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Warum pilgert man? Es mag dafür so viele Gründe geben, wie das Leben bunt und die Menschen verschieden sind. Für den Autor ist genau jetzt, Anfang November, in einer Jahreszeit, die in keinem Reiseführer empfohlen wird, der richtige Augenblick dazu. Aber was ist pilgern überhaupt und wohin bringt es einen? Auf dem mehr als 800 Kilometer weiten Fußweg durch den Norden Spaniens ist der Leser auf jedem Schritt mitten drin. Es geht durch atemberaubende Landschaften und alt erhabene Königsstädte, das Ziel der Pilgerreise - Santiago de Compostela - immer vor Augen. Dabei ist pilgern weit mehr als nur eine lange Wanderung. Und so begleitet man den Autor nicht nur bei berührenden Begegnungen mit Pilgern und Menschen, sondern auch auf seinem inneren Camino, auf dem er an seine Grenzen stößt, zwischen Aufgeben und neuer Hoffnung hin- und hergeworfen wird und manches Mal über sich hinausgehen muss. Und nur dem, der so unterwegs ist, enthüllt der Weg seine Geheimnisse. Pilgern auf dem Jakobsweg - Von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela packt einen an den eigenen Wurzeln, gewährt einen Blick durch den Horizont und stellt einen am Ende umso fester auf beide Beine.
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Seitenzahl: 258
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Mancher Weg zeigt sich erst, wenn man ihn ein Stück weit gegangen ist…
Marc Sieger
Pilgern auf dem Jakobsweg
Von Saint-Jean-Pied-de-Port bis
Santiago de Compostela
© 2020 Marc Sieger
Internet: www.pilgernaufdemjakobsweg.com
Lektorat, Korrektorat: Pia Sieger, Regina Schwarz
Umschlag: Cedric Eberhard
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-347-16142-9
Hardcover
978-3-347-16143-6
e-Book
978-3-347-16144-3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Vorwort
Ich bin ihn tatsächlich gegangen, den ganzen Weg von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela, etwas über 800 Kilometer zu Fuß. Hier bei uns sagen die meisten Jakobsweg, in Spanien ist es der Camino de Santiago, die Franzosen nennen ihn Chemin de Saint-Jacques, aber für die Pilger ist es einfach nur der Camino.
Es gibt viele Jakobswege, die durch mehrere Länder Europas führen, aber alle haben das gleiche Ziel: Santiago de Compostela. Der bekannteste der Jakobswege ist der Camino Francés, der von Saint-Jean-Pied-de-Port ausgehend Spanien einmal von Ost nach West durchquert.
Ich ging ihn allein, und trotzdem lagen auf meinem Camino unzählige Begegnungen und Erlebnisse. Was der Weg mit einem macht, was er verändert, ob man ein anderer wird, wenn man ihn geht? Wohin er einen bringt, ob die Dinge danach anders sind als zuvor, oder man einfach nur anders damit umgeht, ob einem beim Pilgern Gott begegnet oder sogar Wunder geschehen, oder einfach alles bleibt, wie es ist? Die Antwort muss sich jeder selbst geben und man bekommt sie nur, indem man ihn geht.
Für mich ist dieser Weg wie das Leben selbst. Unvermittelt stolpert man hinein, egal wie lange man sich vorbereitet hat und wie viel man darüber auch gelesen haben mag. Plötzlich ist man da und es geht los. Vieles kommt anders als gedacht, jeder Weg ist einzigartig und jeder muss seinen eigenen gehen. Es gibt kein Richtig oder Falsch, vielmehr schenkt einem der Camino Chancen und Gelegenheiten, die man entweder mutig ergreift und nutzt, oder die man eben tatenlos verstreichen lässt und so unwiederbringlich verliert.
Landschaften verändern sich, nach den steil aufragenden Pyrenäen folgen die Weinberge Navarras und Riojas, über die alt erhabenen Königsstädte Pamplona, Estella, Burgos, León und die schier endlose Hochebene der Meseta gelangt man nach Galicien und schließlich nach Santiago de Compostela, dem eigentlichen Ziel der Pilgerreise, und vielleicht treibt es einen dann noch weiter bis ans Ende der Welt, das Kap Finisterre, wo sich der Horizont im Atlantik verliert. Warme Sonnenstrahlen wechseln mit trüben Regenwolken, vor Hitze schwitzend oder vor Kälte im Regen zitternd, nass bis auf die Haut. Euphorie, Aufbruchstimmung, Neugierde geben den Stab weiter an Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit und Gedanken ans Aufgeben.
Das einzige Rezept: „Don’t stop walking!“
Weitergehen, nicht anhalten und nicht aufgeben.
Auf dem Weg findet man Gefährten und Begleiter. Ein paar davon schließt man besonders ins Herz. Man teilt Gedanken, Proviant, Erfahrungen, Nachtlager, Pflaster, Salben und gute Ratschläge. Man teilt Glaube und Zweifel und das, was unser Menschsein ausmacht. In besonderen Augenblicken gibt man vielleicht ein winzig kleines Teilchen seines Innersten preis und bekommt im Gegenzug einen Blick in die Seele des anderen geschenkt.
Diese Augenblicke sind bleibend.
Und dann verliert man sich wieder, die Wege trennen sich. Entweder bleibt der eine fußkrank zurück, oder der andere geht beherzt in schnellerem Tempo weiter. Mitunter enden Wege auch plötzlich weit vor dem Ziel, unerwartet und schmerzhaft und es bleibt einem allein die Erinnerung.
Vieles auf dem Camino bleibt ein Geheimnis. Manches davon versteht man nur selbst, kann es für andere nicht in Worte fassen, weil es keine Worte dafür gibt und manches bleibt auch für einen selbst ein Mysterium, umweht allenfalls von einem ahnungsvollen Hauch.
Und nun vergessen Sie das alles am besten wieder und kommen mit und begleiten mich auf meinem Camino-Abenteuer, das an einem regnerischen Novembertag 2018 begann.
Anreise, Donnerstag, 08. November
Stuttgart – Saint-Jean-Pied-de-Port
Den linken Fuß setze ich auf die Trittstufe des Wagons. Mein Rechter verharrt einige Augenblicke auf der Bahnsteigkante. Auf dem Rücken mein Rucksack mit den klein zusammengeschobenen Wanderstöcken. Mit Wasservorrat, Schlafsack und Tagesverpflegung gerade einmal gute 10 Kilogramm, „Reisen mit leichtem Gepäck“, worauf ich wirklich stolz bin.
Gedankenfetzen jagen in Sekundenbruchteilen durch meinen Kopf. „Wann und warum ich mich dazu entschlossen hätte, pilgern zu gehen“, hatten einige Freunde und Arbeitskollegen gefragt. „Was ich mir davon erhoffe“, bis hin zu „ob ich krank sei, oder es Schicksalsschläge oder eine Ehekrise zu verarbeiten gäbe“, und zu guter Letzt „warum es gerade der Jakobsweg und dann auch noch der Camino Francés sein müsse, auf dem doch jedes Jahr Hunderttausende pilgern“.
Auf all die Fragen hatte ich nicht geantwortet, bestenfalls freundlich gelächelt.
Auch jetzt lächle ich. Die große Bahnhofsuhr zeigt 6: 54 Uhr. Ich sauge die kühle Morgenluft, die sich mit der eigentümlich muffigen Bahnhofsluft vermengt, durch die Nase ein. Es ist Zeit für den Aufbruch, es ist Zeit loszugehen und diese Dinge hinter mir zu lassen. Mit der Hand fahre ich mir übers Gesicht, wische förmlich die Gedanken der Bedenkenträger fort, gebe mir einen Ruck und steige ein. Auf meinem Fensterplatz sitzend schließe ich für einige Augenblicke die Augen.
Warum pilgert man? Es mag dafür so vielfältige Gründe geben, wie das Leben bunt und die Menschen verschieden sind. In meinem Leben ist nun mal jetzt, genau jetzt, in diesem Jahr, Anfang November der richtige Zeitpunkt dafür. In einem Monat, der in keinem Reiseführer und nirgends als Pilgermonat auf dem Camino empfohlen wird. Im Gegenteil. Von dieser Jahreszeit wird vielerorts klar und deutlich abgeraten. Plötzlicher Wintereinbruch, geschlossene Herbergen, deshalb schwer planbare Tagesetappen, kaum andere Pilger und wenig Abwechslung, um nur einige der Negativargumente gegen diese Jahreszeit zu nennen.
Manche Dinge sucht man sich nicht aus. Sie kommen einfach zu einem. Und wenn sie kommen, dann muss man sie tun. Einige sagen dazu „auf die innere Stimme hören“, und meine rief es laut und deutlich. Es ist wie die lang ersehnte Zäsur, der Einhalt, den mein Leben braucht.
Nein, mein Leben ist nicht chaotisch oder aus den Fugen geraten. Es ist wohl geordnet, mit zwei bereits ziemlich erwachsenen Töchtern, einer wundervollen Frau, mit der ich seit 25 Jahren glücklich verheiratet bin; dazu ein ordentlicher Job, Einkommen, Zuhause, Freunde, alles bestens. Dazu in der Freizeit viel ehrenamtliches kirchliches Engagement, mich selbst meist hintenangestellt, voller Einsatz, alles gebend. Natürlich bereitet mir all das auch Freude und meist bekommt man dabei mehr zurück, als man gibt. Aber jetzt ist gut. Jetzt brauche ich diese Zeit für mich, für mich ganz allein. Ich sehne mich danach, nach Stille, nach innerer Ruhe. Nach Zeit mit mir und Gott, falls er sich blicken lässt.
Nervös blicke ich auf die Uhr. Bereits 5 Minuten Verspätung. Warum fährt der Zug denn nicht endlich ab? Ich rutsche unruhig auf meinem Platz hin und her. Sechsmaliges Umsteigen erwartet mich heute. Von Stuttgart geht es nach Karlsruhe, von dort mit nur 14 Minuten Umsteigezeit mit dem ICE weiter nach Paris. Dort wechsle ich mit der Metro vom Gare de l’Est zum Gare Montparnasse. Mit dem TGV geht es von hier weiter nach Bordeaux, anschließend nach Bayonne und schließlich mit dem Bummelzug nach Saint-Jean-Pied-de-Port, dem wunderschönen kleinen Städtchen am Fuß der Pyrenäen, dem Ausgangspunkt meines Pilgerweges. Nach weiteren 5 Minuten Untätigkeit ertönt eine Durchsage:
„Aufgrund technischer Probleme verzögert sich die Abfahrt.“
Na super. Das fängt gut an. Und ich kann nichts tun, nur dasitzen und warten. Ich hasse Probleme, bei denen ich nur abwarten kann. Ich hätte auch fliegen können. Ginge schneller und wäre dazu wohl auch noch entspannter. Aber ich wollte sehen, wie die Landschaft sich verändert, mir ganz bewusst Zeit für den Weg nehmen, aufbrechen – loslassen – ankommen. Dazu fliege ich nicht gerne, wenngleich es sich beruflich über Jahre hinweg nicht vermeiden ließ. Und schließlich muss meine Seele das Tempo auch irgendwie mitgehen können. Bis zuletzt ging es rund zuhause. Gestern noch hatte ich den ganzen Tag gearbeitet und versucht, die dringendsten Dinge zu erledigen und für meine beinahe 4-wöchige Abwesenheit zu organisieren. Am Abend hatte meine Frau Nicole mich dann mit einer Abschiedsparty überrascht. Plötzlich trudelten alle möglichen Freunde bei uns ein und innerhalb kürzester Zeit war das ganze Haus brechend voll. Es gab leckere Tapas - spanische Häppchen, wir lachten, redeten und tranken zusammen bis spät in die Nacht. Rucksack und Pilgerschuhe standen bereits gepackt an der Tür, alles war schon zum Aufbruch bereit. Wie schön, wenn man wirklich gute Freunde hat.
Endlich, mit etwas mehr als 15 Minuten Verspätung, setzt der Zug sich in Bewegung. Der Umstieg am Folgebahnhof eigentlich nicht mehr zu schaffen. Als der Zug in den Karlsruher Bahnhof einfährt, krampft sich meine Faust bereits angespannt um den Türknauf, so dass die Knöchel weiß hervortreten. Die Sekunden, bis die Bahn endlich wie in Zeitlupe mit quietschenden Eisenrädern zum Stillstand kommt, scheinen sich schier endlos in die Länge zu ziehen. Im nächsten Moment reiße ich bereits die Türe auf, hüpfe auf den Bahnsteig und sprinte los. Die Treppen hinunter und am nächsten Aufgang wieder hinauf. Und tatsächlich, hier geschieht das erste kleine Wunder meiner Reise: Mein ICE steht noch da! Ich springe hinein, im nächsten Moment ertönt der Pfiff, die Türen schließen sich, und der Zug setzt sich in Bewegung.
Geschafft!
Mein Puls rast und mein Herz schlägt so laut, dass man es zweifelsohne im gesamten Großraumwagen hören kann. Was für eine Aufregung gleich zu Beginn meiner Reise. Das kann ja heiter werden! Glücklicherweise verläuft die restliche Reise planmäßig und ohne ähnliche weitere Zwischenfälle. Ankunft in Paris am frühen Vormittag. Hach, wie ich diese Stadt liebe! Nach einem guten Tipp aus dem Internet habe ich mir die Metro Fahrkarte bereits beim Schaffner im ICE gekauft und erspare mir so nun das Anstehen und umständliche Herumtippen am Fahrkartenautomaten. Und ab geht’s mitten hinein in den immerzu vollen und wuseligen, einem Ameisenhaufen gleichen Metro-Untergrund. Mit der Linie 4 Richtung Porte d’Orléans quer durch Paris bis zur Haltestelle Montparnasse Bienvenue. Nach einigen Minuten Fußweg und zweimaligem Nach-dem-Weg-Fragen bei vorübereilenden Passanten in meinem besten Französisch (zu irgendwas muss es ja gut sein) erreiche ich den Bahnhof Montparnasse.
Kurz darauf mache ich es mir gerade oben im Doppelstock-Wagon des Zuges nach Bordeaux an einem Fensterplatz bequem, als sich auf den Sitzen der anderen Gangseite ein Tumult erhebt. Ein Franzose sucht aufgeregt nach seinem Portemonnaie. Er ist sich sicher, dass er es gerade eben zusammen mit seiner Aktentasche oben in die Gepäckablage gelegt hatte. Seine Reisebegleiter und er selbst suchen alles ab, unter den Sitzen, auf dem Boden, in den Schlitzen zwischen den Sitzen, in allen Taschen, einfach überall - vergebens. Das Portemonnaie mit Geld, Karten und wichtigen Dokumenten ist verschwunden. Der gesamte Großraumwagen wird Zeuge eines aufgeregten Eklats. Ein Schaffner wird hinzugezogen, kurz darauf gefolgt von einem Sicherheitsbeamten. Es wird in der den Franzosen eigenen Art laut wild diskutiert und ausladend gestikuliert.
Diebstahl, der Geldbeutel wurde gestohlen! Der Reisende ist sich sicher und keiner kann ihn beschwichtigen. Mich selbst beschleicht ein mulmiges Gefühl, hatte ich doch im Unterbewusstsein gleich nach dem Einsteigen einen Mann wahrgenommen, der ebenfalls die Sitzreihen entlangging, sich kurz setzte, dann aber wieder aufstand, seine Tasche aus der Gepäckablage nahm und den Wagon vor Abfahrt des Zuges verließ. An sein Aussehen kann ich mich nicht mehr richtig erinnern und natürlich kann ich auch nicht mit Sicherheit sagen, dass er es war, der das Portemonnaie gestohlen hat.
Ich hatte vorab einiges über die Maschen der Zug-Diebe gelesen, die leider überall und häufig auf sehr gemeine und hinterhältige Art zuschlagen.
Aufgebracht verlangt man nun nach der Polizei, und der Geschädigte lässt sich vom Schaffner und Sicherheitsbeamten nur mäßig beruhigen. Die gesamte Fahrt bis Bordeaux verbringt er am Handy telefonierend. Mal mit der Polizei, mal mit Familienangehörigen, mal mit offiziellen Stellen, um Karten zu sperren, weiteren Schaden möglichst abzuwenden und notwendige Maßnahmen in die Wege zu leiten. Dabei streift er alle Fahrgäste in regelmäßigen Abständen mit prüfendem Blick. Jeder ist verdächtig. Unter seinen stechenden misstrauischen Adleraugen fühle ich mich unschuldigerweise zunehmend unwohl. Trotzdem tut der Mann mir leid. Wie gemein, andere auf solche Art und Weise um Hab und Gut zu bringen.
Ich steige mit meinem Fuß durch die Rucksackschlaufe und klemme mein Gepäck sichernd zwischen meinem Bein und der Wand ein. Dazu taste ich immer wieder nach dem Geldbeutel in meiner Jackentasche, in dem ich gerade einmal zwanzig Euro habe. Mein gesamtes Barvermögen von 250 Euro, eine EC- und Kreditkarte, sowie mein Personalausweis sind sicher verwahrt in einem winzigen blauen, unscheinbaren Kindergeldbeutelchen mit Reisverschluss, verziert mit Hase Felix, der mitten in meinem Rucksack an einer möglichst sicheren Stelle zwischen Wechselwäsche und Socken steckt. Dieser kleine Geldbeutel hat in Kindertagen bereits einer unserer Töchter gute Dienste erwiesen, und für meine Pilgerreise hat sie ihn mir nun freundlicherweise großzügig überlassen. So versuche ich das Risiko möglichst gering zu halten. Wann immer ich mit Geld hantiere, versuche ich es nur aus dem „Low-Budget-Geldbeutel“ heraus zu tun, den ich bei Bedarf immer wieder in sicherer Umgebung aus dem Felix-Beutel nachfüllen kann.
Draußen fliegen Felder, Wiesen und Wälder vorüber. Hier im Herzen Frankreichs ist alles grün, dünn besiedelt, und über weite Strecken sieht man kaum Ortschaften, geschweige denn Städte. Allenfalls sieht man Kühe oder Schafe auf den Weiden. Je südlicher wir kommen, desto mehr verändert sich die Vegetation, und irgendwann kurz vor Bordeaux tauchen erste Palmen auf und vermitteln mir sofort ein Gefühl von Urlaub, Entspannung und dem besonders von den Südfranzosen perfekt inszenierten „Savoirvivre“.
Beim Herumschlendern am Bahnhof von Bordeaux werden Erinnerungen wach an eine Inter-Rail-Tour, die ich damals nach der Schulzeit mit 19 Jahren unternommen hatte. Unglaublich, das liegt nun beinahe 30 Jahre zurück! Was nicht alles in dieser Zeit an Erlebtem und an Veränderung lag – und doch, eigentlich bin ich noch immer derselbe, und weiterhin ist das Leben spannend, im Fluss und neben allen festen Größen ist die Lust auf Neues, Veränderung und Wandel ungebrochen. Nach wie vor gibt es neben Alltag, Verpflichtungen und Verantwortung den Träumer und heillosen Romantiker in mir.
Weitere zwei Stunden später stehe ich am kleinen Bahnhof von Bayonne und warte auf meine letzte Zugverbindung, die mich nach Saint-Jean-Pied-de-Port bringen wird. Trotz der langen Reise, den zahlreichen Zugfahrten und mitunter stundenlangem Warten auf eine Anschlussverbindung, ist der Tag schnell vergangen. So kurz vor dem Ziel kommt nun doch etwas Aufregung auf. Ich bin so gespannt, wie es heute Abend werden wird, zuerst im Pilgerbüro und dann in der öffentlichen Herberge, die man nicht vorreservieren konnte.
Und dann sehe ich auf einer der Wartebänke des Bahnhofs die erste Pilgerin! Eine junge Frau mit entsprechendem Outfit, Rucksack und Jakobsmuschel eindeutig als solche identifizierbar. Ich bin also nicht der Einzige, der im November auf dem Jakobsweg pilgern möchte!
Auch ich habe eine Jakobsmuschel in meinem Gepäck dabei. Man bringt sie außen gut sichtbar am Rucksack an oder trägt sie an einer Kette um den Hals. Bereits im Mittelalter war die Jakobsmuschel Zeichen der erfolgreichen Pilgerschaft, denn die sogenannten Jakobsmuscheln gab es vor allem an den Stränden Galiciens zu finden. Sie bewies, dass der Pilgernde den weiten Weg tatsächlich bis zum Ziel gegangen war. Ursprüngliches Ziel eines jeden Pilgers war das Grab des Apostel Jakobus in Santiago de Compostela. Durch den zurückgelegten Pilgerweg erhoffte man sich Läuterung, Sühne und Vergebung von Schuld und Sünde und hoffte so auf die Gnade Gottes. Egal was man von der Geschichte halten mag, oder ob und an was man sonst auch glaubt: Das sollte man meiner Meinung nach wissen, wenn man sich auf den Weg nach Santiago macht.
Daneben ranken sich kaum zählbare Legenden um den Jakobsweg und die Jakobsmuschel. Eine der Erzählungen besagt, dass der Leichnam des Apostel Jakobus – Namensgeber des Pilgerweges – nach dem Märtyrertod durch die Hilfe von zwei Freunden gestohlen und nach Jaffa, dem heutigen Tel Aviv gebracht worden sei. Mit einem Schiff und einer unsichtbaren Besatzung aus Engeln soll der Leichnam sieben Tage lang auf dem Meer getrieben sein, bis das Boot an der Küste Galiciens bei Iria Flavia strandete. Hier landete das Boot mit dem über und über auf wundersame Weise mit Jakobsmuscheln bedeckten Leichnam an, wurde zunächst auf einen Ochsenkarren verladen und dort, wo der Ochse eine Ruhepause einlegen und sich niederlegen würde, wollte man den Apostel begraben. Das, so die Überlieferung, war Castro Lupario. Die Jünger des Jakobus bestatteten den Apostel auf einem Grundstück, das viele Jahre später letztendlich Santiago de Compostela werden sollte.
Der Name der Stadt setzt sich zusammen aus dem Sanctus Iacobus, dem Heiligen Jakobus, und Compostela, dem Campus Stellae, oder auch Sternenfeld. Im Kampf gegen die Mauren wurde Jakobus dann Symbolfigur der Reconquista, der Rückeroberung des Landes durch die Christen. Später, mit Beginn der Wallfahrten nach Santiago de Compostela, wurde Jakobus Schutzpatron Spaniens und aller Pilger und Wallfahrer.
Traditionell werden die Jakobswege gerne als Sternenweg bezeichnet. Nach den alten Vorstellungen stellen die Sterne der Milchstraße den Weg der Seelen dar. Das Licht der Sterne ist eine Art Kompass, der wiederum den Weg zum Paradies zeigt. Früher hieß es, das Paradies befinde sich am Ende der Welt. Für die Menschen im Mittelalter war die Küste Galiciens das Ende der Welt, denn kein Mensch war je weitergekommen als bis zu den Ufern des Atlantiks, weshalb man die 98 Kilometer westlich von Santiago liegende Landspitze und den Küstenort Finisterre, abgeleitet von lateinisch „finis terrae“, zu Deutsch „Ende der Welt“, nannte.
Den Jakobspilger selbst zeichnen seit dieser Zeit also folgende Insignien aus: die Jakobsmuschel, ein Lederbeutel für Proviant sowie ein Pilgerstab. Weiterhin gehörten in alten Zeiten ein Umhang und ein breitkrempiger Hut als Schutz gegen die Sonne und den Regen, sowie eine Kalebasse für Wein oder Wasser zur Ausstattung eines jeden Pilgers.
Kurz darauf sitzen in der kleinen, regionalen Bummelbahn von Bayonne nach Saint-Jean-Pied-de-Port vielleicht fünf oder sechs Fahrgäste. Drei davon sind wie ich offensichtlich Pilger. Als der Zug um 19.25 Uhr am Endbahnhof hält, ist es draußen bereits dunkel. Einen kurzen Moment stehe ich andächtig vor dem kleinen Bahnhofsgebäude und lasse den Augenblick der Ankunft auf mich wirken. Dann haste ich den anderen hinterher die Straße entlang und hinauf in die Altstadt, denn das Pilgerbüro in der Rue de Citadelle 51 schließt laut Reiseführer um 20 Uhr nach Eintreffen des letzten Zuges, außerhalb der Saison wie jetzt mitunter auch schon früher. Es geht durch leere, enge Gässchen, vorüber an alten, schönen Steinhäuschen mit Holzläden und hier und da beleuchteten Fenstern. An einer Straßenkreuzung schließe ich zu den drei anderen auf, die ratlos nach rechts und links die Gasse entlangschauen. Ich zeige wissend nach links, denn ich hatte mir den Weg vom Bahnhof in die Rue de Citadelle bereits auf der Reise auf Google Maps angeschaut. Erleichtert folgen mir die drei: Theo, ein gutgelaunter und gesprächiger junger Kerl aus den USA mit Dreitagebart, der eigens zum Pilgern des Caminos die weite Reise unternommen hat. Die junge Pilgerin kommt aus Rumänien und dann ist da noch Miguel, ein ruhiger Spanier mittleren Alters aus Madrid. In diesem Moment tut es tatsächlich einfach gut, Gesellschaft zu haben und nicht allein durch die nächtliche Ortschaft zu irren.
Und dann sind wir da. Das schwarze Holztor an Haus Nummer 51 ist geschlossen, aber durch das Fenster dringt Licht. Ich drücke den gusseisernen Türgriff hinunter – sie ist offen! Mit lautem Quietschen schwingt sie auf und wir treten ins Innere. Hinter Holztischen erwarten uns freundlich lächelnd mehrere ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Sie kommen aus unterschiedlichen Ländern und sprechen die verschiedensten Sprachen, damit mit allen Pilgern ein Austausch möglich ist, sie über aktuelle Regelungen informiert werden können und die Pilger ihre Fragen stellen können. Ich sitze einem weißhaarigen Niederländer gegenüber. Er ist sehr zittrig, spricht ein undeutliches Deutsch, was durch einen Sprachfehler noch verstärkt wird, ist aber unglaublich nett, hilfsbereit und außerordentlich bemüht. Ich verstehe leider nur die Hälfte von dem, was er mir erzählt und hätte mich lieber auf Englisch oder Französisch unterhalten, möchte diesen freundlichen Helfer aber unter keinen Umständen verletzen oder kränken. So spitze ich also die Ohren, und reime mir das, was ich nicht verstehe aus Gestik, Mimik und Kombinationsgabe bestmöglich zusammen.
Ich erhalte eine kopierte Liste mit den Adressen der aktuell und über die Wintermonate noch geöffneten Herbergen auf dem Camino, ein weiteres DIN A4 Blatt mit in Etappen eingeteilten, sehr nützlichen topographischen Karten des Caminos, auf denen man die jeweiligen Entfernungen und Höhenmeter – bergauf und bergab – ablesen kann, sowie den Hinweis, dass ab Anfang November für den gesamten Winter die Strecke über den Pyrenäenpass gesperrt ist und man zwingend die Alternativroute über Valcarlos nehmen muss.
Pilgert man trotzdem über den Pass, muss man mit hohen Geldstrafen rechnen. Insbesondere wird man bei Unfällen und notwendigen Bergungen auf dieser Route neben der Geldstrafe für alle Rettungskosten persönlich haftbar gemacht. Damit läuft gleich die erste morgige Etappe ganz anders als geplant. Natürlich hatte ich mich auf die Strecke über den Pass gefreut, war aber auch nervös, gab es vor 14 Tagen doch bereits den ersten Wintereinbruch in den Pyrenäen. Auf zahlreichen Fotos im Internet hatte ich Pilger in kurzen Hosen und in Sandalen in dichtem Schneetreiben durch knöchelhohen Schnee stapfen sehen. Dazu hat es diese erste Etappe bis Roncesvalles auch ohne Wintereinbruch in sich und ist alles andere als ein Zuckerschlecken.
Nun also Planänderung, so ist es eben. Viele Wege führen nach Santiago und wer weiß schon, was das Schicksal sich dabei gedacht hat. Man wird sehen…
Ein paar Häuser weiter liegt die öffentliche Herberge. Jetzt bin ich doch sehr geschafft und müde von diesem ersten Tag und der langen Anreise. Zusammen mit Miguel komme ich in einen engen, mit 9 Stockbetten vollgestopften Schlafsaal. Es gibt genau noch zwei letzte freie Betten. Ganz am Ende des Zimmers wird mir ein oberes Bett zugewiesen. Ich stelle meinen Rucksack in die Ecke und schaue mich um: Sieben oder acht Asiaten, wie sich herausstellt aus Südkorea, sowie einige Spanier übernachten mit im Zimmer. Einige der Pilger liegen bereits in ihren Betten und schlafen. Der nebenan liegende Waschraum sieht wenig einladend aus, nachdem ihn offensichtlich alle anderen Übernachtungsgäste vor meiner Ankunft bereits benutzt haben. Der Boden ist nass und schmutzig und in den Waschbecken klebt Undefinierbares. Ich verschiebe das Duschen auf den nächsten Morgen, in der Hoffnung, dass bis dahin jemand die sanitären Anlagen gereinigt hat, zumal meine Badeschlappen ungeschickterweise ganz unten im Rucksack verstaut sind.
Überhaupt komme ich mit der Packstrategie in meinem Rucksack noch nicht klar. Ich rolle meinen Schlafsack auf dem Bett aus und kämpfe weiter mit der Ordnung in meinem Rucksack. Das, was ich brauche, ist natürlich so verstaut, dass ich nur rankomme, wenn ich alles andere ausräume, und bald schon liegt der gesamte Inhalt meines Rucksacks ausgebreitet auf dem Bett. Unbeholfen versuche ich danach alles möglichst geordnet wieder zu verstauen und bin leicht genervt. Dabei war ich Zuhause der Meinung, alles sehr sinnvoll und effizient gepackt zu haben. An meiner Rucksack-Taktik muss ich in den kommenden Tagen wohl noch arbeiten.
Für Unterhaltungen mit anderen Pilgern bin ich heute Abend viel zu müde, das muss bis morgen warten. Ab jetzt habe ich dafür aber auch beinahe vier Wochen Zeit. Seufzend schiebe ich den für die morgige erste Tagesetappe gepackten Rucksack mit dem Fuß in die Ecke und klettere vorsichtig barfüßig die klapprige Sprossenleiter aufs obere Stockbett hinauf, darauf bedacht, den im unteren Bett liegenden Asiaten nicht zu treten, oder ihm gar meine nackten Füße ins Gesicht zu strecken. Ganz langsam und sachte krieche ich auf allen Vieren auf meine Matratze, wobei das gesamte Bettgestell unter mir gefährlich hin und her wankt.
Doch dann liege ich endlich in meinem Schlafsack, bin einfach froh und ein bisschen stolz, diesen Tag und die Anreise erfolgreich geschafft zu haben, schließe die Augen und versuche, im hell erleuchteten Schlafsaal mit 17 weiteren Pilgern einzuschlafen.
Tag 1, Freitag, 09. November
Saint-Jean-Pied-de-Port – Roncesvalles 28 km
Die erste Nacht ist einfach nur schrecklich. Zuerst kann ich lange nicht einschlafen. Zu viel geht mir durch den Kopf.
Auch bin ich so viele Menschen in meinem Schlafzimmer nicht gewohnt, zumal sich einige noch bis lange in die Nacht angeregt in Zimmerlautstärke unterhalten. Begleitet wird all das von einem ständigen Kommen und Gehen, Türe auf, Türe zu – meist fällt sie dank einem automatischen Schließmechanismus geräuschvoll ins Schloss.
Ab 2 Uhr nachts erklingt dann im 30 Minuten Rhythmus ein Handysong vom Bett des Asiaten unter mir. Der hat doch echt ‘ne Meise! Es ist zum Auswachsen. Ich kriege kein Auge mehr zu, döse allenfalls im Halbschlaf noch etwas vor mich hin und bin heilfroh, als kurz nach 5 Uhr (!) die ersten Bettnachbarn bereits aufstehen, das Licht anschalten, ihre Rucksäcke packen und geräuschvoll zu ihrer Tagestour aufbrechen. Ich frage mich, wie sie um diese Uhrzeit in absoluter Finsternis den Weg finden und ohne abzustürzen den Berg hinauf pilgern wollen.
Ein Weilchen gönne ich mir noch im Bett zu liegen. Aus zusammengekniffenen Augen heraus beobachte ich das rege Treiben um mich her. Schon lange vor 6 Uhr in der Früh sind wir dann fast alle auf den Beinen, wach sind eh schon alle. Ich gehe duschen, und nein, es hat seit gestern Abend niemand sauber gemacht, aber ich brauche kaltes Wasser, um wach zu werden. Als ich aus dem Bad zurückkomme, ist der Raum inzwischen fast leer. Ich befestige den zusammengerollten Schlafsack außen am Rucksack, frühstücke in der Küche mit einigen Asiaten, esse eine Orange, eine Scheibe labbriges Toastbrot und trinke eine Tasse Tee.
Und dann ist es soweit: Rucksack auf den Rücken, hinaus in die Nacht und im Dunkeln bei Nieselregen alleine los. Durch die engen Gässchen, vorüber an der Kirche, deren Turmuhr gerade kurz vor 7 Uhr zeigt, über eine alte Steinbrücke und einen engen Durchlass geht es durch Saint-Jean und hinaus aus der Stadt.
Ich bin auf dem Camino, ich bin auf meinem Camino nach Santiago! Ich kann es kaum fassen. Vergessen ist die unruhige Nacht und der fehlende Schlaf. Ich bin hellwach, voller Energie und Tatendrang. Es geht einige Zeit an der kaum befahrenen Straße entlang, was mich gar nicht stört. So habe ich wenigstens festen Boden unter den Füßen, solange es dunkel ist. Dann wird es langsam hell und aus den noch bleichen, grauen Farben tauchen links und rechts langsam Hügel und hoch aufragende Berge auf.
Was wird der Tag mir bringen? Werde ich es schaffen? Ja, vielleicht den ersten Tag – knapp 30 Kilometer bergauf, aber dann? Über 800 km bis Santiago – und das Ganze in 25 Tagen, denn mehr Zeit habe ich nicht. Es sind meine mühsam zusammengesparten Urlaubstage. Durchschnittlich täglich mehr als 32 Kilometer und das ohne einen einzigen Ruhetag! Ich bin nicht unsportlich, aber das ist eine Entfernung, die ich auch zu Hause noch kein einziges Mal am Stück gewandert bin, geschweige denn an 25 aufeinanderfolgenden Tagen. Eigentlich ein unmögliches Unterfangen.
Wird das Wetter mitmachen? Reicht meine Ausrüstung? Angst, Unsicherheit, Verlorenheit mischen sich wie ein heimtückisches Virus unter meine positive Grundstimmung. Was tue ich hier nur?
„Atmen und gehen, atmen und gehen.“
Ich beruhige mich selbst. Eine Teilstrecke könnte ich auch mit dem Bus oder der Bahn fahren. Alles ist möglich, ich muss niemandem etwas beweisen, ich tue das für mich, 25 Tage freie Zeit, nur für mich ganz allein. Ein Geschenk, purer Luxus, also: „Freu dich Marc!“
Ich überhole einige Pilger. Die Landschaft erinnert mich ein wenig ans Allgäu: grüne Hügel, Weiden, Kühe und beschauliche kleine Ortschaften. Das tiefe Atmen hilft. Ich entspanne mich und werde ruhiger. Der Regen nimmt zu und das Wasser läuft mir ins Gesicht. Es stört mich nicht, die positive Grundstimmung kehrt zurück, ich bin froh, glücklich, fühle mich frei, bin aber gleichzeitig noch immer aufgeregt.
In einiger Entfernung wanken vor mir auf dem Feldweg unförmige Gestalten im Regen langsam hin und her. Beim Näherkommen erkenne ich zwei Pilger. Ihre Regenponchos spannen sich wie Zelte über Körper und Rucksack. Als ich auf gleicher Höhe bin, erkenne ich unter der breiten Krempe des einen Ponchos Miguel, den Spanier! Wir freuen uns wie alte Bekannte über das Wiedersehen. Er ist heute Morgen gemeinsam mit Aneta losgepilgert, die er zufällig vor der Herberge in Saint-Jean getroffen hat. Wir unterhalten uns auf Englisch, woher jeder von uns kommt, und bis wohin wir an diesem Tag pilgern wollen.
Miguels Begleiterin Aneta ist eine in Irland lebende Polin. Für mich ist klar, dass es heute nicht weiter als Roncesvalles, oder „Roncevaux“ wie es auf Französisch heißt, gehen kann und ich schon heilfroh bin, wenn ich das schaffen sollte. Miguel und vor allem Aneta wollen hingegen, je nachdem, wann sie heute in Roncesvalles ankommen, vielleicht sogar noch weiter pilgern. Ich schaue die beiden ungläubig an. Wie sie das in ihrem sehr gemächlichen Schlenderschritt bewerkstelligen wollen, ist mir ein Rätsel. Ich sage einige Worte auf Polnisch zu Aneta und bin ziemlich stolz darauf, dank eines guten polnischen Freundes ein paar Sätze und Redewendungen ihrer Muttersprache ins Gespräch einbringen zu können. Doch Aneta findet daran wenig Gefallen. Im Gegenteil, sie macht einige spitze Bemerkungen darüber, dass Polen und Deutsche ja aufgrund der Geschichte nun mal nicht wirklich gute Freunde sein könnten. Überhaupt wirkt sie auf mich eher kratzbürstig, wenig zugänglich und zumindest mir gegenüber ziemlich garstig. Ich habe keine Lust auf politische oder weltanschauliche sinnlose Diskussionen und überhaupt will ich eh lieber alleine gehen. Und so wünsche ich den beiden einen „buen camino“, ziehe das Tempo an und lasse die zwei hinter mir zurück.
Bald darauf erblicke ich vor mir die Fassade eines großen Gebäudekomplexes am Eingang einer kleinen Ortschaft mit der in großen Lettern angebrachten Werbeaufschrift „Venta Peio“. Das ist Spanisch! Ich bin tatsächlich bereits in Spanien und der Supermarkt da vor mir gehört schon zu dem Örtchen Valcarlos! Ich schaue den Weg zurück, auf dem ich gekommen bin, blicke wieder nach vorn, aber nirgends sehe ich auch nur das kleinste Anzeichen einer sichtbaren Grenze. Auf der Straße gibt es weder Schlagbaum noch Zollhäuschen und auch kein Grenzpolizist ist zu sehen. Nicht einmal ein Schild kann ich finden, das mir den Grenzübertritt in ein anderes Land mitgeteilt hätte. Und doch bin ich nun wieder etwas neugierig, was mich hier in Spanien erwarten wird und ob sich Leben, Alltag und Kultur der Spanier von dem der Franzosen unterscheiden.
Im Supermarkt kaufe ich ein Baguette, fülle meinen Wasservorrat auf und weiter geht’s! Auf dem Weg liegen Kastanien in stacheliger Schale, in Gemüsegärten wachsen hochaufschießende Zwiebeln und anderes Gemüse, in den Bäumen höre ich Vögel zwitschern. Die Natur ist wunderbar und ich nehme alles bewusst und intensiv wahr. Die frische, vom Regen rein gewaschene Luft mit ihrem Duft nach feuchter Erde, dem saftigen Grün von Gräsern und alten Baumriesen atme ich tief in die Lunge ein. Ich gehe und gehe und gehe. Immer weiter.