8,99 €
Ernst Cassirer war ein deutscher Philosoph. Ausgebildet in der neokantianischen Marburger Schule, folgte er zunächst seinem Mentor Hermann Cohen in dem Versuch, eine idealistische Wissenschaftsphilosophie darzustellen. Nach Cohens Tod im Jahr 1918 entwickelte Cassirer eine Theorie des Symbolismus und nutzte sie, um die Phänomenologie des Wissens zu einer allgemeineren Philosophie der Kultur zu erweitern. Cassirer war einer der führenden Verfechter des philosophischen Idealismus im 20. Jahrhundert. Jahrhunderts. Sein berühmtestes Werk ist die "Philosophie der symbolischen Formen" (1923-1929), aus dem hier der erste von drei Bänden, "die Sprache" vorliegt. In der "Philosophie der symbolischen Formen" argumentiert Cassirer, dass der Mensch, während Tiere ihre Welt durch Instinkte und direkte Sinneswahrnehmungen wahrnehmen, sich ein Universum aus symbolischen Bedeutungen erschafft. Cassirer interessiert sich besonders für die natürliche Sprache und den Mythos. Er argumentiert, dass sich Wissenschaft und Mathematik aus der natürlichen Sprache und Religion und Kunst aus dem Mythos entwickelt haben. Der Text dieser Ausgabe folgt der 1923 veröffentlichen Originalausgabe.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 524
Philosophie der symbolischen Formen
Erster Teil: Die Sprache
ERNST CASSIRER
Philosophie der symbolischen Formen Teil 1, E. Cassirer
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849662844
Quelle: https://de.wikisource.org/wiki/Philosophie_der_symbolischen_Formen,_erster_Teil
www.jazzybee-verlag.de
VORWORT.. 1
EINLEITUNG UND PROBLEMSTELLUNG.. 6
ERSTER TEIL. ZUR PHÄNOMENOLOGIE DER SPRACHLICHEN FORM51
KAPITEL I. DAS SPRACHPROBLEM IN DER 'GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE[1]51
KAPITEL II. DIE SPRACHE IN DER PHASE DES SINNLICHEN AUSDRUCKS114
KAPITEL III. DIE SPRACHE IN DER PHASE DES ANSCHAULICHEN AUSDRUCKS138
KAPITEL IV. DIE SPRACHE ALS AUSDRUCK DES BEGRIFFLICHEN DENKENS. – DIE FORM DER SPRACHLICHEN BEGRIFFS- UND KLASSENBILDUNG... 234
KAPITEL V. DIE SPRACHE UND DER AUSDRUCK DER REINEN BEZIEHUNGSFORMEN. – DIE URTEILSSPHÄRE UND DIE RELATIONSBEGRIFFE.. 263
Die Schrift, deren ersten Band ich hier vorlege, geht in ihrem ersten Entwurf auf die Untersuchungen zurück, die in meinem Buche „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“ (Berlin 1910) zusammengefaßt sind. Bei dem Bemühen, das Ergebnis dieser Untersuchungen, die sich im wesentlichen auf die Struktur des mathematischen und des naturwissenschaftlichen Denkens bezogen, für die Behandlung geisteswissenschaftlicher Probleme fruchtbar zu machen, stellte sich mir immer deutlicher heraus, daß die allgemeine Erkenntnistheorie in ihrer herkömmlichen Auffassung und Begrenzung für eine methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften nicht ausreicht. Sollte eine solche Grundlegung gewonnen werden, so schien der Plan dieser Erkenntnistheorie einer prinzipiellen Erweiterung zu bedürfen. Statt lediglich die allgemeinen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Erkennens der Welt zu untersuchen, mußte dazu übergegangen werden, die verschiedenen Grundformen des „Verstehens“ der Welt bestimmt gegen einander abzugrenzen und jede von ihnen so scharf als möglich in ihrer eigentümlichen Tendenz und ihrer eigentümlichen geistigen Form zu erfassen. Erst wenn eine solche „Formenlehre“ des Geistes wenigstens im allgemeinen Umriß feststand, ließ sich hoffen, daß auch für die einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ein klarer methodischer Überblick und ein sicheres Prinzip der Begründung gefunden werden könne. Der Lehre von der naturwissenschaftlichen Begriffs- und Urteilsbildung, durch die das „Objekt“ der Natur in seinen konstitutiven Grundzügen bestimmt, durch die der „Gegenstand“ der Erkenntnis in seiner Bedingtheit durch die Erkenntnisfunktion erfaßt wird, mußte eine analoge Bestimmung für das Gebiet der reinen Subjektivität zur Seite treten. Diese Subjektivität geht in der erkennenden Betrachtung der Natur und der Wirklichkeit nicht auf, sondern sie erweist sich überall dort wirksam, wo überhaupt das Ganze der Erscheinung unter einen bestimmten geistigen Blickpunkt gestellt und von ihm aus gestaltet wird. Es mußte gezeigt werden, wie jede dieser Gestaltungen je eine eigene Aufgabe im Aufbau des Geistes erfüllt und je einem besonderen Gesetz untersteht. Aus der Beschäftigung mit diesem Problem entwickelte sich der Plan einer allgemeinen Theorie der geistigen Ausdrucksformen, wie er in der Einleitung näher dargelegt ist. Was die Durchführung im einzelnen betrifft, so beschränkt sich der vorliegende erste Teil auf eine Analyse der sprachlichen Form; ein zweiter Band, der, wie ich hoffe, etwa in einem Jahre erscheinen wird, soll den Entwurf zu einer Phänomenologie des mythischen und des religiösen Denkens enthalten, während im dritten und letzten Band die eigentliche „Erkenntnislehre“ d. h. die Formenlehre des wissenschaftlichen Denkens zur Darstellung gelangen soll.
Eine Betrachtung der Sprache nach ihrem rein philosophischen Gehalt und unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten philosophischen „Systems“ bedeutet freilich ein Wagnis, das seit den ersten grundlegenden Arbeiten Wilhelm von Humboldts kaum jemals wieder unternommen worden ist. Wenn Humboldt, wie er im Jahre 1805 an Wolf schrieb, die Kunst entdeckt zu haben glaubte, die Sprache als ein Vehikel zu gebrauchen, um das Höchste und Tiefste und die Mannigfaltigkeit der ganzen Welt zu durchfahren, so schien durch die Richtung, die die Sprachforschung und die Sprachphilosophie im neunzehnten Jahrhundert genommen haben, ein solcher Anspruch mehr und mehr zurückgedrängt zu werden. Statt zu einem Vehikel der philosophischen Erkenntnis schien die Sprache bisweilen zu dem eigentlichen und stärksten Instrument der philosophischen Skepsis zu werden. Aber selbst wenn man von diesen Folgerungen der modernen Sprachkritik, für die die Philosophie der Sprache mit der Bestreitung und Auflösung ihres geistigen Gehalts gleichbedeutend wurde, absieht, so trat doch immer stärker die Überzeugung hervor, daß eine philosophische Grundlegung der Sprache, wenn überhaupt, so nur mit den Mitteln der psychologischen Forschung zu gewinnen sei. Das Ideal einer schlechthin universellen, einer „philosophischen“ Grammatik, dem noch der Empirismus und der Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts auf verschiedenen Wegen nachgegangen waren, schien seit der Grundlegung der wissenschaftlichen Sprachvergleichung ein für allemal zerstört: nun blieb nur übrig, die Einheit der Sprache statt in ihrem logischen Gehalt, in ihrer Entstehung und in den psychologischen Gesetzen dieser Entstehung aufzuweisen. Wundts großes Werk über die Sprache, das nach langer Zeit wieder den Versuch unternahm, die Gesamtheit der Spracherscheinungen zu umfassen und einer bestimmten geistigen Deutung zu unterwerfen, entnimmt das Prinzip dieser Deutung dem Begriff und der Methodik der Völkerpsychologie. In der gleichen Richtung des Denkens hatte Steinthal in seiner „Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft“ (1871) den Herbartschen Begriff der Apperzeption als das Fundament der Sprachbetrachtung zu erweisen gesucht. Im bewußten und scharfen Gegensatz zu den Grundlagen der Steinthalschen und Wundtschen Sprachansicht kehrt sodann Marty (1908) zu dem Gedanken einer „allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie“ zurück, die er als den Entwurf einer „deskriptiven Bedeutungslehre“ versteht. Aber auch hier wird der Aufbau dieser Bedeutungslehre mit rein psychologischen Mitteln zu vollziehen gesucht; ja die Aufgabe der Sprachphilosophie wird ausdrücklich derart abgegrenzt, daß zu ihr alle auf das Allgemeine und Gesetzmäßige an den sprachlichen Erscheinungen gerichteten Probleme gehören sollen, sofern sie „entweder psychologischer Natur sind oder wenigstens nicht ohne eine vornehmliche Hilfe der Psychologie gelöst werden können“. So schien auf diesem Gebiete – trotz des Widerspruchs, dem diese Anschauung in den Kreisen der Sprachforschung selbst, vor allem bei Karl Vossler, begegnete – der Psychologismus und Positivismus nicht nur als methodisches Ideal festgestellt, sondern fast zu einem allgemeinen Dogma erhoben zu sein. Der philosophische Idealismus freilich hat nicht aufgehört, dieses Dogma zu bekämpfen, aber auch er hat der Sprache die autonome Stellung, die sie bei Wilh. von Humboldt besaß, nicht wiedererobert. Denn statt sie als eine selbständige, auf einem eigentümlichen Gesetz beruhende geistige „Form“ zu verstehen, hat er versucht, sie auf die allgemeine ästhetische Ausdrucksfunktion zurückzuführen. In diesem Sinne hat Benedetto Croce das Problem des sprachlichen Ausdrucks dem Problem des ästhetischen Ausdrucks ein- und untergeordnet, wie auch Hermann Cohens System der Philosophie die Logik, die Ethik und Ästhetik und zuletzt die Religionsphilosophie als selbständige Glieder behandelt hat, auf die Grundfragen der Sprache aber nur gelegentlich und im Zusammenhang mit den Grundfragen der Ästhetik eingeht.
Aus dieser Sachlage ergibt sich, daß die vorliegende Darstellung sich in philosophischer Hinsicht nicht innerhalb eines fest abgesteckten Gedankenkreises bewegen konnte, sondern daß sie überall versuchen mußte, sich ihren methodischen Weg selbst zu bahnen. Um so reicher waren dagegen die Hilfsquellen, die sich ihr für die Durchführung ihres Themas aus der Entwicklung ergaben, die die Sprachwissenschaft seit der Zeit Wilhelm von Humboldts genommen hat. Wenn der Gedanke einer wahrhaft universellen Sprachbetrachtung bei Humboldt noch als ein Postulat der idealistischen Philosophie erscheinen kann, so scheint dieses Postulat sich seither mehr und mehr seiner konkreten wissenschaftlichen Erfüllung genähert zu haben. Die philosophische Betrachtung wird freilich gerade durch diesen Reichtum des empirisch-wissenschaftlichen Forschungsmaterials vor eine kaum zu überwindende Schwierigkeit gestellt. Denn sie kann ebensowenig auf dieses Detail verzichten, wie sie sich ihm, wenn sie ihrer eigenen Absicht und Aufgabe getreu bleiben will, ganz gefangen geben darf. Diesem methodischen Dilemma gegenüber blieb keine andere Entscheidung übrig, als die Fragen, mit denen hier an die Sprachforschung herangetreten wurde, zwar in systematischer Allgemeinheit zu formulieren, die Antwort auf diese Fragen aber in jedem einzelnen Falle aus der empirischen Forschung selbst zu gewinnen. Es mußte versucht werden, einen möglichst weiten Überblick nicht nur über die Erscheinungen eines einzelnen Sprachkreises, sondern über die Struktur verschiedener und in ihrem gedanklichen Grundtypus weit von einander abweichenden Sprachkreise zu gewinnen. Der Kreis der sprachwissenschaftlichen Literatur, die bei der Durcharbeitung der Probleme beständig zu Rate gezogen werden mußte, erfuhr hierdurch freilich eine so große Erweiterung, daß das Ziel, das diese Untersuchung sich anfangs gesteckt hatte, immer weiter in die Ferne rückte, ja daß ich mich immer von neuem vor die Frage gestellt sah, ob dieses Ziel für mich überhaupt erreichbar sei. Wenn ich trotzdem auf dem einmal beschrittenen Wege weiter ging, so geschah es, weil ich, je mehr sich mir ein Einblick in die Mannigfaltigkeit der Spracherscheinungen erschloß, um so deutlicher wahrzunehmen glaubte, wie auch hier alles Einzelne sich wechselseitig erhellt und wie es sich gleichsam von selbst einem allgemeinen Zusammenhang einfügt. Auf die Herausarbeitung und Verdeutlichung dieses Zusammenhangs, nicht auf die Betrachtung irgendwelcher Einzelerscheinungen sind die folgenden Untersuchungen gerichtet. Wenn der erkenntniskritische Grundgedanke, an dem sie orientiert sind, sich bewährt, wenn die Darstellung und Charakteristik der reinen Sprachform, wie sie hier versucht worden ist, sich als gegründet erweist, so wird Vieles, was im einzelnen übersehen oder versehen worden ist, bei einer künftigen Bearbeitung des Themas leicht seine Ergänzung und Berichtigung finden können. Ich selbst bin mir bei der Arbeit an dieser Schrift der Schwierigkeit des Gegenstandes und der Grenzen meiner Arbeitskraft zu deutlich bewußt geworden, als daß ich nicht jede Kritik der Fachkenner freudig begrüßen sollte; um diese Kritik zu erleichtern, habe ich überall, wo es sich um die Deutung und Verwertung des sprachwissenschaftlichen Einzelmaterials handelte, meine Gewährsmänner ausdrücklich genannt und meine Quellen so deutlich bezeichnet, daß dadurch eine unmittelbare Nachprüfung ermöglicht wird.
Es bleibt mir noch übrig, allen denen meinen Dank zu sagen, die mich während der Ausarbeitung dieses Buches durch das Interesse, das sie im allgemeinen an ihm nahmen oder durch ihren speziellen sachkundigen Rat unterstützt haben. Bei dem Versuch, in die Struktur der sogen. „primitiven“ Sprachen einen genaueren Einblick zu gewinnen, haben mir von Anfang an – neben den Schriften von Boas und Seler über die amerikanischen Eingeborenensprachen – die Werke Carl Meinhofs als Führer gedient. Nach meiner Berufung nach Hamburg im Jahre 1919 konnte ich nicht nur die reiche Bibliothek des von Meinhof geleiteten Seminars für afrikanische und Südseesprachen benutzen, sondern ich durfte mich auch in vielen schwierigen Einzelfällen seines stets bereitwillig gewährten und stets außerordentlich fördernden Rates erfreuen. Auch meinen Kollegen Prof. Otto Dempwolff und Prof. Heinrich Junker bin ich für manche Förderung, die ich im Gespräch mit ihnen gewonnen habe, zu Dank verpflichtet. Weit hinaus über das Maß einzelner Anregungen geht sodann dasjenige, was die folgende Darstellung Ernst Hoffmann in Heidelberg und Emil Wolff in Hamburg verdankt. Mit ihnen, die selbst mitten in der philologischen und sprachwissenschaftlichen Einzelarbeit stehen, weiß ich mich vor allem in der Grundanschauung eins, auf der dieses Buch beruht: in der Überzeugung, daß die Sprache, wie alle geistigen Grundfunktionen, ihre philosophische Aufhellung nur innerhalb eines Gesamtsystems des philosophischen Idealismus finden kann. Ernst Hoffmann habe ich ferner herzlich dafür zu danken, daß er trotz eigener starker Arbeitsbelastung die Korrekturen dieses ersten Bandes mitgelesen hat. Einzelne wichtige Hinweise und Ergänzungen, die er hierbei gegeben hat, konnten leider aus technischen Gründen bei der Drucklegung nicht mehr in vollem Umfang berücksichtigt werden; ich hoffe aber sie bei einer späteren Bearbeitung des Themas nutzen zu können.
HAMBURG, im April 1923.
ERNST CASSIRER.
I
Der erste Anfangspunkt der philosophischen Spekulation wird durch den Begriff des Seins bezeichnet. In dem Augenblick, da dieser Begriff sich als solcher konstituiert, da gegenüber der Vielfältigkeit und Verschiedenheit des Seienden das Bewußtsein von der Einheit des Seins erwacht, entsteht erst die spezifisch-philosophische Richtung der Weltbetrachtung. Aber noch auf lange Zeit bleibt diese Betrachtung in dem Umkreis des Seienden, den sie zu verlassen und zu überwinden strebt, gebunden. Der Anfang und Ursprung, der letzte „Grund“ alles Seins soll ausgesprochen werden: aber so klar diese Frage gestellt wird, so wenig reicht die Antwort, die für sie gefunden wird, in ihrer besonderen konkreten Bestimmtheit an diese höchste und allgemeinste Fassung des Problems heran. Was als das Wesen, als die Substanz der Welt bezeichnet wird, das greift nicht prinzipiell über sie hinaus, sondern ist nur ein Auszug aus eben dieser Welt selbst. Ein einzelnes, besonderes und beschränktes Seiende wird herausgegriffen, um aus ihm alles andere genetisch abzuleiten und zu „erklären“. Diese Erklärung verharrt demnach, so wechselvoll sie sich inhaltlich auch gestalten mag, ihrer allgemeinen Form nach, doch stets innerhalb derselben methodischen Grenzen. Anfangs ist es ein selbst noch sinnliches Einzeldasein, ein konkreter „Urstoff“, der als letzter Grund für die Gesamtheit der Erscheinungen aufgestellt wird; dann wendet sich die Erklärung ins Ideelle und an Stelle dieses Stoffes tritt bestimmter ein rein gedankliches „Prinzip“ der Ableitung und Begründung heraus. Aber auch dieses steht, näher betrachtet, noch in einer schwebenden Mitte zwischen dem „Physischen“ und „Geistigen“. So sehr es die Farbe des Ideellen trägt, so ist es doch auf der anderen Seite der Welt des Existierenden aufs engste verhaftet. In diesem Sinne bleibt die Zahl der Pythagoreer, bleibt das Atom Demokrits, so groß der Abstand ist, der beide von dem Urstoff der Ionier trennt, ein methodisches Zwitterwesen, das in sich selbst seine eigentliche Natur noch nicht gefunden und sich gleichsam über seine wahre geistige Heimat noch nicht entschieden hat. Diese innere Unsicherheit wird endgültig erst in der Ideenlehre Platons überwunden. Die große systematische und geschichtliche Leistung dieser Lehre besteht darin, daß in ihr die wesentliche geistige Grundvoraussetzung alles philosophischen Begreifens und aller philosophischen Welterklärung zuerst in expliziter Gestalt heraustritt. Was Platon unter dem Namen der „Idee“ sucht, das war auch in den frühesten Erklärungsversuchen, bei den Eleaten, bei den Pythagoreern, bei Demokrit als immanentes Prinzip wirksam; aber bei ihm erst wird sich dieses Prinzip als das, was es ist und bedeutet, bewußt. Platon selbst hat seine philosophische Leistung in diesem Sinne verstanden. In seinen Alterswerken, in denen er sich zur höchsten Klarheit über die logischen Voraussetzungen seiner Lehre erhebt, stellt er eben dies als die entscheidende Differenz hin, die seine Spekulation von der Spekulation der Vorsokratiker trenne: daß bei ihm das Sein, das dort in der Form eines einzelnen Seienden als fester Ausgangspunkt genommen wurde, zum erstenmal als Problem erkannt worden sei. Er fragt nicht mehr schlechthin nach der Gliederung, nach der Verfassung und der Struktur des Seins, sondern nach seinem Begriff und nach der Bedeutung dieses Begriffs. Dieser scharfen Frage und dieser strengen Forderung gegenüber verblassen alle früheren Erklärungsversuche zu bloßen Erzählungen, zu Mythen vom Sein.[1] Über dieser mythisch-kosmologischen Erklärung soll sich jetzt die eigentliche, die dialektische Erklärung erheben, die nicht mehr an seinem bloßen Bestand haftet, sondern die seinen gedanklichen Sinn, seine systematisch-teleologische Fügung sichtbar macht. Und damit erst gewinnt auch das Denken, das in der griechischen Philosophie seit Parmenides als Wechselbegriff des Seins auftritt, seine neue und tiefere Bedeutung. Erst dort, wo das Sein den scharf bestimmten Sinn des Problems erhält, erhält das Denken den scharf bestimmten Sinn und Wert des Prinzips. Es geht jetzt nicht mehr lediglich neben dem Sein einher, es ist kein bloßes Reflektieren „über“ dasselbe, sondern seine eigene innere Form ist es, die ihrerseits die innere Form des Seins bestimmt. –
In der geschichtlichen Entwicklung des Idealismus wiederholt sich sodann auf verschiedenen Stufen der gleiche typische Grundzug. Wo die realistische Weltansicht sich bei irgendeiner letztgegebenen Beschaffenheit der Dinge, als der Grundlage für alles Erkennen, beruhigt – da formt der Idealismus eben diese Beschaffenheit selbst zu einer Frage des Denkens um. Nicht nur in der Geschichte der Philosophie, sondern auch in der der Einzelwissenschaften wird dieser Fortgang erkennbar. Auch hier geht der Weg nicht einzig von den „Tatsachen“ zu den „Gesetzen“ und von diesen wieder zu den „Axiomen“ und „Grundsätzen“ zurück: sondern eben diese Axiome und Grundsätze, die auf einer bestimmten Stufe der Erkenntnis als der letzte und vollständige Ausdruck der Lösung dastehen, müssen auf einer späteren Stufe wieder zum Problem werden. Demnach erscheint das, was die Wissenschaft als ihr „Sein“ und ihren „Gegenstand“ bezeichnet, nicht mehr als ein schlechthin einfacher und unzerleglicher Tatbestand, sondern jede neue Art und jede neue Richtung der Betrachtung schließt an ihm ein neues Moment auf. Der starre Seinsbegriff scheint damit gleichsam in Fluß, in eine allgemeine Bewegung zu geraten – und nur als Ziel, nicht als Anfang dieser Bewegung läßt sich die Einheit des Seins überhaupt noch denken. In dem Maße, als sich diese Einsicht in der Wissenschaft selbst entfaltet und durchsetzt, wird in ihr der naiven Abbildtheorie der Erkenntnis der Boden entzogen. Die Grundbegriffe jeder Wissenschaft, die Mittel, mit denen sie ihre Fragen stellt und ihre Lösungen formuliert, erscheinen nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole. Es ist insbesondere die mathematisch-physikalische Erkenntnis gewesen, die sich dieses Symbolcharakters ihrer Grundmittel am frühesten und am schärfsten bewußt geworden ist[2]. Heinrich Hertz hat in den Vorbetrachtungen, mit denen er seine „Prinzipien der Mechanik“ einleitet, das neue Erkenntnisideal, auf das diese gesamte Entwicklung hinweist, auf den prägnantesten Ausdruck gebracht. Er bezeichnet es als die nächste und wichtigste Aufgabe unserer Naturerkenntnis, daß sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen: – das Verfahren aber, dessen sie sich zur Ableitung des Zukünftigen aus dem Vergangenen bediene, bestehe darin, daß wir uns „innere Scheinbilder oder Symbole“ der äußeren Gegenstände machen, die von solcher Art sind, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. „Ist es uns einmal geglückt, aus der angesammelten bisherigen Erfahrung Bilder von der verlangten Beschaffenheit abzuleiten, so können wir an ihnen, wie an Modellen in kurzer Zeit die Folgen entwickeln, welche in der äußeren Welt erst in längerer Zeit oder als Folgen unseres eigenen Eingreifens auftreten werden … Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die eine wesentliche Übereinstimmung, welche in der Erfüllung der genannten Forderung liegt, aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, daß sie irgendeine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben. In der Tat wissen wir auch nicht und haben auch kein Mittel, zu erfahren, ob unsere Vorstellungen von den Dingen mit jenen in irgend etwas anderem übereinstimmen, als allein in eben jener einen fundamentalen Beziehung.“[3]
So fährt die naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie, auf der Heinrich Hertz fußt, – so fährt die Theorie der „Zeichen“, wie sie zuerst von Helmholtz eingehend entwickelt worden ist, fort, die Sprache der Abbildtheorie der Erkenntnis zu sprechen; – aber der Begriff des „Bildes“ hat nun in sich selbst eine innere Wandlung erfahren. Denn an die Stelle einer irgendwie geforderten inhaltlichen Ähnlichkeit zwischen Bild und Sache ist jetzt ein höchst komplexer logischer Verhältnisausdruck, ist eine allgemeine intellektuelle Bedingung getreten, der die Grundbegriffe der physikalischen Erkenntnis zu genügen haben. Ihr Wert liegt nicht in der Abspiegelung eines gegebenen Daseins, sondern in dem, was sie als Mittel der Erkenntnis leisten, in der Einheit der Erscheinungen, die sie selbst aus sich heraus erst herstellen. Der Zusammenhang der objektiven Gegenstände und die Art ihrer wechselseitigen Abhängigkeit soll im System der physikalischen Begriffe überschaut werden, – aber diese Überschau wird nur möglich, sofern diese Begriffe schon von Anfang an einer bestimmten einheitlichen Blickrichtung der Erkenntnis angehören. Der Gegenstand läßt sich nicht als ein nacktes Ansich unabhängig von den wesentlichen Kategorien der Naturerkenntnis hinstellen, sondern nur in diesen Kategorien, die seine eigene Form erst konstituieren, zur Darstellung bringen. In diesem Sinne werden für Hertz die Grundbegriffe der Mechanik, insbesondere die Begriffe von Masse und Kraft zu „Scheinbildern“, die, wie sie von der Logik der Naturerkenntnis geschaffen sind, auch den allgemeinen Forderungen dieser Logik unterstehen, unter denen die apriorische Forderung der Klarheit, der Widerspruchslosigkeit und der Eindeutigkeit der Beschreibung den ersten Platz einnimmt.
Mit dieser kritischen Einsicht gibt die Wissenschaft freilich die Hoffnung und den Anspruch auf eine „unmittelbare“ Erfassung und Wiedergabe des Wirklichen auf. Sie begreift, daß alle Objektivierung, die sie zu vollziehen vermag, in Wahrheit Vermittlung ist und Vermittlung bleiben muß. Und in dieser Einsicht liegt nun eine weitere und folgenreiche idealistische Konsequenz beschlossen. Wenn die Definition, die Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes immer nur durch das Medium einer eigentümlichen logischen Begriffsstruktur erfolgen kann, so ist die Folgerung nicht abzuweisen, daß einer Verschiedenheit dieser Medien auch eine verschiedene Fügung des Objekts, ein verschiedener Sinn „gegenständlicher“ Zusammenhänge entsprechen muß. Selbst innerhalb des Umkreises der „Natur“ fällt sodann der physikalische Gegenstand nicht schlechthin mit dem chemischen, der chemische nicht schlechthin mit dem biologischen zusammen – weil die physikalische, die chemische, die biologische Erkenntnis je einen besonderen Gesichtspunkt der Fragestellung in sich schließen und die Erscheinungen gemäß diesem Gesichtspunkt einer spezifischen Deutung und Formung unterwerfen. Fast kann es den Anschein haben, als sei durch dieses Resultat der idealistischen Gedankenentwicklung die Erwartung, mit der sie begonnen hatte, endgültig vereitelt. Das Ende dieser Entwicklung scheint ihren Anfang zu negieren – denn wieder droht nun die gesuchte und geforderte Einheit des Seins in eine bloße Mannigfaltigkeit des Seienden auseinanderzugehen. Das Eine Sein, an dem das Denken fest hält und von dem es nicht ablassen zu können scheint, ohne seine eigene Form zu zerstören, zieht sich aus dem Gebiet der Erkenntnis mehr und mehr zurück. Es wird zu einem bloßen X, das, je strenger es seine metaphysische Einheit als „Ding an sich“ behauptet, umsomehr aller Möglichkeit des Erkennens entrückt und schließlich völlig ins Gebiet des Unerkennbaren abgedrängt wird. Diesem starren metaphysischen Absolutum aber steht nun das Reich der Erscheinungen, das eigentliche Gebiet des Wiss- und Kennbaren, in seiner unveräußerlichen Vielheit, in seiner Bedingtheit und Relativität gegenüber. Schärfer betrachtet aber ist freilich eben in dieser schlechthin unreduzierbaren Mannigfaltigkeit der Wissensmethoden und der Wissensgegenstände die Grundforderung der Einheit nicht als nichtig abgewiesen, sondern sie ist hier vielmehr in einer neuen Form gestellt. Die Einheit des Wissens kann jetzt allerdings nicht mehr dadurch verbürgt und sichergestellt werden, daß es in all seinen Formen auf ein gemeinsames „einfaches“ Objekt bezogen wird, das sich zu diesen Formen wie das transzendente Urbild zu den empirischen Abbildern verhält, – aber statt dessen ergibt sich jetzt die andere Forderung, die verschiedenen methodischen Richtungen des Wissens bei all ihrer anerkannten Eigenart und Selbständigkeit in einem System zu begreifen, dessen einzelne Glieder, gerade in ihrer notwendigen Verschiedenheit, sich wechselseitig bedingen und fordern. Das Postulat einer derartigen rein funktionellen Einheit tritt nunmehr an die Stelle des Postulats der Einheit des Substrats und der Einheit des Ursprungs, von dem der antike Seinsbegriff wesentlich beherrscht wurde. Von hier aus ergibt sich die neue Aufgabe, die der philosophischen Kritik der Erkenntnis gestellt ist. Sie muß den Weg, den die besonderen Wissenschaften im Einzelnen beschreiten, im Ganzen verfolgen und im Ganzen überblicken. Sie muß die Frage stellen, ob die intellektuellen Symbole, unter denen die besonderen Disziplinen die Wirklichkeit betrachten und beschreiben, als ein einfaches Nebeneinander zu denken sind, oder ob sie sich als verschiedene Äußerungen ein und derselben geistigen Grundfunktion verstehen lassen. Und wenn diese letztere Voraussetzung sich bewähren sollte, so entsteht weiter die Aufgabe, die allgemeinen Bedingungen dieser Funktion aufzustellen und das Prinzip, von dem sie beherrscht wird, klarzulegen. Statt mit der dogmatischen Metaphysik nach der absoluten Einheit der Substanz zu fragen, in die alles besondere Dasein zurückgehen soll, wird jetzt nach einer Regel gefragt, die die konkrete Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Erkenntnisfunktionen beherrscht und die sie, ohne sie aufzuheben und zu zerstören, zu einem einheitlichen Tun, zu einer in sich geschlossenen geistigen Aktion zusammenfaßt. –
Aber noch einmal weitet sich an dieser Stelle der Blick, sobald man erwägt, daß die Erkenntnis, so universell und umfassend ihr Begriff auch genommen werden mag, doch im Ganzen der geistigen Erfassung und Deutung des Seins, immer nur eine einzelne Art der Formgebung darstellt. Sie ist eine Gestaltung des Mannigfaltigen, die von einem spezifischen, damit aber zugleich von einem in sich selbst klar und scharf begrenzten Prinzip geleitet wird. Alle Erkenntnis geht zuletzt, so verschieden auch ihre Wege und Wegrichtungen sein mögen, darauf aus, die Vielheit der Erscheinungen der Einheit des „Satzes vom Grunde“ zu unterwerfen. Das Einzelne soll nicht als einzelnes stehen bleiben, sondern es soll sich einem Zusammenhang einreihen, in dem es als Glied eines sei es logischen, sei es teleologischen oder kausalen „Gefüges“ erscheint. Auf dieses wesentliche Ziel: auf die Einfügung des Besonderen in eine universelle Gesetzes- und Ordnungsform bleibt die Erkenntnis wesentlich gerichtet. Aber neben dieser Form der intellektuellen Synthesis, die sich im System der wissenschaftlichen Begriffe darstellt und auswirkt, stehen im Ganzen des geistigen Lebens andere Gestaltungsweisen. Auch sie lassen sich als gewisse Weisen der „Objektivierung“ bezeichnen: d. h. als Mittel, ein Individuelles zu einem Allgemeingültigen zu erheben; aber sie erreichen dieses Ziel der Allgemeingültigkeit auf einem völlig anderen Wege als auf dem des logischen Begriffs und des logischen Gesetzes. Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv ein Vorhandenes aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes in sich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte „Bedeutung“, einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. Und so schafft auch jede von ihnen sich eigene symbolische Gestaltungen, die den intellektuellen Symbolen wenn nicht gleichartig, so doch ihrem geistigen Ursprung nach ebenbürtig sind. Keine dieser Gestaltungen geht schlechthin in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten, sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und konstituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des „Wirklichen“. Sie sind somit nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirkliches dem Geiste offenbart, sondern sie sind die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d. h. in seiner Selbstoffenbarung verfolgt. Faßt man die Kunst und die Sprache, den Mythos und die Erkenntnis in diesem Sinne, so hebt sich aus ihnen alsbald ein gemeinsames Problem heraus, das einen neuen Zugang zu einer allgemeinen Philosophie der Geisteswissenschaften erschließt. –
Die „Revolution der Denkart“, die Kant innerhalb der theoretischen Philosophie durchführt, beruht auf dem Grundgedanken, daß das Verhältnis, das bisher zwischen der Erkenntnis und ihrem Gegenstande allgemein angenommen wurde, einer radikalen Umwendung bedürfe. Statt vom Gegenstand als dem Bekannten und Gegebenen auszugehen, müsse vielmehr mit dem Gesetz der Erkenntnis als dem allein wahrhaft Zugänglichen und als dem primär Gesicherten begonnen werden; statt die allgemeinsten Eigenschaften des Seins im Sinne der ontologischen Metaphysik zu bestimmen, müsse durch eine Analyse des Verstandes die Grundform des Urteils als der Bedingung, unter welcher Objektivität allein setzbar ist, ermittelt und in allen ihren mannigfachen Verzweigungen bestimmt werden. Diese Analyse erschließt nach Kant erst die Bedingungen, auf denen jedes Wissen vom Sein und auf denen sein reiner Begriff selbst beruht. Aber der Gegenstand, den die transzendentale Analytik auf diese Weise vor uns hinstellt, ist als Korrelat der synthetischen Einheit des Verstandes, selbst ein rein logisch bestimmter Gegenstand. Er bezeichnet daher nicht alle Objektivität schlechthin, sondern nur jene Form der objektiven Gesetzlichkeit, die sich in den Grundbegriffen der Wissenschaft, insbesondere in den Begriffen und Grundsätzen der mathematischen Physik fassen und darstellen läßt. So erweist er sich schon für Kant selbst, sobald er dazu fortschreitet, in dem Ganzen der drei Kritiken das wahrhafte „System der reinen Vernunft“ zu entwickeln, als zu eng. Das mathematisch-naturwissenschaftliche Sein erschöpft in seiner idealistischen Fassung und Deutung nicht alle Wirklichkeit, weil in ihm bei weitem nicht alle Wirksamkeit des Geistes und seiner Spontaneität befaßt ist. In dem intelligiblen Reich der Freiheit, dessen Grundgesetz die Kritik der praktischen Vernunft entwickelt, in dem Reich der Kunst und im Reich der organischen Naturformen, wie es sich in der Kritik der ästhetischen und der teleologischen Urteilskraft darstellt, tritt je eine neue Seite dieser Wirklichkeit heraus. Diese allmähliche Entfaltung des kritisch-idealistischen Begriffs der Wirklichkeit und des kritisch-idealistischen Begriffs des Geistes gehört zu den eigentümlichsten Zügen des Kantischen Denkens und ist geradezu in einer Art Stilgesetz dieses Denkens begründet. Die echte, die konkrete Totalität des Geistes soll nicht von Anfang an in einer einfachen Formel bezeichnet und gleichsam fertig hingegeben werden, sondern sie entwickelt, sie findet sich erst in dem stetig weiterschreitenden Fortgang der kritischen Analyse selbst. Der Umfang des geistigen Seins kann nicht anders bezeichnet und bestimmt werden, als dadurch, daß er in diesem Fortgang abgeschritten wird. Es liegt in der Natur dieses Prozesses, daß sein Anfang und sein Ende nicht nur auseinanderfallen, sondern daß sie einander scheinbar widerstreiten müssen – aber der Widerstreit ist kein anderer, als er zwischen Potenz und Akt, zwischen der bloßen logischen „Anlage“ eines Begriffs und seiner vollständigen Entwicklung und Auswirkung besteht. Vom Standpunkt dieser letzteren nimmt auch die Copernikanische Drehung, mit der Kant begonnen hatte, einen neuen und erweiterten Sinn an. Sie bezieht sich nicht allein auf die logische Urteilsfunktion, sondern greift mit gleichem Grund und Recht auf jede Richtung und auf jedes Prinzip geistiger Gestaltung über. Immer liegt die entscheidende Frage darin, ob wir die Funktion aus dem Gebilde oder das Gebilde aus der Funktion zu verstehen suchen, ob wir diese in jenem oder jenes in dieser „begründet“ sein lassen. Diese Frage bildet das geistige Band, das die verschiedenen Problemgebiete mit einander verknüpft: – sie stellt deren innere methodische Einheit dar, ohne sie jemals in eine sachliche Einerleiheit zusammenfallen zu lassen. Denn das Grundprinzip des kritischen Denkens, das Prinzip des „Primats“ der Funktion von dem Gegenstand, nimmt in jedem Sondergebiet eine neue Gestalt an und verlangt eine neue selbständige Begründung. Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht.
Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur. Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat. Hierin erst findet die Grundthese des Idealismus ihre eigentliche und vollständige Bewährung. Solange die philosophische Betrachtung sich lediglich auf die Analyse der reinen Erkenntnisform bezieht und sich auf diese Aufgabe einschränkt, solange kann auch die Kraft der naiv-realistischen Weltansicht nicht völlig gebrochen werden. Der Gegenstand der Erkenntnis mag immerhin in ihr und durch ihr ursprüngliches Gesetz in irgendeiner Weise bestimmt und geformt werden – aber er muß nichtsdestoweniger, wie es scheint, auch außerhalb dieser Relation zu den Grundkategorien der Erkenntnis als ein selbständiges Etwas vorhanden und gegeben sein. Geht man dagegen nicht sowohl vom allgemeinen Weltbegriff, als vielmehr vom allgemeinen Kulturbegriff aus, so gewinnt damit die Frage alsbald eine veränderte Gestalt. Denn der Inhalt des Kulturbegriffs läßt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens nicht loslösen: das „Sein“ ist hier nirgends anders als im „Tun“ erfaßbar. Nur sofern es eine spezifische Richtung der ästhetischen Phantasie und der ästhetischen Anschauung gibt, gibt es ein Gebiet ästhetischer Gegenstände, – und das Gleiche gilt für alle übrigen geistigen Energien, kraft deren für uns die Form und der Umriß eines bestimmten Gegenstandsbereichs sich gestaltet. Auch das religiöse Bewußtsein bildet – so sehr es von der „Realität“, von der Wahrheit seines Gegenstandes überzeugt ist – diese Realität nur auf der untersten Stufe, nur auf der Stufe eines rein mythologischen Denkens, in eine einfache dingliche Existenz um. Auf allen höheren Stufen der Betrachtung dagegen ist es sich mehr oder minder deutlich bewußt, daß es seinen Gegenstand nur dadurch „hat“, daß es sich in einer durchaus eigenartigen, ihm allein zugehörigen Weise auf ihn bezieht. Es ist eine Art des Sich-Verhaltens, es ist die Richtung, die sich der Geist auf ein gedachtes Objektive gibt, in welcher hier die letzte Gewähr eben dieser Objektivität selbst enthalten ist. Das philosophische Denken tritt all diesen Richtungen gegenüber – nicht lediglich in der Absicht, jede von ihnen gesondert zu verfolgen oder sie im Ganzen zu überblicken, sondern mit der Voraussetzung, daß es möglich sein müsse, sie auf einen einheitlichen Mittelpunkt, auf ein ideelles Zentrum zu beziehen. Dieses Zentrum aber kann, kritisch betrachtet, niemals in einem gegebenen Sein, sondern nur in einer gemeinsamen Aufgabe liegen. Die verschiedenen Erzeugnisse der geistigen Kultur, die Sprache, die wissenschaftliche Erkenntnis, der Mythos, die Kunst, die Religion werden so, bei all ihrer inneren Verschiedenheit, zu Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhangs, – zu mannigfachen Ansätzen, die alle auf das eine Ziel bezogen sind, die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden.
Denn wie die moderne Sprachphilosophie, um den eigentlichen Ansatzpunkt für eine philosophische Betrachtung der Sprache zu finden, den Begriff der „inneren Sprachform“ aufgestellt hat – so läßt sich sagen, daß eine analoge „innere Form“ auch für die Religion und den Mythos, für die Kunst und für die wissenschaftliche Erkenntnis vorauszusetzen und zu suchen ist. Und diese Form bedeutet nicht lediglich die Summe oder die nachträgliche Zusammenfassung der Einzelerscheinungen dieser Gebiete, sondern das bedingende Gesetz ihres Aufbaus. Freilich gibt es zuletzt keinen anderen Weg, sich dieses Gesetzes zu versichern, als daß wir es an den Erscheinungen selbst aufzeigen und es von ihnen „abstrahieren“; aber eben diese Abstraktion erweist es zugleich als ein notwendiges und konstitutives Moment für den inhaltlichen Bestand des Einzelnen. Die Philosophie ist sich im Verlauf ihrer Geschichte der Aufgabe einer solchen Analyse und Kritik der besonderen Kulturformen immer mehr oder weniger bewußt geblieben; aber sie hat zumeist nur Teile dieser Aufgabe, und zwar mehr in negativer als in positiver Absicht, direkt in Angriff genommen. Ihr Bestreben ging in dieser Kritik häufig weniger auf die Darstellung und Begründung der positiven Leistungen jeder Einzelform, als auf die Abwehr falscher Ansprüche. Seit den Tagen der griechischen Sophistik gibt es eine skeptische Sprachkritik, wie es eine skeptische Mythenkritik und Erkenntniskritik gibt. Diese wesentlich negative Einstellung wird verständlich, wenn man erwägt, daß in der Tat jeder Grundform des Geistes, indem sie auftritt und sich entwickelt, das Bestreben eigen ist, sich nicht als einen Teil, sondern als ein Ganzes zu geben und somit statt einer bloß relativen eine absolute Geltung für sich in Anspruch zu nehmen. Sie bescheidet sich nicht innerhalb ihres besonderen Bezirks, sondern sie sucht die eigentümliche Prägung, die sie mit sich führt, der Gesamtheit des Seins und des geistigen Lebens aufzudrücken. Aus diesem Streben zum Unbedingten, das jeder Einzelrichtung innewohnt, ergeben sich die Konflikte der Kultur und die Antinomien des Kulturbegriffs. Die Wissenschaft entsteht in einer Form der Betrachtung, die, bevor sie einsetzen und sich durchsetzen kann, überall gezwungen ist, an jene ersten Verbindungen und Trennungen des Denkens anzuknüpfen, die in der Sprache und in den sprachlichen Allgemeinbegriffen ihren ersten Ausdruck und Niederschlag gefunden haben. Aber indem sie die Sprache als Material und Grundlage benutzt, schreitet sie zugleich notwendig über sie hinaus. Ein neuer „Logos“, der von einem anderen Prinzip als dem des sprachlichen Denkens geleitet und beherrscht wird, tritt nun hervor und bildet sich immer schärfer, immer selbständiger aus. Und an ihm gemessen, erscheinen nun die Bildungen der Sprache nur noch wie Hemmungen und Schranken, die durch die Kraft und Eigenart des neuen Prinzips fortschreitend überwunden werden müssen. Die Kritik der Sprache und der sprachlichen Denkform wird zu einem integrierenden Bestand des vordringenden wissenschaftlichen und philosophischen Denkens. Und auch in den übrigen Gebieten wiederholt sich dieser typische Gang der Entwicklung. Die einzelnen geistigen Richtungen treten nicht, um einander zu ergänzen, friedlich nebeneinander, sondern jede wird zu dem, was sie ist, erst dadurch, daß sie gegen die anderen und im Kampf mit den anderen die ihr eigentümliche Kraft erweist. Die Religion und die Kunst stehen in ihrem rein geschichtlichen Wirken einander so nahe und durchdringen sich derart, daß beide bisweilen auch ihrem Gehalt und dem inneren Prinzip des Bildens nach ununterscheidbar zu werden scheinen. Von den Göttern Griechenlands hat man gesagt, daß sie Homer und Hesiod ihre Entstehung verdanken. Und doch scheidet sich andererseits gerade das religiöse Denken der Griechen in seinem weiteren Fortgang immer bestimmter von diesem seinem ästhetischen Anfang und Urgrund. Immer entschiedener lehnt es sich seit Xenophanes gegen den mythisch-dichterischen und gegen den sinnlich-plastischen Gottesbegriff auf, den es als Anthropomorphismus erkennt und verwirft. In derartigen geistigen Kämpfen und Konflikten, wie sie sich in der Geschichte in immer neuer Potenzierung und Steigerung darstellen, scheint von der Philosophie als der höchsten Einheitsinstanz die alleinige letzte Entscheidung zu erwarten zu sein. Aber die dogmatischen Systeme der Metaphysik befriedigen diese Erwartung und Forderung nur unvollkommen. Denn sie selbst stehen zumeist noch mitten in dem Kampfe, der sich hier vollzieht, nicht über ihm: sie vertreten trotz aller begrifflichen Universalität, nach der sie streben, nur eine Seite des Gegensatzes, statt diesen selbst in seiner ganzen Weite und Tiefe zu begreifen und zu vermitteln. Denn sie selbst sind zumeist nichts anderes als metaphysische Hypostasen eines bestimmten logischen oder ästhetischen oder religiösen Prinzips. Je mehr sie sich in die abstrakte Allgemeinheit dieses Prinzips einschließen, um so mehr schließen sie sich damit gegen einzelne Seiten der geistigen Kultur und gegen die konkrete Totalität ihrer Formen ab. Der Gefahr eines derartigen Abschlusses vermöchte die philosophische Betrachtung nur dann zu entgehen, wenn es ihr gelänge, einen Standpunkt zu finden, der über all diesen Formen und der doch andererseits nicht schlechthin jenseits von ihnen liegt: – einen Standpunkt, der es ermöglichte, das Ganze derselben mit einem Blicke zu umfassen und der in diesem Blicke doch nichts anderes sichtbar zu machen versuchte, als das rein immanente Verhältnis, das alle diese Formen zueinander, nicht das Verhältnis, das sie zu einem äußeren, „transzendenten“ Sein oder Prinzip haben. Dann erstünde eine philosophische Systematik des Geistes, in der jede besondere Form ihren Sinn rein durch die Stelle, an der sie steht, erhalten würde, in der ihr Gehalt und ihre Bedeutung durch den Reichtum und die Eigenart der Beziehungen und Verflechtungen bezeichnet würde, in welchen sie mit anderen geistigen Energien und schließlich mit deren Allheit steht.
An Versuchen und Ansätzen zu einer derartigen Systematik hat es seit den Anfängen der neueren Philosophie und seit der Grundlegung des modernen philosophischen Idealismus nicht gefehlt. Schon Descartes’ methodische Programmschrift, schon die „Regulae ad directionem ingenii“ weisen zwar den Versuch der alten Metaphysik, die Gesamtheit der Dinge zu überblicken und in die letzten Geheimnisse der Natur eindringen zu wollen, als vergeblich ab, aber um so nachdrücklicher bestehen sie darauf, daß es möglich sein müsse, die „universitas“ des Geistes gedanklich zu erschöpfen und auszumessen. „Ingenii limites definire“ das Gesamtgebiet und die Grenzen des Geistes zu bestimmen: dieser Wahlspruch Descartes’ wird nunmehr zum Leitwort der gesamten neueren Philosophie. Aber der Begriff des „Geistes“ ist hierbei in sich selbst noch zwiespältig und zweideutig, da er bald im engeren, bald im weiteren Sinne gebraucht wird. Wie die Philosophie Descartes’ von einem neuen umfassenden Begriff des Bewußtseins ausgeht, dann aber diesen Begriff, im Ausdruck der cogitatio, wieder mit dem reinen Denken zusammenfallen läßt – so fällt für Descartes und für den gesamten Rationalismus auch die Systematik des Geistes mit der des Denkens zusammen. Die universitas des Geistes, seine konkrete Totalität gilt daher erst dann als wahrhaft erfaßt und als philosophisch durchdrungen, wenn es gelingt, sie aus einem einzigen logischen Prinzip zu deduzieren. Damit ist die reine Form der Logik wieder zum Prototyp und Vorbild für jegliches geistige Sein und jegliche geistige Form erhoben. Und wie bei Descartes, der die Reihe der Systeme des klassischen Idealismus beginnt, so steht bei Hegel, der diese Reihe abschließt, dieser methodische Zusammenhang noch einmal in voller Deutlichkeit vor uns. Die Forderung, das Ganze des Geistes als konkretes Ganze zu denken, also nicht bei seinem einfachen Begriff stehen zu bleiben, sondern ihn in die Gesamtheit seiner Manifestationen zu entwickeln, hat Hegel mit einer Schärfe, wie kein Denker vor ihm, gestellt. Und doch soll andererseits die Phänomenologie des Geistes, indem sie diese Forderung zu erfüllen strebt, damit nur der Logik den Boden und den Weg bereiten. Die Mannigfaltigkeit der geistigen Formen, wie sie die Phänomenologie aufstellt, läuft zuletzt gleichsam in eine höchste logische Spitze aus – und in diesem ihrem Ende findet sie erst ihre vollendete „Wahrheit“ und Wesenheit. So reich und vielgestaltig sie ihrem Inhalt nach ist, so untersteht sie doch ihrer Struktur nach einem einzigen und im gewissen Sinne einförmigen Gesetz – dem Gesetz der dialektischen Methode, das den sich gleichbleibenden Rhythmus in der Selbstbewegung des Begriffs darstellt. Der Geist beschließt alle Bewegung seines Gestaltens im absoluten Wissen, indem er hier das reine Element seines Daseins, den Begriff, gewinnt. In diesem seinem letzten Ziel sind alle früheren Stadien, die er durchlaufen, zwar noch als Momente enthalten, aber auch zu bloßen Momenten aufgehoben. Somit scheint auch hier von allen geistigen Formen nur der Form des Logischen, der Form des Begriffs und der Erkenntnis eine echte und wahrhafte Autonomie zu gebühren. Der Begriff ist nicht nur das Mittel, das konkrete Leben des Geistes darzustellen, sondern er ist das eigentliche substantielle Element des Geistes selbst. Demnach wird alles geistige Sein und Geschehen, so sehr es in seiner spezifischen Besonderung erfaßt und in dieser Besonderung anerkannt werden soll, doch zuletzt gleichsam auf eine einzige Dimension bezogen und reduziert – und diese Beziehung ist es erst, in welcher sein tiefster Gehalt und seine eigentliche Bedeutung erfaßt wird.
Und in der Tat scheint diese letzte Zentrierung aller geistigen Formen in der einen logischen Form durch den Begriff der Philosophie selbst und insbesondere durch das Grundprinzip des philosophischen Idealismus notwendig gefordert zu sein. Denn verzichtet man auf diese Einheit, so scheint überhaupt von einer strengen Systematik dieser Formen keine Rede mehr sein zu können. Als Gegenbild und Widerspiel der dialektischen Methode bleibt alsdann nur ein rein empirisches Verfahren übrig. Läßt sich kein allgemeines Gesetz aufweisen, kraft dessen die eine geistige Form mit Notwendigkeit aus der anderen hervorgeht, bis schließlich die ganze Reihe der geistigen Gestaltungen gemäß diesem Prinzip durchlaufen ist – so läßt sich, wie es scheint, der Inbegriff dieser Gestaltungen nicht mehr als ein in sich geschlossener Kosmos denken. Die einzelnen Formen stehen dann einfach nebeneinander: sie lassen sich zwar ihrem Umfang nach übersehen und in ihrer Besonderheit beschreiben, aber es drückt sich in ihnen nicht mehr ein gemeinsamer ideeller Gehalt aus. Die Philosophie dieser Formen müßte dann schließlich in ihre Geschichte ausmünden, die sich je nach ihren Gegenständen als Sprachgeschichte, als Religions- und Mythengeschichte, als Kunstgeschichte u. s. f. darstellen und spezifizieren würde. Somit ergibt sich an diesem Punkte ein eigentümliches Dilemma. Halten wir an der Forderung der logischen Einheit fest, so droht zuletzt in der Allgemeinheit der logischen Form die Besonderung jedes Einzelgebiets und die Eigenart seines Prinzips sich zu verwischen – versenken wir uns dagegen in eben diese Individualität und bleiben wir bei ihrer Betrachtung stehen, so laufen wir Gefahr, uns in ihr zu verlieren und keinen Rückweg mehr ins Allgemeine zu finden. Ein Ausweg aus diesem methodischen Dilemma könnte nur dann gefunden werden, wenn es gelänge, ein Moment aufzuweisen und zu ergreifen, das sich in jeder geistigen Grundform wiederfindet und das doch andererseits in keiner von ihnen in schlechthin gleicher Gestalt wiederkehrt. Dann ließe sich im Hinblick auf dieses Moment der ideelle Zusammenhang der einzelnen Gebiete – der Zusammenhang zwischen der Grundfunktion der Sprache und der Erkenntnis, des Ästhetischen und des Religiösen – behaupten, ohne daß in ihm die unvergleichliche Eigenheit einer jeden von ihnen verloren ginge. Wenn sich ein Medium finden ließe, durch welches alle Gestaltung, wie sie sich in den einzelnen geistigen Grundrichtungen vollzieht, hindurchgeht, und in welchem sie nichtsdestoweniger ihre besondere Natur, ihren spezifischen Charakter bewahrt, – so wäre damit das notwendige Mittelglied für eine Betrachtung gegeben, die dasjenige, was die transzendentale Kritik für die reine Erkenntnis leistet, auf die Allheit der geistigen Formen überträgt. Die nächste Frage, die wir uns zu stellen haben, wird also darin bestehen, ob es in der Tat für die mannigfachen Richtungen des Geistes ein solches mittleres Gebiet und eine vermittelnde Funktion gibt, und ob diese Funktion bestimmte typische Grundzüge aufweist, kraft deren sie sich erkennen und beschreiben läßt.
II
Wir greifen hierfür zunächst wieder auf den Begriff des „Symbols“ zurück, wie ihn Heinrich Hertz vom Standpunkt der physikalischen Erkenntnis fordert und kennzeichnet. Was der Physiker in den Erscheinungen sucht ist die Darstellung ihrer notwendigen Verknüpfung. Aber diese Darstellung läßt sich nicht anders vollziehen, als dadurch, daß er die unmittelbare Welt der sinnlichen Eindrücke nicht nur hinter sich läßt, sondern sich scheinbar völlig von ihnen abwendet. Die Begriffe, mit denen er operiert, die Begriffe des Raumes und der Zeit, der Masse und der Kraft, des materiellen Punktes und der Energie, des Atoms oder des Äthers sind freie „Scheinbilder“, die die Erkenntnis entwirft, um die Welt der sinnlichen Erfahrung zu beherrschen und als gesetzlich-geordnete Welt zu übersehen, denen aber in den sinnlichen Daten selbst unmittelbar nichts entspricht. Aber obwohl keine derartige Entsprechung stattfindet – und vielleicht gerade weil sie nicht stattfindet – ist doch die Begriffswelt der Physik in sich selbst völlig geschlossen. Jeder Einzelbegriff, jedes besondere Scheinbild und Zeichen gleicht dem artikulierten Wort einer in sich bedeutungs- und sinnvollen, nach festen Regeln gegliederten Sprache. Schon in den ersten Anfängen der modernen Physik, schon bei Galilei findet sich der Vergleich, daß das „Buch der Natur“ in mathematischer Sprache verfaßt und nur in mathematischer Chiffreschrift lesbar sei. Und seither zeigt die gesamte Entwicklung der exakten Naturwissenschaft, wie in der Tat jeder Fortschritt ihrer Problemstellung und ihrer Begriffsmittel mit einer zunehmenden Verfeinerung ihres Zeichensystems Hand in Hand ging. Die scharfe Erfassung der Grundbegriffe der Galileischen Mechanik gelang erst, als durch den Algorithmus der Differentialrechnung gleichsam der allgemein logische Ort dieser Begriffe bestimmt und ein allgemeingültiges mathematisch-logisches Zeichen für sie geschaffen war. Und von hier aus, von den Problemen, die mit der Entdeckung der Analysis des Unendlichen zusammenhingen, vermochte Leibniz alsbald das allgemeine Problem, das in der Funktion der Zeichengebung enthalten ist, aufs schärfste zu bestimmen, vermochte er den Plan seiner universellen „Charakteristik“ zu einer wahrhaft philosophischen Bedeutung zu erheben. Die Logik der Sachen, d. h. der inhaltlichen Grundbegriffe und Grundbeziehungen, auf denen der Aufbau einer Wissenschaft beruht, kann nach der Grundüberzeugung, die er vertritt und festhält, von der Logik der Zeichen nicht getrennt werden. Denn das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertiggegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft desssen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt. Der Akt der begrifflichen Bestimmung eines Inhalts geht mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem charakteristischen Zeichen Hand in Hand. So findet alles wahrhaft strenge und exakte Denken seinen Halt erst in der Symbolik und Semiotik, auf die es sich stützt. Jedes „Gesetz“ der Natur nimmt für unser Denken die Gestalt einer allgemeinen „Formel“ an – jede Formel aber läßt sich nicht anders denn durch eine Verknüpfung allgemeiner und spezifischer Zeichen darstellen. Ohne jene universellen Zeichen, wie sie die Arithmetik und Algebra darbieten, wäre auch keine besondere Relation der Physik, kein besonderes Naturgesetz aussprechbar. Darin prägt sich gleichsam sinnfällig das Grundprinzip der Erkenntnis überhaupt aus, daß sich das Allgemeine immer nur im Besonderen anschauen, das Besondere immer nur im Hinblick auf das Allgemeine denken läßt.
Aber dieses Wechselverhältnis bleibt nun nicht auf die Wissenschaft beschränkt, sondern geht auch durch alle anderen Grundformen geistigen Schaffens hindurch. Für sie alle gilt, daß sie die ihnen gemäße und eigentümliche Auffassungs- und Gestaltungsweise nur dadurch zur Geltung bringen können, daß sie für sie gleichsam ein bestimmtes sinnliches Substrat erschaffen. So wesentlich ist hier dieses Substrat, daß es bisweilen den gesamten Bedeutungsgehalt, den eigentlichen „Sinn“ dieser Formen zu umschliessen scheint. Die Sprache scheint sich vollständig als ein System von Lautzeichen definieren und denken zu lassen – die Welt der Kunst und die des Mythos scheint sich in der Welt der besonderen, sinnlich-faßbaren Gestalten, die beide vor uns hinstellen, zu erschöpfen. Und damit ist in der Tat ein allumfassendes Medium gegeben, in welchem alle noch so verschiedenen geistigen Bildungen sich begegnen. Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient. Gelänge es, einen systematischen Überblick über die verschiedenen Richtungen dieser Art des Ausdrucks zu gewinnen – gelänge es, ihre typischen und durchgängigen Züge, sowie deren besondere Abstufungen und innere Unterschiede aufzuweisen, so wäre damit das Ideal der „allgemeinen Charakteristik“, wie Leibniz es für die Erkenntnis aufstellte, für das Ganze des geistigen Schaffens erfüllt. Wir besäßen alsdann eine Art Grammatik der symbolischen Funktion als solcher, durch welche deren besondere Ausdrücke und Idiome, wie wir sie in der Sprache und in der Kunst, im Mythos und in der Religion vor uns sehen, umfaßt und generell mitbestimmt würden.
Die Idee einer derartigen Grammatik schließt eine Erweiterung des traditionellen geschichtlichen Lehrbegriffs des Idealismus in sich. Dieser Lehrbegriff war von jeher darauf gerichtet, dem „mundus sensibilis“ einen anderen Kosmos, den „mundus intelligibilis“ gegenüberzustellen und die Grenzen beider Welten sicher zu scheiden. Im wesentlichen aber verlief die Grenze derart, daß die Welt des Intelligiblen durch das Moment des reinen Tuns, die Welt des Sinnlichen durch das Moment des Leidens bestimmt wurde. Dort herrschte die freie Spontaneität des Geistigen, hier die Gebundenheit, die Passivität des Sinnlichen. Für jene „allgemeine Charakteristik“ aber, deren Problem und Aufgabe sich jetzt im allgemeinsten Umriß vor uns hingestellt hat, ist dieser Gegensatz kein unvermittelter und ausschließender mehr. Denn zwischen dem Sinnlichen und Geistigen knüpft sich hier eine neue Form der Wechselbeziehung und der Korrelation. Der metaphysische Dualismus beider erscheint überbrückt, sofern sich zeigen läßt, daß gerade die reine Funktion des Geistigen selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen muß, und daß sie sie hier zuletzt allein zu finden vermag. Im Kreis des Sinnlichen selbst muß scharf zwischen dem, was bloße „Reaktion“ und dem, was reine „Aktion“ ist, zwischen dem, was der Sphäre des „Eindrucks“ und dem, was der Sphäre des „Ausdrucks“ angehört, unterschieden werden. Der dogmatische Sensualismus fehlt nicht nur darin, daß er die Bedeutung und Leistung der rein intellektuellen Faktoren unterschätzt, sondern vor allem auch darin, daß er die Sinnlichkeit selbst, wenngleich er sie als eigentliche Grundkraft des Geistes proklamiert, keineswegs in der ganzen Weite ihres Begriffs und in der Totalität ihrer Leistungen erfaßt. Er entwirft auch von ihr ein ungenügendes und verstümmeltes Bild, sofern er sie lediglich auf die Welt der „Impressionen“, auf die unmittelbare Gegebenheit der einfachen Empfindungen beschränkt. Darin ist verkannt, daß es auch eine Aktivität des Sinnlichen selbst, daß es, um den Goetheschen Ausdruck zu gebrauchen, auch eine „exakte sinnliche Phantasie“ gibt, die sich in den verschiedensten Gebieten geistigen Schaffens als wirksam erweist. In ihnen allen zeigt sich in der Tat dies als das eigentliche Vehikel ihres immanenten Fortgangs, daß sie neben und über der Welt der Wahrnehmung eine eigene freie Bildwelt erstehen lassen: eine Welt, die ihrer unmittelbaren Beschaffenheit nach noch ganz die Farbe des Sinnlichen an sich trägt, die aber eine bereits geformte und somit eine geistig beherrschte Sinnlichkeit darstellt. Hier handelt es sich nicht um ein einfach gegebenes und vorgefundenes Sinnliches, sondern um ein System sinnlicher Mannigfaltigkeiten, die in irgendeiner Form freien Bildens erschaffen werden.
So zeigt etwa der Prozeß der Sprachbildung, wie das Chaos der unmittelbaren Eindrücke sich für uns erst dadurch lichtet und gliedert, daß wir es „benennen“ und es dadurch mit der Funktion des sprachlichen Denkens und des sprachlichen Ausdrucks durchdringen. In dieser neuen Welt der Sprachzeichen gewinnt auch die Welt der Eindrücke selbst einen ganz neuen „Bestand“, weil eine neue geistige Artikulation. Die Unterscheidung und Sonderung, die Fixierung gewisser Inhaltsmomente durch den Sprachlaut bezeichnet an ihnen nicht nur, sondern verleiht ihnen geradezu eine bestimmte gedankliche Qualität, kraft deren sie nun über die bloße Unmittelbarkeit der sogen. sinnlichen Qualitäten erhoben sind. So wird die Sprache zu einem der geistigen Grundmittel, vermöge dessen sich für uns der Fortschritt von der bloßen Empfindungswelt zur Welt der Anschauung und Vorstellung vollzieht. Sie schließt im Keime bereits jene intellektuelle Arbeit in sich, die sich weiterhin in der Bildung des Begriffs, als wissenschaftlichen Begriffs, als bestimmter logischer Formeinheit äußert. Hier liegt der erste Anfang jener allgemeinsten Funktion des Trennens und Verknüpfens, die ihren höchsten bewußten Ausdruck in den Analysen und Synthesen des wissenschaftlichen Denkens findet. Und neben der Welt der Sprach- und Begriffszeichen steht nun, mit ihr unvergleichbar und ihr dennoch dem geistigen Ursprung nach verwandt, jene Gestaltenwelt, die der Mythos oder die Kunst erschafft. Denn auch die mythische Phantasie ist, so stark sie im Sinnlichen wurzelt, doch über die bloße Passivität des Sinnlichen hinaus. Mißt man sie an den gewöhnlichen empirischen Maßstäben, wie sie die sinnliche Erfahrung uns darbietet, so müssen ihre Gebilde als schlechthin „unwirklich“ erscheinen, aber gerade in dieser Unwirklichkeit bekundet sich die Spontaneität und die innere Freiheit der mythischen Funktion. Und diese Freiheit fällt keineswegs mit einer völlig gesetzlosen Willkür zusammen. Die Welt des Mythos ist kein bloßes Gebilde der Laune oder des Zufalls, sondern sie hat ihre eigenen Fundamentalgesetze des Bildens, die durch alle ihre besonderen Äußerungen hindurchwirken. Im Gebiet der künstlerischen Anschauung wird es sodann vollends deutlich, daß alle Auffassung einer ästhetischen Form am Sinnlichen nur dadurch möglich wird, daß wir selbst die Grundelemente der Form bildend erzeugen. Alles Verständnis räumlicher Gestalten z. B. ist zuletzt an diese Tätigkeit ihrer inneren Produktion und an die Gesetzmäßigkeit dieser Produktion gebunden. So zeigt sich durchweg, wie gerade die höchste und reinste geistige Aktivität, die das Bewußtsein kennt, durch bestimmte Weisen der sinnlichen Aktivität bedingt und vermittelt ist. Auch hier haben wir das eigentliche und wesentliche Leben der reinen Idee immer nur am farbigen Abglanz der Erscheinungen. Das System der mannigfachen Äußerungen des Geistes ist für uns nicht anders erfaßbar, als dadurch, daß wir die verschiedenen Richtungen seiner ursprünglichen Bildkraft verfolgen. In dieser erblicken wir im Reflex die Wesenheit des Geistes – denn diese kann sich für uns nur dadurch darstellen, daß sie sich in der Gestaltung des sinnlichen Materials betätigt.
Und daß es in der Tat eine reine Aktivität des Geistes ist, die sich in der Schaffung der verschiedenen Systeme sinnlicher Symbole bekundet, das drückt sich auch darin aus, daß alle diese Symbole von Anfang an mit einem bestimmten Objektivitäts- und Wertanspruch auftreten. Sie alle greifen über den Kreis der bloß individuellen Bewußtseinserscheinungen hinaus; – sie beanspruchen ihnen gegenüber ein Allgemeingültiges hinzustellen. Dieser Anspruch mag sich vor einer späteren kritisch-philosophischen Betrachtung und vor ihrem entwickelten und durchgebildeten Wahrheitsbegriff möglicherweise als hinfällig erweisen; – aber daß er überhaupt erhoben wird, gehört zum Wesen und Charakter der einzelnen Grundformen selbst. Sie selbst sehen ihre Gebilde nicht nur überhaupt als objektiv-gültig, sondern zumeist geradezu als den eigentlichen Kern des Objektiven, des „Wirklichen“ an. So ist es für die ersten gleichsam naiven und unreflektierten Äußerungen des sprachlichen Denkens, wie für das Denken des Mythos bezeichnend, daß sich für sie der Inhalt der „Sache“ und der des „Zeichens“ nicht deutlich scheidet, sondern daß beides in völliger Indifferenz in einander überzugehen pflegt. Der Name einer Sache und diese selbst sind untrennbar mit einander verschmolzen; – das bloße Wort oder Bild birgt in sich eine magische Kraft, durch die sich uns das Wesen des Dinges zu eigen gibt. Und man braucht diese Anschauung nur vom Reellen ins Ideelle, vom Dinglichen ins Funktionale zu wenden, um in ihr in der Tat einen berechtigten Kern zu entdecken. Denn wirklich bildet in der immanenten Entwicklung des Geistes der Gewinn des Zeichens stets einen ersten und notwendigen Schritt für die Gewinnung der objektiven Wesenserkenntnis. Das Zeichen bildet gleichsam für das Bewußtsein das erste Stadium und den ersten Beleg der Objektivität, weil durch dasselbe zuerst dem stetigen Wandel der Bewußtseinsinhalte Halt geboten, weil in ihm ein Bleibendes bestimmt und herausgehoben wird. Kein bloßer Inhalt des Bewußtseins kehrt als solcher, nachdem er einmal vergangen und durch andere ersetzt ist, in streng-identischer Bestimmtheit wieder. Er ist als das, was er war, ein für alle mal dahin, sobald er aus dem Bewußtsein geschwunden ist. Aber diesem unaufhörlichen Wechsel der inhaltlichen Qualitäten stellt nun das Bewußtsein die Einheit seiner selbst und seiner Form gegenüber. Seine Identität beweist sich nicht in dem, was es ist oder hat, sondern in dem, was es tut, erst wahrhaft. Durch das Zeichen, das mit einem Inhalt verknüpft wird, gewinnt dieser in sich selbst einen neuen Bestand und eine neue Dauer. Denn dem Zeichen kommt, im Gegensatz zu dem realen Wechsel der Einzelinhalte des Bewußtseins, eine bestimmte ideelle Bedeutung zu, die als solche beharrt. Es ist nicht gleich der gegebenen einfachen Empfindung ein punktuell Einzelnes und Einmaliges, sondern es steht als Repräsentant für eine Gesamtheit, einen Inbegriff möglicher Inhalte, deren jedem gegenüber es also ein erstes „Allgemeines“ darstellt. In der symbolischen Funktion des Bewußtseins, wie sie sich in der Sprache, in der Kunst, im Mythos betätigt, heben sich zuerst aus dem Strom des Bewußtseins bestimmte gleichbleibende Grundgestalten teils begrifflicher, teils rein anschaulicher Natur heraus; an die Stelle des verfließenden Inhalts tritt die in sich geschlossene und in sich beharrende Einheit der Form.
Dabei aber handelt es sich nicht um einen bloßen Einzelakt, sondern um einen stetig fortschreitenden Prozeß der Bestimmung, der der gesamten Entwicklung des Bewußtseins sein Gepräge gibt. Auf der ersten Stufe scheint die Fixierung, die dem Inhalt durch das sprachliche Zeichen, durch das mythische oder künstlerische Bild zuteil wird, über sein Festhalten in der Erinnerung, also über seine einfache Reproduktion nicht hinauszugehen. Das Zeichen scheint hier dem Inhalt, auf den es sich bezieht, nichts hinzuzufügen, sondern ihn einfach seinem reinen Bestand nach festzuhalten und zu wiederholen. Selbst in der psychologischen Entwicklungsgeschichte der Kunst hat man eine Phase der bloßen „Erinnerungskunst“ nachweisen zu können geglaubt, in der alle künstlerische Gestaltung noch in der einzigen Richtung wirkt, daß bestimmte Züge des Sinnlich-Wahrgenommenen hervorgehoben und in einem selbstgeschaffenen Bilde der Erinnerung dargeboten werden[4]. Aber je klarer die einzelnen Grundrichtungen in ihrer spezifischen Energie hervortreten, um so deutlicher wird zugleich, daß auch alle scheinbare „Reproduktion“ für das Bewußtsein stets eine ursprüngliche und autonome Leistung zur Voraussetzung hat. Die Reproduzierbarkeit des Inhalts selbst ist an die Produktion eines Zeichens für ihn gebunden, in welcher das Bewußtsein frei und selbständig verfährt. Damit gewinnt auch der Begriff der „Erinnerung“ einen reicheren und tieferen Sinn. Um sich eines Inhalts zu erinnern, muß ihn sich das Bewußtsein zuvor auf eine andere Weise als in der bloßen Empfindung oder Wahrnehmung innerlich zu eigen gemacht haben. Hier genügt nicht die bloße Wiederholung des Gegebenen in einem anderen Zeitpunkt, sondern in ihr muß sich zugleich eine neue Art der Auffassung und Formung geltend machen. Denn jede „Reproduktion“ des Inhalts schließt schon eine neue Stufe der „Reflexion“ in sich. Schon indem das Bewußtsein ihn nicht mehr einfach als gegenwärtigen hinnimmt, sondern ihn als etwas Vergangenes und dennoch für es selbst nicht Verschwundenes im Bilde vor sich hinstellt, hat es durch dies veränderte Verhältnis, in das es zu ihm tritt, sich und ihm eine veränderte ideelle Bedeutung gegeben. Und diese tritt nun immer bestimmter und reicher hervor, je mehr die eigene Bildwelt des Ich sich differenziert. Das Ich übt jetzt nicht nur eine ursprüngliche Aktivität des Bildens aus, sondern es lernt sie zugleich tiefer und tiefer verstehen. Und damit treten die Grenzen der „subjektiven“ und der „objektiven“ Welt erst wahrhaft klar und scharf heraus. Es ist eine der wesentlichen Aufgaben der allgemeinen Erkenntniskritik, die Gesetze aufzuweisen, nach denen diese Abgrenzung sich innerhalb des rein theoretischen Gebiets, mit den Methoden des wissenschaftlichen Denkens, vollzieht. Sie zeigt, daß das „subjektive“ und das „objektive“ Sein nicht von Anfang an als starr geschiedene, inhaltlich völlig bestimmte Sphären einander gegenüberstehen, sondern daß beide erst im Prozeß der Erkenntnis und gemäß den Mitteln und Bedingungen desselben ihre Bestimmtheit gewinnen. So erweist sich die kategoriale Scheidung zwischen „Ich“ und „Nicht-Ich“ als eine durchgreifende, beständig wirksame Funktion des theoretischen Denkens, während die Art, wie diese Funktion ihre Erfüllung findet, wie also die Inhalte des „subjektiven“ und des „objektiven“ Seins sich gegen einander begrenzen, je nach der erreichten Erkenntnisstufe verschieden ist. Das „Objektive“ der Erfahrung sind, für die theoretisch-wissenschaftliche Weltbetrachtung, ihre beständigen und notwendigen Elemente – welchen Inhalten aber diese Beständigkeit und Notwendigkeit zuerkannt wird, das hängt einerseits von dem allgemeinen methodischen Maßstab ab, den das Denken an die Erfahrung anlegt, andererseits ist es durch den jeweiligen Stand der Erkenntnis, durch die Gesamtheit ihrer empirisch und theoretisch gesicherten Einsichten bedingt. Die Art, in der wir den begrifflichen Gegensatz des „Subjektiven“ und „Objektiven“ in der Gestaltung der Erfahrungswelt, im Aufbau der Natur zur Anwendung und Durchführung bringen, zeigt sich, in diesem Zusammenhang betrachtet, nicht sowohl als die Lösung des Erkenntnisproblems, als vielmehr als der vollständige Ausdruck desselben[5]. Aber in seinem ganzen Reichtum und in seiner inneren Vielgestaltigkeit erscheint dieser Gegensatz erst dann, wenn wir ihn über die Grenzen des theoretischen Denkens und seiner spezifischen Begriffsmittel hinaus verfolgen. Nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Sprache, dem Mythos, der Kunst, der Religion ist es eigen, daß sie die Bausteine liefern, aus denen sich für uns die Welt des „Wirklichen“, wie die des Geistigen, die Welt des Ich aufbaut. Auch sie können wir nicht als einfache Gebilde in eine gegebene Welt hineinstellen, sondern wir müssen sie als Funktionen begreifen, kraft deren je eine eigentümliche Gestaltung des Seins und je eine besondere Teilung und Scheidung desselben sich vollzieht. Ebenso wie die Mittel verschieden sind, deren sich jede Funktion hierbei bedient, wie es ganz verschiedene Maßstäbe und Kriterien sind, die von jeder einzelnen vorausgesetzt und zur Anwendung gebracht werden, so ist auch das Ergebnis ein verschiedenes. Der Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff der Wissenschaft ist ein anderer, als es der der Religion oder der Kunst ist – so wahr es ein besonderes und unvergleichliches Grundverhältnis ist, das in ihnen zwischen „Innen“ und „Außen“, zwischen dem Sein des Ich und der Welt nicht sowohl bezeichnet, als vielmehr gestiftet wird. Ehe zwischen all diesen mannigfachen, einander kreuzenden und einander widersprechenden Ansichten und Ansprüchen entschieden werden kann, müssen sie zunächst in kritischer Genauigkeit und Strenge unterschieden werden. Die Leistung jeder einzelnen muß an ihr selbst, nicht an den Maßstäben und Forderungen irgendeiner anderen, gemessen werden – und erst am Ende dieser Betrachtung kann sich die Frage erheben, ob und wie alle diese verschiedenen Formen der Welt- und Ich-Auffassung miteinander vereinbar sind – ob sie zwar nicht ein und dasselbe, an sich bestehende „Ding“ abbilden, wohl aber sich zu einer Totalität und zu einer einheitlichen Systematik des geistigen Tuns ergänzen. –
Für die Philosophie der Sprache ist diese Betrachtungsweise zuerst von Wilh. v. Humboldt in voller Klarheit erfaßt und durchgeführt worden. Für Humboldt ist das Lautzeichen, das die Materie aller Sprachbildung darstellt, gleichsam die Brücke zwischen dem Subjektiven und Objektiven, weil sich in ihm die wesentlichen Momente beider vereinen. Denn der Laut ist auf der einen Seite gesprochener und insofern von uns selbst hervorgebrachter und geformter Laut; auf der anderen Seite aber ist er, als gehörter Laut, ein Teil der sinnlichen Wirklichkeit, die uns umgibt. Wir erfassen und kennen ihn daher als ein zugleich „Inneres“ und „Äußeres“ – als eine Energie des Inneren, die sich in einem Äußeren ausprägt und objektiviert. „Indem in der Sprache das geistige Bestreben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugnis desselben zum eigenen Ohr zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objektivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjektivität entzogen zu werden. Dies vermag nur die Sprache; und ohne diese, wo Sprache mitwirkt, auch stillschweigend immer vorgehende Versetzung in zum Subjekt zurückkehrende Objektivität ist die Bildung des Begriffs, mithin alles wahre Denken unmöglich … Denn die Sprache kann ja nicht als ein daliegender, in seinem Ganzen übersehbarer oder nach und nach mitteilbarer Stoff, sondern muß als ein sich ewig erzeugendes angesehen werden, wo die Gesetze der Erzeugung bestimmt sind, aber der Umfang und gewissermaßen auch die Art des Erzeugnisses gänzlich unbestimmt bleiben … Wie der einzelne Laut zwischen den Gegenstand und den Menschen, so tritt die ganze Sprache zwischen ihn und die innerlich und äußerlich auf ihn einwirkende Natur. Er umgibt sich mit einer Welt von Lauten, um die Welt von Gegenständen in sich aufzunehmen und zu bearbeiten[6].“ In dieser kritisch-idealistischen Auffassung der Sprache ist zugleich ein Moment bezeichnet, das für jede Art und für jede Form der Symbolgebung gültig ist. In jedem von ihm frei entworfenen Zeichen erfaßt der Geist den „Gegenstand“, indem er dabei zugleich sich selbst und die eigene Gesetzlichkeit seines Bildens erfaßt. Und diese eigentümliche Durchdringung bereitet erst der tieferen Bestimmung der Subjektivität wie der Objektivität den Boden. Auf der ersten Stufe dieser Bestimmung hat es den Anschein, als ob die beiden gegensätzlichen Momente noch einfach getrennt neben und gegen einander stünden. Die Sprache etwa kann in ihren frühesten Bildungen gleich sehr als reiner Ausdruck des Inneren, wie des Äußeren, als Ausdruck der bloßen Subjektivität, wie der bloßen Objektivität gefaßt werden. In der ersteren Hinsicht scheint der Sprachlaut nichts anderes als den Erregungs- und Affektlaut, in der zweiten nichts anderes als den einfachen Nachahmungslaut zu bedeuten. Die verschiedenen spekulativen Ansichten, die über den „Ursprung der Sprache“ geäußert worden sind, bewegen sich in der Tat zwischen diesen beiden Extremen, deren keines jedoch den Kern und das geistige Wesen der Sprache selbst trifft. Denn durch sie wird weder ein einseitig Subjektives, noch ein einseitig Objektives bezeichnet und zum Ausdruck gebracht, sondern es tritt in ihr eine neue Vermittlung, eine eigentümliche Wechselbestimmung zwischen beiden Faktoren ein. Weder die bloße Entladung des Affekts, noch die Wiederholung objektiver lautlicher Reize stellt demgemäß schon den charakteristischen Sinn und die charakteristische Form der Sprache dar: diese entsteht vielmehr erst dort, wo beide Enden sich in eins verknüpfen und dadurch eine neue vorher nicht gegebene Synthese von „Ich“ und „Welt“ geschaffen wird. Und eine analoge Beziehung stellt sich weiterhin in jeder wahrhaft selbständigen und ursprünglichen Richtung des Bewußtseins her. Auch die Kunst kann so wenig als der bloße Ausdruck des Inneren, wie als die Wiedergabe der Gestalten einer äußeren Wirklichkeit bestimmt und begriffen werden, sondern auch in ihr liegt das entscheidende und auszeichnende Moment in der Art, wie durch sie das „Subjektive“ und das „Objektive“, wie das reine Gefühl und die reine Gestalt ineinander aufgehen und eben in diesem Aufgehen einen neuen Bestand und Inhalt gewinnen. Noch schärfer, als es in der Beschränkung auf die rein intellektuelle Funktion möglich ist, tritt in all diesen Beispielen hervor, daß wir in der Analyse der geistigen Formen nicht mit einer feststehenden dogmatischen Abgrenzung des Subjektiven gegen das Objektive beginnen können, sondern daß ihre Begrenzung und die Feststellung ihres Bereichs erst durch diese Formen selbst vollzogen wird. Jede besondere geistige Energie trägt in besonderer Weise zu dieser Feststellung bei und wirkt demgemäß an der Konstituierung des Ichbegriffs, wie des Weltbegriffs mit. Die Erkenntnis wie die Sprache, der Mythos und die Kunst: sie alle verhalten sich nicht wie ein bloßer Spiegel, der die Bilder eines Gegebenen des äußeren oder des inneren Seins, so wie sie sich in ihm erzeugen, einfach zurückwirft, sondern sie sind statt solcher indifferenter Medien vielmehr die eigentlichen Lichtquellen, die Bedingungen des Sehens wie die Ursprünge aller Gestaltung.
III