Pause für Wanzka - Alfred Wellm - E-Book

Pause für Wanzka E-Book

Alfred Wellm

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Beschreibung

Der Kampf eines Lehrers um einen Schüler. Eigentlich will Gustav Wanzka sich zur Ruhe begeben, eine Reise antreten, zu sich kommen. Eigentlich. Denn die Frage, was habe ich im zurückliegenden Leben richtig gemacht, was falsch, kann er nicht verdrängen. Und so beginnt er sie aufzu- schreiben, die Geschichte des Lehrers Wanzka. Der Schulrat wurde und eines Tages doch noch mal zu unterrichten beginnt. Und der dabei viel lernen wird – über ein Bildungssystem, das die Kinder oft nicht im Auge hat, das nicht zurechtkommt mit unangepassten jungen Menschen. Deren Stärken vielleicht erkannt, aber damit noch lange nicht gefördert werden. "Pause für Wanzka" gehört zu den wichtigsten und am meisten gelesenen DDR-Romanen. Auch wenn das bewegende Buch und sein Autor oft angefeindet wurden, waren Generationen von Leserinnen und Lesern von der Geschichte um den alten Schulrat mitgerissen. Nun erscheint die Neuauflage des Buches, das mit Kurt Böwe und Claudia Michelsen auch verfilmt wurde.

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Eigentlich will Gustav Wanzka sich zur Ruhe begeben. Aber die Frage, was habe ich im zurückliegenden langen Leben richtig gemacht, was falsch, kann er nicht verdrängen. Und so beginnt er sie aufzuschreiben, die Geschichte des Lehrers Wanzka. Der Schulrat wurde und eines Tages doch noch mal an die Basis geht, sich in Klassenräume stellt, unterrichtet. Und der dabei viel lernen wird – über ein Bildungssystem, das die Kinder oft nicht im Auge hat, das nicht zurechtkommt mit jungen Menschen, die sich keineswegs überall einpassen wollen, die nicht richtig funktionieren, die gegen Langeweile opponieren. Und deren Stärken vielleicht erkannt, aber damit noch lange nicht gefördert werden.

„Pause für Wanzka“ gehört zu den wichtigsten und am meisten gelesenen Romanen aus der DDR. Auch wenn das bewegende, spannende Buch und sein Autor oft und gerade im eigenen Land angefeindet wurden, waren Generationen von Leserinnen und Lesern von der Geschichte um den alten Schulrat, der sich zurück begibt in die Mühlen des Alltags, mitgerissen. Nun erscheint die Neuauflage des Buches, das mit Kurt Böwe und Claudia Michelsen in den Hauptrollen auch verfilmt wurde.

Deutlich wird, selbst 50 Jahre nach der ersten Veröffentlichung: Wanzkas Kampf gegen Konventionen, gegen eingefahrene Strukturen, für die Chance des Unbequemen, er ist und bleibt aktuell.

Alfred Wellm, 1927 bis 2001, schrieb Romane, Kinder- und Jugendbücher („Das Pferdemädchen“, „Karlchen Duckdich“). Bekannt wurde er 1968 durch „Pause für Wanzka oder Die Reise nach Descansar“, 1975 folgte „Pugowitza oder Die silberne Schlüsseluhr“. Wellm erhielt für seine Arbeit unter anderem den Heinrich-Mann-Preis. 2017 erschien im Hinstorff Verlag die Neuauflage seines Romans „Morisco“ aus dem Jahr 1987.

Alfred Wellm

Pause für Wanzka

oderDie Reise nach Descansar

Roman

Für J

Vor Sonnenaufgang lief ich heute auf die Bergeshöhe, ich erblickte den von Sternen übersäten Himmel und sagte meiner Seele: Wenn wir alle diese Kugeln des Weltalls besitzen und alle ihre Wonnen und alle ihre Kenntnisse – werden wir dann zufrieden sein? Und meine Seele sagte: Nein, das ist wenig für uns, wir gehen vorbei und – weiter!

Walt Whitman

Inhalt

TEIL I

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

TEIL II

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

ACHTZEHNTES KAPITEL

NEUNZEHNTES KAPITEL

I

ERSTES KAPITEL

1 Ja, die Reise. Nun werde ich sie antreten, die Reise nach Descansar. Ich muß gestehen, daß eine unbändige Freude auf diese weite Reise in mir ist; und ich kann es mir nicht verzeihen, ich hab sie viel zu oft hinausgeschoben.

Es ist zehn Minuten nach vier – wie an allen Tagen, wenn ich wach werde. Die Fliegen summen, im wilden Wein draußen tschilpen die Sperlinge. Auf meinem Tisch dort steht ein Globus, beklebt, beschrieben; und der Nordpol liegt wohl wirklich im Stillen Ozean. Der Südpol wiederum … Nein, mit der Reise hat das nichts zu tun. Jemand hat den Globus eines Winters bunt beschrieben, nun steht der Globus drüben auf dem Tisch; es sieht nur lustig aus, daß der Nordpol im Pazifik ist.

Ich bleibe still liegen; denn ich will alles auskosten. Vielleicht, daß ein Buch umschlägt im Regal. Oder ein Ton klingt auf, und im Geigenkasten ist eine Saite gesprungen. Ich warte, warte – daß etwas geschieht. Warum um alles sollte ich nicht diese Reise machen! Ich habe keinen Hund, den ich versorgen müßte, die vier Blumentöpfe trage ich hinüber zu Frau Pegelow. Nein, ich habe keine Pflichten mehr. Das ist kaum zu begreifen; aber ab heute habe ich nur Zeit, undenkbar viel Zeit …

Für diesen Tag habe ich mir einiges vorgenommen. Doch morgen, morgen trete ich die langersehnte Reise an.

2 Die Straßen kommen mir vor, als ginge ich sie das erste Mal entlang, die Breitscheidstraße, der Töpferweg. Ich gehe wie ein Sommergast, ich bleibe stehen und sehe mir die Hausgiebel an. Auf dem First glitzert der Tau. Ich freue mich über die bunten Ziegelschuppen auf einem schmalen eingepferchten Dach.

Aber dann ist es acht, und der Fischladen wird geöffnet. Der Fischladen liegt vier Treppenstufen tiefer als die Straße.

„Bitte“, sage ich, „ich hätte gerne Aale. Fünf, sechs Aale, sagen wir, jeder ein gutes …“

Nicht einen Aal?

„Am Freitag könnte es sein“, sagt die Frau.

„Am Freitag … Aber ich muß sie unbedingt heute haben. Ich will sie nämlich räuchern“, erkläre ich. Die Frau hat Gummistiefel an und eine weiße Gummischürze.

Es sind grüne Heringe da, Barsche, Hechte und etwas Weißfisch. Ich lasse mir sieben Kilo Barsche in die Aktentasche schütten und einen dünnen Hecht dazu.

„Sie müssen den Hecht in Stücke schneiden, wenn Sie ihn räuchern wollen“, sagt die Frau.

Ich grüße und gehe hinaus. Wem sagt sie das!

Seit Wochen ist alles vorbereitet. Elf Drahtspieße, das Räucherfaß, zwei Arme mürbes Erlenholz, ein Beutelchen mit Kiefernäpfeln, die sich spreizen vor Trockenheit. Das Räucherfaß habe ich zwischen den Birnbäumen aufgestellt. Das Feuerloch ist ausgehoben, und der Rand ist sorgfältig abgedichtet. Auch zwei Säcke liegen bereit. Es ist kein Wind. Die Luft streicht durch den Garten und wischt nur den Tau aus dem Gras.

Ich stülpe den Eimer um und fange an, die Fische auszunehmen. Ich sehe, wie meine Hände sich erinnern, wie sie jede Bewegung wiederfinden. Ich reihe die Barsche auf die Spieße und hänge sie zum Trocknen in die Bäume. Den Hecht habe ich in sechs gleich große Stücke geschnitten.

Ich gehe zehnmal zu den Bäumen, ob die Fische trocken sind.

Dann sitze ich endlich im Gras und sehe dem Qualm zu, der breiig aus dem nassen Sackleinen sickert. Ich lausche, wie es leise bricht und knistert. Manchmal treibt der Rauch zu mir, und die Augen fangen mir an zu brennen. Das ist gut.

Die Phantasie, die kluge Gefährtin, bückt sich nach jedem Stück Wahrhaftigkeit, ehe sie sich an den Zauber macht.

Es riecht nach Kalmus, nach Schlick und jungem Schilf. Das Haffwasser schwätzt zwischen den Kähnen. Und der Rohrsperling spektakelt nebenan. Und ich bin nun wieder der Fischerjunge und liege barfuß vor der Räuchertonne, während der Heide an den Aalreusen hantiert, Maschen zurechtschneidet und sie wieder verknüttet. Ich sinne alten Träumen nach, wie ich selbst der Lilienthal bin und wie ich über den hohen Föhrenwald gesegelt komme. Ich gleite über das Dorf, und der Heide unter mir tritt verwundert zurück. Er schiebt die Netznadel in die Mütze und reckt und dreht sich, auf daß er mich genau verfolgen kann. Der Heide ist so klein dort unten; aber ich kann deutlich erkennen, wie sich ihm die Fältchen an den Augen ziehen, und daß sie ganz starr werden, vor Stolz und lauter Glück …

3 Der Heide war mein Großvater. Er hatte einen gelben Bart der über die Hälfte des Gesichts verdeckte. Und auch am Sonntag trug er die weißen Gummistiefel. Die Stiefel reichten ihm bis zum Leib.

Außer der Bibel hatte er drei dicke Lexikonbücher, Band elf, zwölf und Band fünfzehn. Und es sah sehr feierlich aus, wenn der Heide in ihnen las. Im Dorf wurde viel um die magischen Bücher geredet. Mir erklärte der Heide was eine Oase ist oder ein Orakel. Oder er trug mir auf, den Lehrer Bublitz zu befragen, wo Orosius Paulus geboren war. Der Lehrer kannte einen Paulus und etliche Briefe von ihm, aber er kannte nicht den Orosius Paulus, der römische Geschichte geschrieben und aus der spanischen Hafenstadt Tarragona stammte. Der Heide wußte alles, was es gab und was gewesen war, wenn es nur den rechten Anfangsbuchstaben hatte. Ich war der einzige, der in den großen Büchern blättern durfte. Ich sah mir dann die farbigen Tafeln an, die Papageien und die bunten Paradiesvögel.

Im Herbst, wenn es sonntags zur Kirche läutete, steckten wir zwei das Schlagnetz in den Sack und gingen auf Krähenfang. Der Heide trug den Sack, ich hatte die schwarze Henne unter dem Arm. Es gab etliche Lichtungen auf den Bergen am Haff, an denen wir unsere Krähenbuden hatten. Wir brauchten das Netz nur festzupflöcken und der schwarzen Henne die Brotwürfel hinzustreuen. Wir lagen in der engen Bude aus Fichtenzweigen, hielten beide das Zugseil fest und horchten, ob die Krähenschwärme tiefer kamen. Manchmal brachten wir an fünfzig Krähen mit ins Dorf.

Ich bin fünfundsechzig Jahre.

Eine Lokomotive, die ihre Zeit hinter sich hat. Sie ist gelaufen Jahr um Jahr. Es gibt neue Lokomotiven, Diesellokomotiven, es wird elektrifiziert …

Das Lokomotivenbeispiel gefällt mir nicht. Vor vier Jahren hatte ich rechts ein rheumatisches Reißen. Jetzt tut mir nichts weh. Nein, ich will auch nicht zugeben, daß es nun bessere Lehrer geben wird. Ich nehme drei Stufen auf einmal, ohne das Geländer zu berühren.

„Aber! Herr Wanzka!“

Frau Pegelow steht oben mit den Zeitungen. Und ich fasse schnell zum Geländer und gehe, wie es sich gehört.

„Der Herr Zabel war hier und der Herr Bartureit.“

„So.“

„Sie trugen etwas, aber es war eingewickelt.“

„Sie trugen etwas, nun ja.“

„Sie sagten, daß sie wiederkommen werden. Sie wollen es persönlich überreichen.“ Und sie hätten gestern eine volle Stunde im Lehrerzimmer gewartet und gewartet; nein, sie hätten sich das alles nicht erklären können.

„Haben sie gesagt, wann sie kommen werden?‘‘

„Nein‘‘, sagt Frau Pegelow und überlegt. „Nein, das sagten sie nicht.“

Ich habe mir zwei Bücher mitgebracht. Und eine Pfeife und ein Bündel Pfeifenreiniger. Vor vierzig Jahren habe ich einmal geraucht, dann nicht mehr. Aber die Pfeife gefiel mir, und ich stellte es mir gut vor, während der Fahrt ein neues Buch zu lesen und dabei Pfeife zu rauchen.

Nun tu ich alles überstürzt. Eine Schlafdecke nehme ich mit, Proviant, Tabak, Streichhölzer.

Und wieder steht Frau Pegelow auf der Treppe. „Also reisen Sie nun nicht nach Descansar?“

„Nach Descansar? Natürlich reise ich nach Descansar! Warum sollte ich nicht nach Descansar reisen?“ frage ich zurück. „Sie hören doch, ja, ich reise ein paar Tage später.“

Ich spüre Frau Pegelows Blick hinter mir, bis ich die große Tür geschlossen habe.

4 Die lange Nacht sind die Grillen zu hören. Die Sterne glimmen zwischen den schwarzen Kiefernästen. Ich liege weich und warm im Moos und denke an nichts. Und wenn, dann denke ich, daß es nun Sommer ist und Nacht und daß ich hier so liege und höre, wie die Grillen zirpen. Am Himmel steht die Kassiopeia, und es stört mich nur etwas, daß jenes große W so unterschiedliche Winkel hat. Das ist so geringfügig. Sonst stört mich nichts. Es wird zwei, und die Vögel fangen an zu singen. Ich habe nicht geschlafen; aber ich bin sehr ausgeruht. Ich war noch nie so leicht und ausgeruht, finde ich. Mir ist, als hätten diese Tage im Wald viel aus mir herausgeräumt, Fremdes, was nie zu mir gehört und sich doch angesammelt hat, nun fange ich an, wieder ich selbst zu sein.

Ich rauche. Dann gehe ich zum See hinunter, um mich zu waschen. Darauf esse ich und gehe dann wieder zum See.

Vor diesen Tagen, gestehe ich, habe ich einmal Angst gehabt. Nun kann ich das nicht begreifen. Die Tage sind ohne Gestern und ohne ein Morgen, sie sind klar und durchsichtig wie das Glas.

An den Heiden denke ich oft.

Ich erinnere mich, wie wir beide, der Heide und ich, für die Prüfung lernten. Und dann fuhren wir zwei zur Präparandenanstalt. Und im Zug aßen wir schieren Räucheraal. Und die Mitreisenden stierten auf uns, und wir, wir leckten uns mit Selbstgefallen das Aalfett von den Fingern. Es war im ersten Krieg.

Wenn ich später den Heiden besuchte, redeten wir über das Molekulargewicht und über die Moleküle, vor allem aber über das Molekulargewicht. Wir gingen dann zu den geteerten Reusen, die zum Trocknen hingen, und zu den Kähnen. Ich mußte auf der Hut sein, der Heide hatte etliche Formeln aus dem Lexikon gelesen. Die Sätze waren hundertmal gewendet und durchdacht. Jedes Jahr ging es um das Molekulargewicht. Der Heide machte eine Philosophie daraus. Genaugesehen hatte alles ein Molekulargewicht, nur der Mensch war ungebildet und ging unachtsam daran vorbei. Das war es doch!

Wenn ich zur Abfahrt rüstete, änderte der Heide den Gegenstand. Er fing an, Verächtliches über den Bublitz herzureden. Ein Schulmeister, was war das schon! Ho, was war das schon! Ich wußte, dem Heiden war es nicht genug. Er hatte mehr mit mir vor, er wollte einen Professor aus mir machen, einen Mann der Wissenschaft. Er hatte über Winter sehr viele Reusen geknüttet, und er hatte seine Pläne. Ach, dieser Bublitz! Was war der klein und lächerlich gewachsen! Und einmal war der Superintendent im Dorf gewesen, der Bublitz mußte zweimal Atem nehmen, um „Herr Superintendent“ zu sagen. Und die Frau Bublitz rannte nach Störfleisch, sie mußte Störfleisch kaufen, weil der Superintendent so gerne …

„Ja, der Bublitz“, sagte ich.

Ich mochte damals schon den Geruch der Kinder, wenn ich in die Klasse kam. Sie hatten sich schwitzig gerannt, oder die Köpfe und die Jacken waren naß vom warmen Regen … Es war auch eine ganze Portion Neugier dabei. Es reizte mich ungeheuer, ihre Geheimnisse herauszukriegen, die sie so hartnäckig behüteten. Vielleicht ist es immer nur die Neugier gewesen. – Der Heide hat es mir nie ganz verziehen.

Es sind gläserne Tage. Es liegt keine Zeit zwischen dem, was einmal war. Ich kann hieran und daran denken. Aber es erregt mich nicht.

Einmal, da war ein Päckchen zurückgekommen. Ein Januartag. In dem Päckchen waren zwei wollene Strickhandschuhe. Die Wolle hatte ich mir bei den Bauern eingetauscht, und meine Frau hatte diese Handschuhe daraus gestrickt. Die Handschuhe waren inwendig mit weichem Fell gefüttert. Aber nun waren sie zurückgekommen. In diesem Feldpostpäckchen. Ich drehte sie, ich befaßte die warmen Stulpen. Die Welt wußte nicht, was geschehen war. Sie hatte einen Leibniz verloren, einen neuen Galilei. Und sie hatte es nicht einmal gewußt.

Das Jahr liegt greifbar vor mir, da ich den Mathematiker entdeckte. Die Schule hatte jenen weißen Garten, und wir nannten uns „die Kerschensteiner“. Ein langer weißer Gartenzaun. Und weiße Bänke. Auf den Beeten weiße Täfelchen. Und die Obstbaumstämme waren stolz und weiß. Und wir arbeiteten mit den Kindern viel in diesem weißen Garten. Und Rektor März hielt für uns Vorträge über die Psychoanalyse, und er kam gar zu oft auf den Ödipuskomplex zu reden, und wir Lehrer nannten ihn für uns den Rektor Ödipus.

Aber ich hatte einen „Mathematiker“ entdeckt. Martin war sechs Jahre alt. Er hatte einen Griffelkasten, eine Schiefertafel; die Schiefertafel hatte einen Sprung, und der Holzrahmen fiel immer ab. Ein unbegreifliches Talent! Er hatte einen zweiten Wirbel im Haar, links über der Stirn, und später trug er die Bücher auf der Hüfte, wenn er aus der Schule ging – nein, äußerlich war nichts Auffälliges an ihm. Im ersten Schuljahr hatte er die schriftliche Division begriffen. Das gibt es nur ein einziges Mal auf der Welt, dachte ich, und dann nur alle hundert Jahre. Mein Glück, das hatte sieben Arme. In meiner Klasse! Dort in der Fensterreihe sitzt der Mathematiker, der, der diese oder jene Theorie entdecken wird. Oder ein bedeutendes System. Oder zwei von den noch unbekannten Elementen … Ich ging abends durch die Stadt und taumelte – damals lernte ich auch Anka kennen.

Anka war neu in jene Stadt gekommen, und gleich den ersten Tag redete ich sie auf offener Straße an. „Ach Verzeihung, nein, Sie würden mir nicht sagen können, wie ich zu dem Wendenturm hinkomme?“ – „Zum Wendenturm?“ Es war so ungeschickt, ausgerechnet nach dem Wendenturm zu fragen, es gab hier keinen Wendenturm; und wie kam ich nur auf diese Frage? „Neinnein, hier an der Peripherie soll er schon sein“, behauptete ich fest. „So, Sie sind neu in der Stadt?“ Darauf bot ich mich an, ihr unsre Stadt zu zeigen – das war alles sehr verwirrt, aber es kam gar nicht auf die Sätze an, die wir nun redeten. Ich hatte Anka nie zuvor gesehen, ich hatte sie nur wahrgenommen, als sie drüben diese Straße überquerte. Und ich dachte, dort käme jenes Mädchen mit der Kerze, wie es Adolph Menzel in ein Bild gemalt hatte, dieselbe Anmut, die ratlosen großen Augen. Nur, Anka hatte blondes Haar.

Und Rektor Ödipus stellte mich zur Rede, ich käme jetzt zu selten in den weißen Garten, und ich sollte hierauf eine Antwort geben. Ach, ich hätte dieses Jahr mein größtes Glück, sagte ich, ich hätte einen Mathematiker entdeckt, außerdem, ja, ich wäre jetzt verlobt. Aber der Rektor hatte nun viel an mir auszusetzen. Einmal ging er selbst den weiten Weg zu einem Schrankenwärterhäuschen, und er wiegelte dort einen Vater auf. Der Vater sollte mir verbieten, seinen Sohn die Mathematik zu lehren. Auch Rektor März verbot es mir. Ich würde nicht den hohen Sinn verstehen, der hinter den Prinzipien dieser Schule stand, und ich hätte keine Skrupel, einen Sproß aus dem „ihm naturgemäßen Stand“ zu schneiden.

Nein. Und mich störte es nicht so viel, daß ich nun ein schlechter Kerschensteiner war. Anka arbeitete in der Tuchfabrik, aber wir heirateten noch dasselbe Jahr. Und jeden Nachmittag blieb Martin eine Zeit bei uns, und ich unterrichtete ihn zusätzlich in Arithmetik, und Anka spielte sehr gut auf der Mandoline, wir rechneten, und im Nebenzimmer spielte Anka.

Ein Päckchen war zurückgekommen. Mit den wollenen Strickhandschuhen. Ein Meßkanonier ist gefallen. Eigentlich ist die Schlacht schon aus. Eine letzte Granate, die vorletzte. Die Granate zerreißt in einem Birkenwald …

Über all dies kann ich lange denken.

Den Tag über knattern die kleinen Bootsmotoren auf dem See. Dann kommt der Abend. Mit dem Abend schieben sich zwei Kajaks durchs Rohr. Ein Mann mit langen weißen Beinen, das Mädchen mit offenem brünettem Haar. Nun, da ich wiederkomme, steht dort ein kleines Zelt unter den Erlen, dort wo die bunte Kronenwicke blühte.

Ich bin nachts mehrmals zum Hang gegangen, ob das Zelt noch da ist. Ich setze mich dann unter die Kiefer und rauche eine Pfeife aus. Ein Rohrsperling singt, und auch die Grillen kennen keine Müdigkeit.

Ich bin zwei Nächte im Wald gewesen. Als ich ins Zimmer trete, steht eine bronzefarbene Büste auf dem Tisch. Neben der Büste ein dicker Blumenstrauß.

„Frau Pegelow!“

Ich nehme die Büste, reiße die Blumen aus der Vase. Ich trommele gegen die Tür der Nachbarin. „Frau Pegelow!“ Die Büste ist leicht wie ein Pappkarton.

„Bitte, Frau Pegelow, den einen Gefallen …“ Ich rede auf sie ein, ich beschwöre sie, alles fortzutragen, die Büste, diesen Blumenstrauß. „Geben Sie es Zabel oder Bartureit, gleichwie, nur schaffen Sie es weg!“

„Aber es ist der Pestalozzi.“

„Schon! Stellen Sie ihn vor die Tür zum Sekretariat meinethalben.“

„Es geht mich nichts an, Herr Wanzka; aber der Pestalozzi …“

„Bitte, schaffen Sie das aus dem Haus! Um alles in der Welt“, sage ich, „ich bitte Sie!“

Mein Atem ist wie wund. Frau Pegelow hat sich die Büste und die Blumen in den Arm drücken lassen. Ich weiß, sie wird gehen und es ausrichten, sie wird alles vor dem Sekretariat auf dem Flur abstellen. Darauf wird sie mit keinem Wort mehr diesen Zwischenfall erwähnen. Ich kenne sie. Ich kenne Frau Pegelow vier ganze Jahre – solange ich in diesem Zimmer wohne. Wir reden nur, was notwendig ist; aber wir kennen uns gut.

Es klopft.

„Die Blumen, Herr Wanzka, soll ich die Blumen ebenfalls …?“

„Alles! Ich sagte es doch.“

Es vergeht eine Minute. Es klopft ein zweites Mal.

„Aber das Fräulein sagte …“

Ich werde ungehalten. „Ich habe Sie inständig gebeten“, sage ich, „Sie möchten alles nehmen und im Augenblick … Das Fräulein, sagen Sie? Sie haben nie gesagt, daß ein Fräulein … Das Fräulein Marlott ist hier gewesen?‘‘

„Ja. Gestern nachmittag“, sagt Frau Pegelow. Sie legt den Strauß auf meinen Tisch und geht.

Es sind Kornblumen, blaue und blaßblaue Tremsen, wie sie in den Feldern wachsen. Daß ich das nicht gesehen habe! Eine verwirrende Freude durchrüttelt mich. Marlott! Marlott ist hier gewesen. Sie ist gekommen, um sich zu verabschieden … Aber sie hat mich nun nicht angetroffen. Ich laufe auf den Flur.

„Bitte, Frau Pegelow, Sie erinnern sich nicht … Ich meine, hat das Fräulein etwas bestellen lassen?“

„Sie hätte Sie gern selbst gesprochen, sagte sie. Sie sprach von einer Wünschelrute. Sie hatte eine halbe Stunde Zeit, ehe der Zug abfuhr. Und sie war so erschreckt, daß Sie nun gar nicht …“

„Sie redete von einer Wünschelrute?“

„Ja. Und sie hätte sich bedanken wollen. Wegen der Wünschelrute, sagte sie. Und jede Blume … sie sagte, jeder Blütenkopf …“

„Schon gut. Schon gut.“

Ich gehe ins Zimmer.

Ich ordne die Tremsen, ich zähle einzeln die Tremsen in die Vase. Eine Wünschelrute. Als würde ich mich nicht erinnern! Es sind dreiundsiebzig Tremsen. Wo nur hat sie die vielen Tremsen her, die Felder sind fast alle abgemäht … Wir haben uns einmal um eine Wünschelrute gestritten. Doch, ich erinnere mich. An jede Einzelheit kann ich mich erinnern.

ZWEITES KAPITEL

5 In der Bezirksstadt gibt es einen Pförtner, der nichts Auffälliges an sich hat, als daß er eine dicke Brille tragen muß. Tief in den dicken Brillengläsern schwimmen zwei grüne Augen. Aber sie sind so klein und unansehnlich, daß man sie nie betrachtet. Und der Pförtner hat immer einen dunkelblauen Anzug an. Einmal hatte ich den Pförtner in der Stadt getroffen, sonntags, mit einem fünfjährigen Mädchen an der Hand. Sieh an, dachte ich, der Genosse Pförtner hat ein Kind.

In der Stimme des Pförtners ist nichts, woran man sich erinnern könnte, und es sind meist dieselben Wörter, die er benützt. Er hat ein Lieblingswort, fällt mir ein, das Lieblingswort heißt „grazil“.

„Geh nur durch, Genosse Wanzka. Ja, er ist im Haus“, sagte der Pförtner.

Das war vor gut vier Jahren.

Ich war immer gern durch dieses Haus gegangen. Links in dem Vorflur führt eine Treppe hoch, dann ist ein langer Korridor. Die Genossen, wenn sie aus den Zimmern kamen, kannten mich. Wir wechselten ein Wort miteinander. Die schwarzen Porträts an den Wänden nickten mir zu.

„Ja, er ist allein“, sagte die Sekretärin.

Ich klopfte kurz und ging hinein.

Das kleine Zimmer war bescheiden eingerichtet. Ein Glasschrank mit numerierten Bücherrücken. Über dem Rauchtisch hing ein farbiger Druck. Russische Soldaten während einer Kampfpause. Der eine Soldat hält einen roten Tabaksbeutel in der Hand und dreht sich eine Zigarette, während er erzählt.

Zibulka stand sofort auf, als er mich sah, und wir setzten uns in die Sessel. Das hatte er immer so getan, wenn ich zu ihm gekommen war. Ich hatte das auch als eine Art Auszeichnung empfunden.

„Gratuliere!“

Er ging noch einmal an den Schreibtisch und holte eine Liste.

„Ich hab mir eben diese Liste angesehen“, sagte er. Auf der Liste standen die Kreisnamen des Bezirks, rechts eine Reihe Prozentzahlen. Eine Übersicht versetzungsgefährdeter Schüler von allen Kreisen. Ich sagte wohl auch, daß die Angaben des Kreises Neuleppin nicht die endgültigen wären, daß sie sich leicht um zwei Zehntel Prozent verschieben könnten.

Dennoch, sagte Zibulka, auch damit wären wir noch an der Spitze. „Zum Thema: Also es klappt, und nichts steht mehr im Weg, Genosse Wanzka.“ Er hätte eben noch telefoniert. Er redete von der Investverlagerung, die nun möglich wäre, eine Vorlage für den Bezirkstag sollte geschrieben werden. Es ging um den Schulneubau in Blankesleben. Und Zibulka fragte mich, wie es mit der neuen Projektierung stehe.

„Genosse Zibulka“, sagte ich, „ich bin wegen einer anderen Angelegenheit gekommen.“ Er bot mir Pfefferminzplätzchen an. Ich mag den bitterherben Geruch von der Wasserminze, aus jenen weißen Tabletten mache ich mir nichts. „Es handelt sich um mich“, sagte ich, „ich bin nun einundsechzig Jahre.“

„Wahrhaftig?“

„Ja“, sagte ich.

„Aber ein Junglehrer.“

Wir lachten. Das war eine Anspielung auf eine alte Geschichte. Die Geschichte lag lang zurück; aber sie stand in meiner Kaderakte.

„Moment mal, wie alt wärst du jetzt?“

Wir rechneten beide. „Genau fünfzig“, sagte ich.

„Was willst du! In den besten Jahren.“

„Genosse Zibulka“, sagte ich, „ich will nun wieder in die Schule.“

Ich war oft bei Zibulka gewesen, wir hatten schon einen Berg von den Pfefferminzplätzchen gegessen. Es war Zibulkas Art, wo andere aufgebracht und lebhaft wurden, still und mit Bedacht zu reagieren. Das gefiel mir an ihm. Er war gut zwanzig Jahre jünger als ich. Er hatte ein Nierenleiden, vor zwei Jahren hatte er eine schwere Operation gehabt.

„Ich wollt schon immer mit dir reden, Genosse Zibulka. Ja, ich trag das eine ganze Zeit mit mir.“

„Aber du hast nie ein Wort gesagt.“

„Das hab ich nicht.“

Wir schwiegen.

„Ich hatte einmal eine Dorfschule“, sagte Zibulka. „Hundertzweiundsechzig Kinder. Ja, siebzehn Kilometer von Prenzlau ab …“ Eine Spur Verträumtheit war in Zibulkas Blick.

„Den einen zieht es mehr“, sagte ich, „den anderen weniger.“

„Ein unscheinbares Dorf, weißt du … Wir hatten uns ein paar alte Instrumente eingehandelt, eine Mandola, eine Gitarre. ‚Wir sind jung, die Welt ist offen …‘, ‚O Abendklang zur Dämmerung …‘ Wir hatten den ersten Klampfenchor in unserer Gegend …“ Als wäre nur ein Funken aufgeglüht und schon erloschen, Zibulka unterbrach sich selbst. „Wir sind Genossen“, sagte er, „und die Partei hat uns vor diese Aufgabe gestellt.“

„Ja, schon, und ich habe es nicht einen Tag bereut“, sagte ich, „ich hab es immer eingesehn, und es war notwendig … Nein, versteh mich recht, mir bleiben noch vier Jahre.“

Wir hatten eine Stunde gesessen und von den weißen Plätzchen gegessen. Mehrmals war die Sekretärin gekommen, der Genosse Stelter warte draußen; er müsse unbedingt noch mit Zibulka reden. Doch wir störten uns nicht darum.

„Aber du kennst unsre Lage im Bezirk“, sagte Zibulka.

„Es war immer eine besondere Lage im Bezirk.“

„Schon, aber jetzt“, sagte Zibulka, „gerade jetzt. Wir machen entscheidende Schritte in der Leistungssteigerung. Das weißt du selbst sehr gut.“

„Wir haben immer entscheidende Schritte gemacht“, sagte ich. „Entschuldige, daß ich dir den ganzen Nachmittag genommen hab – mit dieser persönlichen Angelegenheit.“

Er wehrte ab. „Du weißt, ich habe immer für dich Zeit.“

„Ja. Das weiß ich“, sagte ich.

An der Tür sagte Zibulka: „Überschlaf dir das. Sagen wir, das nächste Jahr, den nächsten Sommer, das versprech ich dir.“ Wir hätten dann auch Zeit, den Nachfolger zu suchen.

„Nein“, sagte ich, „so lange kann ich nicht mehr warten.“

6 Ich hatte noch denselben Tag ein Gesuch geschrieben. Ein halbes Blatt voll wilder Sätze. Ich redete ungeniert von einer Leidenschaft. „Bitte, Genossen, so sieht es in mir aus. Ich hab es fünfzehn Jahre gebändigt und gewürgt“, schrieb ich, „jetzt kann ich es nicht länger. Ich bitte Euch, Genossen, entscheidet selbst.“ Das Gesuch hatte ich an Zibulka adressiert.

Manchmal überkam mich eine kalte Angst, und der Schweiß brach mir aus, mitten in der Dienstbesprechung. Du hast die vielen Jahre kaum ein Lehrbuch in der Hand gehabt, sagte ich zu mir, wie willst du unterrichten? Und nach der Dienstbesprechung nahm ich mir zwei Aktentaschen und ging in die Stadt und kaufte Schulbücher ein. Wahllos. Ich wollte alle Schulbücher durchlesen.

Eines Tages hatte Zibulka angerufen.

Aber der Pförtner sagte zu mir: „Ich soll dir ausrichten, Genosse Wanzka, eine Sitzung. Es kann sich um ein Viertelstündchen hinauszögern.“ Er hatte das flache Fenster zugeschoben und war zu mir auf den Gang gekommen.

Ich erkundigte mich nach seinem Mädchen. Ja, ich hätte ihn unlängst auf der Straße gesehen.

Und der Pförtner erzählte mir die ganze Zeit über Heidelore. Mit zehn Monaten hätte sie zu sprechen angefangen, und sie würde nun fünf im August, und überhaupt wär sie ein selten kluges Kind. Sie hätte sich in den Kopf gesetzt, Fernsehtänzerin zu werden. „Du sollst bloß sehn, Genosse Wanzka, wie grazil sie tanzt.“ Neinnein, er gäbe nichts darauf.

Einmal klingelte das Telefon, und Zibulka fragte an, ob ich noch warte. Er ließ bestellen, es daure nun keine zehn Minuten mehr.

„Warum ist das verwerflich“, sagte ich, „wo sie so gerne tanzt.“ Und im Theater gäbe es einen Ballettzirkel für die Kleinen.

„Sie tanzt sehr grazil“, sagte der Pförtner, und es blinzelte lebhaft hinter den hellen Brillenkreisen.

So lange ich den Pförtner kenne, sitzt er dort in der kleinen Pförtnerstube. Er hat seine Psychologie, es genügen ihm ein paar Wörter aus der Telefonmuschel. „Kadergespräch?“

„Ja. So etwa.“

Ich möchte die Unterhaltung zurück auf Heidelore lenken. Es wäre doch keine Schande, sage ich. Wenn sein Mädchen so gut tanzen kann, dann könnte er nur …

„Eine andere Funktion?“

„Ja, eine andere.“

„Also höher?“

„Wie soll ich darauf antworten, ich will wieder in die Schule.“

„Also aussteigen.“

„Oder einsteigen, wie man das sieht.“

„Und du denkst“, sagt er, „Zibulka läßt dich gehn?“

„Schon, das denke ich … Schließlich, ich hab es mir verdient. – Um auf Heidelore zurückzukommen, du solltest das Theater anrufen, sag, du möchtest die Ballettmeisterin persönlich sprechen.“

Er gesteht mir, er ist längst da gewesen und hat das Mädchen für den Herbst angemeldet. „Eine Krankheit“, will er wissen, „eine Krankheit hast du nicht zur Hand?“ Eine Krankheit hätte jeder Mensch.

Eine Krankheit? Der Pförtner ist ein Sonderling. Ich bin gesund wie ein Fisch. Wozu sollte ich wohl krank sein! Es gefällt mir nicht, daß der Pförtner sich in meine Angelegenheiten fragt. Eine Krankheit! Schon, ich hatte dieses Jahr ein rheumatisches Reißen, fällt mir ein. Und ich spür das auch jetzt noch ab und an. Nein, von einer Krankheit kann hier nicht die Rede sein.

Die Sekretärin hatte Stühle in das kleine Zimmer getragen; außer Zibulka waren noch drei Genossen da, wir kannten uns.

„Nun, Gustav …“ Es war ein wenig feierlich, und Zibulkas Stimme war noch leiser heute. Wir griffen mit großen Fingern nach den kleinen Plätzchen im Stanniolpapier und witzelten dann. Darauf redete Zibulka weiter. Im Nebenzimmer klapperte die Schreibmaschine; ich hörte, wie Zibulka mehrmals meinen Vornamen verwendete, er erzählte meinen halben Lebenslauf. Ich mußte immerfort auf den einen Soldaten sehen, über uns, auf dem bunten Druck. Der Soldat saß abseits mit einem Kochgeschirr und einem Löffel in der Hand. Er kräuselte die Stirn und aß und hörte skeptisch auf jedes Wort, das hier geredet wurde. „Kurz und gut“, sagte Zibulka, „wir haben alles erwogen. Nein, nicht weil du unlängst bei mir warst …“ Die Genossen neben mir nickten stumm. Ich wäre nun fünfzehn Jahre Kreisschulrat. „Es ist nicht übertrieben“, sagte Zibulka, „wenn ich hier heute herausstellen möchte, daß der Kreis Neuleppin …“ Ich winkte ab. Und die Genossen neben mir griffen in meinen Jackenärmel, ich sollte Zibulka zu Ende reden lassen.

Es ging um den Wirkungsbereich; der Wirkungsbereich, sagten sie, wäre lange schon zu klein für mich. Und nunmehr wäre man übereingekommen, mir diesen Vorschlag zu unterbreiten. „Du weißt selbst, Gustav, wir brauchen einen Bezirksschulrat. Ja, und ab ersten neunten.“

Ich sagte in einem fort, daß das ein Mißverständnis wäre. „Genossen, ich habe ein Gesuch eingereicht!“

Sie beschwichtigten mich. Und ich wäre so bescheiden.

„Nein, ich habe ein Recht darauf!“, rief ich. „Ich habe alles ausführlich dargelegt.“

„Doch“, sagte Zibulka, „den Antrag haben wir gelesen.“

„Ja aber … Dann versteh ich nicht …“

Ich muß ein unmögliches Gesuch geschrieben haben. Ich blickte hilflos in die Gesichter, die es gut mit mir meinten und mein Gesuch belächelten. „Nein, versteht ihr nicht, Genossen!“

Es war mir plötzlich der Pförtner eingefallen, die dicken Brillengläser … Das Wort grazil tänzelte in meinem Sinn. „Genossen, wenn ihr das eine berücksichtigen wollt, ja, ich bin auch krank“, sagte ich.

Sie sahen mich erschreckt an. „Du bist krank, Genosse Wanzka?“

„Hm, ich hab ein Reißen“, sagte ich, „ein rheumatisches Reißen. Nein, ich habe das nicht aufgeschrieben.“

Die Genossen waren sehr besorgt um mich. Tatsächlich, sie hätten nicht gedacht, daß ich krank sein könnte.

„Ach wo, ein Moorbad hilft da nicht“, sagte ich, „ich hab das Reißen schon zu lange.“

Nun, es gibt andere Heilmethoden. „Und warst du schon zur Kur, Genosse Wanzka?“

„Eine Kur, eine …“

Ich soll sofort in Urlaub gehen. „Wann hattest du den letzten Urlaub?“

„Ich habe einen guten Freund in Descansar“, sagte ich, „ich sollte ihn immer schon einmal besuchen. Nein, Urlaub hab ich lange nicht genommen.“ Aber Zibulka, fiel mir auf, sagte nun nichts mehr. Manchmal sah er mich an, ich war mir ganz sicher, daß er dies durchschaute.

„Ach, sagt das nicht, Genossen, für die Schule geht das immer noch. Neinnein, ich laß die Fenster schließen, wenn es zieht“, sagte ich. „Ein chronisches Reißen, Genossen; glaubt mir, das läßt sich nicht mehr auskurieren.“

Ich ging wieder den Flur entlang, an den Porträts vorbei, den Ahnen und Urahnen der Partei. Und sie wußten bereits, wie es um mich stand. Sie waren kühl und zurückhaltend gegen mich. Und mir war das nicht recht.

Ich sah kaum auf, ich ging schnell die Treppe hinunter. Aber vor dem Pförtnerfenster blieb ich noch eine Minute. Ich hätte ein Reißen, erzählte ich. Ich hätte schon an ein Moorbad gedacht, ja. „Es gibt Nächte“, erzählte ich, „da läßt es mich nicht schlafen.“

7 Ich saß im Zug. Und es ratterte angenehm.

Ich hatte immer an eine Dorfschule gedacht, an Cantwitz oder Groß-Pelzkuhlen. In Groß-Pelzkuhlen gab es eine Fliederhecke, die auf die Straße wucherte. Das Schulhaus lag wie eine Glucke hinter dieser Fliederhecke.

Nun aber saß ich im Zug und fuhr nach Mirenberg, und es ratterte angenehm. Der Schaffner kam und ließ sich meine Karte zeigen. Ich fragte ihn, ob es noch weit wäre nach Mirenberg, obwohl ich jedes Dorf im Umkreis kannte. Da käme nun erst Wesenstein, sagte der Schaffner, während er zählend an die Finger schlug, dann käme Zitelow, und dann, dann käme Mirenberg. Der Schaffner hatte einen kleinen Makel im Gesicht. Das eine Augenlid hing sehr herunter, und sein Blick sah davon listig und verschlagen aus.

„Ja, ich bin nach Mirenberg versetzt“, sagte ich. Ich erzählte, daß ich Lehrer wäre und in Mirenberg nun eine neue Stelle hätte. „Mirenberg ist wohl nicht groß, wie?“

„Auf deutsch gesagt, ein Kaff.“

„Es ist doch, heißt es, eine Stadt?“

„Ja, eine Stadt.“

Er nickte und sah mit mir zum Fenster raus. Dann ging er weiter. Er hat etwas gegen Mirenberg, sagte ich zu mir.

Ich hatte Kuren und Bäder abgelehnt, anfangs auch den Urlaub. Aber es war bald keine Arbeit mehr für mich, nachdem nun feststand, daß Briesenbach mein Nachfolger wurde. Kam ein Inspektor vom Bezirk, so fragte er nach Briesenbach. Und die Lehrer von außerhalb erkundigten sich, wo sie Briesenbach treffen würden. Es hatte sich schnell herumgesprochen. Einmal rief Zibulka an. „Nein, es geht um den Schulneubau in Blankesleben, gib mir doch einmal den Genossen Briesenbach.“

Nun wollte ich mir Hals über Kopf eine Stelle suchen. Kinder sind in jedem Ort, aber ich dachte mehr an ein Dorf wie Cantwitz oder Groß-Pelzkuhlen.

Es gab auch Schulleiter, die nun nicht mehr bereitwillig und offen für mich waren. Und die Schulen waren alle gut besetzt.

„Was haben Sie gegen Mirenberg?“ sagte die Sekretärin. „Bartureit ruft jeden Tag an nach einem Mathelehrer.“

„Ich hab nichts gegen Mirenberg. Was sollte ich gegen Mirenberg haben! Nein, versuchen wir es noch einmal in Groß-Pelzkuhlen, Fräulein Bierhagen …“

Nun aber fahre ich nach Mirenberg. Und mit einem einzigen Gedanken schlag ich mich die ganze Fahrt. Vielleicht … vielleicht … Unsinn! Und unsere Welt braucht nicht nur Mathematiker! Und jedes Kind hat seinen guten Stein. Es geht nur darum, ob man ihn entdeckt. Ich bin übervoll von Selbstzutrauen. Ich rede mir ein, daß ich in jede Kinderseele blicken kann. Du brauchst nur ein paar Tage, sage ich zu mir, nur vier sechs Tage, und schon hast du heraus, wo es den guten Stein verbirgt … Aber angenommen, denke ich, angenommen, du fändest wieder einen Mathematiker?

Wir fahren durch warmen Kiefernwald. Kartoffelfelder ziehen vorbei. Ich glaube auch, daß unser Zug Verspätung hat.

Nein, ich hab nichts gegen Mirenberg. Es ist die beste Schule in meinem Kreis. Und einmal schickte ich eine französische Delegation nach Mirenberg. Obgleich, es ist ein Altbau. Und Direktor Zabel ist klein und unscheinbar; er ist auch nicht gewandt im Reden.

Ein Sommertag fällt mir ein, der liegt lang zurück. Ich traf Zabel, da war er barfuß und trug die holzbesohlten Schuhe auf dem Rücken; Zabel war siebzehn Kilometer durch den Wald gegangen, und nun war er glutrot darüber, daß der Schulrat seine nackten schwarzen Füße sah. Ich hatte Zabel mit dem Fahrrad überholt und ihn nicht sofort erkannt. Ich stieg ab und schob das Fahrrad neben ihm, und Stück um Stück kriegte ich heraus, daß Zabel zweimal jede Woche diesen Waldweg ging. Er war verschüchtert, er wurde glutrot, sobald ich eine Frage an ihn stellte. Wir hatten in Heinrichsdorf einen guten Methodiker, und Zabel hospitierte viel bei ihm. Vor Heinrichsdorf setzten wir uns an den Weg, und Zabel zog sich die Schuhe an, so und ohne Strümpfe. Daran erinnere ich mich gut. Das war im Sommer siebenundvierzig. Zabel hat eine Angewohnheit, fällt mir ein, er fängt die Sätze gern mit „nämlich“ an. „Nämlich: es ist doch ein Unterschied, ob man …“

Nein, ich hab nichts gegen Mirenberg, ich kenn dort jeden Kollegen. Den Englischlehrer Bintzeck kenn ich gut. In Neuleppin hatte es ewig Beschwerden über ihn gegeben, darauf hatte ich ihn nach Mirenberg versetzt, und nun gab er wohl Geographie; oder gab er Deutsch?

Und Bartureit ist ein korrekter Mensch.

Da fällt mir ein, ich habe ein Versprechen nicht gehalten. Bartureit hatte mir Jahr um Jahr zwei volle Aktenhefter zugeschickt. Das hatte ich nie gefordert, aber er schickte mir jedes Jahr die Abschriften von allen Plänen. Mit einem sachlichen Vermerk. Und einmal brachte Bartureit mir selbst die beiden dicken Aktendeckel. „Wie lange bist du nun schon Stellvertreter?“ fragte ich. Ich wüßte eine gute Schule, eine Zentralschule, und wir hätten dort noch immer einen kommissarischen Direktor.

Bartureit wollte nicht aufs Land. „Aber du wirst nicht ewig Stellvertreter bleiben wollen?“ sagte ich.

„Nicht, daß ich mich anbieten will, Genosse Wanzka; aber …“ Damals gestand mir Bartureit, er würde gerne Schulinspektor werden. Kreisschulinspektor, sagte er. „Du hast so ausdrücklich danach gefragt, Genosse Wanzka.“

Daran muß ich heute denken; es sind etliche Jahre vergangen, und Jahr um Jahr kamen die Aktendeckel. Und Bartureit ist noch immer ein Stellvertreter.

Die Schule Mirenberg steht schräg auf die Straße zu. Zwei lange Fensterreihen. In der Mitte das Portal. Sechs blinde Säulen aus grauem Putz. Und ein angedeuteter Altan über der Tür. Oben steht in großer Schrift:

GEGRÜNDET 1820

ABGEBRANNT AM 21. JANUAR 1848

WIEDER HERGESTELLT

DURCH GEORG G. H. v. M.

Einmal war dieses Haus das großherzogliche Lehrerseminar. Und diese Herbartschen Säulen am Portal … Ach ja, das ist Geschichte, und mich stören ein paar blinde Säulen nicht. Hinter dem linken Mittelfenster stehen zwei Globen, und über die Dachrinne lugen neugierig vier spitze Gaupen. Es ist so fast das größte Haus in Mirenberg.

Und der Rasen ist mit der Sense gemäht, sehe ich. Das Gras liegt noch in den Schwaden. Der schwere Geruch steht vor dem Haus. Ich gehe auch noch einmal zurück, bis ich die Gaupenfenster sehen kann. Und in diesen paar Sekunden habe ich mich in das Haus verliebt.

Es sind Sommerferien. Es ist still und angenehm kühl im Haus. Ich treffe Pikors. Er kommt mit einem schadhaften Stuhl die Treppe herunter. „Hast du den Rasen gemäht?“ sage ich. Pikors setzt den Stuhl ab und wir begrüßen uns. Wir kennen uns lange. Manchmal, wenn ich nach Mirenberg gekommen war, hatten wir ein kurzes Wort gewechselt. Wir sind Genossen. Und vor langer Zeit habe ich einmal bei ihm zu Mittag gegessen. „Ich will nun deine Gastfreundschaft ausnützen“, sage ich. Er lacht verschmitzt, er weiß das schon. Er ist von kleinem Wuchs, doch kräftig. Er ist ein stiller, aufmerksamer Mensch.

„Ist Zabel da?“

„Beide“, sagt er, „Zabel und Bartureit.“

Wir reden ein paar Sätze, dann nimmt er den Stuhl und geht. Ich stehe eine Zeit und sehe ihm nach.

Zabel kam mit vorgestreckten Armen auf mich zu. „Nämlich: wir haben gerade noch von dir gesprochen.“ Nein, heute hätte er mich nicht erwartet, sagte er.

Dann kam auch Bartureit aus dem Dienstzimmer, er schüttelte sehr lange meine Hand. „Sehr erfreut“, sagte er mehrmals. „Sehr erfreut, Genosse Wanzka.“ Es ist Bartureits Art, die Oberlippe so schrecklich anzuheben, wenn er lacht und freundlich ist, und das blasse Zahnfleisch ist zu sehen.

Wir gingen ins Direktorzimmer und saßen eine gute Stunde beisammen. Sie hätten nie gewußt, daß ich ein Mathematiklehrer bin. Ich erzählte, daß es etwas seltsam zugegangen wäre mit dieser Qualifikation, eigentlich verdankte ich das einem Schüler. Der Schüler hätte schon das erste Jahr die schriftliche Division begriffen. Ja, das gibt es! Wohl nur einmal auf der Welt. Und wohl nur alle hundert Jahre …

„Eine Frage: Angelst du, Genosse Wanzka?“

Das hatte ich nicht gedacht, das Kollegium Mirenberg war eine verschworene Anglergemeinschaft. Alle waren sie wie versessen auf den Angelsport, und Zabel und Bartureit betrieben ihn auf höherer Stufe, sie wären nicht Friedfischangler, sie angelten mit Spinnruten.

„Nein“, gestand ich verschämt, „ich hab noch nie geangelt.“

„Nie in deinem Leben?“

„Nein.“

Es wurde laut in dem Direktorzimmer. Ein Nichtangler! Sie müßten es sich wahrhaftig überlegen. Tausend Gründe gab es, warum ich Angler werden sollte. Und das Angeln wäre das Bindeglied für ein Lehrerkollektiv. Ich mußte die erste Lektion Angelkunde über mich ergehen lassen. Auch gab es einen kleinen Streit um zwei Angelknoten. „Respektive, der Clinch-Knoten mit doppeltem Durchzug …“, sagte Bartureit, der Clinch-Knoten wäre der allerhaltbarste. Zabel dagegen schwor auf den Dederon-Loop. Übrigens hörte ich, hier kreuzten sich die Funktionen. Im Angelsportverein der Stadt war Bartureit Vorsitzender, und Zabel war sein Stellvertreter.

Das fand ich alles lustig.

Ich erzählte, daß mein Großvater ein alter Haff-Fischer war, und ich selbst hätte ein paar Jahre … Nein, geangelt hätte ich noch nie.

Bartureit zog eine Schublade auf und legte einen Stapel kleiner Formulare auf den Tisch. „Wie gesagt, Genosse Wanzka, die Vorbedingung.“ Und er hob wieder die Oberlippe an.

Nun gut, ich würde es mir überlegen. Ich steckte mir eins von den Formularen ein. Das war alles sehr lustig.

Aber ich brannte darauf zu wissen, welche Klasse ich bekommen würde.

„Das erste Schuljahr, eine erste Klasse“, sagte ich, „das wäre nicht möglich, vielleicht?“

Ich hatte es mir gut vorgestellt, zehn Jahre eine Klasse zu haben. (Dann wäre ich einundsiebzig, das traute ich mir zu.) „Jaja“, sagte ich, „es war nur eine Frage.“

Es war nicht mehr als richtig, daß ich Mathematik unterrichten sollte. „Außerdem“, sagte Bartureit, „die Klassenlehrer stehen bereits fest.“ Für mich hätte er die „Heimklasse“ vorgesehen, die 8a.

Und Zabel sagte: „Unsre Musterklasse. Nämlich: im besten Sinne des Wortes.“ Die Heimklasse hatte einundzwanzig Schüler, und sie kamen alle aus dem Kinderheim.

„Nun ja“, sagte Bartureit, „was den Fleiß betrifft und die Disziplin. Nun, ich hab sie selbst drei Jahre lang geleitet.“

„Du fährst wieder mit dem Mittagszug, Genosse Wanzka?“

„Gezwungenermaßen.“

Zabel sagte, er hätte mich gern zu einer Fahrt nach den Holmbinsen eingeladen. Seine Kinderaugen sahen mich fragend an, so daß ich unschlüssig wurde. „Nein, es ist noch etliches, was ich erledigt haben möchte“, sagte ich. Aber ich versprach, die erste Angelfahrt mit ihm zu machen.

„Einspruch!“ rief Bartureit. Er müsse Einspruch erheben. Als Vorsitzender des Vereins habe er ein Vorrecht, sagte er. Überdies, er hätte einen Heckmotor, wogegen Zabel eine volle Stunde zu den Holmbinsen benötigte.

So redeten wir eine Zeit, es wurde viel gelacht.

Aber ein wenig wollte Bartureit doch die dienstliche Seite herauskehren. „Eh ich’s vergesse“, unterbrach er, „diese Beratung hier.“ Er reichte mir eine Einladung, die schon bereitgelegen hatte. Eine Einladung zur Fachlehrerberatung für Mathematik, ich hatte sie selbst unterschrieben. „Ich bitte, daran teilzunehmen, Genosse Wanzka.“ Ich ging bereitwillig auf den Ton ein und versprach es. Später unterbrach er ein zweites Mal und sagte wieder: „Ich bitte dich, daran teilzunehmen.“

Das hatte mir alles zugesagt.

Als ich ging, sah ich mich im Haus noch einmal nach Pikors um, aber ich fand ihn nirgendwo. Draußen war der Geruch von Wiesengras und Straßenstaub. Ein kluger Mensch, der unscheinbare Zabel, dachte ich. Und wie er es verstanden hat, seine private Angelleidenschaft zu nützen und sie allen anzuhängen. Und auch, er hält sich sehr geschickt zurück, sagte ich zu mir, er hat es Bartureit überlassen, mir jene Einladung zu geben.

Es war noch Zeit, und ich ging langsam durch die Stadt. In der Breitscheidstraße fiel mir eine Haustür auf. Sie war niedrig wie die anderen Türen in den Häusern; aber darüber waren Verzierungen geschnitzt, zwischen geschwungenen Ranken hing eine Lyra. Das ist eine schöne Tür, dachte ich. Ich ging noch einmal zurück und sah mir die Ornamentik auf den Türflügeln an.

Es gibt nichts, das die folgenden Tage in mir zurückgelassen hätten, bis auf ein freudiges Gefühl. Ich erinnere mich, wie ich in zwölf Kisten meine Bücher stapelte, daß ich den Teppich gründlich reinigte und dann umschnürte. Um die Bilder hatte ich Decken und Tücher gebunden. Beim Einräumen dann war mir Frau Pegelow behilflich. Ich hatte es gut getroffen. Vor dem Fenster wucherte der wilde Wein, darin tschilpten tagsüber die Sperlinge. Manchmal am Abend krümmte und reckte ich mich, ich suchte einen ziehenden Schmerz, ein Reißen. Aber ich wußte schon, es tat mir nichts mehr weh. Dann dachte ich an Zibulka.

Ich fing nun wieder an, auf der Geige zu spielen. Das ging anfangs sehr schlecht. Aber ich spielte jeden Abend etwas.

8 An Anka mußte ich oft denken. Ach, wäre das gut, Anka wäre da und nun mit in dieser Stadt! Wie viele Male war Anka mir entgegengekommen, wenn ich aus der Schule kam! Aber sie bestritt dies jedesmal; nein, sie sei zufällig diese Straße hochgegangen, sagte sie. Oh, sie hatte ihre kleine List, täglich eine Spannung zu erhalten.

Das zweite Jahr hatte Anka die Operation, und wir wußten nun, wir würden niemals Kinder haben. Aber es ging Anka danach gut, sie war jetzt wieder ganz gesund. Und Martin war jeden Tag bei uns, und Anka verwöhnte ihn wohl etwas. Martins Eltern war dies gar nicht recht, obwohl sie insgesamt neun Kinder hatten und nur den kargen Schrankenwärterlohn. Der Vater war ja so sehr eifersüchtig, und es entschädigte ihn wenig, wenn ich prophezeite, daß sein Sohn einst ein Professor werde, ein Mann der Wissenschaft.

Es kam jenes Jahr, in dem der weiße Garten einen anderen Anstrich erhielt, eines Sonntags waren über zwanzig Kinder mit Pinseln und Gefäßen an dem langen Gartenzaun. Die Kinder hatten braune Hemden, und auch den Zaun strichen sie braun an. Zuvor war Rektor März fristlos aus dem Dienst entlassen worden, denn er war Sozialdemokrat; der neue Rektor hieß nun Scherbel. Wir standen anfangs geschlossen gegen Scherbel und für Rektor Ödipus. Scherbel bat mich für ein Gespräch ins Rektorzimmer. „Nein“, erwiderte ich, „da sind Sie gänzlich falsch unterrichtet, Herr Kollege.“ Und ein weißer Zaun ist mir noch zehnmal lieber als ein brauner, sagte ich. Scherbel regierte vorsichtig und mit Geschick, nach einem Jahr schon hatte er viel Einfluß im Kollegium, und auf fünf Jackenrevers war das runde Abzeichen, und die Hitler-Jugend schlug etliche von den Schulgartenbäumen um und schuf vorn im Garten einen Fußballplatz. Einmal traf ich Rektor Ödipus, wir gingen aufeinander zu. Ach, muß ihn das schmerzen, dachte ich, da nun dies aus dem weißen Garten geworden ist, und vergessen war ein alter Streit. Aber der Mann trat geschäftig auf mich zu, und die grauen Äuglein blinzelten zufrieden und ohne jeden Vorwurf. Ja, sein Schwager besäße jene Molkerei in der Schlieffenstraße, und er selbst hätte nun die Büroleitung übernommen. „Der Edelpilzschnittkäse …“, sagte er. Ja, sie wären jetzt dabei, die Produktion vollkommen umzustellen, und er geriet in Eifer über diesen Edelpilz, wie früher, wo es um die Psychoanalyse ging.

Nun war Martin im Realgymnasium. Anka kaufte ihm eine flache bunte Mütze mit blankschwarzem Schirm. Ich ließ mir am Nachmittag berichten, wie sehr verwundert Studienrat Horn gewesen wäre, da Martin schon die binomischen Formeln kannte.

Und im Oktober bat mich Rektor Scherbel, ich möchte in sein Zimmer kommen. Er bot mir eine Zigarette an, doch es fiel ihm hierbei ein, ich hätte einen Antrag noch nicht abgegeben, den Antrag für den NS-Lehrerbund. Der Antrag aber, sah ich, lag bereit für meine Unterschrift auf seinem Tisch. „Nein“, sagte ich, „und diesem Bund trete ich nie bei … Bitte? … Selbst dann nicht … Nun, das ist wohl meine Angelegenheit.“

Ich hatte mit Anka über dieses alles schon gesprochen, es überraschte uns auch nicht, daß noch denselben Tag der Stadtbote für uns den Brief abgab. Ich dürfte, ab sofort, das Schulhaus nicht betreten, hieß es, und es wäre nunmehr die Entlassung eingeleitet. Ja, das hatten wir erwartet, aber ich zweifelte nun doch. Was wird jetzt aus deiner Klasse, dachte ich, aus deiner sechsten Klasse? Und ich war mir gar nicht sicher, ob ich nicht äußerlich hätte jenem Bund beitreten sollen.

Und es kam ein Mann, der wollte ein paar Angaben von mir. Seit wann ich die Arbeit verweigert hätte? fragte er. „Aber nein“, rief ich, „bitte, lesen Sie nur diesen Brief!“ Er blätterte viel. Er ließ sich ein paar Daten bestätigen. Plötzlich fragte er, ob mein Großvater mütterlicherseits ein Pole wäre. „Das gehört wohl nicht zur Sache“, sagte ich. Und ich wehrte mich, ich hätte auch nie die Arbeit verweigert. „Außerdem, ab nächste Woche arbeite ich bei der Eisenbahn“, sagte ich. „Ja, als Strek-kenarbeiter“, sagte er, auch das wußte er bereits.

„Laß uns fortgehen“, sagte Anka, „dies nimmt kein gutes Ende.“

Damals zogen wir zurück ans Haff. Der Heide lebte nun nicht mehr, doch wir zogen in dasselbe alte Fischerhaus. Wir schickten monatlich das Geld für das Realgymnasium. Und Anka schrieb Martin lange Briefe, und anfangs kam Martin jede Ferien. Wir zwei ruderten dann auf das Haff und nahmen Reusen auf und redeten über Atome und die Wissenschaft. Oder über den Professor Einstein, der nun nicht in Deutschland lebte. Anfangs kam Martin jede Ferien – ach, dies war eine gute Zeit!

Die Stadt Mirenberg hat ihren Rhythmus.

Da gehen den frühen Morgen die Werftarbeiter die Bahnhofstraße hoch. Darauf kommt der Gegenzug mit der letzten Schicht. Und nachmittags setzt es wieder ein, die Bahnhofstraße ist voll Menschen, und wieder kommt der Gegenzug. Und nachts geschieht das noch einmal.

Bald kenne ich die Zeiten, wann die Sirenen heulen. Vom Sägewerk. Von der Futtermühle. Dazwischen gibt es Lokomotivenpfiffe, die täglich wiederkommen. Man vernimmt sie bis kilometerweit hinter die Stadt.

Zu den Regelmäßigkeiten gehörte es auch, daß um siebzehn Uhr eine bunte Kolonne durch die Stadt zog. Sie kamen die Breitscheidstraße herunter, dann bogen sie in den Töpferweg. Ich sah sie schon das dritte Mal.

Ein größerer Junge trug einen Marmeladeneimer. Um ihn ein breiter Schwarm von Zehn- und Elfjährigen. Sie kamen von der Wurstfabrik, in dem Eimer waren Fleischabfälle.

„Da hast du eine Hundezucht?“ fragte ich den Jungen.

„Ho!“ Und er lachte auf.

„Also Katzen?‘‘

„Ho, Katzen!“ Das fehlte ihm. Nein, für Katzen hätte er nichts übrig. „Eulen“, sagte er.

„Soso.“ Aber etwas mußte er schon haben, wo ihn dieser Schwarm umgab. Ich schloß mich ihnen an.

Die Kolonne drängte die Vorübergehenden vom Trottoir. Und keinem stand der Mund nur einmal still. Den Jungen mit dem Eimer nannten alle Zickel. In einem rief es „Zickel! Zickel!‘‘. Wir zogen quer durch die Stadt.

Zickel hatte nicht gelogen. Er hatte Schleiereulen, Käuze – die Waldohreule sah ich. Wir kletterten alle die Leiter hoch und hockten dann still im Halbdunkel des Stallbodens. Nur Zickel redete hier laut, ihn kannten die Eulen. Der Boden war mit Netzstücken und mit Draht und Stöcken in Verschläge eingeteilt. Ein kleiner Steinkauz war sehr zahm, er drehte den Kopf, sobald sich etwas bewegte. Zickel zog sich einen alten Handschuh über, und der Steinkauz saß dann still in seiner Hand. Mehr als die Eulen bewunderte ich die Kinder, wie sie hockten und sich nicht regten. Zickel ging souverän umher und hatte es nicht nötig, ein mahnendes Wort zu verlieren.

Diese Zusammenkünfte waren von wechselseitiger Nützlichkeit. Zickel zeigte den Kleinen die Eulen, und sie durchstöberten die Stadt nach Sperlingen und Mäusen, damit die Eulen ihr Gewölle hatten.

Ich fragte Zickel später nach seiner Klasse.

„Achte“, sagte er.

„Wie, in der Heimklasse?“