässige Erzählung, Theorie der Gefühle und noch einiges mehr.

Anders als die unfreiwillige Mehrdeutigkeit im Text des besprochenen Autors werden die Ambiguität und das Paradox hier jedoch geradezu heraufbeschworen, auf allen Ebenen ausgespielt und immer wieder überboten. Dass er sich darum, trotz der eingangs ausgemachten recht klaren Thesen über den Schauspieler, nicht eindeutig festlegen lässt, macht ihn auch zu einem politischen Text. Uneindeutigkeit und Flexibilität werden – sowohl vom favorisierten Schauspielertypus als auch durch die Form des Textes – gestaltet, offen dargestellt und beherrscht. Beides hat seine Grenzen durch die ästhetische Form, also die Rolle, das Stück oder den Text, und erkennt diese an. In diesen Eigenschaften liegt auch das, was man schließlich die demokratische Dimension des Paradoxes nennen kann. Es regiert sich in ästhetischer Hinsicht selbst und es handelt von einem »Geschöpf, das sich selbst regiert und als Teil des Demos regiert«15, nämlich vom Schauspieler, allerdings von einem Idealtypus desselben, welcher bei Diderot mit dem ›gerechten Menschen‹ assoziiert wird:

Es ist mit einem Schauspiel wie mit einer wohlgeordneten Gesellschaft, wo jeder etwas von seinen Rechten opfert für das Wohl der Gemeinschaft und des Ganzen. Wer wird am besten das Maß dieses Opfers abschätzen? der Enthusiast, der Fanatiker – gewiß nicht! In der Gesellschaft ist es der gerechte Mensch. Im Theater der Schauspieler mit kühlem Kopf.16

Diderot selbst eröffnet diesen anthropologisch-politischen Diskurs, der den ›gerechten Menschen‹ mit dem kalten Schauspieler in Beziehung setzt und beiden ein besonderes Maß an Gesellschaftsfähigkeit zuschreibt. Die Gesellschaftsfähigkeit rührt dabei gerade von jener ›Selbstregierung‹ her, die mehr ist als bloße Teilhabe am Ganzen. Wo der Enthusiast durch seine Gefühle zwar teilnimmt, aber weder im Besitz seiner selbst ist noch einen Blick für das Wohl der Gemeinschaft haben kann, da beherrschen der gerechte Mensch und der Schauspieler sich selbst und überblicken auch das Ganze. So jedenfalls die Idealvorstellung.

Jacques Rancière zeigt auf, dass bei den ›Klassikern‹, also bei den griechischen Philosophen, genau an diesem Unterschied, dem Unterschied von Teilhabe und Besitz, mithin von Verstehen und Beherrschen des Logos, der Freiheitsbegriff definiert wird:

Und zwar, weil ihre Freiheit sich in Bezug auf ein besonderes Gegenteil, die Sklaverei, definiert. Und der Sklave ist genau derjenige, der die Fähigkeit besitzt, den Logos zu verstehen, ohne die Fähigkeit des Logos selbst zu besitzen. Er ist jener besondere Übergang von der Tierheit zur Menschheit, den Aristoteles sehr genau definiert: […] der Sklave ist derjenige, der an der Gemeinschaft der Sprache teilhat einzig in der Form des Verstehens (Aisthesis), nicht aber in jener des Besitzes (Hexis).17

Der Sklave ist demnach derjenige, der ›nur‹ versteht, nicht aber die Sprache, die er versteht, auch besitzt und beherrscht. Er ist darin dem Enthusiasten nicht unähnlich, der ebenfalls, wie wir gesehen haben, zwar teilnehmend ist und versteht, nicht aber in der Lage ist zu beherrschen, weder sich selbst noch das Ganze. Allerdings liegt in der Kontingenz der Verteilung der von Rancière dargestellten Seiten auch eine Paradoxie, denn die Fähigkeit des Sklaven, an der Sprache teilzuhaben, ist nur durch eine notwendig, aber implizit vorausgesetzte Gleichheit möglich, die, so Rancière, von den ›Klassikern‹ nicht explizit ausgesprochen wird:

Vor dem Logos, der über das Nützliche und Schädliche diskutiert, gibt es den Logos, der befiehlt und Recht gibt zu befehlen. Aber dieser anfängliche Logos ist mit einem anfänglichen Widerspruch behaftet. Es gibt Ordnung, weil die einen befehlen und die anderen gehorchen. Aber um einem Befehl zu gehorchen, bedarf es mindestens zweier Dinge: man muss den Befehl verstehen, und man muss verstehen, dass man ihm gehorchen muss. Und um das zu tun, muss man bereits dem gleich sein, der einen befehligt.18

Um nicht nur den Befehl zu verstehen, sondern auch zu verstehen, dass man ihm gehorchen muss, muss eine Gleichheit zwischen Befehlendem und Gehorchendem bestehen, anders, so die Argumentation, gäbe es keine Grundlage für die Beziehung, es gäbe gar keinen gemeinsamen Logos, durch den man in Beziehung treten könnte, es gäbe schlicht keinerlei Verbindung. Dieser anfängliche Widerspruch, der darin besteht, dass aus einer ursprünglichen Gleichheit eine radikale Ungleichheit abgeleitet wird, die dann eine scheinbar naturgegebene »Ordnung« konstituiert, muss verdeckt werden, um ebendiese Ordnung aufrechtzuerhalten. Wäre der Widerspruch sichtbar, stünde die Ordnung in Frage und würde zur Un-Ordnung.

Der Diderot’sche Schauspieler hingegen, so kann man mit Blick auf die von Rancière herausgearbeitete »paradoxe Wirksamkeit der reinen Kontingenz jeder gesellschaftlichen Ordnung«19 sagen, verkörpert genau jene anfängliche Gleichheit, indem er seine eigene Unterworfenheit unter die Logik eines anderen offen ausspielt und selbst beherrscht: Anders als der Sklave regiert er sich selbst, auch und gerade dann, wenn er sich den ›Befehlen‹ unterwirft, die seine Rolle mit sich bringt. In ihm verkörpert sich ein Abstand zwischen Befehlen und Gehorchen, der gerade deutlich macht, dass jede gesellschaftliche ›Ordnung‹ durch Kontingenz beherrscht und von einer grundlegenden Gleichheit konstituiert wird – sonst wäre es keine Ordnung. Der scheinbar natürlichen Verteilung der Positionen setzt der Schauspieler seine Fähigkeit, scheinbar mühelos die eine oder die andere Position einnehmen zu können, entgegen. Dafür muss er sowohl gehorchen als auch befehlen können, insofern er sich vor allem selbst beherrschen muss.

II.1.1Das Paradox und der Zuschauer

In der großen Komödie, der Komödie der Gesellschaft, auf die ich immer zurückkomme, sind alle heißen Seelen auf der Bühne, alle genialen Leute sitzen im Parkett. Die ersten heißen Verrückte, die zweiten, die sich damit beschäftigen, ihre Verrücktheiten zu kopieren, heißen Weise.20

Der Schauspieler, so macht Diderots Paradox hier deutlich, kann nur unter der Voraussetzung spielen, auch ein Zuschauer zu sein oder genauer: zuvor einer gewesen zu sein. In dieser Hinsicht verhält er sich genau spiegelverkehrt zum Normalbürger und zur Normalbürgerin: Er ist passiv und rezeptiv, wo diese agieren und sich ausleben, nämlich in der Gesellschaft, und er ist aktiv, nötigt die anderen in eine passive Zuschauerrolle, wo er tatsächlich auf einer Bühne steht und die anderen im Parkett sitzen, nämlich im klar definierten Bereich eines Theaters.

Die Zuschreibungen werden jedoch so formuliert, dass die gängige Meinung gewissermaßen zitiert und variiert wird, nämlich: ›Alle heißen Seelen befinden sich auf der Bühne.‹ Dies aber, so die Pointe, ist gerade nur als Metapher richtig und nicht im buchstäblichen Sinne. In der Gesellschaft, also überall außerhalb des Theaters, ist der Schauspieler ein Zuschauer und diejenigen, welche im Theater gewöhnlich Zuschauer sind, werden von jenem beobachtet, studiert und später womöglich nachgeahmt. In der »Komödie der Gesellschaft« sind sie Darsteller ihrer selbst, der Schauspieler ist ihr heimliches Publikum.

Diderot macht hier also keineswegs in erster Linie eine Aussage über Theater, sondern eine politische Aussage, in der es um das Verhältnis von Einzelnem und Gesellschaft geht: Die Gesellschaft erscheint demnach nicht nur wie eine Komödie, es geht nicht um einen Vergleich mit dem Theater, vielmehr handelt es sich um die »Komödie der Gesellschaft«. Dort eben und nur dort sind alle »heißen Seelen auf der Bühne« und bei diesen handelt es sich gerade nicht um Schauspieler, sondern erstaunlicherweise um »Verrückte«. Die Schauspieler hingegen sind Weise, sie sind jene »genialen Leute«, die lediglich die Verrücktheiten der anderen studieren und anschließend auf der tatsächlichen Bühne des Theaters »kopieren« und darstellen.

Das so verstandene Theater ist damit weder ein Abbild der Gesellschaft noch ein ganz anderer Raum, sondern eine genaue Umkehrung der üblichen Rollen der Menschen in der Gesellschaft, und zwar unabhängig von der jeweils konkreten Rolle des Einzelnen. Entscheidend ist zunächst lediglich die Verteilung von Aktivität und Passivität, von Produktion und Rezeption, von Reflexion und Emotion.

Wenn aber die Gesellschaft selbst bereits eine Komödie ist, deren Akteure Verrückte sind, dann bedarf es eines Theaters nicht aus Gründen der Zerstreuung, sondern aus Gründen der Konzentration, der Reflexion und mithin der Kritik an jener »Komödie der Gesellschaft«. Dennoch geht es bei Diderot auch darum, die Zuschauer im Theater innerlich zu bewegen, sie emotional anzusprechen. Im räumlich und zeitlich klar definierten Bereich des Theaters ist es dem Schauspieler möglich, die physisch passiven Zuschauer innerlich zu bewegen, und zwar durch die Nachahmung dessen, was er durch sein eigenes aktives Zuschauen jener im Alltagsleben gelernt hat. Dabei ist sein eigener Körper gleichsam das Speichermedium dessen, was er zuvor an wirklichem Leben rezipiert hat, und seine Gesten sind Zitate:

Er hört sich zu, während er euch bewegt, und sein ganzes Talent besteht nicht, wie ihr annehmt, im Fühlen, sondern in der Fähigkeit, die äußeren Zeichen des Gefühls so gewissenhaft wiederzugeben, daß ihr euch täuschen laßt. Die Schmerzensschreie hat er in seinem Ohr notiert. Die Gesten seiner Verzweiflung kommen aus dem Gedächtnis und sind vorm Spiegel ausprobiert worden.21

Die Täuschung besteht also nicht nur darin, dass der Schauspieler Gefühle zeigt, die er selbst gar nicht hat, sondern auch darin, dass er die äußeren Zeichen dieser Gefühle den Zuschauern gewissermaßen abgenommen hat und sie ihnen nun als seine vermeintlich eigenen wieder ›verkauft‹. Er gibt ihnen somit, was ihnen bereits gehört, jedoch so, dass sie es sich als etwas vermeintlich Fremdes wieder aneignen, in einer veränderten, ästhetisierten, eben ›verfremdeten‹ Form.

Die Möglichkeitsbedingung der gelungenen Täuschung ist demnach eine Gleichheit von Zuschauer und Schauspieler im Hinblick auf deren (Körper)Sprache und die äußeren Zeichen des Gefühls. Der Schauspieler muss die konventionelle Semiotik genau beherrschen und nachahmen können, daher muss er sie zuvor intensiv studiert haben. Durch seine Beherrschung hat er nicht nur Anteil an der Sprache, sondern bringt sie in seinen Besitz, kann sie nach Belieben formen, auch verändern und gezielt einsetzen. Das Theaterpublikum hingegen versteht lediglich passiv und ›gehorcht‹ dem Rezeptionsbefehl der Zeichen im Sinne von Rancières Definition des Sklaven, der »die Fähigkeit besitzt, den Logos zu verstehen, ohne die Fähigkeit des Logos selbst zu besitzen.«22 Dem Schauspieler bleibt daher

weder Verwirrung, noch Schmerz, noch Melancholie, noch seelische Niedergeschlagenheit. Diese Gefühlseindrücke nehmt ihr mit euch fort. Der Schauspieler ist müde, ihr seid traurig. Es liegt daran, daß er sich bewegt hat, ohne zu fühlen, und ihr gefühlt habt, ohne euch zu bewegen. […] die Illusion ist euer; er weiß genau, daß er sie nicht ist.23

Die Illusion auf Seiten der Theaterzuschauer rührt demzufolge daher, dass sie an das glauben, was sie sehen, während der Schauspieler lediglich zeigt, was er beherrscht, nicht aber tatsächlich fühlt. Sie glauben dem Schein, deuten die Zeichen des Gefühls so, wie sie es auch im Alltag tun, und werden dadurch von den dargestellten Gefühlen unmittelbar affiziert. Allerdings fühlen sie nicht mit dem Schauspieler oder mit der von ihm dargestellten Figur, sondern sie fühlen an dessen oder deren Stelle, da der Schauspieler lediglich zeigt und sich bewegt, ohne selbst zu fühlen, was er zeigt. Die Zuschauer sind ihrer Zuschauerrolle also regelrecht ausgeliefert und erleiden am eigenen Leib das, was der Schauspieler bloß darstellt.

In diesem Modell glaubt der Zuschauer an Identität, und zwar nicht unbedingt deshalb, weil er sich selbst mit dem, was er sieht und wahrnimmt, identifiziert, sondern insofern er an eine Identität von Zeichen und Gefühl glaubt, eine unmittelbare Einheit von Signifikant und Signifikat. Das Mitfühlen geschieht darum auch mit scheinbarer Notwendigkeit, es ist Teil der Illusion, die der Schauspieler hervorbringt, ohne sie selbst zu sein. Während sich der Schauspieler die Differenz von physischer und psychischer Bewegung zunutze macht, wird diese Differenz für den Zuschauer zum Problem, insofern die Gefühlseindrücke bei ihm fortwirken und ihn buchstäblich ›deprimieren‹, ihn niederdrücken und affektiv überrumpeln. Dem Schauspieler bleibt lediglich körperliche Erschöpfung, keine emotionale, während der Zuschauer die Gefühlseindrücke sogar unfreiwillig »mit sich fortnimmt«, von ihnen also regelrecht verfolgt wird. Das Schauspiel ist demzufolge vor allem für den Spieler eine Form der Katharsis, nicht jedoch für den Zuschauer.

Gleichwohl sind Zuschauer in diesem Modell absolut notwendig, um Theater überhaupt stattfinden zu lassen, und dieser Umstand – die Notwendigkeit des Zuschauers – ist laut Rancière der Kern jener Kritik am Theater, die eine lange Tradition hat und deren bekannteste Vertreter, ihm zufolge, in Platon und Rousseau zu finden sind:

Die zahlreichen Kritiken, die das Theater im Laufe seiner Geschichte hervorgerufen hat, können nämlich auf eine wesentliche Formel reduziert werden. Ich werde sie das Paradox des Zuschauers nennen, ein Paradox, das vielleicht grundlegender ist als das berühmte Paradox des Schauspielers. Dieses Paradox lässt sich einfach formulieren: Es gibt kein Theater ohne Zuschauer […].24

Wenn es aber kein Theater ohne Zuschauer gibt, dann gibt es auch keinen Schauspieler ohne Zuschauer. Das ›Paradox des Zuschauers‹ ist damit nicht nur grundlegender, es ist vielmehr die Voraussetzung für das Paradox des Schauspielers, und dieser Gedanke ist bei Diderot zwar nicht ausgeführt, aber durchaus angelegt. Rancière wiederum kritisiert nicht nur die Tradition der Kritik, die von der Prämisse ausgeht, dass das Zuschauersein grundsätzlich etwas Schlechtes ist, sondern auch die verschiedenen Versuche der Lösung dieses ›Problems‹, das sich in seinen Augen auch umkehren lässt:25

Aber könnte man nicht das Problem umdrehen und sich fragen, ob nicht gerade der Wille, die Distanz abzuschaffen, erst die Distanz schafft? Was erlaubt es, den an seinem Platz sitzenden Zuschauer für inaktiv zu erklären, wenn nicht die vorher behauptete radikale Opposition zwischen dem Aktiven und dem Passiven? […] So wertet man den Zuschauer ab, weil er nichts tut, während die Schauspieler auf der Bühne oder die Arbeiter draußen ihre Körper handeln lassen.26

Zwar ist diese Opposition auch für die Diderot’sche Argumentation entscheidend, jedoch vertritt dieser im Paradox gerade nicht jene Vorstellung einer ›Emanzipation‹ des Zuschauers, die Rancière mit Skepsis betrachtet, nämlich »Emanzipation als Wiederaneignung eines in einem Trennungsprozess verlorengegangenen Selbstverhältnisses.«27 Diderot vielmehr betont gerade die Opposition und die Trennung durch das Aufzeigen der starken Bezogenheit von Schauspieler und Zuschauer aufeinander und durch die notwendige ›Entfremdung‹ des Schauspielers von sich selbst. Er sieht darin gerade kein Problem, jedenfalls keines für das Theater, sondern zeigt es als Voraussetzung seiner Auffassung von Theater. Das ›Problem‹ des Zuschauers, nämlich passiv und rezeptiv zu sein, ist also kein Problem des Theaters, sondern gehört zu diesem notwendig hinzu. Es geht bei dem Verhältnis von Schauspieler und Zuschauer bei Diderot somit gerade nicht um eine »selbstauflösende Vermittlung«28, sondern um eine reflektierende Hervorhebung der notwendigen Vermittlung.

Hinzu kommt die räumliche und zeitliche Begrenzung der jeweiligen Position: Der Schauspieler ist auch immer schon Zuschauer, genauer muss er Zuschauer gewesen sein, um spielen zu können, er ist es jedoch nicht im Theater. Diese Möglichkeit eines Wechsels zwischen den beiden Positionen und die Inanspruchnahme der Kenntnisse der einen Perspektive für die andere heben die Trennung nicht auf, sondern betonen sie, machen aber auch die Möglichkeit des Übergangs deutlich, obgleich dieser asymmetrisch ist: Schauspieler sind immer auch Zuschauer, Zuschauer sind jedoch keine professionellen, das heißt bewussten Schauspieler, sondern vielmehr deren ›Versuchsobjekte‹ in doppelter Hinsicht, nämlich einmal als beobachtete Objekte, sodann als affizierte Subjekte.

Das emanzipatorische Potential des Diderot’schen Ansatzes liegt dann auch vielmehr in der Aneignung eines Fremdverhältnisses und der Etablierung eines erstmals möglichen Selbstverhältnisses als in der »Wiederaneignung eines in einem Trennungsprozess verlorengegangenen Selbstverhältnisses«. Die Emanzipation wird nicht durch die Ununterscheidbarkeit oder eine Angleichung von Schauspieler und Zuschauer ermöglicht, sondern durch die durchaus radikale, aber nicht absolute Verteilung der gleichwertigen Positionen im Theater. Somit kann Diderots Paradox als die Umkehrung der von Rancière formulierten Problemstellung gelesen werden: Der Wille, die Distanz zu vergrößern und aufrechtzuerhalten, schafft sie ab, und zwar insofern, als zwischen den Positionen eine grundsätzliche Gleichheit besteht, die derjenigen entspricht, die zwischen Befehlenden und Gehorchenden besteht – allerdings mit denselben Problemen im Hinblick auf die »reine Kontingenz« der Ordnung, die eben nur so lange eine ist, wie die ursprüngliche Gleichheit gerade nicht in Erscheinung tritt. Anders ausgedrückt: Gerade die zumindest temporär gegebene klare Unterscheidung zwischen den Positionen weist auf die ursprüngliche Gleichheit hin, die etwas anderes ist als Identität. Darauf soll im folgenden Kapitel näher eingegangen werden.

II.1.2Nicht-Identität als Bedingung von Gleichheit

Die bereits erwähnte »paradoxe Wirksamkeit der reinen Kontingenz jeder gesellschaftlichen Ordnung«29 basiert, wie bereits zuvor angedeutet, auf der ursprünglichen Gleichheit derjenigen, die befehlen, und derjenigen, die gehorchen. Diese Gleichheit wird laut Rancière jedoch in der philosophischen Tradition verdeckt, sodass der Sklave und der Herrscher als scheinbar radikal Ungleiche die Identität der vermeintlich natürlichen gesellschaftlichen Ordnung als ganzer gewährleisten. Politik, so Rancière, unterbricht ebendiese Ordnung:

Es gibt Politik, weil bzw. wenn die natürliche Ordnung der Hirtenkönige, der Kriegsherren oder der Besitzenden durch eine Freiheit unterbrochen ist, die die Gleichheit aktualisiert, auf der jede gesellschaftliche Ordnung beruht. […] Die Ungleichheit ist letztlich nur durch die Gleichheit möglich. Es gibt Politik, wenn die als natürlich vorausgesetzte Logik der Herrschaft von dem Effekt dieser Gleichheit durchkreuzt wird.30

Die vollständig geordnete Gesellschaft befindet sich damit immer jenseits der Politik, insofern sie die Verteilung der Positionen naturalisiert und festschreibt. Dass Ungleichheit nur durch Gleichheit möglich ist, heißt letztendlich, dass die Etablierung einer Ordnung, die auf Ungleichheit basiert, nur möglich ist, wenn alle am gleichen Logos teilhaben, nämlich an jenem, der diese Ungleichheit rechtfertigt und als natürliche oder notwendige ausgibt. Politik ist die Erinnerung an die ursprüngliche Gleichheit und deswegen eine Gefahr für jede bestehende Ordnung, weil sie unter dem oberflächlichen Konsens und der Anerkennung der zugeordneten Positionen den Konflikt freilegt, der sich aus der Kontingenz des Bestehenden speist.

Politik löst die Identität der Gesellschaft auf, da diese in einen Widerspruch mit sich selbst gerät, die etablierte Ordnung und die eindeutige Verteilung der Rollen in Frage stellt. Der Übergang vom Verstehen des Befehls, also vom Verstehen des herrschenden Logos zum Besitz des Logos und damit zu der Fähigkeit, selbst Befehle zu erteilen, markiert den Beginn dessen, was bei Rancière ›Politik‹ genannt wird. Die Paradoxie liegt in jener Struktur begründet, die derjenigen ähnlich ist, welche auch das Verhältnis von Zuschauer und Schauspieler kennzeichnet: Die Gleichheit kommt zum Vorschein durch das Hervorheben der Ungleichheit, also durch die Politik, und die Ungleichheit, welche die gesellschaftliche Ordnung kennzeichnet, ist überhaupt nur durch diese ursprüngliche Gleichheit möglich. Diese ist gleichsam der Nullpunkt, aus dem die spätere Ordnung hervorgeht.

Das oben skizzierte Theater hat demgegenüber die Ungleichheit zum Ursprung, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen basiert es, wie bereits besprochen, auf der Trennung von Zuschauer und Schauspieler, wenn auch, wie Rancière aufzeigt, diese Trennung als eine absolute in Frage zu stellen ist. Zum anderen besteht ein Ungleichheitsverhältnis zwischen der Art der Ordnung des Theaters und jener der Gesellschaft, da das Theater keine Natürlichkeit der Verteilung der Positionen zu behaupten versucht. Die ›Künstlichkeit‹ des Theaters und seiner spezifischen Ordnung entspricht damit nicht der »reinen Kontingenz jeder gesellschaftlichen Ordnung«31, sondern ist vielmehr eine Art ›zweite Natur‹, deren Ordnung zwar nicht natürlich erscheinen soll, aber auch nicht völlig kontingent ist.

Somit zeigt das Theater ex negativo den Zusammenhang von Identität und Gleichheit in der Gesellschaft auf: Um als Theater definierbar zu sein, muss dieses eine Identität aufweisen, die im Unterschied und der vordergründigen Ungleichheit von Zuschauer und Schauspieler gründet. Diese Ungleichheit ist jedoch eine konkrete und auf den zeitlichen und räumlichen Rahmen des Theaters beschränkte; es ist eine artifiziell und von allen Beteiligten bewusst hergestellte Ungleichheit, die an den Rahmen des Theaters gebunden ist und dieses zugleich konstituiert. Indem das Theater diese offen ›künstlich‹ hergestellte Ordnung zeigt und zugleich andere Ordnungen, also von sich selbst verschiedene Ordnungen repräsentiert, fungiert es zugleich als Effekt jener Gleichheit, die Rancière zufolge jeder gesellschaftlichen Ordnung zugrunde liegt und die notwendig ist, um den herrschenden Logos – hier den des Theaters – überhaupt verstehen zu können. Auch hier also ist die Ungleichheit nur durch die Gleichheit möglich, im Theater aber wird dieses paradoxe Verhältnis nicht verschleiert, sondern ins Bewusstsein gebracht und künstlerisch genutzt.

Dabei ist auf einer weiteren Ebene auch das Prinzip der Nicht-Identität für das Theater konstitutiv. Der Schauspieler unterscheidet sich vom Zuschauer nämlich nicht allein dadurch, dass er aktiv ist, während jener passiv bleibt und zuschaut, sondern auch dadurch, dass er nicht er selbst ist, sondern vielmehr etwas anderes oder jemand anderen repräsentiert. Holger Schott Syme sieht darin gar die Grundprämisse des Theaters und genau diese in unserer Gegenwart in Gefahr:

Rather, the essence of theatre is the agreed-upon assumption that one of the two parties in the room is not quite herself – and the only reason the other party has shown up is because they are interested in the thing or the person or the idea that the first party represents, in full knowledge of the fact that that representation is in some sense profoundly untruthful.32

Das Wissen um die ›Unwahrhaftigkeit‹ der Repräsentation ist dabei der entscheidende Aspekt. Der Zuschauer kommt nicht trotz der dort herrschenden ›Unwahrhaftigkeit‹ ins Theater, sondern gerade wegen dieser. In diesem Wissen um die Unwahrhaftigkeit, welches in Diderots Paradox etabliert wird, besteht die dortige Aufklärung des Zuschauers respektive der Leserin. Das heißt auch, dass der Unterschied zwischen dem typischen Zuschauer zu Diderots Zeit und dem heutigen Theaterpublikum darin besteht, dass diesem grundsätzlich zugetraut wird, sich über die Unwahrhaftigkeit im Klaren zu sein und genau dafür Zeit und Geld aufzuwenden. Der heutige Theaterzuschauer erwartet also nicht oder nicht in erster Linie Unterhaltung, Belehrung oder emotionale Ergriffenheit vom Theater, sondern er erwartet vielmehr, auf intelligente Weise belogen zu werden.33

Das Wissen um den Aspekt der Repräsentation auf Seiten des Schauspielers und die für diesen Beruf – insofern es einer ist – konstitutive Nicht-Identität des Subjekts machen also die ›Identität‹ des Theaters, wie es bei Diderot gezeigt wird, aus. Zugespitzt formuliert basiert die Identität des Theaters also auf Nicht-Identität und damit ebenfalls auf einer Paradoxie. Der Schauspieler als ein nicht mit sich selbst identisches Subjekt repräsentiert etwas Drittes, was so wiederum nur im Theater möglich ist. Das Theater ist nur dann Theater, wenn es über sich hinausweist und etwas außerhalb des Theaters repräsentiert. Es bezieht seine institutionelle Identität aus der Ermöglichung der Nicht-Identität einzelner Subjekte und umgekehrt: Nur im Theater ist ein solches »Subjekt ohne Subjekt« denkbar, wie Philippe Lacoue-Labarthe es in eben dieser Formel zuspitzt, denn »nur der ›Mann ohne Eigenschaften‹, nur ein Wesen ohne Eigen- und Besonderheiten, das Subjekt ohne Subjekt (entfernt und abgezogen von sich selbst), ist in der Lage, überhaupt zu zeigen [présenter] oder herzustellen.«34

Insofern der ideale Schauspieler bei Diderot ein Geschick für die unterschiedlichsten Charaktere hat, stellt er nicht zuletzt eine grundsätzliche Gleichheit zwischen diesen verschiedenen Charakteren nicht einfach dar, sondern zuallererst her. Für ihn und im Theater sind alle Rollen absolut gleichwertig, unabhängig davon, welcher Rang der jeweiligen Rolle in der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung zusteht oder zugeschrieben wird. Der Schauspieler befindet sich selbst jenseits von Hierarchien und bricht diese durch sein Talent, jedwede Rolle spielen zu können, auf – jedenfalls im Moment des Spiels selbst. Gleichwohl handelt es sich dabei nicht um ein Plädoyer für die Anarchie, also die Abschaffung oder Zerstörung jedweder hierarchischen Ordnung, sondern um eine Demonstration eben jener »reinen Kontingenz jeder gesellschaftlichen Ordnung«, in deren »paradoxer Wirksamkeit« Rancière nichts weniger als die Voraussetzung von Politik festmacht, insofern Politik als etwas betrachtet wird, das gerade nicht in der reibungslosen Ausübung von Macht und der effizienten Verwaltung des Bestehenden besteht, sondern in der bewussten Unterbrechung35 der dafür etablierten »Maschinerien«.36 Die Unterbrechung der scheinbar reibungslos funktionierenden Maschinerien erinnert an die bestehende Machtausübung und an die Festschreibung von Ungleichheit vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden ursprünglichen Gleichheit.

II.1.3Vom großen Schauspieler zum emanzipierten Zuschauer: Großzügigkeit statt Ressentiment

Was Diderots Paradox zufolge den guten Schauspieler von einem schlechten unterscheidet, ist, wie schon gesehen, die Fähigkeit, Gefühle auf der Bühne zu simulieren, anstatt sie tatsächlich zu durchleben, und mithin den mit starken Gefühlen einhergehenden Kontrollverlust des Selbst an andere zu delegieren, um damit eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Dieser Vorgang setzt auf Seiten des Zuschauers die Fähigkeit der Empathie respektive der Einfühlung, also ein zunächst moralisch neutral gefasstes Mit- oder Nachfühlen voraus, dem die dargestellten Gefühle gewissermaßen untergejubelt werden.37 Empathie ermöglicht dann einen Selbstverlust des Zuschauers durch dessen Fokussierung auf den anderen, nämlich den Schauspieler. Insofern ist auf den ersten Blick auch bei Diderot das enthalten, was üblicherweise die Kritiker des Theaters auf den Plan ruft, denn erstens steht der Zuschauer laut dieser Kritik »einer Erscheinung gegenüber, von der er weder den Herstellungsvorgang noch die Wirklichkeit, die von der Erscheinung verdeckt wird, kennt. Zweitens bleibt der Zuschauer unbeweglich und passiv auf seinem Platz. Zuschauer sein bedeutet, zugleich von der Fähigkeit zur Erkenntnis und von der zur Handlung getrennt zu sein.«38

Der Zuschauer kann demnach weder erkennen noch handeln; er wird vielmehr vom Schauspiel gebannt und von seiner eigenen Empathiefähigkeit beherrscht. Das heißt, er verliert sogar, wenn auch nur vorübergehend, sein eigenes Ich und spiegelt emotional, was für den idealen Schauspieler im Paradox