Pilgern auf Französisch - Coline Serreau - E-Book

Pilgern auf Französisch E-Book

Coline Serreau

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Beschreibung

Clara, Claude und Pierre sind entsetzt: Das Erbe ihrer Mutter wird erst ausbezahlt, wenn sich alle drei zusammen als Pilger auf den Weg nach Santiago de Compostela machen. Schlimmeres können sich die drei kaum vorstellen, denn erstens können sie sich nicht ausstehen, und zweitens ist Wandern ein Strafe für sie. Doch das Geld können alle gut gebrauchen, und so schließen sie sich widerwillig einer illustren Wandergruppe an. Der Weg nach Santiago de Compostela ist lang und die Reise dahin voller überraschender Einsichten … Eine wunderbare, tiefsinnige Komödie über das Leben.

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Aus dem Französischen von Gaby Wurster

 

© Éditions Flammarion 2005Titel der französischen Originalausgabe:»Saint Jacques … La Mecque«© der deutschsprachigen Ausgabe:Piper Verlag GmbH, München 2008Covergestaltung:semper smile, MünchenCovermotiv: Schwarz Weiss Filmverleih

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Frühmorgens am Meer.

Édith sitzt geistesabwesend …

Der Regionalzug fährt …

Nach einer unruhigen Nacht …

Der Weg ist nun …

Mittag. Essenszeit.

Der erste Tag …

Ein paar Tage später …

Die Gruppe wandert …

Die Pilger haben …

Die Gruppe wandert …

Der französische Teil …

Der Aufstieg auf …

Eine Woche später

In Spanien platzen …

Am nächsten Tag …

Epilog

Frühmorgens am Meer. Rosiger Himmel, Schaumfransen auf dem noch dunklen Wasser, wie gestickt. Solch eine Schönheit, und keiner sieht sie.

Alle schlafen noch.

Schritte in der Ferne.

Ein Schritt nach dem anderen bewegt sich auf einen gelben Briefkasten am Strand zu. In der Ferienzeit nimmt er die Postkarten der Urlauber auf, außerhalb der Saison ist er außer Funktion, keine Post erreicht ihn. Nur heute. Die Schritte nähern sich, eine faltige, müde Hand mit Altersflecken und Krampfadern wirft drei schwarz umrandete Briefe ein, Trauerbriefe, wie man sie früher verschickt hat und die den drei Empfängern mitteilen, dass… Schwärze.

Die Schritte entfernen sich wieder.

Die Briefe liegen unten im Briefkasten und warten.

Die Stille reißt entzwei.

Nun färbt sich auch das Meer rosig, und keiner sieht es. Die Sonne dieses Tages, noch sanft, noch golden, verbirgt sich hinter Schäfchenwolken.

 

Das gelbe Postauto rast heran, bremst scharf vor dem gelben Briefkasten. Keine Zeit zu verlieren, Leute – heute Morgen gibt es viele Kästen zu leeren, und es ist nicht lustig, wenn die Post Verspätung hat.

Außerhalb der Urlaubszeit liegen nie Sendungen in diesem Kasten.

Ha, und doch! Drei Briefe. Ja, spinne ich?, fragt sich die Postbeamtin, springt flugs wieder in den kleinen gelben Renault und braust zu anderen Horizonten, anderen Postkästen, ins Briefzentrum, zu den Kollegen, ins pralle Leben eben.

Jetzt ist der Postkasten leer.

Die Briefe mit Trauerrand sind unterwegs.

 

Sie gelangen aufs Postamt der Stadt, werden in den Verteilerbach der Bezirksdirektion geschwemmt, der in den Fluss der Regionalverwaltung mündet, und der wiederum ergießt sich in den landesweiten Strom kostbarer Sendungen, die sich die Franzosen tagtäglich zuschicken…

Millionen Briefe werden versendet und Tag und Nacht zugestellt – mit dem Hochgeschwindigkeitszug, mit dem Fahrrad, dem Handkarren, in Umhängetaschen, gelben Autos, in Sortiermaschinen, Verteilern, Segeltuchtaschen, auf Treppen, in endlosen Briefkastenreihen, durch die Hände der Hauswarte…

Manche Briefe sagen: Ich liebe dich. Andere: Das bist du mir schuldig. Wieder andere sagen: Sieh mal einer an, nun ist dort jemand von uns gegangen…

 

Die Concierge bringt die Post nach oben.

Ein dicker Läufer, mit glänzenden Messingstäben auf die Stufen gedrückt, verschluckt die Geräusche. Der geschmierte Aufzugsmotor surrt, das schmiedeeiserne Gitter klappert, die verglaste, indirekt beleuchtete Aufzugswand sieht aus wie eine Natursteinmauer, die Fußmatte trägt Initialen.

Die Männer sind im Geschäft, die Kinder in der Schule, die Haushaltshilfen aus dem Mittelmeerraum bereiten köstliche Speisen zu, wobei sie angehalten sind, allzu strengen Knoblauchgeruch zu vermeiden, die Ehefrauen, umgeben von Polstermöbeln und teurem Nippes, sind damit beschäftigt, ihre Ängste zu verdrängen.

Édith trinkt.

Systematisch und ganz allein gießt sie sich ihren Schmerzstiller in den Rachen.

Ihr Blick ist trüb, sie betäubt sich.

Die Concierge klingelt, Édith geht durch den Flur zur Wohnungstür, die von pompösen Säulen flankiert wird. Sie hält sich aufrecht, schwankt kaum, es ist erst zehn Uhr vormittags, um sechs wird wahrscheinlich der Zusammenbruch kommen.

Sie kann noch mit klarer Aussprache ein »Guten Tag« und einen jener ritualisierten Sätze formulieren, die man, minimal variiert, in solchen Situationen gewöhnlich von sich gibt: »Schönen Tag noch!« »Haben Sie einen schönen Tag.« »Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag.« »Was für ein Wetter! Also, dieser Regen – aber die Pflanzen im Hof freuen sich…«

Édith nimmt den Packen Post entgegen, legt ihn in das versilberte Körbchen auf dem weißen Flügel im Salon und kehrt zurück in ihr Zimmer, zurück zu ihrer Flasche, zurück zu ihrer geliebten Selbstzerstörung.

Der schwarz umrandete Brief wartet.

 

Clara stürzt aus ihrem Einfamilienhaus, sie ist spät dran, es regnet in Strömen, sie muss heute Morgen noch zwanzig Klassenarbeiten korrigieren und an eine Klasse zurückgeben, die sie gern mag – die Kids sind zwar keine literarischen Genies, aber sie zeigen guten Willen.

Wann? Wann soll ich das nur erledigen?

Ihr bleibt die Pause – in der Pause könnte sie rasch…wenn man sie nicht auf ein gewerkschaftliches Problem anspricht…

Es ist kein Obst mehr im Haus, die Kinder müssen täglich Obst essen, sie hat vergessen, Obst auf Mingos Einkaufszettel zu schreiben, aber das macht nichts, auf Mingo ist Verlass, er wird das Obst nicht vergessen.

Im Regen durchquert sie den Garten. Liebe Güte, wie dieser Garten aussieht! Eine einzige Brache. Und das Haus, das Dach… Der Putz blättert in großen Placken ab. Das ist nicht so schlimm, aber das Dach…

Und da ist auch schon der Briefträger.

Na, das ist keine Verspätung mehr, das ist eine Katastrophe!

Drei Meter von seiner gelben Karre entfernt ist der Briefträger bereits durchnässt. Er reicht Clara die Post.

»Das schüttet, was?«

»Das kann man wohl sagen!«

»Soll ich’s in den Briefkasten werfen?«

»Nein, nein, ich nehme sie schon.«

 

Clara geht zurück, wirft die Post auf die Konsole im Flur, auf der sich der ganze Krempel der Familie sammelt, und verlässt das Haus wieder.

Im Regen bleibt sie im brachliegenden Garten stehen, erst jetzt fällt ihr auf, dass einer der Briefe einen Trauerrand trägt.

Sie kehrt ins Haus zurück, nimmt den Brief, öffnet ihn, liest.

 

Auch Pierre liest ihn – allein vor seinem weißen Flügel –, als er aus dem Büro nach Hause kommt, seinen brandneuen Superlaptop hat er im Flur abgestellt und die Krawatte gelockert.

Édith ist irgendwo anders in der Wohnung und schüttet sich zu. Pierre hat es längst aufgegeben, die goldenen Fluten eindämmen zu wollen, in denen sie sich suhlt, es hat sowieso alles keinen Sinn mehr, und jetzt auch noch dieser Brief.

Die Erinnerung an früher ist in den Neuronen gespeichert, eingeschlossen in unseren vollgepfropften Köpfen, und kann jederzeit wachgerufen werden. Manchmal quillt der eine oder andere Schwall hervor, der Mund könnte darüber sprechen… Aber dann legt sich das Schweigen wieder auf die Vergangenheit, denn es gibt keine Ohren, die davon hören wollen.

 

Schritte hallen durchs Betontreppenhaus des sozialen Wohnungsbaus, Claude mit seinem hageren großen Körper durchschreitet den Eingangsbereich des Gebäudes.

Gebäude ist nicht das richtige Wort – es ist eher eine Ansammlung von Verschlägen: Wände, die hochgezogen wurden, um die Habseligkeiten, Rohre, Fernsehgeräte und die einzelnen Leben der unteren Schichten zu verwahren.

Claude geht zu den Briefkästen, die vollgeschmiert sind mit Graffiti, er öffnet das Fach ohne Schloss, ohne Schlüssel, die lose Tür steht für jeden offen.

Desinteressiert blickt er hinein, ihm fallen die verschiedenen Rechnungen und Wurfsendungen entgegen, die der Kasten immer enthält. Er macht sich keine Gedanken. Wegen nichts. Er nimmt den schwarz umrandeten Brief heraus und liest ihn. Er sieht sich über einen Weg laufen, er ist fünf Jahre alt, eine Frau hebt ihn hoch und wirbelt ihn in ihren Armen herum. Seine Lippen an ihrem Hals, ein Schokoladencroissant…

Er hat keine Tränen mehr, alles ist vorbei und vergessen.

 

Clara betritt das Wartezimmer des Familienanwalts.

Seit ihrem letzten Besuch bei Maître Dorlaneau vor zwanzig Jahren, nach dem Tod ihres Vaters, sind die Wandpaneele nachgedunkelt, die Samtsessel durchgesessen.

Doch es riecht noch immer unverändert nach neunzehntem Jahrhundert: würzig und weich.

Eine Gefühlsaufwallung überkommt sie, als die Sekretärin ihren Bruder in den Raum führt.

Pierre nimmt so weit wie möglich von Clara entfernt Platz, schnappt sich eine Zeitschrift vom Tisch, zerreißt sie fast, als er sie aufschlägt, und sein Gesicht verschwindet hinter den Seiten.

Nicht mal ein »Guten Tag«, ist ja klar.

Schweigen senkt sich über den Raum, aufgeladen mit gewaltigen Schwingungen, die im Halbdunkel umherwirbeln.

Clara hat den Blick aufs Fenster geheftet, ihr Blut kocht, der Schweiß perlt an den entsprechenden Stellen in ihrem Gesicht, sie schlüge am liebsten zu, möchte töten, und dennoch sähe sie nichts lieber als dieses Gesicht, das Gesicht, das ihr in dieser Welt das vertrauteste ist, vertrauter noch als die Gesichter ihrer Kinder. Ihren Bruder.

Die Bilder und Buchstaben der Zeitschrift tanzen vor Pierres Augen, verschwimmen zu einem unleserlichen Brei. Seine Augen sind nach innen gerichtet, liegen verkehrt herum im Schädel, er hat Atemnot, sein Herz rast wie das einer frisch gefangenen Sardine.

Man führt Claude und seinen Körper herein, der ihm nicht mehr zu gehören scheint. Zerstreut bleibt er kurz stehen.

Dreimal stumme Einsamkeit in diesem dämmrigen Raum – mehr ist von ihrer Geschwisterschaft nicht übriggeblieben.

Die Anwaltssekretärin, ein unerschütterlicher Fels der Neutralität, erscheint wieder.

»Maître Dorlaneau lässt bitten.«

 

Maître Dorlaneau, ein Freund der Familie, kennt Pierre, Clara und Claude seit Jahrzehnten.

Ihre ganze Geschichte ist niedergelegt in Form von Verträgen und Klauseln, manchmal suspensiv, oft offensiv, in Form von Paragrafen, Poststempeln, die maßgebliche Daten anzeigen, und anderen Schriftstücken, die in den lederbezogenen Schubfächern der riesigen Aktenschränke lagern.

»Die Aktiva Ihrer Frau Mutter belaufen sich auf eine Million Euro plus ihrer Villa an der Côte d’Azur, die auf siebenhunderttausend Euro geschätzt wird. Sie hat ihr Vermögen noch zu Lebzeiten einer Wohltätigkeitsorganisation vermacht – Sie erben demnach nichts.«

Maître Dorlaneau holt rasch Luft, bevor die Sprachlosigkeit seiner drei Klienten in lautes Geschrei umschlagen kann, und fährt fort.

»Es gibt jedoch eine aufschiebende Klausel in diesem Vermächtnis: Im Todesfall fällt Ihnen das Vermögen zu, sofern Sie alle drei nachweisen können, dass Sie innerhalb von fünf Monaten nach dem Tod Ihrer Mutter auf dem Jakobsweg von Le Puy-en-Velay nach Santiago de Compostela gepilgert sind, dabei die ganze Zeit zusammengeblieben sind und in denselben Unterkünften übernachtet haben.«

Wieder atmet er durch und spricht weiter – dennoch konnte ein überraschter Schrei des Entsetzens den Mündern von Pierre und Clara entweichen, ein »Was?!« voller Hass; es klang wie bei einer Ente, der man den Hals umdreht.

Der Maître beeilt sich, es besteht größte Explosionsgefahr.

»Für den Fall, dass Sie sich entscheiden sollten, diese Wanderung zu unternehmen, werde ich Ihnen jetzt Ihren Coach vorstellen, der von unserer Kanzlei und von der besagten gemeinnützigen Organisation ausgewählt wurde.«

Er steht auf und verschwindet hinter einer Tür.

Die Gewalt des Schweigens, das darauf folgt, erreicht ein unerträgliches Maß.

Claude hat sicherlich viel Alkohol hinuntergekippt, um das Ganze durchzuhalten, schwerfällig wiegt er den Kopf hin und her.

Clara und Pierre halten mit aller Kraft den Deckel ihres jeweiligen inneren Drucktopfs nieder, aber der Dampf steigt nach oben und will herausschießen.

Maître Dorlaneau kommt mit einem freundlichen Mann zurück.

»Darf ich Ihnen Guy vorstellen?«

»Guten Tag, meine Herrschaften, ich wäre Ihr Coach, wenn Sie sich zu dieser Reise entschließen sollten.«

Guy – ein schöner Mann mit sanften Augen, grau meliertem Kraushaar und schokoladenbrauner Haut – drückt sich mit ausgesuchter Höflichkeit aus.

Claude begrüßt ihn mit seligem Lächeln und glasigen Augen.

Beim Anblick des dunkelhäutigen Mannes, der ihr »Führer« sein soll, explodiert Pierres Drucktopf, keine Macht der Welt könnte dies noch verhindern.

»Also, erstens bin ich nicht gläubig, Pilgerwanderungen interessieren mich einen feuchten Dreck, und wenn es nach wie vor ein paar bigotte Mütterchen gibt, denen es Spaß macht, wie im Mittelalter zu leben, dann können sie das meinetwegen tun, mich aber sollen sie damit in Ruhe lassen. Zweitens habe ich gesundheitliche Probleme – Magengeschwür, Bluthochdruck, hoher Cholesterinspiegel, es kommt also überhaupt nicht infrage, dass ich eine Wanderung mache, und sei es auch nur eine Viertelstunde lang, der Handkarren, das Fuhrwerk, die Droschke, die Postkutsche, die Eisenbahn, das Auto, das Flugzeug und die Außenbordmotoren wurden doch nicht erfunden, damit wir wie die letzten Trottel zu Fuß mit dem Rucksack auf dem Buckel am Straßenrand entlangmarschieren. Drittens: Im Gegensatz zu meinem Bruder und zu meiner Schwester leite ich ein bedeutendes Unternehmen und schufte von morgens bis abends, ich habe Verpflichtungen, Bilanzen, Angestellte, Häuser, Steuern, Korrespondenz, Verantwortung, ein gesellschaftliches Leben, Sozialabgaben, Geschäftsreisen, Dringlichkeiten und eine Menge Leute, die sich auf mich verlassen. Ihre Pilgerwanderung können Sie sich also sonst wo hinschieben. Und bei aller Liebe zu meiner Mutter – ich nehme in meinem Alter doch keine Rücksicht auf die Hirngespinste einer alten Frau, die völlig von der Rolle war, finden Sie bitte eine Lösung, damit wir das Geld bekommen, das uns zusteht, und schicken Sie Ihren charmanten Coach dorthin zurück, wo er herkommt: auf die sonnige Insel, die er am besten niemals verlassen hätte.«

Guy lächelt weiterhin verbindlich: Beleidigungen an sich ablaufen lassen wie Wasser auf einer Regenhaut, sich nicht beirren lassen, ruhig bleiben, Beschimpfungen sprechen gegen den, der sie äußert…

Maître Dorlaneau verschanzt sich hinter der Mauer des Rechts und wartet, bis sich der Sturm gelegt hat.

Bei Pierre hat sich das Gewitter verzogen, doch Claras Donnerwetter grollt ganz leise, was ein fürchterliches Crescendo erahnen lässt.

Starr betrachtet Claude den kupfernen Kerzenständer auf dem Kaminsims über dem Kopf des Anwalts, der Alkohol ist ihm bis in die Fersen gesackt. Er scheint unter Wasser zu treiben, die Laute dringen nur mit Mühe zu ihm durch. Gut so. Es ist nämlich schlimm für ihn, die Stimme seiner Schwester zu hören, diese Stimme, die seine Ängste linderte und ihn umsorgte, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte und der Verlust zu schwer geworden war – diese Stimme, die ihm später mütterlich streng ins Gewissen redete und verhindern wollte, dass er weiter abglitt…

Clara reißt sich zusammen, zusammen, zusammen. Sie hat sich vorgenommen, auf keinen Fall einzugreifen, die Stimme nicht zu heben, auch ihre politischen Ansichten will sie für sich behalten, sie will nicht fluchen, jedweder Provokation widerstehen und jene Clara sein, die im Gymnasium bewundert wird – der Stolz des französischen Bildungswesens, die ausgeglichene, wundervolle Clara, die Meisterin in der Förderung von Schulversagern.

Doch der Druck steigt, das Temperament fordert sein Recht, die wundervolle Clara pfeift auf das Bildungswesen, und die kleine Clara schreit ihren Zorn in einem Gezeter hinaus, in dem hinter jedem Wort ein anderes, ein unaussprechliches Wort steht.

So viel Hass, so viel aufgestauter Groll haben ihr Herz verhärtet, so viele Erwartungen, so viele Hoffnungen und verdrängte Erinnerungen steigen wieder auf und schmerzen wie am ersten Tag.

»Jetzt mal langsam! Mein ganzes Leben lang habe ich in öffentlichen, nichtkonfessionellen Schulen unterrichtet, ich habe gegen religiöse Vorurteile gekämpft, gegen den Klerus, gegen Fortschrittsfeindlichkeit, gegen überkommene Ansichten, gegen Wallfahrten und den ganzen Unsinn, den die Kirche sich ausgedacht hat, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, und Sie verlangen von mir, ich soll nach Santiago de Compostela latschen? Noch dazu mit meinen Brüdern? Haben Sie sie denn nicht gesehen, meine Brüder? Der eine ist ein heruntergekommener, arbeitsscheuer Alki, der andere ein Workaholic, süchtig nach Erfolg – zwei Wracks, die nicht wissen, wann ihre Frauen und Kinder Geburtstag haben! Und was, bitte schön, soll ich dem Schulamt erklären, wenn ich zwei Monate einfach mal weg bin? Dass ich pilgern gehe? Ausgerechnet jetzt, wo das Kopftuchverbot für Schulen erlassen worden ist? Und wer soll sich um meine Klassen kümmern? Wer soll mein Gehalt bezahlen? Und mein Mann und meine Kinder – was mache ich mit denen? Mein Mann ist arbeitslos, ich bin Alleinverdienerin – ein Gehalt für vier Personen! Aber dennoch: Ich muss mein Dach neu decken lassen, ich brauche ein neues Auto, ich muss die Raten für die Spülmaschine und die Encyclopaedia Universalis bezahlen, also lasse ich den Sommerurlaub mit der Familie sausen und unternehme Ihre gottverdammte Wallfahrt. Denn ich bin wirklich auf das Geld angewiesen, nicht wie mein Bruder Pierre, der im Geld schwimmt und für den diese Erbschaft ein Klacks ist. Er hat uns nie auch nur einen Cent geliehen, weder mir noch meinem Bruder Claude. Nie. Selbst wenn wir am Verhungern wären – er würde uns nicht mal den kleinen Finger reichen, trotz seines BMW, seiner beiden Mercedes, seiner Dreihundert-Quadratmeter-Wohnung im sechzehnten Arrondissement, trotz seiner Jacht und seiner vier Ferienwohnungen. Und nun muss ich mich zwei Monate lang mit diesen beiden Schwachköpfen herumschlagen. Vielen Dank auch, Maman!«

Guy und Maître Dorlaneau halten den Mund. Schon beim kleinsten Wimpernschlag könnte der Sturm erneut losbrechen.

Claude starrt nicht mehr auf den Kerzenständer. Die Stille hat ihn plötzlich geweckt. Lange sucht er nach Worten, dann fragt er in die dicke Luft hinein, die aufgeladen ist von Claras Wut:

»Hm… Gibt es auch Kneipen in diesem Dingsda, in diesem Compost-was?«

Der Maître erhebt sich.

»Gut, ich überlasse Ihnen mein Büro, damit Sie sich besprechen können. Sie haben eine halbe Stunde Zeit, um zu einer Entscheidung zu gelangen.«

»Und warum nur eine halbe Stunde?«, will Pierre wissen.

Guy, höflich: »Weil ich anderen Interessenten mitteilen muss, ob es noch freie Plätze in der Gruppe gibt, die ich nach Santiago führe, und weil ich Betten in den Herbergen reservieren muss. Zu dieser Jahreszeit ist viel los auf dem Jakobsweg.«

Clara: »Aha, dann sind wir also nicht mal allein?«

Guy: »Nein, im Allgemeinen führe ich Gruppen mit acht Teilnehmern.«

Pierre: »Ich schlafe nicht in Herbergen, ich gehe ins Hotel, das kann ich Ihnen gleich sagen.«

Guy: »Bedauerlicherweise ist es nicht möglich, jedem ein Hotel zu bezahlen. Und nachdem Ihre Frau Mutter verfügt hat, dass Sie alle in denselben Unterkünften übernachten müssen, sind Sie leider verpflichtet… Aber gut, lassen wir Sie nun allein.«

Guy und der Anwalt verlassen das Büro und schließen die Tür hinter sich.

Gleich darauf erhebt sich lautes Geschrei, der Kampf zwischen den Geschwistern tobt.

Sie schreien ihren Hass, ihren Frust, ihre lange Feindschaft, ihre zerstörten Erinnerungen hinaus, sie schreien den Tod der Mutter und die geheime Freude hinaus, sich wiedergetroffen zu haben, und sie schreien hinaus, dass sie sich dieser Freude verweigern.

 

Später, als die Lungen erschöpft und die Worte erloschen waren wie heruntergebrannte Holzscheite, kehrten Guy und Maître Dorlaneau in den Raubtierkäfig zurück und setzten sich. Der Maître fragte in aller Höflichkeit, was sie nun zu tun gedächten.

»Wir machen es«, versetzte Clara entschieden, und Pierre widersprach ihr nicht.

Schnell sagte der Maître: »Ich freue mich über Ihre Entscheidung…Pierre, ich glaube, Ihre Geschwister dürfen sich bei Ihnen bedanken, denn Sie haben dieses Geld am wenigsten nötig… Damit machen Sie ihnen ein wunderschönes Geschenk.«

Er hatte zu hastig gesprochen und die Kluft nicht ausgelotet, die die Geschwister trennte.

Clara: »Ein Geschenk? Jetzt übertreiben Sie mal nicht! Er bekommt schließlich auch seinen Teil.«

Pierre: »Entschuldigen Sie, aber ich schenke niemandem etwas.«

Clara: »Sag ich doch!«

Pierre: »Schnauze! Ich schenke niemandem etwas…«

Clara: »Selber Schnauze!«

Pierre: »…ich mache diese Reise, um das zu bekommen, was mir zusteht. Es gibt überhaupt keinen Grund, warum ich den alten Jungfern eines Wohltätigkeitsvereins mein Geld in den Rachen werfen soll.«

Clara: »Da haben Sie Ihr Geschenk! Er ist ein Knicker und Knauser, ein Geizkragen, ein Gierschlund, was Sie wollen, aber ganz bestimmt kein Philanthrop.«

Der Maître: »Nun, man merkt, dass Sie Lehrerin sind, Philologin…«

Clara: »Ja, danke, ich verfüge über ein gewisses Vokabular.«

Und da zieht Guy die Liste heraus. Eine für jeden. Ein Blatt, auf dem minutiös alle Gegenstände vermerkt sind, die jeder auf den Jakobsweg mitnehmen sollte – die Essenz, die er aus jahrelanger Erfahrung destilliert hat, alles Überflüssige ist gestrichen, Schmerzhaftes ausgelassen, es gibt nur noch Platz für das Allernotwendigste.

»Das ist die Liste, nach der Sie Ihren Rucksack packen sollten.«

Behutsam legt er jedem künftigen Pilger ein Blatt hin.

Pierre schnappt es sich und überfliegt es mit Todesverachtung.

Clara faltet es zusammen und steckt es in ihre Handtasche.

Claude nimmt es mit den Fingerspitzen, wirft wohlwollend einen Blick darauf und legt es wieder auf den Schreibtisch.

Guy: »Wir treffen uns am nächsten Montag zwischen sechzehn und siebzehn Uhr auf dem Bahnhof von Le Puy-en-Velay. Also, dann bis Montag!«

Édith sitzt geistesabwesend auf der Bettkante.

Pierre ist stinksauer.

»Ich gehe nicht, kommt gar nicht infrage.«

Er pfeffert eine Packung Unterhosen auf den hochflorigen beigefarbenen Teppichboden.

»Ich gehe nicht, ich brauche doch dieses Geld nicht!«

Und er schleudert seinen brandneuen Rucksack quer durch den Raum.

»Mit welchem Recht zwingt sie uns, das zu machen? Mit welchem Recht eigentlich?«

Er hebt die Unterhosen wieder auf, legt sie aufs Bett.

»Sie zwingt mich dazu – das treibt mich an der Wand hinauf!«

»Zwingt dich deine Schwester?«

»Nein, meine Schwester doch nicht – meine Mutter! Meine Mutter zwingt uns mit ihrem verfluchten Testament dazu…«

»Aber sie ist doch tot.«

»Selbst im Tod zwingt sie uns noch ihren Willen auf. Ich gehe nicht, ich gehe nicht! Die können mich mal mit ihrem ganzen Mist!«

Er leert einen Rucksack voll mit Campingausrüstung auf dem Boden aus und tritt mit dem Fuß in dem Haufen herum.

»Aber du hast gesagt, dass du gehst, dann musst du doch jetzt auch gehen, oder nicht?«

»Ja, ja, ich muss, ich muss! Und dann muss ich auch noch in irgendwelchen Billigherbergen schlafen! Aber ich werde gehen, und ich werde in Billigherbergen schlafen! Lieber sterbe ich, als dass ich diesen beiden Schmarotzern ein Hotel bezahle…«

Édith steht auf und wankt zu ihrem entzückenden Frisiertisch aus den Dreißigerjahren, der kein einziges Kosmetikfläschchen enthält, dafür eine ganze Batterie alkoholischer Getränke.

Das sind Édiths Parfüms.

Sie gießt sich ein großes Glas Gin ein, leert es in einem Zug, füllt das Glas noch einmal und setzt sich wieder neben Pierre. Sie trinkt in kleinen Schlucken wie ein schläfriges Kätzchen. Pierre bittet sie liebevoll, nicht so viel zu trinken. Und genauso liebevoll erwidert sie, er solle sich keine Sorgen machen, alles sei gut.

Pierre ringt ihr das Versprechen ab, nicht zu trinken, während er weg ist. Édith verspricht, nicht zu trinken, solange er weg ist, und schlürft ihren Gin.

Pierre sieht sie an, sagt nichts mehr.

Wie Tausende und Abertausende andere Menschen, die noch immer zusammenleben, ein jeder in seiner eigenen Einsamkeit, verbindet die beiden etwas, vielleicht für immer, vielleicht nur für die nächste Viertelstunde: eine Kerbe, die so tief in ihre Herzen eingeschnitten ist, dass ihr Blut sich vermischt hat.

 

Sarah sieht aus wie Claude, nur als Mädchen. Die gleichen großen Augen, das gleiche lockige Haar, aber bei ihr ist alles noch fest, hübsch und zart, nicht so erschlafft wie bei Claude.

Wie kann ein so bildhübsches Mädchen diesem verwahrlosten Vater so ähnlich sehen? Im Café gegenüber dem Gymnasium wartet sie auf ihn, lauert ihm auf mit traurigem Blick, der in alle Richtungen schweift. Woher wird er kommen? Wird er überhaupt kommen? Warum hat er mich angerufen? Sicherlich soll ich ihm Geld leihen, wie immer. Wie kann es sein, dass ein Mann, der so darunter gelitten hat, dass sein Vater ihn verließ, nun seinerseits alle seine Kinder verlassen hat? Warum beginnt alles immer wieder von vorn? Wann wird das endlich aufhören?

Manchmal vergehen zwei Jahre, ohne dass sie ihn trifft, daher erwartet sie nichts mehr von ihm – nicht von ihm und nicht von anderen Menschen.

Doch da kommt er und lächelt glücklich, als er sie sieht. Sie fragt sich jedes Mal, wie er so lächeln und sich so verhalten kann. Er überschüttet sie derart mit Komplimenten wegen ihrer unvergleichlichen Schönheit, dass es ihr fast peinlich ist. Sie wartet darauf, dass er ihr die Summe nennt, um die er sie bitten will; sie empfindet keinen Hass, die Jugend ist unendlich nachsichtig. Sie liebt dieses Gesicht und diese Stimme, ihre Wut ist schon seit Langem verraucht.

»Wie geht’s?«

»Du kommst eine halbe Stunde zu spät, Papa.«

»Ich weiß, aber die Staus…«

Sarah regt sich nicht auf, aber ist es erniedrigend, dass er sie ständig für dumm verkaufen will.

»Du hast kein Auto, Papa.«

»Nein, aber der Bus…«

Der Kellner kommt. Sarah bestellt ein Perrier-Rondelle, Claude einen Whisky, ach was, warum nicht gleich einen doppelten…

Auf die Bestellung folgt beredtes Schweigen.

»Oma ist tot.«

»Ich weiß«, sagt Sarah.

Sie weiß auch, dass es ihm egal ist; dass er für seine Mutter nichts empfunden hat, dass er sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Sie betrachtet seine gelichtete Stirn und fragt sich, ob auch sie eines Tages nichts mehr für ihren Vater empfinden wird und wie so etwas möglich sein kann.

Claude entschließt sich, die berühmte Frage zu stellen. Wenn es darum geht, dem Alkohol zu widerstehen, hat er alle Ausflüchte der Welt parat, doch wenn er sich Geld leihen will, legt er Entschlossenheit an den Tag.

»Du musst mir hundert Euro leihen, nur hundert. Ich brauche eine Bahnfahrkarte. In zwei Monaten bin ich reich, ich schwör’s dir.«

»Ich habe keine hundert Euro.«

»Frag deine Mutter.«

»Maman liehe dir nicht mal einen Cent.«