Penny - Zeit zu sterben - Sylvia Schneider-Schier - E-Book

Penny - Zeit zu sterben E-Book

Sylvia Schneider-Schier

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Beschreibung

Alle Dinge sind seelenlos und tot! Bist Du Dir absolut sicher? Lass Dich vom Gegenteil überzeugen und lese, was Penny zu berichten hat. Du wirst überrascht sein, was sie im Laufe ihres Daseins alles erlebt. Wahrscheinlich mehr als Du und auch Du und ich zusammen. Penny überlebt Kriege und Katastrophen, lernt Berühmtheiten und außergewöhnliche Menschen kennen. Sie erlebt, wie sich die Welt in den Jahrzehnten verändert. Lass Dich mitnehmen auf eine spannende Zeitreise durch die Geschichte. Eine Reise der etwas anderen Art. Eine Zeitreise aus Pennys Perspektive. Eine Mischung aus Realität und Fiktion, Wahrheit und Fantasie.

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Inhalt

Der Anfang vom Ende

Darf ich vorstellen? – Penny

Lauter Lügen

Klaras ungeborenes Kind

Was Penny damals nicht wissen konnte

Ein neuer Anfang im Elsass

Auf Nimmerwiedersehen

Schmutzige Bekanntschaften

Joseph und der tollwütige Hund

Suche nach Pasteur

Rettung für Joseph?

Was Penny damals nicht wissen konnte

Mein Studium der Medizin

Unsere Fahrt mit der Eisenbahn

Vergnügungen in der Roten Windmühle

Was Penny damals nicht wissen konnte

In den Händen eines Taugenichts

Die deutsche Einheitszeit

Was Penny damals nicht wissen konnte

Als die Bilder laufen lernten

Was Penny damals nicht wissen konnte

Mein Leben im Hause Conrad

Amouröse Abenteuer

Der Mord an Sissi

Was Penny damals nicht wissen konnte

Mein letzter Wille

Was Penny damals nicht wissen konnte

Das lange Warten

Mein Aufenthalt in London

Die olympischen Spiele

Mata Haris Schleiertanz

Was Penny damals nicht wissen konnte

Schönheit muss leiden

Was Penny damals nicht wissen konnte

Aufregung in Domodossola

Theresas Tagebücher

Der geheimnisvolle Patient

Der Flug-Wettstreit

Über den Wolken

Die letzten Stunden

Was Penny damals nicht wissen konnte

Schlagzeilen

Der Untergang der Titanic

Was Penny damals nicht wissen konnte

Ein Attentat und seine Folgen

Gesichter eines Krieges

Was Penny damals nicht wissen konnte

Im Angesicht des Todes

Es war einmal

Zehn lange dunkle Jahre

Felix, meine Rettung

Die Bestie im Glas

Fritz Haarmann, der Schlächter von Hannover

Was Penny damals nicht wissen konnte

Eine Verwechslung und ihre Folgen

„Graf“ Viktor Lustig, der geniale Hochstapler

Was Penny damals nicht wissen konnte

Im städtischen Leihhaus

Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit

Feldpostbriefe

Was Penny damals nicht wissen konnte

Ein Krieg und seine Opfer

Im Pfarrhaus

Die Flutkatastrophe

Was Penny damals nicht wissen konnte

Meine Konkurrenz

der Kugelschreiber

Was Penny damals nicht wissen konnte

Alt und einsam

Was Penny damals nicht wissen konnte

Auf dem Trödelmarkt

Grippe aus Hongkong

Was Penny damals nicht wissen konnte

Hans, mein Glück

Der geheimnisvolle Fra Stefano

Was Penny damals nicht wissen konnte

Aus und vorbei

Die Autorin

Quellenverzeichnis

Bildnachweise

Vorwort

Als leidenschaftliche Antikmarktbesucherin liebe ich alte Dinge. Jeder alte Gegenstand hat seine eigene Geschichte. Doch leider können diese Gegenstände uns nichts darüber erzählen und es bleibt alles unserer Fantasie überlassen.

Also habe ich Penny erschaffen und ihr ein eigenes Leben eingehaucht. Auf diese Weise kann sie von ihren spannenden Erlebnissen berichten. Im Laufe ihres langen „Lebens“ gelangt Penny in die Hände unterschiedlichster Menschen in verschiedenen Ländern. Naiv und unverdorben schildert sie Ereignisse, die später sogar in die Geschichte eingingen. „Was Penny damals nicht wissen konnte“, habe ich durch erläuternde Kapitel ergänzt.

So vermischen sich in diesem Roman Realität und Fiktion, Wahrheit und Fantasie.

In Texten, die aus alten Zeitungen oder Briefen stammen, wurde absichtlich die alte Rechtschreibung beibehalten. Auch auf eine gendergerechte Sprache wird in diesem Roman verzichtet, da Penny zu jener Zeit von solchen Dingen noch keine Ahnung hatte.

Offenburg, im April 2023

Sylvia Schneider-Schier

Der Anfang vom Ende

So soll es nun also enden? Einsam und verlassen in feuchtkalter Finsternis und nicht enden wollender Stille? Wie lange liege ich schon hier? Seit Ewigkeiten an derselben Stelle. Hüllenlos, benutzt, verdreckt und weggeworfen wie Abfall. Längst habe ich aufgehört, die Tage und Nächte zu zählen. Es waren zu viele. Tag und Nacht haben sich, ohne sich an mir zu stören, wie Liebende eng umschlungen, sind gleichsam miteinander verschmolzen und zu einer endlosen Zeitschleife geworden.

Ich kann mich nicht bewegen. Unheilvolles Schweigen liegt bleischwer auf mir und droht mich zu ersticken. Von draußen dringt kein Laut zu mir herein. Ist dies mein Ende? Nach allem, was ich schon durchgemacht habe? Das war’s?

Unendlich lange schon habe ich keine menschliche Stimme mehr vernommen. Überlassen sie mich einfach meinem Schicksal? Ich werde hier vollends verrotten und keine Menschenseele wird mich jemals vermissen! Finito, over and out? Merde! Mit jeder Stunde werde ich schwächer. Meine Gedanken fließen zäher und haben zunehmend Mühe, sinnvolle Sätze zu bilden. Ich habe nicht einmal mehr Angst. Das Nichts hat sich still und leise breitgemacht und sämtliche Empfindungen, wenn ich denn je welche hatte, ausgelöscht. Inzwischen ist es mir fast schon egal, ob ich diesen grässlichen Ort jemals wieder verlassen werde. Eine Zukunft wird es für mich nicht mehr geben. Es existiert nur noch die Vergangenheit. Doch auch meine Erinnerungen beginnen langsam zu verblassen. Schemenhafte Bilder ziehen an mir vorbei gleich Nebelschwaden, die im Herbst lautlos über feuchte Wiesen kriechen.

Wie bin ich überhaupt hierhergekommen? Wer hat mir das angetan? „Na mach schon Penny, reiß Dich zusammen! Nicht aufgeben! Noch nicht! Erinnere Dich! Gehe in Gedanken zurück an den Beginn Deiner Geschichte. Und dann – wenn Deine Kraft noch reicht – unternimm eine letzte Reise durch die vergangenen Jahre bis hierher an diesen grässlichen Ort. Erzähle Deine Geschichte und bleib am Leben! Nimm Deine ganze Kraft zusammen und stell Dir vor, es gibt noch jemanden, dem Du wichtig bist. Bevor Du all Deine Erinnerungen mitnimmst an einen Ort, von dem es keine Wiederkehr mehr gibt. Vielleicht gibt es ja doch noch eine allerletzte Chance! Na los, erzähle!“

Darf ich vorstellen? – Penny

Ich bin Penny. Neugierig, klug, weitgereist, klein, von schlanker Gestalt und inzwischen schon über 130 Jahre alt. Ich bin – oder besser gesagt – ich war einmal eine wahre Schönheit. Keine Idealmaße mit 90-60-90, aber dafür etwas ganz Besonderes. Meine Maße liegen eher bei 150-10 und so richtig weibliche Formen suchst Du bei mir vergebens. Ich beherrsche mehrere Sprachen, war in vielen Ländern und habe schon mehr erlebt, als Du Dir in Deinem kurzen Menschenleben überhaupt vorstellen kannst. Und das obwohl ich mich ohne fremde Hilfe nicht einmal bewegen kann.

Im Großen und Ganzen bin ich ganz zufrieden mit mir. Nur eines stört mich seit ich denken kann: Ich stecke in einem falschen Körper! Ich bin absolut kein seelenloses Ding, kein gewöhnlicher Füllfederhalter! Nein, tief in meinem Innern bin ich ein richtiges Weibsbild mit Emotionen, Temperament und Stil. Ohne jeglichen Zweifel: Ich bin eine Frau und kein Mann! Ich bin nicht „ein Füllfederhalter“, sondern „eine ganz besondere Füllfederhalterin“! Zwar alles andere als perfekt, aber dafür habe ich ein phänomenales Gedächtnis. Was ich einmal geschrieben oder gehört habe, gerät niemals in Vergessenheit und ich kann es eins zu eins wiedergeben.

Aber erst einmal zurück zu meinen Anfängen: Ich stamme aus dem 19. Jahrhundert. Zu meiner Entstehungszeit galten Schreibgeräte wie ich als Revolutionäre. Füllfederhalter wie ich ersetzten die damals zum Schreiben gebräuchliche, jedoch unpraktische Kombination aus Tintenfass, Tauchfeder, Löschwiege und Löschsand. Ich bin quasi die Bahnbrecherin für moderne Büros, obwohl ich absolut nichts gemeinsam habe mit diesen seltsamen neumodischen Geräten wie Notebooks oder Smartphones, mit denen Du heutzutage kommunizierst. Für Dich bin ich wahrscheinlich nur ein Relikt aus grauer Vorzeit. Doch zu jener Zeit war ich wirklich eine Sensation.

Mein Gehäuse wurde damals noch von Hand aus edlem schwarzem Ebenholz gefertigt und aufwändig mit filigranen Ornamenten verziert. Einst zierte mich sogar ein kleiner funkelnder Diamant. Er war mein ganzer Stolz. Meine Feder ist vergoldet und meine Spitze besteht aus Iridium. Diese Spitze verengt sich zu einem Punkt, damit die Tinte aus meinem Vorratsbehälter in einer dünnen, gleichmäßigen Linie ordentlich zu Papier gebracht werden kann.

Ohne überheblich zu sein – ich war zu jener Zeit wirklich äußerst bemerkenswert. Mittlerweile jedoch ist mein Glanz verblasst, meine Feder schon reichlich abgenutzt und die Zeit hat viele hässliche Spuren an mir hinterlassen. Man könnte es positiv formulieren und sagen, ich hätte Patina angesetzt. Doch machen wir uns nichts vor – ich bin einfach nur verbraucht, aus der Mode gekommen und meine Zeit ist abgelaufen. Ich bin quasi eine „alte Schachtel“ und wurde schon längst gegen etwas Jüngeres und Hübscheres ausgetauscht. Jetzt liege ich hier in der Schublade einer scheußlichen, muffigen Kommode.

Alt, unansehnlich, schmutzig, ein wenig angekaut und von allen vergessen.

Als „junges Ding“ war ich ziemlich naiv und voller Neugier auf all die Abenteuer, die im Laufe der Zeit auf mich warten würden. Doch das Schicksal hatte mir einen Streich gespielt. Denn anders als all die anderen Füllfederhalter, hatte ich ja die Seele einer Frau. Sinnliche Gefühle, geheime Wünsche und leidenschaftliche Sehnsüchte. Und ganz selbstverständlich war ich davon ausgegangen, dass ich fortan in der Hand eines hübschen, starken Mannes liegen würde. Ein Mann, der wüsste, wie man eine Frau wie mich berührt; dem ich jeden Wunsch erfüllen würde, was immer er auch schreiben wollte.

Wie ahnungslos und dumm ich damals doch gewesen war! Denn es kam alles ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Im Laufe der Zeit war ich im Besitz vieler unterschiedlicher Menschen. Und mein „Leben“ sollte – wie Du gleich erfahren wirst – alles andere als alltäglich werden.

Lauter Lügen

Unsere Zeitreise beginnt im Jahre 1884.

Na endlich! Der Deckel meiner Schatulle, in der man mich aufbewahrt hatte, wurde geöffnet. Helles Licht vertrieb das bedrückende Dunkel und ein hübsches, freundliches Gesicht strahlte mich an. Tiefblaue Augen, eine zierliche Nase, ein makelloses Gesicht, eingerahmt von schwarzen samtigen Locken. Doch welch ein Schreck! Eine Frau! Bitte nicht! So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Mein Leben sollte ich also – ganz entgegen meinen innigsten Wünschen – nicht mit einem hübschen starken Mann teilen, sondern mit einem weiblichen Wesen. Ich war zutiefst enttäuscht. Vom ersten Augenblick an konnte ich dieses junge Ding nicht leiden. Klara!

Irgendetwas an ihr störte mich gewaltig, obwohl ich nicht erklären konnte, was es war. Wahrscheinlich tat ich ihr Unrecht, denn Klaras Augen leuchteten vor Glück, als sie mich erblickte. Vorsichtig hob sie mich aus meinem samtigen Bett. Fast schon zärtlich strich sie mit ihrem Zeigefinger über die feinen Ornamente meines Ebenholz-Gehäuses. Behutsam berührte sie meine goldene Feder und den kleinen Diamanten. Ganz so, als fürchtete sie, mir weh zu tun. Wie gut hätte sich das angefühlt, wäre Klara ein Mann gewesen. Jeden begehrenden Blick, jede sanfte Berührung hätte ich genossen.

Naiv wie ich war, hielt ich Klara zu jenem Zeitpunkt noch für ein nettes, unschuldiges Mädchen. Doch weit gefehlt. Wie ich bald erkannte, war meine Besitzerin ein ganz durchtriebenes liederliches Ding. Ein richtiges Biest!

Nichts desto trotz war Klara ein Glücksfall für mich. Sie behandelte mich immer gut. Ihre Hand hielt mich beim Schreiben mit lockerem Griff. Mit energischem Schwung führte sie meine Feder über das Papier. Obwohl sie die Schule nur kurz besucht hatte, konnte sie schön und nahezu fehlerfrei schreiben und erstaunlich gewandt mit Worten umgehen. Zuweilen hielt sie beim Schreiben inne, um sich in irgendwelchen Träumereien zu verlieren oder nach den richtigen Worten zu suchen. Fast jeden Abend, bevor sie zu Bett ging, füllte ich (oder besser gesagt Klara) eine Seite ihres Tagebuches mit all ihren intimen Gedanken. Zu meiner Schande muss ich heute gestehen, dass Klara und ich auch viel gemeinsam hatten. Wie oft schrieb sie genau das in ihr Tagebuch, was ich mir insgeheim so sehr wünschte. Nur hätte ich nie solche Worte dafür gebraucht. Unanständige, schamlose Fantasien, die mir damals noch völlig fremd waren, mich aber zugegebenermaßen in höchstem Maße erregten.

Klara ließ mich ungewollt an ihrem Leben teilhaben. Auf ihrer Spiegelkommode hatte sie mir einen Platz neben ihrer silbernen Puderdose, ihrem Flacon mit Duftwasser und ihren golden glänzenden Haarspangen zugedacht. So wurde ich täglich ungewollt Zeuge dessen, was sich in ihrer Kammer abspielte. Bald kannte ich meine Besitzerin besser als jedes andere Wesen. Möchtest Du wissen, was ich alles sah, wenn Klara sich unbeobachtet fühlte? Da gäbe es tatsächlich viel Aufregendes zu berichten. Aber nein, es geziemt sich nicht, solche Dinge auszuplaudern. Ich überlasse es lieber Deiner Fantasie, Dir vorzustellen, wie sich Klara und ihre Liebhaber hinter geschlossenen Gardinen vergnügten. Nur so viel: Manches Mal wünschte ich mir, nicht Zeuge solcher Schauspiele sein zu müssen, da ich mich zu sehr schämte. Im Nachhinein betrachtet muss ich über solch eigentlich harmlose Vorstellungen aber beinahe lachen. Ich hatte damals ja noch keine Ahnung, was ich in den folgenden Jahren noch alles an Schamlosigkeiten sehen würde.

Klara schien sehr glücklich und ich war zufrieden. Täglich nahm sie mich zur Hand und die Seiten ihres Tagebuches wurden voller. Nach einigen Monaten jedoch schrieb die sonst so mitteilsame Klara immer seltener in ihr Büchlein. Die Sätze wurden ernster und bedrückender. Und immer öfter lag ich tage- oder gar wochenlang nutzlos wieder eingesperrt im Dunkel meiner Schatulle. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Zudem entging mir völlig, was sich während dieser Zeit da draußen alles abspielte. So eine Gemeinheit! Meine Neugier und auch mein Missmut wuchsen von Tag zu Tag.

Endlich, nach langer Zeit öffnete Klara wieder den Deckel der Schatulle und nahm mich heraus. Doch irgendetwas stimmte nicht. Klara schien verändert. Statt Fröhlichkeit und Unbeschwertheit sprachen Kummer und Sorge aus ihrem Blick. Ihre sonst so leichte Hand fühlte sich beim Schreiben schwer und unsicher an. Krampfhaft umfassten mich ihre Finger, so dass selbst ich mich seltsam unbehaglich und bedrückt fühlte.

Der Brief, den Klara dann schrieb, machte mich anfangs sehr traurig. Wäre ich damals in der Lage gewesen, wie ein Mensch zu weinen, so hätte ich sicher bittere Tränen vergossen. So aber wurde nur die Tinte, die aus meiner Spitze floss, immer dünner und wässriger. Erstaunlicherweise war ich sogar fähig, meine Gefühle auf meine ganz eigene Art zum Ausdruck zu bringen.

Den Inhalt von Klaras herzzerreißendem Brief werde ich nie vergessen. Erst viel später habe ich begriffen, dass die liebe kleine Klara nicht die ganze Wahrheit über sich geschrieben hatte. Sie stellte sich als ein unschuldiges bemitleidenswerte Geschöpf dar, das völlig unverschuldet ins Unglück gestürzt war. Dem war aber leider nicht so. Im Gegenteil. Wer konnte das besser wissen als ich? Klara war alles andere als naiv und ihr Handeln war stets durchdacht. Nur hatte sie eben in diesem Falle die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Klaras ungeborenes Kind

„Mein geliebtes Kind, ich schreibe Dir diesen Brief, obwohl ich nicht weiß, ob Du ihn jemals lesen wirst. Aber falls doch, wirst Du mit Sicherheit schon erwachsen sein.

Ich weiß nicht einmal, ob Du kleines Wesen, das gerade in mir heranwächst, ein strammer kleiner Knabe oder ein süßes kleines Mädchen bist. Es macht mich sehr traurig, dass ich niemals erfahren werde, wie Du aussiehst, welchen Namen Du trägst, wo und wie Du aufwachsen wirst und welches Schicksal Deinen Lebensweg leiten wird.

Ich werde Dich niemals lächeln und niemals weinen sehen. Nie werde ich erfahren, was für ein Mensch Du sein wirst. Niemals werde ich Dich in meinen Armen halten und nie werde ich Dir Geborgenheit geben können. Ich werde niemals eine richtige Mutter für Dich sein. Allein diese Gedanken schmerzen so sehr, dass ich es kaum aushalten kann.

Eigentlich dürfte es Dich gar nicht geben, da ich schon fest entschlossen war, Dich nicht zur Welt zu bringen. So viel Schlechtes habe ich erlebt, was ich Dir mein Kind gerne ersparen wollte. Ein Leben ohne Zukunft, in Schande und Armut. Auch die Vorstellung, Dich zu einer Engelmacherin zu bringen, ist mir unerträglich.“

Das also war der Grund für Klaras verändertes Aussehen. Die ungewohnt schweren Brüste und der dicke Bauch, den sie unter einem weiten Kleid zu verbergen suchte, das runde rosige Gesicht und ihr schwerfälliger Gang. Sie erwartete ein Kind. Aber warum klang dieser Brief so traurig? Sollte sie nicht überglücklich sein? Ich verstand das damals alles nicht und war gespannt, wie Klaras Brief weiterging.

„Vielleicht wird man Dir eines Tages sagen, dass die Person, die all die Jahre für Dich gesorgt hat, nicht Deine leibliche Mutter ist. Und wahrscheinlich werden Dir schändliche Dinge über meine Person, die Frau, die Dich zur Welt gebracht hat, zugetragen werden. Lügen und teils auch unschöne Wahrheiten. Aus diesem Grund schreibe ich Dir heute diese Zeilen, damit Du selbst ein Urteil über mich fällen kannst. Was Du in diesem Brief liest, soll beileibe keine Entschuldigung dafür sein, dass ich Dich als Mutter im Stich gelassen habe. Aber es ist mir wichtig, dass Du verstehst, wie es dazu gekommen ist.

Wie soll ich beginnen? Dir die Wahrheit über mich zu sagen, fällt mir schwer, da ich weiß, wie sehr sie Dich verletzen wird. Du wirst Dich meiner sicher schämen und vielleicht wirst Du mich sogar verabscheuen. Trotz allem werde ich Dir nichts verheimlichen und Dinge aussprechen, über welche die ach so feine Gesellschaft gerne schweigt. Aber ich trage die leise Hoffnung in mir, dass Du mir eines Tages verzeihen wirst.

So schlimm die Wahrheit auch sein mag – das Schändlichste zuerst: Du, mein liebes Kind, Du bist das Kind einer Prostituierten, das Kind einer Hure!“

So also nannte man Mädchen wie Klara. Prostituierte! Hure! Dass sie nicht war wie andere Frauen, hatte ich mir schon gedacht. Wie sie ihre Tage und Nächte verbrachte, war schon höchst seltsam. Was aber genau Huren waren, sollte ich später noch genauer erfahren.

„Ich kann mir vorstellen, dass dies ein furchtbarer Schock für Dich sein muss. Es tut mir so leid, Dir das anzutun. Doch wenn Du trotz allem noch immer wissen möchtest, wer Du wirklich bist und von wem Du abstammst, dann lese hier, wer ich bin und wie alles kam. Wenn ich in meinen Schilderungen zuweilen etwas ausschweife, dann nur, damit Du mich besser verstehst.

Zu Deiner Beruhigung noch eine Sache vorneweg: Ich bin keine dieser gewöhnlichen liederlichen, faulen und dummen Straßendirnen. Ich habe – obwohl ich aus einer einfachen Familie stamme – eine gute Schulbildung genossen und im Großen und Ganzen habe ich anständig gelebt. Und vor allem weiß ich – trotz meines für Dich unvorstellbaren Lebenswandels – mit absoluter Sicherheit, wer Dein Vater ist. Aber ich habe bei Gott geschworen, dass der Name dieses Mannes niemals mehr über meine Lippen kommen wird. Ich kann Dir aber versichern, dass er ein wohlhabender und angesehener Bürger dieser Stadt ist. Und hätte uns das Leben auf eine andere Art und zu einer anderen Zeit zusammengeführt, so wäre ich heute vielleicht die getreue Ehefrau an seiner Seite und wir wären eine glückliche kleine Familie. Doch das Schicksal hat mir, und damit leider auch Dir, einen anderen Weg bestimmt.“

Da war sie schon, Klaras erste große Lüge. Woher wollte sie denn „mit absoluter Sicherheit“ wissen, wer der Vater dieses Kindes war? Meiner Ansicht nach kämen da viele in Frage. Und ich rede nur von denen, die ich in ihrer Kammer gesehen habe. Wer weiß, was Klara sonst noch so getrieben hatte. Und von wegen wohlhabender und angesehener Bürger dieser Stadt. Dass ich nicht lache! Meinte sie etwa einen dieser vielen Taugenichtse, mit denen sie ihre Nächte verbracht hatte? Derbe, ungebildete und oft volltrunkene Kerle, die sich nicht zu benehmen wussten.

„Es ist noch keine drei Jahre her, dass ich zusammen mit meinen zwei älteren Brüdern bei meinen Eltern auf dem Lande lebte. Mein Vater betreibt dort einen kleinen Schusterladen und meine Mutter hilft, so oft es geht, bei Nachbarn in der Landwirtschaft. Meine Eltern, also Deine Großeltern, sind rechtschaffene Leute, die uns Kinder immer gut behandelt haben. Meine beiden Brüder verdienen schon längst ihren eigenen Lebensunterhalt. Trotzdem reichte das Geld bei uns zu Hause vorn und hinten nicht aus.

Meine Eltern jammerten immer häufiger, dass sie, wenn ich einmal heiraten wollte, nicht in der Lage wären, mich mit einer angemessenen Mitgift auszustatten. Sie hatten aber gehört, dass man in der Stadt gutes Geld verdienen könne. Also verlangten sie eines Tages von mir, dass ich mir in der Stadt Arbeit suche, damit ich selbst für meinen Lebensunterhalt aufkommen könnte. Unser Herr Pfarrer, der Beziehungen zu guten Kreisen in der Stadt pflegte, vermittelte mir alsbald eine Stelle als Dienstmädchen in einem angesehenen Haushalt. Meine Mutter war darüber sehr erfreut, da sie dachte, ich sei bei diesen besseren und wohlhabenderen Leuten gut untergebracht. Zudem sollte ich dort auch richtig Hauswirtschaften lernen, was wichtig wäre für eine zukünftige gute Haus- und Ehefrau.“

Und schon wieder gelogen! Mehr als einmal hatte Klara vor ihren Liebhabern damit geprahlt, davongelaufen zu sein. Da ihre Eltern sehr arm waren, sollte sie auf einem Bauernhof im Nachbarort als Magd dienen, um – wie ihre Mutter wörtlich sagte – „ein Maul weniger stopfen zu müssen“. Bei Nacht und Nebel hatte Klara sich dann heimlich davongemacht, um in der Stadt ihr Glück zu suchen. Ein Leben auf einem Bauernhof war nichts für sie. In aller Herrgottsfrühe aufstehen, Schweine füttern, Kühe melken und Ställe ausmisten. Alles, nur das nicht! Klara war faul. Sie wollte sich die Hände keinesfalls schmutzig machen und in nach Stallmist stinkenden Kleidern herumlaufen. Doch ohne Arbeit kein Geld! Klara hatte Glück und in der Stadt nach kurzer Zeit in einem recht wohlhabenden Haus eine Anstellung gefunden.

„Doch anders als versprochen, verdiente ich dann in der Stadt bei diesen sogenannten guten Herrschaften fast kein Geld. Mein Lohn war Essen und eine kostenlose Unterkunft. Ich hatte keine geregelte Arbeitszeit und fast nie einen freien Tag. Früh morgens musste ich schon als Erste aufstehen, machte im ganzen Haus Feuer in den Öfen, schleppte Wasser zum Waschen für die feinen Herrschaften herbei, servierte das Frühstück sowie alle anderen Mahlzeiten. Ich spülte, putzte und ging einkaufen. Zu Bett gehen durfte ich erst, wenn alle Arbeiten im Haus erledigt waren. Eigentlich musste ich rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Ich hatte nicht einmal eine eigene Kammer, sondern teilte mir meine winzige Unterkunft mit der dicken Köchin Elsa. Zudem musste ich ständig auf der Hut sein, den Herrn des Hauses nicht alleine anzutreffen, da er den Dienstweibern hinterher war wie der Teufel hinter der armen Seele. Kein Dienstmädchen war vor dem alten Bock sicher. Zu gerne griff er ihnen bei jeder Gelegenheit unter den Rock. Ganz zu schweigen von den abscheulichen Dingen, die er sonst noch forderte, wenn sein strenges Eheweib nicht im Hause war.

Ich hatte eine wirklich harte Arbeit. Nur alle vierzehn Tage hatte ich am Sonntag ein paar Stunden frei. Trotz allem beschwerte ich mich nie, sondern war froh, meinen Eltern nicht mehr auf der Tasche zu liegen.“

Oh je, wie schrecklich verlogen Klara doch war! So ein kleines Miststück! Ich kannte ja ihre Vergangenheit aus den vielen Einträgen in ihrem Tagebuch. In Wahrheit war Klara durchtrieben und hatte überhaupt keine Lust auf harte Arbeit. So schien es ihr vorteilhafter, dem Herrn des Hauses hinter dem Rücken seiner Ehefrau schöne Augen zu machen und ihn zu verführen. Sie genoss alle Vorzüge, die er ihr gewährte, wenn sie ihm nur in jeglicher Hinsicht recht zu Diensten war.

Ich muss hier wohl nicht erklären, was das heißt. Natürlich war dies der Dame des Hauses nicht entgangen, die Klara dann kurzerhand mit lautem Gezeter und einem Tritt in den Hintern zurück auf die Straße befördern ließ. Geschah Klara ganz recht!

„Eines Tages traf ich beim sonntäglichen Ausgang auf der Straße einen netten, jungen, gutaussehenden Mann, der mich dann einige Male an meinen freien Tagen in ein Tanzlokal einlud und mir eine besser bezahlte Arbeit versprach. Ich sollte mich in diesem Lokal um die Getränke kümmern. Was ich damals nicht ahnte, war, dass dieser nette Kerl jemand war, der Animiermädchen vermittelte. Als ich jedoch die Sache endlich durchschaut hatte, war es bereits zu spät. Meine Anstellung als Dienstmädchen hatte ich schon gekündigt. Ohne Geld konnte ich auch nicht zurück zu meinen Eltern. Also blieb mir nichts Anderes übrig, als zunächst einmal mein Geld in diesem Tanzlokal zu verdienen und mich so bald als möglich nach einer anderen Arbeit umzusehen.

Meine neue Aufgabe bestand darin, das meist männliche Publikum zu unterhalten und sie dazu zu bringen, möglichst viel zu trinken. Manchmal sang ich auch auf der Bühne. Je mehr die Gäste tranken, desto mehr Geld verdiente ich. Das heißt, je netter und aufreizender ich bei der Kundschaft war, desto besser wurde meine Arbeit bezahlt.“

Ja, das ist die Klara, die kenne. Mit Männern trinken und Spaß haben. Ich konnte mir so richtig vorstellen, wie sie die Kerle um den Finger wickelte, um ihnen das Geld (und mehr) aus der Tasche zu ziehen. Sie träumte von einem Leben in Reichtum, einer teuren Villa, schicken Kleidern und glitzerndem Schmuck. Tee trinken, spazieren gehen, abends mit reichen Männern Walzer tanzen. Dafür hätte sie alles getan. Oft genug hatte sie darüber in ihrem Tagebuch geschrieben.

„Trotzdem reichte das im Tanzlokal verdiente Geld nicht aus. Ich musste ja nun auch für mein eigenes Zimmer in einer kleinen Pension aufkommen.

Auch die Kleider, die ich abends im Tanzlokal tragen musste, kosteten so einiges. Oft reichte mein Lohn nicht einmal bis zum Monatsende, obwohl ich bereits am Essen sparte. Etwas Geld auf die hohe Kante zu legen und für meine Zukunft zu sorgen, war völlig unmöglich. Und so kam es, dass ich in meiner Not gelegentlich meinen Verdienst etwas aufbesserte, indem ich den Männern spezielle Wünsche erfüllte. So machten es all die anderen Animiermädchen des Tanzlokals ja auch. Erst widerte mich das alles an, doch bald merkte ich, dass man sehr viel mehr Geld verdienen konnte, wenn man nur einigen ausgesuchten Männern ganz spezielle Wünsche erfüllte. – Ach, ich schäme mich so, Dir das zu sagen. Aber Du sollst die ganze ungeschönte Wahrheit wissen.“

Von wegen Wahrheit. Der ganze Brief war ein einziges Lügenmärchen. Klara schrieb weiter, wie sie dann in diesem Tanzlokal angeblich einen höchst angesehenen Herrn kennenlernte, der sie wie eine Königin behandelte, ihr teure Geschenke machte und ihren Lebensunterhalt bezahlte. Als sie dann von ihm schwanger wurde und auf eine Heirat hoffte, offenbarte er ihr, er habe zu Hause bereits eine hübsche ehrbare Ehefrau und zwei süße kleine Kinder und er denke ja nicht im Traum daran, den Bastard eines so verkommenen Weibsbildes, wie sie eines sei, aufwachsen zu sehen. Er drohte ihr mit schlimmen Folgen, sollte sie irgendjemandem erzählen, dass sie ein Kind von ihm erwarte.

Alles, was sie schrieb, war erstunken und gelogen! Diesen einen feinen Herrn, den angeblichen Vater ihres Kindes, hat es nie gegeben. Klara hatte einfach nur Pech und bei einem ihrer vielen Liebschaften nicht aufgepasst.

Aber ich konnte es ihr nicht einmal verdenken, dass sie so eine Geschichte erfand. Sollte sie ihrem Kind wirklich erzählen, dass es nur deshalb auf der Welt war, weil irgend so ein widerlicher Kerl Geld dafür bezahlt hatte, dass er seinen Spaß hatte?

„Der Himmel brach über mir zusammen und meine Welt stürzte ein, weil dieser „feine Herr“ plötzlich nichts mehr von mir wissen wollte. Ich wollte es nicht glauben. Ich war nichts Anderes für ihn gewesen als eine bezahlte Hure, die man nach Belieben einfach benutzen konnte. Keine Spur mehr von Gefühlen für mich. Wie ich die nächsten Tage überstand, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich mein weniges Hab und Gut zusammensuchte und außerhalb der Stadt bei einer guten Freundin Unterschlupf fand. Ich war verzweifelt und versteckte ich mich vor dem Rest der Welt. Während Du in mir heranwuchst, hatte ich viel Zeit, über mein Leben nachzudenken.

Mein liebes Kind, ich bitte Dich, glaube nicht alles, was man Dir über Prostituierte erzählt. Nicht alle Frauen, die in diesem Gewerbe tätig sind, sind lasterhaft, verlogen, arbeitsscheu oder dumm. Viele von ihnen sind genau wie ich einfach durch unglückliche Umstände Opfer der Gesellschaft geworden.“

Dass ich nicht lache! Klara war doch kein Opfer der Gesellschaft, sondern das Opfer ihrer Faulheit, ihrem Hang zur Lasterhaftigkeit und Verschwendung. Und vielleicht sogar das Opfer ihrer Unehrlichkeit. Ganz nebenbei bemerkt: Irgendwann hatte ich erfahren, dass sie bei einem tête-à-tête auch mich einem ihrer „Gäste“ gestohlen hatte.

„Ich kenne sogar einige sogenannte „ehrbare“ Frauen, die als Gelegenheitsprostituierte das spärliche Einkommen ihrer Familie aufbessern müssen. Tagsüber sind sie biedere Ehefrauen und Mütter, die aber, sobald die Straßenlaternen angezündet werden, ihre Reize vorteilhaft zur Geltung bringen und zahlkräftigen Männern zu Diensten stehen. Manche tun dies sogar mit dem Segen ihrer Ehegatten.

Man sagt oft, Prostituierte seien der „Abschaum der Gesellschaft“. Doch ich frage Dich: Wer lässt sich alles zu diesem angeblichen „Abschaum“ herab? Es sind Soldaten, Seeleute, Arbeiter, Studenten, alleinstehende und auch verheiratete Männer, die Prostituierte aufsuchen. Ich hatte das große Glück, meist nur mit anständigen Männern zu tun zu haben. Die Besucher unseres Tanzlokals waren fast nur Männer aus der Oberschicht. Dein Vater ist übrigens einer der angesehensten Männer dieser Stadt und im Großen und Ganzen kein unanständiger Mensch.“

Nun, lassen wir das einmal dahingestellt sein. Was und welche Männer ich in all der Zeit in Klaras Kammer gesehen habe, spricht eine andere Sprache. Jedenfalls keine Männer aus der Oberschicht. Und was dieses Tanzlokal betrifft – es war in Wahrheit eine verkommene Absteige für allerlei Gesindel und Herumtreiber. Oft genug hatte sich Klara in ihrem Tagebuch darüber beschwert. Ich mag mir gar nicht vorstellen, mit welchem Abschaum von Männern sich Klara manchmal abgegeben hatte.

„Mein liebes noch ungeborenes Kind, ich hoffe, dass Du, wenn Du erwachsen bist, ein guter Mensch wirst. Es ist es jetzt nicht mehr lange bis zu Deiner Geburt und ich muss mich nun langsam an den Gedanken gewöhnen, Abschied von Dir zu nehmen. Man hat mir versichert, dass Du in eine gute Familie kommen wirst und dass die Frau, die Dich an Ihre Brust nehmen wird, Dich lieben wird wie ihr eigenes Kind, da sie selbst keine Kinder bekommen kann. Sie wird Dir sicher eine gute Mutter sein.

Mein Schmerz ist so groß, dass es mir fast das Herz zerreißt. Aber ich weiß, dass ich das einzig Richtige tue. Ich tue es für Dich. Du sollst nicht als armer Bastard einer Hure aufwachsen. Als Außenseiter der Gesellschaft. Das wenigstens möchte ich Dir ersparen! Vielleicht wirst Du mir eines Tages sogar dankbar dafür sein, dass ich Dich weggegeben habe. Denn niemand außer mir und Deinen zukünftigen Pflegeeltern werden von dieser Schande, das Kind einer Hure zu sein, wissen. Nicht einmal meinen Eltern werde ich von Dir erzählen.

So wünsche ich Dir, dass Du ein gutes Leben haben wirst und dass das Glück immer an Deiner Seite sein wird. Versuche bitte niemals, mich oder Deinen Vater ausfindig zu machen. Es ist besser für Dich, wenn wir uns niemals kennenlernen! Deinen Vater habe ich für immer aus meinem Leben gestrichen, da er mich so schändlich behandelt und im Stich gelassen hat. Ich selbst werde nach Deiner Geburt alle meine Spuren hinter mir verwischen und mir irgendwo weit weg ein neues Leben aufbauen.

In innigster Liebe

Deine Mutter

Verzeih mir!“

Dies waren wohl die einzigen wahren Aussagen in Klaras Brief. Dass sie nur das Beste für ihr Kind wollte, glaubte ich ihr aufs Wort. Und wie sehr es sie schmerzte, ihr eigenes Kind abzugeben, mag ich mir gar nicht vorstellen. Meine Gedanken schwankten zwischen Mitleid und Abscheu. Doch bei allem Mitgefühl – was mich wirklich beschäftigte, war einzig und allein die Frage: “Was würde nun aus mir werden?“

Was Penny damals nicht wissen konnte

Die Entscheidung einer unverheirateten Mutter, ihr Kind wegzugeben, ist für die damaligen Verhältnisse durchaus nachvollziehbar und war klug gehandelt. Denn früher hatten Hurenkinder – auch Bastarde oder Bankerts genannt – keinerlei Chancen, gesellschaftlich anerkannt zu werden. Sie waren mit dem Zeitpunkt ihrer Geburt unwiderruflich mit einem Makel behaftet und eine Schande. Bis ins 19. Jahrhundert waren uneheliche Kinder deshalb auch von vielen Handwerksberufen ausgeschlossen. Denn es musste eine eheliche Geburt durch entsprechende Urkunden oder Zeugnisse nachgewiesen werden, um als Lehrling angenommen zu werden.

Viele sogenannte Fündel- oder Hurenkinder verwahrlosten damals bettelnd auf den Straßen oder wurden in Waisenhäusern oder kirchlichen Rettungshäusern untergebracht. Nicht selten wurden unehelich geborene Kinder sogar gleich nach der Geburt von ihren Müttern getötet.

In einer Berliner Gerichtszeitung aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind zum Beispiel hierzu Schilderungen von Gerichtsverhandlungen zu finden:

„Sitzung vom 30. Juli:

Die unverehelichte Wilhelmine Louise Caroline Bartels ist der Beiseiteschaffung des Leichnams eines Kindes in Gemäßheit des § 186 des Neuen Strafgesetzbuches angeklagt (§ 186 lautet: Wer ohne Vorwissen der Behörde einen Leichnam beerdigt, oder bei Seite schafft, wird mit Geldbuße bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bestraft. Die Strafe ist Gefängnis bis zu zwei Jahren, wenn eine Mutter den Leichnam ihres unehelich neugeborenen Kindes ohne Vorwissen der Behörde beerdigt oder bei Seite schafft.)

In der Nacht vom 22. zum 23. Mai d. J. fand der Arbeitsmann Dimbe auf dem Hofe eines Hauses der Mauerstraße beim Reinigen der Mistkule in derselben den Leichnam eines ausgetragenen Kindes. Er klingelte hierauf beim Wirth, ließ denselben wecken und zeigte ihm den Vorfall an. Zuvor war ein junges Frauenzimmer, welches augenscheinlich ihn beim Reinigen der Mistkule beobachtet hatte, an ihn herangetreten und hatte ihn aufgefordert, kein Aufsehen zu machen und die Anzeige über seinen Fund zu unterlassen. Da er hierauf nicht einging, war das Frauenzimmer nach der Straße gelaufen, wo sie auf seinen Zuruf vom Schutzmann Senftleben verhaftet wurde.

Die Verhaftete, welche den Schutzmann dringend gebeten hatte, sie laufen zu lassen, war die Angeklagte, welche in diesem Hause bei einem Schneidermeister im Dienst stand. Nach dem Obductionsbericht des Geheimen Obermedicinalraths Dr. Gaßner war der bereits in Fäulnis übergegangene Leichnam der Körper eines völlig ausgetragenen und lebensfähig zur Welt gekommenen Kindes, das etwa 14 Tage vorher geboren war.

Die Angeklagte leugnete in der Voruntersuchung nicht allein die Beiseiteschaffung des Kindes, sondern auch ihre Schwangerschaft. Dass sie aber schwanger gewesen und geboren, ist durch das Gutachten des Geheimen Obermedicinalraths Dr. Gaßner festgestellt, auch ist bei der Angeklagten schon im April d. J. eine auffallende Korpulenz von mehreren Zeugen wahrgenommen worden.

Die Untersuchung wurde zunächst auf Kindsmord gerichtet. Da aber der Beweis dafür, dass das Kind lebend in die Mistkule geworfen war, nicht erbracht werden konnte, so ist angenommen worden, dass dasselbe schon todt bei Seite geschafft worden und die Anklage auf Grund des § 186 erhoben. Im Audienztermin räumte die Angeklagte ein, am 12. Mai d. J. geboren zu haben, behauptete aber, dass das Kind erst 3 bis 4 Monate alt gewesen, noch gar keine bestimmte menschliche Gestalt gehabt und völlig leblos zur Welt gekommen sei. Sie bestritt zugleich, dass der in der Mistkule gefundene Leichnam mit der von ihr geborenen Leibesfrucht identisch sei. Diese Einwendungen erachtete der Gerichtshof aber als durch die Beweisaufnahme für vollständig widerlegt, erklärte die Angeklagte für schuldig und verurteilte sie zu 6 Monaten Gefängnis.“

Eine ganz ähnliche Anklage ist gegen die unverheiratete Selma Schill erhoben worden. „Die Schill diente im Januar d. J. bei dem Webermeister Friedländer in der Landsbergerstraße und gebar daselbst in der Nacht vom 16. zum 17. Januar, am Ofen stehend, ein Kind, welches ihrer Angabe nach, ohne dass sie dies habe hindern können, auf die Erde fiel und als sie es gleich darauf aufhob, todt war. Sie räumte zwar ein, dass es in dem Augenblicke, als es zur Welt gekommen, geschrien, behauptet aber, dass es jedenfalls todt gewesen, als sie es aufgehoben, und vermutlich in Folge des Falles gestorben sei, obwohl sie zugibt, dass sie nicht genau untersucht habe, ob das Kind nach dem Falle noch Leben gehabt; demnächst hat sie es geständlich in den Abtritt geworfen.