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Vom Außenseiterdasein der fünfzehnjährigen Pia im Mädcheninternat bis zu ihrem Befreiungsschlag in der Studienzeit – mitreißend erzählt Adriana Stern die Geschichte einer unsicheren jungen Frau zwischen Sehnsüchten und Kompromissen, Introversion und Coming-out, Niederlage und neuer Hoffnung. Nach dem Überraschungserfolg von 'Hannah und die Anderen' legt Adriana Stern mit 'Pias Labyrinth' einen packenden lesbischen Entwicklungsroman vor.
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Seitenzahl: 322
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Adriana Stern
Pias Labyrinth
roman ariadne 4005
Argument Verlag
roman ariadne
Herausgegeben von Else Laudan
www.argument.de
Deutsche Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2003
Eppendorfer Weg 95, 20259 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
Lektorat: Britta Dutke, Iris Konopik, Else Laudan
Satz: Iris Konopik
Umschlaggestaltung: Martin Grundmann
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-86754-998-1
Für meinen Sohn Frederik,
dem ich noch so viel mehr erklären möchte
und für Sara R.,
ohne die diese Geschichte wahrscheinlich in einer Schublade verschwunden wäre
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Zeitsprünge
1. Kapitel - März 1999
2. Kapitel - September 1993
3. Kapitel - Ende März 1999
4. Kapitel - Juni 1999 – September 1998
5. Kapitel - Juni 1999
6. Kapitel - Juni 1999
7. Kapitel - Juni 1999
8. Kapitel - November 1998
9. Kapitel - Anfang Juli 1999
10. Kapitel - Januar 2000
Jazzjahre
1. Kapitel - April 2002
2. Kapitel - März 2000
3. Kapitel - April 2002 – Oktober 2001
4. Kapitel - April 2001
5. Kapitel - April 2002
6. Kapitel - April 2002 – August 2001
7. Kapitel - April 2002
8. Kapitel - April 2002
9. Kapitel - April 2002
Danksagung
Die Autorin
Buchempfehlung
März 1999
Ein wilder Wolkenhimmel begrüßt Pia, als sie die Stufen vor dem Jugendzentrum hinunterläuft.
All die Jahre war ihr das Zentrum nicht aufgefallen, obwohl sie hier so oft vorbeigegangen ist. Sie hat es erst kurz vor ihrer Psychiatrieeinweisung entdeckt und seit ihrer Rückkehr kommt sie ab und zu her. Sie haben sogar einen Mädchentag, aber meistens findet sie den ziemlich öde. Immer nur reden. Nichts für sie. Heute war es ganz nett eigentlich. Sie sollte vielleicht mal mit den beiden Neuen herkommen. Gemeinsam mit Andrea und Nesè ließe sich der Mädchentag bestimmt aufpeppen.
Die Regeln im Internat sind für sie etwas lockerer geworden. Das Abendessen um sechs nervt aber immer noch genauso wie vor fünf Monaten. Und überhaupt – dieses Internat! Immer noch die gleichen Mädchen, die sie schadenfroh angrinsen. Wenigstens hat sie Schwester Libora nicht mehr im Nacken. Die hat ihr ohne Übertreibung das Leben zur Hölle gemacht, und das vom ersten Tag an. Sechs Jahre ist das schon her.
Völlig in Gedanken versunken hat Pia das Eingangsportal des Internats erreicht. Vielleicht hat sie in den letzten Monaten ein bisschen zu viel erlebt für eine, die vor vier Monaten sechzehn geworden ist?
Zum Glück ist sie seit ihrer Rückkehr in einer neuen Gruppe. Sie ist zwar die Jüngste, aber das ist sie sowieso überall, weil sie in der Grundschule mal eine Klasse übersprungen hat. Sie hofft, ein Jahr früher studieren zu können. Bloß raus aus dem Internat!
»Hey, Pia, haste schon gehört, heute kommt ’ne Neue. Die sieht genauso bescheuert aus wie du. Zum Glück kommt sie in deine Gruppe.«
»Du bist immer so wahnsinnig nett, Walburga. Davon kann einem richtig schlecht werden«, erwidert Pia und lässt die andere stehen. Sie möchte am liebsten sofort in die Regenstraße ziehen, ihren Traum vom Umzug in eine Jugendwohngemeinschaft endlich wahr werden lassen. Die Mädchen in der Regenstraße sind bestimmt anders drauf als die im Internat, das sieht man ihnen schon an. Hoffentlich muss sie die Zwölfte nicht wiederholen. Dann kann sie ihre Umzugspläne nämlich erst mal ad acta legen. Sie hat sich schon so oft vorgenommen, die Mädchen der Regenstraße zu besuchen, aber getraut hat sie sich bis heute nicht.
Schwester Grisaldis sagt, in die Regenstraße kommt sie vorerst nicht. Die Direktorin hat sowieso eine Menge gesagt, als Pia vor drei Wochen zurückgekehrt ist.
»So, Pia, du hast also entschieden, wieder zu uns zu kommen.«
Pia fühlt sich vor Schwester Grisaldis immer wie ein Wurm. Ihr Schreibtisch ist riesig und schwarz. Sie thront dahinter auf einem erhöhten Sessel und starrt von oben auf die Schülerinnen herab, die zu ihr müssen, wenn sie etwas angestellt haben. Ausbruch aus der Psychiatrie und vier Monate Trebe reichen dicke, um dahin zitiert zu werden.
»Ich möchte wissen, wie du dir dein Leben hier vorstellst. Zeit genug, dir darüber Gedanken zu machen, hattest du ja wohl.«
»Schwester Grisaldis, ich …« Krampfhaft versucht Pia, einen klugen Gedanken auszusprechen. Klug in ihren Augen auf jeden Fall. Aber allein schon, wie sie Pia ansieht, macht logisches Denken unmöglich.
»Ich höre, und ich habe weiß Gott nicht den ganzen Tag Zeit.« Ungeduldig trommelt die Direktorin mit ihren Fingern auf die Schreibtischplatte.
»Ja, ich habe mir Gedanken gemacht, ich meine, wo ich doch entschieden habe zurückzukommen.«
»Weiter, Fräulein Drews. Ich warte.« Die Schwester beugt sich vor.
»Ich halte es in der Gruppe von Schwester Libora einfach nicht aus. Wirklich, sie hasst mich, und das war von Anfang an so. Immer, wenn etwas passiert ist, hat sie mich dafür verantwortlich gemacht. Und die anderen Mädchen waren immer die Engel.«
»Pia, mir scheint, du hast nicht allzu viel begriffen. Meinst du vielleicht, uns ist es leicht gefallen, dich in die Psychiatrie überweisen zu lassen? Was immer die anderen Mädchen gemacht haben, du warst es, die sich hat voll laufen lassen und die sich mit Jungen herumgetrieben hat.«
Pia will schreien, aber in diesem Augenblick erhebt sich die Direktorin.
»Und es ist vollkommen gleichgültig, was die anderen Mädchen dazu beigetragen haben, denn du allein trägst die Verantwortung für dein Handeln. Du allein, hast du das verstanden?«
Absolut hoffnungslos, denkt Pia. Es hat einfach keinen Sinn. Auch sie glaubt nur den anderen.
»Sieh mich bitte an, wenn wir miteinander sprechen. Und hör mir jetzt ganz genau zu.« Die Schwester klingt fast freundlich und Pia horcht auf. Sie nickt vorsichtig. »Ich kenne dich seit mehr als fünf Jahren. Anfangs haben wir uns alle sehr große Sorgen um dich gemacht. Dann habe ich festgestellt, was für ein außergewöhnliches Mädchen du bist. Lange dachte ich, dass ein Mädchen wie du nicht in dieses Internat gehört.«
Pia sieht sie schnell an. Was meint die Direktorin damit? Ihre Stimme klingt so positiv, aber was sie sagt, ist wohl alles andere als das!
»Du bist außergewöhnlich intelligent und hast einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Bei allen möglichen Aktionen hast du viel für die Mädchen riskiert. Du hast in Kauf genommen, dich damit nicht nur bei Schwester Libora unbeliebt zu machen. Ist es nicht so, dass du dir mit deinem Einsatz für die Mädchen ihre Zuwendung erkaufen willst, uns Erwachsenen sowieso nicht traust und dir – in deiner Sprache ausgedrückt – scheißegal ist, was wir von dir denken? Ich möchte, dass du mir ehrlich antwortest, denn ich bin auch ehrlich zu dir gewesen.«
Pias Herz rast. »Könnte schon stimmen«, murmelt sie.
»Ich hatte von Anfang an hohe Erwartungen an dich. Und auch das war falsch. Auch wenn ich weiß, wie intelligent du bist. Ich habe mich in den letzten Monaten sehr dafür eingesetzt, dass du zu uns zurückkommst. Ich werde dich in eine andere Gruppe geben.«
Pia hält den Atem an. Eine andere Gruppe, vielleicht, vielleicht bedeutet das …
»Nein, Pia, ich weiß, dass du am liebsten in die Regenstraße 7 umziehen willst, aber das halte ich für viel zu früh.«
Pias Hoffnungen stürzen wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
»Ich will, dass du in die Gruppe von Schwester Arnoldis wechselst. Du bist dort die Jüngste, wie du weißt. Für dich gelten die Regeln einer 16-Jährigen selbstverständlich weiter. Solltest du dich bewähren, können wir in einem halben Jahr über einen möglichen Umzug in die Regenstraße sprechen. Hast du das verstanden?«
Pia nickt.
»Gut, dann gibt es nur noch zwei Dinge zu sagen. Erstens ziehst du noch heute in die neue Gruppe um. Zweitens möchte ich bis zum Ende dieser Woche einen Aufsatz von mindestens zehn maschinengeschriebenen Seiten von dir sehen mit dem Thema: Was bedeutet verantwortliches Handeln? Und was bedeutet dies für mich selbst, bezogen auf mein bisheriges Leben, und für meine Zukunft? Dieser Aufsatz wird sowohl in den Fächern Deutsch und Philosophie als auch im Fach Psychologie bewertet. Herzlich willkommen zurück, Pia Drews.«
Das Gespräch mit Schwester Grisaldis war wirklich verwirrend. Aber alles, was sich seitdem verändert hat, ist einfach nur gut.
Pia seufzt. Sie sieht noch einmal die Treppen hinunter, aber Walburga ist längst nicht mehr zu sehen. Na ja, wenn Walburga die Neue bescheuert findet, ist das ein gutes Zeichen. Die beiden Mädchen, die aufgenommen wurden, als Pia weg war, findet Walburga total schrecklich, und sie sind richtig gute Freundinnen geworden. Andrea, ein Mädchen aus Kolumbien, wohnt sogar mit ihr in einem Zimmer. Nesè, die andere, ist leider nicht alt genug, sie wird noch fast ein Jahr warten müssen, bis sie in Schwester Arnoldis’ Gruppe kann.
Ein Segen, dass mittlerweile nicht mehr nur verwöhnte katholische Mädchen aus reichen Familien ins Internat aufgenommen werden. Andreas Eltern verstehen sich als jüdische Atheisten. Sie sind nicht gläubig, aber trotzdem Juden. »Das ist eine Volkszugehörigkeit«, hat Andrea auf Pias verwunderte Nachfrage lachend erklärt. Nesè ist Muslimin, ihre Eltern sind in die Türkei zurückgegangen, Nesè soll nur noch die Ausbildung in Deutschland abschließen und dann nachkommen. Sie hatten wohl das Gefühl, nur in einem Mädcheninternat sei sie genügend beaufsichtigt. Wenn die wüssten, grinst Pia auf dem Weg zu ihrem Zimmer. Mädchen unter sich können die Hölle sein.
Nein, sie sind die Hölle! Zum Glück trifft das auf Nesè und Andrea überhaupt nicht zu. Sie würde gerne viel mehr Zeit mit den beiden verbringen, aber zuerst muss sie was für die Schule tun, wenn sie dieses Jahr nicht hängen bleiben will. Ein halbes Jahr Unterrichtsstoff nachholen, um die Aufnahmeprüfung für die dreizehnte Klasse zu schaffen, ist fast unmöglich. Und um die wird sie nicht herumkommen, nicht bei ihren Fehlzeiten! Wenigstens hat sie der verordnete Aufsatz in allen drei Fächern so gut wie gerettet. Sie muss es einfach schaffen, sie will mit achtzehn studieren.
Entschlossen zerrt Pia ihr Mathematikbuch aus der Schultasche und schlägt es seufzend auf.
Eine Hand haut ihr auf die Schulter und Pia fährt herum. Atemlos steht Andrea vor ihr. »Hast du eigentlich Nesè heute schon gesehen?«
»Du kannst einen wirklich zu Tode erschrecken. Guck dir das mal an, verdammt!« Pia hält Andrea ihr Heft entgegen. »Einmal quer über die ganze Seite, das habe ich dir zu verdanken.«
»Treffen wir uns mit Nesè im Keller?«
»Sorry, aber ich muss wirklich lernen.« Pia hält noch immer ihr Heft in der Hand.
»Ich helfe dir heute Abend. Du brauchst bestimmt mal eine Pause. Bis zum Abendessen ist es sowieso nur noch eine Stunde.«
Nachdenklich betrachtet Pia ihre Aufgaben. »Hast gewonnen«, grinst sie dann und wirft das Heft auf den Schreibtisch zurück.
Der den Nonnen abgetrotzte Keller ist richtig geil geworden. Es ist der einzige Raum, in dem die Mädchen wirklich ohne Aufsicht sind. Ab und zu rauchen sie hier sogar heimlich. Tja, ein Mädcheninternat ist nicht immer der Ort, den Eltern sich für ihre Kinder erträumen. Aber die Eltern von Andrea und Nesè sollen ruhig glauben, dass Nonneninternate die sicherste Sache der Welt sind, damit beide bleiben.
»Wir sollten darüber nachdenken, ob wir die Neue nicht in unseren Club aufnehmen«, fällt Nesè sofort mit der Tür ins Haus. »Die ist echt genial, glaube ich.«
»Ja, so was in der Art hat Walburga mir auch schon erzählt.« Pia lacht, als sie die verdutzten Gesichter ihrer Freundinnen sieht. »Sie meint, die Neue würde sehr gut zu mir passen. Hast du gerade was anderes gesagt, Nesè?«
Statt einer Antwort stopft sich Nesè eine Hand voll Erdnüsse in den Mund.
»Wieso sind wir überhaupt ein Club?« Pia zieht eine Grimasse.
»Na ja, mir kommen unsere Treffen manchmal genauso vor wie in dem Film Der Club der toten Dichter. Vielleicht sollten wir einen Namen für uns finden.«
»Ja klar, und jede Neue muss dann eine gefährliche Mutprobe um Mitternacht bestehen«, sagt Andrea spöttisch.
»Au ja, cool.« Nesè strahlt. »Wir schreiben einen Geheimvertrag, den jede mit ihrem Blut unterzeichnet.«
»Das ist was fürs Fernsehen, nicht fürs wirkliche Leben«, sagt Pia.
»Da habe ich dir aber mehr Phantasie zugetraut. Wirklichkeit ist schließlich das, was wir zur Wirklichkeit erklären.«
»Du solltest Philosophie studieren«, wirft Andrea ein.
»Genau das habe ich auch vor. Frau Jensch hat es mir bereits empfohlen. Und überhaupt«, Nesè beugt sich vor, um neue Erdnüsse zu nehmen, »warum reden wir nicht ernsthaft über meine Idee?«
Pia zwinkert Andrea zu. »Okay, dann erzähl mal, was du an uns so clubwürdig findest.«
»Wir sind eben anders als die anderen Mädchen hier. Das reicht doch wohl, oder?«
»Nee, so reicht mir das nicht«, widerspricht Andrea. »Anderssein und deshalb eine geschlossene Gruppe werden, finde ich superblöde.«
»Dass wir anders sind als die meisten Mädchen hier, finde ich schon auch.« Pia runzelt die Stirn. »Aber wie anders, darüber habe ich noch nicht richtig nachgedacht.« Sie lehnt sich in ihrem Sessel zurück, den sie letzte Woche erst auf einem Sperrmüllhaufen ergattert und mühselig in ihren Keller geschleppt hat.
»Na ja, Andrea und ich zum Beispiel haben keine deutsche Staatsbürgerschaft«, schlägt Nesè vor.
»Aber ich«, sagt Pia.
»Dann kann es das nicht sein.«
»Wir wollen eben etwas völlig anderes als die meisten Mädchen und deshalb sind wir anders«, versucht Andrea die Sache auf den Punkt zu bringen. Sie lächelt ein bisschen schief.
Der Gedanke, dass ihr Außenseitertum sie verbindet, hakt sich plötzlich in Pia fest. »Wir sind anders, weil wir Außenseiter sind.«
»Da ist was Wahres dran«, stimmt Andrea zu. Sie sieht Pia an. »Aber was macht dich zur Außenseiterin?«, fragt sie plötzlich, und Pia schießt die Röte ins Gesicht.
»Ich, na ja …« Ihr bricht der Schweiß aus.
Andrea sieht sie nachdenklich an.
»Na ja, ich bin zum Beispiel nicht reich und würde normalerweise in einem ganz gewöhnlichen Heim leben. Das ist wahrscheinlich, was mich anders macht.« Pia lässt sich ihren Gedanken noch einmal durch den Kopf gehen. »Ja genau, bei allen anderen Mädchen zahlen die Eltern den Aufenthalt ihrer Töchter selbst. Bei mir bezahlt das Jugendamt.« Pia schweigt erschrocken. Das wollte sie nicht sagen.
»Das könnte hinkommen«, sinniert Andrea. »Und warum bist du dann hier und nicht im Heim?«
»Stimmt«, ereifert sich Nesè. »Von dir wissen wir fast gar nichts. Ich habe euch meine halbe Lebensgeschichte erzählt, und von Andrea weiß ich auch schon eine Menge. Aber du hast ein unnachahmliches Geschick darin, allen Fragen über dich auszuweichen. Ich weiß, dass du eine Ewigkeit hier bist, dass die Nonnen dich in die Psychiatrie gesteckt haben«, Nesè schüttelt sich, »und dass du auf Trebe warst. Aber warum, wieso, weshalb, darüber weiß ich nichts. Tja, Pia Drews, du bist definitiv total verschwiegen.«
Andrea nickt. »Nesè hat Recht, Pia. Vielleicht sollten wir einen Club für Mädchen gründen, die außergewöhnliche Geschichten haben.«
Pia grinst schwach.
»Genau, und die Bedingung für die Aufnahme ist, dass ein Mädchen ihre Geschichte erzählen muss«, nimmt Nesè den Faden auf. Beide sehen Pia triumphierend an.
»Okay, wenn das so ist, dann verzichte ich auf die Clubzugehörigkeit«, flüstert Pia und springt auf. Ohne sich noch einmal umzudrehen flieht sie aus dem Keller.
»Pia, hey, bleib stehen.«
Pia läuft schneller. Sie ist ein Ass in Sport, im Gegensatz zu Andrea, der es bestimmt verdammt schwer fällt, sie einzuholen. Und das soll es auch. Pia will nicht reden. Ihre Geschichte geht niemanden etwas an. Niemanden, wiederholt sie mit jedem Schritt. Plötzlich fühlt sie eine Hand an ihrem Pulloverärmel.
»Pia, bitte, bleib jetzt stehen.« Andrea ist völlig außer Atem.
Pia stoppt abrupt und dreht sich um. Sie funkelt die Freundin an.
»Es tut mir Leid, total Leid. Es war doch gar nicht ernst gemeint.«
»Hey, Scheiße, du weinst ja.« Erschrocken nimmt Pia Andreas Hand.
»Ich dachte, du redest nie wieder mit uns. Das klang absolut ernst. Richtig endgültig.« Umständlich wischt Andrea die Tränen mit ihrem Pulloverärmel ab. »Kommst du jetzt bitte zu uns zurück?«
Pia nickt verwirrt. Hat sie wirklich so endgültig geklungen?
»Noch ’ne Cola da?«, fragt sie, als sie sich wieder in »ihren« Sessel fallen lässt.
»Da biste ja wieder.« Nesè versucht lässig zu wirken, aber Pia merkt, dass ihr überhaupt nicht so zumute ist.
»Tut mir Leid«, sagt sie. »Ich wollte euch nicht erschrecken. Manchmal bin ich wohl ein bisschen zu empfindlich.«
Eine Weile sagt keine etwas.
»Also, ich hab mir überlegt«, setzt Pia an, »wenn ihr wirklich wissen wollt, wie das war, bevor ich in die Klapse kam, erzähle ich es euch. Nach dem Abendessen.«
»Nur wenn du willst«, erwidert Nesè vorsichtig.
Pia grinst. »Und bekommt unser Club jetzt einen Namen?«
Alle sehen sich an. Andrea nickt unmerklich. Nesè ist sowieso Feuer und Flamme. Ist schließlich ihre Idee.
»Also, er muss damit zu tun haben, dass wir alle nicht so richtig hierher gehören«, denkt Andrea laut.
»Und damit, dass wir immer ehrlich zueinander sind, auf alle Fälle zusammenhalten und uns gegenseitig helfen«, führt Nesè den Gedanken weiter.
»Nennen wir uns doch die ›Independence Girls‹«, schlägt Pia vor.
»Zu kompliziert«, wehrt Nesè ab.
»Die ›No-Names?‹« Andrea sieht aber selbst schon so zweifelnd aus, dass es überflüssig ist, etwas dazu zu sagen.
»Wir nennen uns die ›Pinas‹.« Nesè wirft einen kühnen Blick in die Runde. »Da sind alle unsere Namen drin. Die ersten beiden Buchstaben von Pia, das N von mir und das A von Andrea. Was sagt ihr?«
»Und was machen wir, wenn wir eine Neue aufnehmen wollen?« Pia ist noch nicht überzeugt, obwohl Nesès Idee eindeutig die beste ist.
»Wir sind die Gründerinnen, also beschließen wir den Namen. Die, die später kommen, müssen sich eben damit einverstanden erklären.«
»Okay, vielleicht lassen wir es erst mal dabei«, zögert Pia.
Der Keller sieht im Kerzenlicht wirklich aus, als fände hier ein ultrageheimes Treffen statt. Die Mädchen blinzeln sich verschwörerisch zu.
»Auf uns Pinas.« Nesè senkt verschwörerisch die Stimme und sie stoßen mit Bananenkirschsaft auf ihren Club an.
»Das neue Mädchen finde ich echt interessant«, eröffnet Pia das Gespräch. Ihr Herz rast.
Komisch ist das mit Phil. So heißt die Neue. Philomena eigentlich, aber das ist wirklich ein blöder Name. Phil dagegen klingt richtig gut. Manchmal sind Eltern schon merkwürdig, denkt Pia. Phil ist nach einer Jugendromanfigur benannt. Viel mehr hat sie ihr noch nicht erzählt.
Leider sitzt sie am Nebentisch. Jedes Mal, wenn sie beim Abendessen zu Pia herübergeschielt hat, ist Pia schlagartig heiß geworden und ihr Bauch hat wie verrückt gekribbelt. Hat sie sich so ein Magen-Darm-Ding eingefangen?
Mit der Aufnahme in einen geheimen Mädchenclub wollte sie Phil nicht schon am ersten Abend überfallen. Außerdem hat sie sich fest vorgenommen, nur Andrea und Nesè zu erzählen, weshalb sie in dieses Internat gekommen ist. Ganz schlecht wird Pia bei dem Gedanken. Sie will auf keinen Fall, dass diese Geschichte das Erste ist, was Phil von ihr erfährt.
»Pia, was ist? Träumst du?« Zwei Augenpaare mustern sie gespannt.
»Oh nein, ’tschuldigung.« Pia schüttelt die Gedanken an Phil ab. »Alles, was wir uns hier erzählen, bleibt unter uns, ja?«
»Na, das ist doch wohl klar.« Fast empört sieht Nesè Pia an.
»Logo, versprochen«, sagt Andrea.
»Und? Wo soll ich anfangen? Damit, wie ich hergekommen bin, oder damit, wie ich von hier wegkam?« Pia grinst etwas schief. Komische Zusammenfassung meiner Geschichte, denkt sie.
»Am Anfang«, entscheidet Andrea, und Nesè nickt.
September 1993
Mathematik ist ganz einfach. Die Zahlen tanzen einen wilden Reigen auf den Rechenkästchen. Rechnen ist wie zaubern, denkt Pia fasziniert, wie neue Welten erfinden. Das Tolle ist, dass es dabei feste Regeln gibt, die keiner, keiner einfach umwirft.
In der neuen Klasse kennt Pia noch niemanden. Das ist das einzig wirklich Traurige an ihrem Klassensprung. Zu gerne wäre sie weiter mit Lotte und Sophia in eine Klasse gegangen. Und mit Max. Wenn es dort nur nicht so schrecklich langweilig gewesen wäre.
Jetzt ist sie mit zehn Jahren schon in der sechsten Klasse, und die anderen Kinder sind mindestens ein Jahr älter. Das schüchtert Pia ein. Bei ihren ersten Arbeiten hatte sie großes Herzklopfen. Sie ist nicht mehr die Beste, aber keine Arbeit ist bisher schlechter als Drei. Englisch ist am schwersten, da fehlt ihr das erste Jahr. Aber sie liebt fremde Sprachen. Am liebsten will sie ab dem nächsten Jahr auch noch Spanisch lernen. Sprachen und Mathematik – das sind ihre Steckenpferde. Die Mathearbeit findet Pia superleicht. Sie will unbedingt studieren. Das wusste sie schon mit sechs. Bloß nicht so wie Mama leben, die nur zu Hause herumsitzt und auf die Kinder aufpasst, und auch nicht wie Papa, der jeden Tag in die Fabrik und danach in die Kneipe geht. Und Mama muss dann jeden Pfennig umdrehen, weil Papa den halben Lohn versäuft.
»Pia, kommst du bitte mit mir.«
Sie sieht erschrocken hoch. Wieso steht denn der Direktor vor ihr? »Ich schreibe gerade eine Mathematikarbeit.« Hilfesuchend sieht sie ihre Lehrerin an.
»Das ist schon in Ordnung. Du kannst deine Arbeit morgen zu Ende schreiben.«
Was geht hier vor? Krampfhaft überlegt sie, was sie angestellt haben könnte. Zum Direx muss man nicht ohne Grund. Ängstlich folgt sie ihm den langen Schulflur entlang.
Eigentlich wirkt er nicht wütend. Im Gegenteil, seine Stimme klingt ganz ruhig. Pia hat das Gefühl, ein Riesenwasserfall dröhnt an ihren Ohren vorbei. Sie versteht kein Wort von dem, was der Direktor erzählt. Sie war erst einmal bei ihm. Als sie die Klasse überspringen durfte. Auch da war er ausgesprochen nett zu ihr. Er wird sie doch heute nicht noch eine Klasse überspringen lassen?
»Komm herein, Pia.« Im Zimmer des Direktors sitzen schon einige Leute, und Pia sieht ihn fragend an.
»Das ist Frau Geritz vom Jugendamt, und das sind Polizeioberkommissar Benz und Frau Hauptkommissarin Gutenberg. Setz dich doch.«
Pia wird schwindelig. Jugendamt? Polizei? Oh Gott. Mechanisch setzt sie sich auf den hingeschobenen Stuhl.
»Wir sind hier, weil wir dir sagen wollen …« Die Stimme von Frau Geritz verliert sich irgendwo auf dem Weg zu Pia. »Dein Vater …« Wieder bricht ihre Stimme ab.
»Wir mussten deinen Vater heute Morgen verhaften, Kind«, sagt nun der Polizist.
Was? Sie haben Papa mitgenommen? Das muss ein Irrtum sein. »Nein.« Sie schüttelt heftig den Kopf.
»Hör zu, wir möchten dich von einer Ärztin untersuchen lassen. Frau Geritz wird bei dir sein, und dir wird nichts passieren.«
Pia schreit. Sie ballt ihre Hände zu Fäusten. Niemand wird sie von der Schule wegschleppen.
Sie geht einige Schritte auf den Direktor zu, der bleich hinter seinem Schreibtisch sitzt. Er sieht weg, als Pia vor ihm steht. »Herr Direktor«, flüstert sie.
»Pia, bitte«, sagt er tonlos. »Bitte geh mit. Es ist wichtig.«
»Und morgen darf ich meine Mathematikarbeit zu Ende schreiben?« Das ist gar nicht echt. Nur ein Spiel, sagt sich Pia verzweifelt.
»Ja, natürlich. Du hast doch gar nichts getan.« Jetzt sieht der Direktor sie doch an. »Geh heute mit, Pia, und morgen sehen wir uns wieder. Versprochen.« Er lächelt sogar, und Pias Herz beruhigt sich langsam.
Die Ärztin stellt fest, worüber Pia niemals sprechen wollte. Nur einmal hat sie versucht, es ihrer Mutter zu sagen. Doch als sie anfing zu weinen und den Finger auf ihre Lippen legte, schwieg Pia. Der Schmerz in ihren Augen war zu entsetzlich. Die Mutter wollte es nicht wissen.
»Dein Vater, er hat dir Gewalt angetan.« Die Stimme der Ärztin klingt bestürzt und ein bisschen wütend.
»Nein«, stammelt Pia. »Das ist nicht so schlimm. Wirklich. Papa soll nicht gehen.«
»Er muss gehen. So etwas darf ein Vater nicht tun.« Die Augen der Ärztin sind gütig.
Pia weiß nicht, was sie sagen soll. »Ich habe das niemandem erzählt«, flüstert sie plötzlich, und eine dicke Träne fällt auf ihre Jeans.
»Ich weiß«, antwortet die Ärztin, »du hast es nicht erzählt. Aber zwei andere Mädchen haben ihren Eltern erzählt, dass dein Vater auch ihnen Gewalt angetan hat. Die Eltern der beiden haben deinen Vater angezeigt.«
»Welche Mädchen?«, fragt Pia, obwohl sie die Antwort schon weiß.
»Lotte Andrews und Sophia Berg …« Pia rast einen Abgrund hinunter. Es wird schwarz um sie und sie stürzt, stürzt, stürzt.
Pia wird krank. Die Mathematikarbeit schreibt sie nie zu Ende. Drei Wochen liegt sie zu Hause im Bett. Nur Schweigen um sie, Schweigen und bleischwere Leere. Die Mutter sitzt manchmal stumm bei ihr. Der Vater darf bis zum Prozess zu Hause bleiben. Pia sieht ihn nicht, aber sie hört ihn mit der Mutter reden. Manchmal hört sie die beiden auch nachts. Dann stopft sie schnell ihre Kopfhörer in beide Ohren und hört laut Musik. Dieter, ihr kleiner Bruder, fängt plötzlich an zu stottern und wieder ins Bett zu pinkeln. Dabei ist er schon neun!
Frau Geritz vom Jugendamt kommt vorbei. Pia geht es noch immer nicht besser. Die Frau spricht lange mit Mama. Und am Abend hat Mama verweinte Augen. Stumm streichelt sie Pias Arm. Immer wieder. »Piaken, et tut mir so Leid. Ach, Piaken.« Das ist alles, was die Mutter sagt.
Als Frau Geritz das zweite Mal kommt, packt Mama Pias Sachen in einen großen Koffer. Warum? Ihr geht es doch seit einer Woche viel besser! Sie ist auch wieder zur Schule gegangen. Ein bisschen hat sich alles angefühlt wie in einem Traum. Sie fühlt sich befangen in der neuen Klasse. Die Verhaftung des Vaters hat in der Zeitung gestanden. Alle wissen es jetzt, und Pia kommt sich dreckig vor. Sie schämt sich entsetzlich. Sie findet keine Freunde in der Klasse. Auch mit Lotte und Sophia kann sie nicht mehr sprechen. Ein unüberwindbarer Graben liegt zwischen ihnen. Immer, wenn ihre Klassenkameraden die Köpfe zusammenstecken, reden sie bestimmt über sie. Pia fühlt sich nackt. Niemand spricht mit ihr über das, was in der Zeitung steht. Sie hat das Gefühl, alle behandeln sie, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.
Nicht der Vater ist ins Gefängnis gekommen. Sie ist es, die eingemauert wurde an dem Tag, an dem der Direx sie aus ihrem neuen Klassenzimmer holte.
»Pia, dat Fräulein vom Jugendamt, dat bringt dich jetzt in ein schönet neuet Zimmer«, sagt die Mutter. »Dat is nich für immer«, fügt sie beschwörend hinzu, als Pia sich entsetzt unter dem Tisch versteckt wie vor vielen, vielen Jahren, wenn sich die Eltern gestritten haben.
»Mama, ich habe doch gar nichts getan.« Pia weint.
»Nein, Kind, natürlich nich.« Die Mutter sieht hilflos aus.
»Piaken, mein Kleinet, et is ja vielleicht nich für lang, aber glaub et mir. Dat is besser im Moment. Und du besuchst uns, ja, mein Kleinet?« Wieder sieht die Mutter sie so an wie damals, als Pia versuchte, ihr zu sagen, was der Vater mit ihr tat.
Pia krabbelt unter dem Tisch hervor. Nicht dieser Schmerz. Nein, nicht dieser Schmerz. »Ist ja gut, Mama«, sagt sie leise und streicht der Mutter über die Hand. »Ich hab dich lieb, Mama.«
Die Mutter nimmt Pia in die Arme. »Ich liebe dich, Kleinet«, sagt sie.
»Ich weiß, Mama, ich weiß.«
Im Keller ist es totenstill. Pia sieht unsicher von Andrea, die sich neben sie gesetzt hat, zu Nesè und zurück.
Nesè wischt sich eine Träne aus den Augenwinkeln. »Scheiße«, murmelt sie.
Pia spürt erst jetzt, dass Andrea den Arm um sie gelegt hat und vorsichtig ihren Rücken streichelt.
»Danke für dein Vertrauen«, sagt Andrea.
Gut, dass sie es den beiden erzählt hat. Nur was hat sie eigentlich gesagt? Sie räuspert sich, und Andreas Hand auf ihrem Rücken verharrt in der Bewegung.
»Das ist komisch gewesen mit dem Erzählen«, sagt Pia und ihre Stimme krächzt.
»Was meinst du mit komisch?«, fragt Andrea.
»Es ist schwer zu erklären. Es fühlt sich an wie … wie ein Sprung zurück in meine Geschichte. Ein Zeitsprung sozusagen. Diese Zeit«, fährt sie plötzlich atemlos fort, »kommt zurück, als würde alles noch einmal geschehen, genau so wie es vor über fünf Jahren war.«
Andrea nippt an ihrem Glas. »Stimmt, jetzt wo du es sagt, fällt es mir auch auf. Ich habe die Szenen, die du beschrieben hast, ganz deutlich vor mir gesehen.«
»Ging mir genauso.« Nesè wischt sich noch einmal über die Augen. »Es dauert vielleicht, bis du mal redest. Aber wenn du es dann tust, geht es einem verdammt nah«.
»Jetzt reden wir von etwas anderem, ja? Sonst platz ich vor Verlegenheit«, bittet Pia.
»Unser Zusammenwohnen ist übrigens megaklasse, erwähnte ich das schon?«, wechselt Andrea sofort das Thema.
»Nee, tatest du nicht«, grinst Nesè. »Dann seid ihr wohl jetzt ein Liebespaar?«
Pia fährt erschrocken hoch.
»Aua.« Andrea hält sich das Kinn. »Ich hätte mir fast die Zunge abgebissen.« Tränen schießen ihr in die Augen.
»Oh, Mann, Andrea, entschuldige.« Wütend funkelt Pia Nesè an, doch die grinst weiter. »Freut dich wohl«, faucht sie und versteht selbst nicht, wieso sie so auf Nesès Provokation abfährt.
»Bleib cool«, meint Nesè. »Es gibt Schlimmeres als sich in ein Mädchen zu verlieben.«
Pia kneift die Augen zusammen. »Was soll das denn heißen?«
»Dass du manchmal ganz schön impulsiv bist, zum Beispiel.«
Pia wirft mit einer Salzstange nach ihr. Ihr Ärger ist genauso plötzlich verflogen, wie er aufgeflammt war.
»Klar sind wir ein Liebespaar«, schmunzelt Andrea. »So wie die Mädchen aus der Regenstraße.«
»Die Mädchen aus der Regenstraße sind andersrum?« Wieso wissen immer alle Bescheid, nur sie nicht? Pia rutscht unruhig auf der Couch hin und her. »Nun sag doch mal«, bohrt sie. »Woher weißt du das?«
»Erstens bin ich mit Hannelies befreundet, und die wohnt ja da, und zweitens hab ich Augen im Kopf.«
»Alle Mädchen?« Pia kann es nicht fassen.
»Nein, nicht alle Mädchen, aber mindestens zwei«, gibt Andrea bereitwillig Auskunft. »Eine ist mit einem Mädchen hier aus dem Internat zusammen und die andere hat eine Freundin in Köln.«
»Also«, sagt Pia langsam, »für mich wäre das nichts.« Die Worte tun ihr weh, aber sie muss sie sagen. Unbedingt!
»Wie spät ist es eigentlich?«, unterbricht Nesè und sieht lässig auf ihre Uhr. »Oh-oh, schon Viertel nach zehn. Ich muss mich jetzt an der ollen Libora vorbeischleichen, während ihr weit weg von Schwester Arnoldis laut pfeifend in euer gemeinsames Zimmer spazieren könnt.« Sie zieht einen Schmollmund.
»Bald kommst du auch raus aus der Horrorgruppe«, tröstet Pia sie, und Nesè steht ächzend auf.
»Okay, ich werde der Libora sagen, dass du mich dazu verführt hast, gegen die Hausordnung zu verstoßen. Dagegen spricht doch wohl nichts?« Nesè zieht die rechte Augenbraue hoch. Das kann keine so gut wie sie.
»Kein Problem«, steigt Pia ein. »Mehr unten durch kann ich bei der gar nicht sein.«
»Sie hat dich in die Psychiatrie gebracht?«, schaltet Nesè sofort.
»Wer sonst?« Pia ist aufgestanden und hält Andrea ihre Hände hin. »Na los, altes Faultier. Ich helf dir hoch.«
Als Pia im Bett liegt, geht ihr Nesès Frage durch den Kopf. Andrea und sie ein Liebespaar? Vorsichtig schielt sie zu ihrer Freundin hinüber, die tief und fest schläft.
Wie ist Nesè darauf gekommen? Und wieso hat sie darauf so heftig reagiert? Irgendwie hat sie sich ertappt gefühlt. Bescheuert, wieso ertappt? Zwischen ihr und Andrea spielt sich überhaupt nichts ab. Nichts jedenfalls, was mit Liebespaar zu tun hat. Pia schüttelt den Kopf. Und dann fällt ihr das neue Mädchen wieder ein. Phil!
Plötzlich sieht sie Phils Gesicht wieder genau vor sich, und ihr wird heiß. Erschrocken versucht Pia das Bild abzuschütteln. Katzengrüne Augen, etwas schräg gestellt, und Tausende von Sommersprossen, die einen wilden Tanz vollführen, wenn sie lacht. Und die dunkelbraunen Locken erst. Pia denkt an Phils Hände. Wie sie Brot bestreichen, eine Locke hinters Ohr stecken, einen Ball auffangen und wieder wegwerfen, wie sie ihre Worte mit Gesten untermalen.
Wie sie ihre Haut streicheln. Eine heiße Welle steigt Pia in den Kopf und sie spürt ihre Mitte feucht werden. Sie ist verwirrt. Verwirrt und glücklich. Vorsichtig tasten ihre Finger sich nach dorthin vor. Sie schließt die Augen. Stellt sich Phils Hände vor. Als sie aufstöhnt, reißt sie erschrocken die Augen auf. Hat Andrea sich gerade bewegt? Pias Herz galoppiert. Nein, Andrea atmet genauso ruhig und gleichmäßig weiter wie vorhin.
In der Bravo steht fast jede Woche irgendwas über Selbstbefriedigung. Sie betonen immer, wie normal das ist. Und wie normal erotische Phantasien sind. Pia ist sich nicht sicher, ob die Bravo das auch noch findet, wenn ein Mädchen sich vorstellt, von einem Mädchen angefasst zu werden. Sie will nicht aufhören sich zu streicheln. Vielleicht müsste sie sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Morgen, tröstet sie sich. Morgen kann sie immer noch darüber nachdenken, ob sie jetzt pervers ist oder einfach nur die nächste Kandidatin für die Regenstraße.
Ende März 1999
»Pia, wach endlich auf.« Andrea steht schon völlig angezogen vor ihr. »Das ist das dritte Mal, dass ich dich wecke. Das Frühstück hat vor fünf Minuten angefangen und ich habe mächtig Hunger.«
»Alles klar, bin schon im Bad. Reservierst du mir ’nen Kaffee, sonst steh ich den Tag nicht durch.«
Atemlos und mit nassen Haaren taucht sie zehn Minuten nach Andrea im Speisesaal auf. Hey, wieso sitzt du denn heute auf meinem Platz, will sie gerade zu Gudrun sagen, als sie bemerkt, dass der Platz neben Phil dadurch frei geworden ist. Für eine Sekunde setzt ihr Herz aus und sie beißt sich auf die Zunge. »Guten Morgen, Gudrun«, schaltet sie um. »Ich setz mich dann einfach auf deinen Platz.«
Schwester Arnoldis wirft ihr einen ärgerlichen Blick zu, und Pia lässt sich schnell auf den freien Stuhl fallen.
»Hey, hast wohl verschlafen.«
Diese Augen. Pia spürt, wie sie knallrot wird. »Ja, war ’ne anstrengende Nacht«, würgt sie hervor. Als sie sich Kaffee eingießen will, rutscht ihr die Kanne aus den schweißnassen Händen und ein Schwall ergießt sich über Pia, Phil und das weiße Tischtuch. »Oh nein, das tut mir Leid. So ein Mist.« Hektisch versucht Pia, den Schaden an Phil mit einem Tempo wieder gutzumachen. Sie bloß dabei nicht ansehen. Vor Scham würde sie am liebsten im Boden versinken. Als sich ihre Blicke doch treffen, lachen Phils Augen. Sie ist offensichtlich amüsiert. Pia setzt sich erst mal hin.
»Sehr erfreut, dich kennen zu lernen«, sagt Phil. »Diese Hose konnte ich noch nie leiden. Ich zieh sie nur an, damit sie sich nicht so schlecht fühlt, denn schließlich kann sie ja nichts für meinen Geschmack.«
Was für ein merkwürdiger Gedanke. Als könnten Gegenstände denken oder fühlen. »Ich finde, du siehst toll darin aus.« Mein Gott, was bin ich nur für ein Idiot. Erschrocken stellt Pia fest, dass sie schon wieder knallrot wird. Pia Drews, am besten, du hältst einfach deine Klappe. Redest nicht und bewegst dich nicht.
»Die Hose gefällt dir?«
Pia nickt vorsichtig. Sie steht Phil total gut, echt. Dunkelbrauner Cordstoff, unten ein Riesenschlag, aber oben hauteng.
»Willst du sie haben?«, erkundigt sich Phil.
»Nee, nee, mir steht so was nicht«, wehrt Pia ab. Sie trägt immer Bluejeans. Röhrenschnitt. Und irgendwelche langen Oberteile. Figurbetont? Nie im Leben!
»Ach, aber an mir gefällt sie dir?«
Pia nickt nochmals.
Phil beißt von ihrem Brötchen ab.
Pia weiß nicht mehr, was sie sagen soll. Sie trinkt schnell ihren Kaffee, schüttet sich noch einen zweiten ein. Hunger hat sie überhaupt nicht. Sie schmiert sich trotzdem ein Brot, nur um etwas in den Mund stecken zu können. Mit vollem Mund muss man bekanntlich nicht reden.
»Hast du heute Nachmittag schon etwas vor?«, fragt Phil, und Pia schüttelt heftig den Kopf, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. »Spielst du Tischtennis?«, will die Neue wissen.
Pia nickt.
»Treffen wir uns heute Nachmittag?«
Wieder ein Nicken.
»Hast du irgendwie auch eine Stimme?«
»Ja, ich, klar, natürlich. Also, wie wär’s um drei?«
Phil ist einverstanden.
Pia fühlt die Blicke aller Mädchen auf sich gerichtet. Sie werden sich bestimmt das Maul zerreißen. »Unten am Portal und dann gehen wir zuerst in die Stadt. Du bist doch neu hier. Und zum Schluss gehen wir ins Jugendzentrum.« Bloß keine Zuschauerinnen im Internat. Das überlebt Pia nicht.
»Ich habe gehört, dass es hier sehr gute Platten gibt. Sowohl in der Außenanlage als auch im Keller.«
»Nee. Nee, du. Die im Jugendzentrum, die sind um Klassen besser. Und die Kellen dort sind der Hammer«, beeilt sich Pia zu versichern.
»Na ja, du wirst das beurteilen können.«
Von wegen. Die besten Platten im ganzen Ort sind genau hier im Internat, und unter Drei-Sterne-Kellen läuft gar nichts, denkt Pia. Aber das kann sie Phil irgendwann erklären.
»Warst du schon mal beim Mädchentag?« Phil hat sich noch vor Schulbeginn umgezogen. Sie trägt jetzt einen schwarzen Minirock und Turnschuhe.
Pia ist hingerissen. »Ja, zwei-, dreimal. Aber es ist echt öde. Die Mädchen sitzen nur rum und reden über Jungs oder Schminke, und die Pädagogin versucht dann, auf irgendwas anderes abzulenken. Ich meine, wer drauf steht …« Pia zuckt mit den Schultern.
»Und worüber würdest du dich gern unterhalten?«, fragt Phil. Und hat prompt Pias Schmetterball verpasst. »Das war aber nicht fair.« Richtig sauer ist sie nicht. »Cola?«, fragt sie stattdessen.
»Oh ja, Cola und kurze Pause.«
»Aber nicht umschütten, okay?«
Schon wieder wird Pia rot. Vor der Theke steht sie ganz nah neben Phil. Sie kann sie fast berühren. Pia hält sich sicherheitshalber an dem schwarz lackierten Holz fest. Ihre Beine fühlen sich wie Pudding an.
Phil scheint es nicht so zu gehen. Sie trägt beide Gläser ganz selbstverständlich zu einem der kleinen wackligen Holztische, ohne dass auch nur ein einziger Tropfen danebengeht. Und dabei hat der Junge am Tresen beide bis zum Rand gefüllt. Kein Wunder, so wie Phil ihn angeflirtet hat. Und so wie sie aussieht. Phil flirtet anscheinend gern.
Kaum sitzen sie, kommt der Thekenjunge auch schon auf sie zu. »Kann ich noch irgendwas für dich tun?«
Pia beachtet er gar nicht. Kein Junge beachtet sie. Das fällt ihr heute zum ersten Mal auf. Na ja, schließlich trägt sie keine Miniröcke. Und sie flirtet auch nicht.
Halb fasziniert und halb verärgert beobachtet Pia die beiden. Für die scheint sie überhaupt nicht mehr zu existieren. Jetzt fordert der Junge Phil auch noch zu einer Runde Tischtennis auf.
»Pia, du hast doch nichts dagegen, wenn ich mit Rainer ein Match austrage?«
Soll sie schreien, um sich schlagen, ihn zusammentreten? »Natürlich nicht«, gibt sie nervös zurück.
Pia weiß plötzlich nicht mehr, wohin mit ihren Händen, ihren Füßen. Obwohl es ihr wehtut, Phil flirten zu sehen, kann sie nicht weggucken. Und schon gar nicht gehen. Sonst ist der Laden hier immer brechend voll, und heute? Kein Schwein lässt sich sehen. Vielleicht sollte sie etwas bestellen, schließlich muss der Typ sie bedienen. Langsam schlendert sie die paar Schritte zur Tischtennisplatte. »Ich will noch ’ne Cola.«
»Bedien dich einfach selbst, okay? Du siehst ja, ich bin beschäftigt.«
Vor Wut bleibt Pia fast die Luft weg. Sie schnappt sich hinter der Theke ein Glas, überlegt kurz, alles in Schutt und Asche zu legen, bückt sich dann aber nur, um die Cola aus dem Kühlschrank zu holen. Als sie wieder hochkommt, sind Rainer und Phil verschwunden.
Wo sind die in den paar Sekunden hin? Spinnt die, sich einfach davonzumachen? Pia knallt das Glas wütend auf die Theke und die Flasche landet mit einem Knall in der Spüle. Was, wenn der Typ grade irgendwas mit ihr macht? Vielleicht hat er sie ja auch in eine dunkle Ecke gezerrt und …
Pia sieht sich beunruhigt um. Sie kann jedenfalls nicht ohne Phil zurück ins Internat. Schließlich sind sie zusammen hergekommen. Wenn sie Phil gefunden hat, kann sie ihr immer noch die Meinung sagen.