19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €
Ein Blick hinter die Kulissen einer Überwinterung auf Neumayer III Wenn draußen der Sturm tobt und die Polarlichter vor dem Fenster tanzen, fühlt Aurelia Hölzer sich geborgen und lebendig. Nichts Schöneres kann sie sich vorstellen, als gemeinsam mit ihrem Team die Abgeschiedenheit auf der antarktischen Forschungsstation Neumayer III zu erleben. Eine Liebeserklärung ans Leben im Eis In »Polarschimmer« lässt die Chirurgin uns am oft etwas wunderlichen Alltag im Eis und auf der Forschungsstation teilhaben. Sie gibt Einblicke in die einzelnen Arbeits- und Forschungsbereiche, Hintergründe zur Tierwelt in einem fragilen Ökosystem, und erklärt, wie diese einzigartige Station funktioniert. Liebevolle Naturbeschreibungen treffen auf Stahl und Technik Dabei ist die Realität nicht nur romantisch-heimelig. Sieben Monate lang ist das neunköpfige Team in ihrem ungewöhnlichen Zuhause ganz auf sich gestellt und hätte selbst im Notfall keine Möglichkeit zu evakuieren. Ein inspirierender Bericht über ein außergewöhnliches Jahr. »›Polarschimmer‹ kann ich wirklich nur empfehlen.« Bettina Tietjen, NDR DAS! Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:
www.malik.de
Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Polarschimmer« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
Mit 74 farbigen Abbildungen, einer Infografik und einer Karte
Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.
Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wird auf die geschlechterspezifische Schreibweise sowie auf eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen in diesem Buch sind somit geschlechtsneutral zu verstehen. Die verkürzte Sprachform des generischen Maskulinums hat rein redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.
© Piper Verlag GmbH, München 2024
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Coverabbildung: Michael Trautmann
Eisschema-Infografik: Liliana Camacho
Zeitstrahl-Infografiken: Angelika Tröger
Bildteilfotos: Michael Trautmann, außer anders angegeben
Karte: Marlise Kunkel, München
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.
Cover & Impressum
Karte der Atka-Bucht und der Neumayer-Station III
Vorwort
Prolog
Ins Eis
Polarforschung
Vorbereitung für die Zeit im Eis
Anreise
Neulinge in der Antarktis
Einarbeitung
Sag’s lieber nicht dem Klaus
Risiko
Station Neumayer III
Feuerwehr
Das Schelfeis lebt
Übergabe
Abreise der Sommerbewohner
Gemeinsam allein
Einrichten
Der Winter naht
Hat eigentlich schon jemand die Piloten gefüttert?
Vom Glück des Polarvirus
Am Polarforschungsinstitut
Die SPUSO
Hannes
Wärme, Strom und Wasser
Katrin
Eiskrachen
Sorglosigkeit
Einhörner
70 Grad Süd, 8 Grad West
Aus unserem Stationsleben
Besuch von der Polarstern
Sicherheit in Kälte und Wind
Bibliothek im Eis
Wenn der Spieltrieb durchgeht
In der Kathedrale der Geophysik
Benita
Erste Polarlichter
Im schwindenden Licht
Aus unserem Leben zu neunt
Die kleinen Plagen
Tropenparadies
Alltag im schwindenden Licht
Zum kalten Hirsch
Internationales antarktisches Ärztenetz
Vampire Station
Markus
Whiteout-Freuden
Es wird stiller, dunkler, wilder
Ostern
Die Kälte kann kommen
Meteorologie
Wohlfühlen
Werners Welt
Werner
Tierwunder
Versorgt sein, Scheinbesitz und Sittenverfall
Unausweichlichkeit
Alicia
Ein treues Rohr wird Geschichte
Karsten
Kommunikation
Sturm, Rouladen und lockere Schrauben
Winternacht
Glück am Ende der Welt
Der Himmel geht auf
Micha
A smooth sea never made a sailor
Auf dem Meereis
Endlich Polarnacht!
Entschuldigung, zurzeit gestört
Weltraummedizin
Über Nacht bei den Pinguinen
Winteraktivitäten
Aus der Mittwinterzeit
Polarforschung im Dunkeln
Aus dem Polarnachtleben
Adrenalin
Hellere Tage
Der Zauber des Eises und der Finsternis
Zeitrand
Deprimierende Abende
Sonne
Aufwachen
Radio und die Welt
Die Küken sind da!
Antarktisches Winterfilmfestival
Die Kälte fordert ihren Tribut
Third-Quarter-Phänomen
Alltag im zunehmenden Licht
Eis, Wind und Vergänglichkeit
Der Sommer naht
Wetterkunde
Neues von den Nachbarn
Sommervorbereitungen
Sommer
Menschen!
Im Eisbergrausch
Sturmfrei
Beginn der Sommersaison
Im Bienenstock
Auf Exkursion mit dem Robbenteam
Geburtstag
Die Neuen kommen
Poltergeist
Feiertage
Schiffsanlauf
Übergabe
Das Ende unserer Zeit
Abschied in Wellen
Epilog
Dank
Glossar
Eisschema-Infografik
Bildteil
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Den antarktischen Kontinent zu besuchen, ist auch für Polarforscherinnen wie mich immer wieder etwas Besonderes. Die Antarktis brach vor knapp 50 Millionen Jahren von Australien ab, verdriftete und vereiste. Allein der Weg dorthin macht die Dimensionen des Südozeans und dieses Kontinents klar. Wenn man sich der Antarktis nähert, sieht man zuerst imposante Eisberge, dann das Meereis, das den Kontinent umschließt. Es wird gerade immer weniger, sodass man an manchen Stellen schon direkt die Küste erreichen kann. Je nachdem, ob und wo man per Schiff oder Flugzeug anreist, tauchen schließlich die Inseln der Antarktis auf oder das dicke Schelfeis, das die Küste umgibt, oder man landet gleich auf dem kilometerdicken Eisschild der Antarktis, aus dem nur wenige Bergspitzen ragen.
Alexander von Humboldt schrieb in seinem Buch Kosmos über diesen besonderen Naturgenuss, der uns Menschen durch die Betrachtung völlig unbekannter Landschaften zuteilwerde. Er sah einen Zusammenhang zu Sehnsüchten, Fantasien und Gefühlen der Kindheit, aber auch zur Neugierde und zur Vernunft, die dem Forschungsprozess zugrunde lägen. Auch bei Aurelia Hölzer setzte die Sehnsucht nach der Welt aus Eis und Schnee bereits in ihrer Kindheit ein. Als chirurgische Oberärztin bahnte sie sich den Weg zu unserer deutschen Antarktisstation und verbrachte im Team der Überwinterer ein Jahr auf Neumayer III.
Mit ihren einmaligen Erlebnissen und Empfindungen, ihrer Begeisterung für die polare Landschaft und die Teamarbeit auf der Forschungsstation nimmt sie uns Lesende auf eine ebenso abenteuerliche wie erkenntnisreiche Reise mit, entführt uns entlang ihrer persönlichen Beobachtungen in diese besondere Welt. Wir können eintauchen in ihr Erleben, Staunen, ihre Begeisterung. Wir haben teil an der schweren Arbeit vor Ort und dem Wandel durch die Jahreszeiten. Wir lernen das Team der Überwinterer kennen, die in kurzen Porträts vorgestellt und gewürdigt werden. Aurelia Hölzer erzählt, wie sie die Monate in der absoluten Abgeschiedenheit bewältigen – und dabei Forschung auf Spitzenniveau betreiben. Sozusagen im Vorbeigehen erläutert sie auch die verschiedenen Beobachtungsstationen und Zeitreihen an Neumayer und vermittelt die Methode Polarforschung so klar und eindrücklich wie auch ihre eigenen Aufgaben als Ärztin und Stationsleiterin vor Ort.
Heute gibt es mehr als 80 Forschungsstationen auf dem Kontinent. Mit Satelliten und Flugzeugen beobachten die Menschen seine Gletscher, mit Forschungsschiffen vermessen sie das Südpolarmeer von seinen Buchten bis zu den Tiefseegebirgen. Die Wissenschaftler vor Ort werden unterstützt von Köchen, Ärzten und einer Vielfalt von technischen Kollegen. Alle haben viel zu tun, besonders, wenn sie über den Winter bleiben und in der monatelangen Dunkelheit, Kälte und dem Extremwetter der Natur ihre Geheimnisse abtrotzen. Denn noch haben wir Menschen kein umfassendes Verständnis von der Vielfalt des Lebens im Südpolarmeer gewonnen und auch noch nicht von der Rolle des Kontinents und seines Eises in unserer Entwicklung. Zu den großen Fragen gehört, wie die Antarktis auf die Klimaerwärmung reagieren wird, wie weit das Meereis schwindet, das Schelfeis bricht und Eismassen von Land ins Meer verloren gehen. Und ob es uns gelingen wird, die einzigartige Vielfalt des Lebens zu bewahren. Mit Aurelia Hölzers Buch können Sie selbst auf Entdeckungsreise gehen und herausfinden, wie heute in der Antarktis geforscht, gearbeitet und gelebt wird – vor allem aber können Sie sich von ihrer Begeisterung für die Landschaft aus Eis und Schnee anstecken lassen. Viel Freude dabei!
Prof. Dr. Antje Boetius
Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Es ist so weit. Micha, Werner und ich stecken schon in den Überlebensanzügen, der fürsorgliche Hubschraubertechniker kontrolliert noch schnell, ob sie wasserdicht sitzen. Fest umarmen wir unsere Teamkameraden, die später nachkommen. Es ist eigenartig, nach all der gemeinsamen Zeit voneinander getrennt zu werden. Jetzt geht es Schlag auf Schlag: Gepäck hinten in den Hubschrauber hineinschmeißen, Helme aufsetzen, einsteigen, anschnallen, und schon heben wir ab, schweben einen Moment lang neben dem Schiff, wo unsere Freunde an der Reling stehen und uns zum Abschied winken. Dann drehen wir ab, die Polarstern entschwindet. So viele gute Wünsche begleiten uns: »Haltet die Ohren steif und bewahrt euch euer fröhliches Lachen«, »Seid nett zueinander«, »Zieht euch warm an«, »Passt gut aufeinander auf und bleibt gesund«, »Schön, dass ihr an Bord wart«, »Ihr werdet uns fehlen«, »Bis in einem Jahr.«
Wir fliegen zügig über offenes Wasser dahin. Kaum Eisschollen in Sicht. Micha, Werner und ich drücken uns die Nasen an den Scheiben platt. »Fliegen ist Ruhe und Spaß«, sagte der niederländische Chefpilot vor dem Abheben. Von Ruhe keine Spur, so viel steht fest, wir sind viel zu aufgeregt. Heute werden wir schließlich ausgeflogen zu unserem neuen Zuhause, werden ausgesetzt auf einem Kontinent, der im Grunde unbesiedelt ist und den niemand von uns bisher betreten hat. Jetzt sehen wir in der Ferne das Schelfeis auftauchen, fliegen über einen zerborstenen Eisberg, der in atemberaubenden Formationen unter uns hindurchzieht, leuchtende Eisbrocken, türkisfarbene Canyons. »Isn’t the world beautiful!«, sagt der Pilot durch. Das ist sie wirklich, die Welt, wunderschön.
Schon fliegen wir über die Schelfeiskante und sehen jetzt nur noch Eisfläche: kahl, flach, weiß, wohin man auch schaut. Und da hinten ist sie, die Neumayer-Station! Ein Stahlkasten auf Stelzen im endlosen weißen Nichts, drum herum Pistenbullys und Frachtcontainer. Sieht tatsächlich aus wie in den Dokus, fährt es mir durch den Kopf. Ruckzuck sind wir da, fliegen einen Kreis um die Station herum, sehen unten kleine Menschlein stehen, die uns winken, und landen butterweich. Die Tür geht auf, und nun heißt es rausspringen und Gepäck ausladen – bei laufendem Hubschrauber. Der Heli-Techniker passt auf, dass in der Aufregung niemand in den Heckrotor läuft. Und da kommen sie schon durch den Schnee gestapft, uns entgegen, die Altüberwinternden in ihren roten Polaranzügen. Ihre Ablöse ist da. Wir sind die Neuen. Wir umarmen uns, und sie packen gleich beim Gepäck mit an.
Vor der Station wurde zu unserem Empfang eine großzügige Eisbar gebaut, dort stehen freundlich-neugierige Menschen. Ich gehe herum, sage »Hallo«, »Ich bin Aurelia«, »Hallo, ich freu mich, dass wir endlich da sind, hallo«. Ich kann mir kaum einen Namen merken, gehe an die Bar, nippe an irgendwas, rede mit irgendwem. Im Grunde geht der Rest unter in völligem Überwältigtsein. Nach und nach kommen unsere Teamkameraden an. Hubschraubergeknatter, Kreis um die Station, Landung, Gepäck ausladen, Umarmungen. Schließlich sind wir alle neun angekommen und können es kaum glauben, dass wir tatsächlich hier sind. Was für ein Ort!
Um uns herum ist alles flach und weiß, strahlt aber eine Intensität aus, die ich so noch nie erlebt habe. Ich bin mir kaum sicher, ob das hier noch der Planet Erde sein kann, so fremd ist es, so gigantisch und seltsam. Beim Anblick dieser Eiseinöde muss ich mich innerlich zusammennehmen, muss diese Atmosphäre regelrecht auf Abstand halten. Das soll nun unser Zuhause sein? Fühlt sich mitnichten danach an, dieser technische Kasten im schreiend reinen, unbegreiflichen Nichts. Es ist so eigenartig und zugleich unwirklich schön, dass ich es nicht mal annähernd erfassen kann. Heimelig ist es jedenfalls nicht. Ich bin fassungslos, überfordert und begeistert zugleich. Unser Koch Werner und ich fallen uns immer wieder ungläubig um den Hals. Wir sind da. Wie irre, wie unglaublich. Wie wahnsinnig gut, dass wir uns beworben haben, dass wir den Mut hatten, unsere Hüte in den Ring zu werfen, beglückwünschen wir uns gegenseitig. Ist das krass hier! Wir schauen uns wieder und wieder um. Einfach nicht zu fassen! Es fühlt sich an, als hätte jemand die Stopptaste der Welt gedrückt. Als hätte alles angehalten, vielleicht sogar aufgehört zu existieren – bis auf meine eigene kleine Existenz, die in diesem überwältigend präsenten Nichts weiter vor sich hin dudelt wie ein übrig gebliebenes Radio, unpassend, fehl am Platz. Ich bin unfähig, alles einzuordnen, stehe neben mir, überfordert von diesem überwältigenden Ort, erschöpft auch von schlafarmen Nächten auf dem Schiff und einem Marathon emotionaler Abschiede. So gebe ich den Widerstand auf und nehme meinen seltsamen Zustand einfach hin.
Jetzt bin ich hier, in dieser endlosen weißen Weite von surrealer, intensiver Schönheit – vollgestellt mit Technik. Willkommen an Neumayer, Antarktika.
Es ist der 17. Januar, Polarsommer. Ein Jahr liegt vor mir an diesem unwirklichen, eigenartigen Ort. Eine Überwinterung in totaler Abgeschiedenheit ohne die Möglichkeit, zu evakuieren oder abzubrechen, alleine hiergelassen mit meinem Team. Es erscheint mir jetzt unglaublich. Ich kenne Eis und Schnee und Einsamkeit, doch dies ist völlig anders. Bei aller Begeisterung fühlt es sich nicht an wie ein Platz, an dem man zu Hause sein kann, es mutet so fremd an, so außerirdisch. Trotz umfassender Vorbereitung trifft mich die Antarktis völlig unerwartet. Nie gefühlt, nie gesehen, alles unbegreiflich.
Der 1. August ist ein großer Tag. Heute lerne ich die Menschen kennen, mit denen ich die nächsten eineinhalb Jahre verbringen werde. Mit denen ich in der Antarktis überwintern werde, in einem einzigen Haus, unentrinnbar gemeinsam, ausgesetzt auf einem uns unbekannten Kontinent. Denen ich in aller Absolutheit mein Leben und ein großes Stück meines Frohseins in die Hände legen werde und sie mir ihres. Acht Menschen, die wie ich bereit sind, in Eis und Schnee zu ziehen, sich auf eine ihnen unbekannte Welt einzulassen – und aufeinander. Bisher weiß ich nichts von ihnen, außer dass es sie gibt. Irgendwo laufen sie schon herum, sind wie ich auf dem Weg nach Bremerhaven, wo wir unsere gemeinsamen WGs für die Vorbereitungszeit beziehen. Vier Monate lang werden wir hier miteinander wohnen und in allen speziellen Belangen vorbereitet werden für ein Leben in der Antarktis und das Arbeiten auf einer Forschungsstation. Ich selbst werde in unserer Überwinterung die Leitung innehaben und zusätzlich die Ärztin und Chirurgin sein für alles, was passieren mag. In wenigen Stunden werde ich wissen, mit welchen Menschen ich in dieses Abenteuer aufbrechen werde, mit wem ich das teilen werde, was als großes Unbekanntes vor uns liegt.
Schon die Bahnfahrt nach Bremerhaven ist aufregend. Jeder Regentropfen an der Scheibe ist heute interessant, jedes Norddeutscherwerden der Landschaft verheißungsvoll. Beim Umsteigen in Hannover könnte ja schon jemand von meinen Mitüberwinternden in den gleichen Zug nach Bremerhaven steigen, überlege ich. Ich tigere am Bahnsteig entlang, verstohlen auf der Suche nach Menschen, die viel Gepäck haben und aussehen, als hätten sie Aufregendes vor sich. Eine rundliche, sportlich wirkende Frau Mitte dreißig käme meiner Meinung nach infrage. Ich stelle mich in ihre Nähe, unschlüssig, ob ich sie ansprechen soll, bin ungewohnt schüchtern heute. Immer wieder starre ich zu ihr hinüber, bis sie, leicht irritiert, ihre Sachen nimmt und sich woanders hinstellt.
Bremerhaven. Im Gebäude D des Alfred-Wegener-Instituts Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung hole ich die Wohnungsschlüssel ab. »Ihre Mitbewohnerin war auch schon da«, sagt der Pförtner, als er mir die hinterlegten Schlüssel überreicht. Sofort bin ich wieder aufgeregt. Wer sie wohl ist? Mindestens noch eine Frau ist also dabei. Natürlich wäre ich auch als einzige Frau gefahren, aber es macht trotzdem einen Unterschied. Ich fahre zur angegebenen Adresse und bin gerade dabei, die Haustüre aufzuschließen, als es hinter mir ruft: »Ja hallo, überwinterst du vielleicht?« Ich habe, Bremerhaven im Hochsommer, Skistöcke an meinen Rucksack geschnallt. Als ich mich umdrehe, steht da ein drahtiger Kerl und strahlt mich an. »Servus, ich bin der Werner, ich bin der Koch. Und wer bist du?«
»Ich heiße Aurelia, ich bin die Chirurgin«, stelle ich mich vor. Wir lachen beide und schleppen unsere Sachen hinein. Auf drei Stockwerken sind wir in den WGs untergebracht. Als ich, äußerst gespannt, die Tür der Wohnung »Seefalke« aufschließe, ist meine Mitbewohnerin ausgeflogen. Sportlich aussehendes Gepäck steht sehr ordentlich im Flur, in der Küche findet sich ein Zettel: »Hallo, ich bin Katrin …« Sie ist noch mal in die Stadt gegangen und überlässt mir die Zimmerwahl. Der Zettel endet mit: »Ich bin ein bisschen aufgeregt.« Sie klingt sehr nett. Und aufgeregt sind wir alle! Werner und ich setzen uns gleich in seine Küche, trinken Kaffee und schwatzen. Die Wohnungstüre lassen wir offen. Immer wenn wir unten den Schlüssel im Schloss hören, flitzen wir ins Treppenhaus, um den nächsten Neuankömmling abzufangen.
Abends sind wir komplett, die Küche ist voller strahlender Gesichter, voller Aufregung, Vorfreude und Neugier. Jeder stellt sich kurz vor und erzählt ein wenig von sich. Da ist Katrin, meine Mitbewohnerin. Sie ist Seefahrerin und 40 Jahre alt. Sie hat die technische Leitung inne und ist meine Stellvertreterin als Stationsleitung. Von Haus aus ist sie Schiffsbetriebsingenieurin und war zuletzt Erste Ingenieurin auf einem riesigen Kreuzfahrtschiff. Sie hat schon auf vielen Kontinenten gelebt, liebt Technik und Tüfteln, kann enorm gut segeln, isst gerne Eis mit Sahneberg und spielt Klassische Gitarre. Sie trägt eine große Verantwortung, denn wenn sie es als letzte technische Instanz nicht gebacken bekommt in der Antarktis, wird es für uns alle kalt und dunkel werden.
Dann ist da Hannes, 32, seines Zeichens Umweltwissenschaftler. Er ist frisch aus Schweden angereist, liebt Schnee, Eis und unberührte Natur und wird in der Antarktis das luftchemische Observatorium betreuen, bei dem klimawirksame Gase und Aerosole gemessen werden. Hobbys: viele. Unter anderem Schnitzen, Brotbacken und Eisbaden in zugefrorenen schwedischen Seen. Außerdem kann er mehr Chili im Essen vertragen als wir alle zusammen und ist, wie wir später noch erkennen werden, ein exzellenter Schlösserknacker.
Da ist auch Michael, 27. Er kommt aus dem Bremerhavener Umland, liebt Australien, Sonne, Partys, Reisen und ganz besonders die Fotografie. Er ist unser Elektroingenieur und wird sich nicht nur um die Elektrik an der Station, sondern auch um die Wartung der Motorschlitten und viele andere technische Belange kümmern.
Benita ist Geophysikerin und 26 Jahre alt, kommt gebürtig aus dem schwäbischen Ellwangen (das Schwäbische ist ihr wichtig), ist sehr sportlich und liebt prachtvoll hergerichtetes veganes Essen. Sie malt viel, klettert für ihr Leben gern und hat schon in Nepal Berge bestiegen.
Karsten kommt aus Brakel in Ostwestfalen-Lippe, ist 32 Jahre alt und unser IT-Ingenieur und Funker. Er wird nicht nur dafür sorgen, dass die viele IT auf der Forschungsstation läuft, sondern auch dafür, dass wir Kommunikation nach draußen, in den Rest der Welt, haben und die wissenschaftlichen Messdaten an unser Institut und in die weltweiten Netzwerke übertragen werden. Er ist Einsatztaucher, engagiert sich beim Katastrophenschutz, liebt Tüfteln, Basteln und Funken und hat einen schier unerschöpflichen Fundus an Witzen, wie schon bald klar wird.
Alicia ist Geophysikerin, 25 Jahre alt und war bisher beruflich vor allen Dingen auf Vulkanen unterwegs. Zusammen mit Benita ist sie in der Antarktis für Erdbeben und das Erdmagnetfeld zuständig. Sie ist leidenschaftliche Akrobatin und ganz nebenbei eine Ideenschleuder für Spiele, Spaß, Kreativität und alle Dinge, die das Leben schöner und fröhlicher machen.
Werner, 60, ist unser Koch und mit allen Wassern gewaschen. Er kann von der Dorfkaschemme bis zum Schweizer Fünfsternehotel alle kulinarischen Klaviertasten spielen und hat schon die wildesten Sachen erlebt. So ist er zum Beispiel mit dem Motorrad um die halbe Welt gefahren und wurde schon an der Copacabana überfallen. Viele Jahre hat er eine gehobene Betriebskantine geleitet, aber jetzt hat’s ihm gelangt. Als ich ihn frage, ob es problematisch sei, dass ich Vegetarierin sei, meint er nur: »I wo. Mir doch egal, was einer isst. Ich koch alles.« Das soll sich auch für Benita als wahrer Segen erweisen.
Schließlich ist da Markus, 42, unser Meteorologe. Eigentlich ist er gar kein Meteorologe, sondern promovierter Quantenphysiker und nebenher passionierter Segelflugpilot, daher hat er solide Wetterkenntnisse. »Ich war halt wahnsinnig genug, mich zu bewerben, und die waren wahnsinnig genug, mich zu nehmen«, stellt er sich vor und strahlt über das ganze Gesicht. Er hat an Dunkler Materie geforscht, liebt jede Form von Kreativität und Spontaneität, mag anspruchsvolle Filme und hat eine Schwäche für Mitternachtssnacks.
Und dann bin da noch ich, 42 Jahre alt und die Ärztin und Leitung des Teams. In einem idyllischen Bergdorf im Südschwarzwald aufgewachsen, studierte ich später in Freiburg, Bordeaux und Trinidad Medizin. Zunächst zog es mich in die Allgemein- und Unfallchirurgie, dann spezialisierte ich mich auf Gefäßchirurgie und war Oberärztin an einem Universitätsklinikum mit großem Behandlungsspektrum. Schon immer liebte ich ein facettenreiches Leben. Die Stille in unberührter Natur hat es mir ebenso angetan wie Livemusik in einer pulsierenden Großstadt. Besonders gern bin ich auf Reisen, liebe die Offenheit daran, den Perspektivwechsel und die Komik der manchmal absurden Situationen. So fand ich mich schon dabei wieder, mit einem Fahrrad auf der Suche nach einem Viehmarkt durch die Steppe in Burkina Faso zu radeln, in China in einer Karaokebar im Duett zu singen und in Myanmar in einem buddhistischen Schweigekloster zu meditieren. Ich mag Gemeinschaft und Geselligkeit, und ich trage gern Verantwortung.
Hier sind wir also, das Team der 42. Überwinterung der Neumayer-Station. Wir sind die neuen »ÜWIs«, das ist kurz für Überwinternde. Auf Anhieb fühlen wir uns wohl miteinander. Bis spät sitzen wir in der Küche, erzählen uns voneinander und schmieden bei viel Gelächter großzügige Pläne, was wir alles auf die Beine stellen werden, wenn wir gemeinsam in der Isolation im Eis wohnen: Sterne-guck-AG, Platzwunden-Nähkurs, Schwäbisch als Fremdsprache, Quantenphysik für Niedrigbegabte, Schweißworkshop eins, zwei und drei, Funken für Anfänger, Akrobatik-AG, Yoga und Work-outs, Topfdeckelorchester, Brotbacken, das kleine Einmaleins der schwarzen Löcher, Bilder malen, Gruselfilme drehen, Eisskulpturen machen … und heimlich den 28-Stunden-Tag einführen, wenn alle mehr schlafen wollen in der Polarnacht (das merkt doch sowieso niemand in Europa …).
Während wir um den Küchentisch sitzen und Pläne schmieden, drängt sich uns das Szenario auf, was wäre, wenn wir nicht wieder abgeholt würden, möglicherweise vergessen da unten im Eis. Oder aber die zivilisierte Welt ginge zwischenzeitlich unter, und niemand könnte mehr zu uns kommen. Würden wir dann dortbleiben und eine neue Gesellschaft gründen, die antarktisch spricht? Könnte man eine Pinguinfarm betreiben, oder würden wir jemanden aufessen und wen zuerst? Die Wahl fällt gleich auf Alicia, unsere Jüngste, denn wir anderen wären schon zäher zu kauen. Oder suchten wir uns eine solide Eisscholle und versuchten, mit dem Windrad als Antrieb nach Punta Arenas an der Südspitze Chiles zu entkommen? Die Küche dampft nur so vor Ideen und Fröhlichkeit. Als ich später erschöpft in die Federn sinke, schreibe ich noch schnell meiner Schwester: »So tolle Leute, alle miteinander. Wir haben viel gelacht, Pläne geschmiedet, verrückte Ideen gewälzt und uns gegenseitig Raum gelassen.«
Der Grund, warum wir neun ins Eis gehen, unsere Daseinsberechtigung in der Antarktis, ist die Wissenschaft. Weil die Forschungsstation auch von technischer Seite betrieben und betreut werden muss, braucht es zusätzlich zu den Wissenschaftlern die Ingenieure. Und weil dort Menschen ohne jegliche Infrastruktur drum herum leben, braucht es einen Profi für Lebensmittel und Essen und darüber hinaus einen Arzt für die medizinische Versorgung.
Warum muss man ausgerechnet diese unwirtlichen Orte so gut erforschen, die doch so weit weg und weitestgehend unbesiedelt sind? Bis vor Kurzem war mir noch gar nicht bewusst, wie immens wichtig und wie unglaublich interessant die Polarforschung ist, wie relevant gerade die Polarregionen für das System Erde und uns Menschen sind.
Die Polarregionen haben, das lerne ich jetzt, eine Schlüsselfunktion für unser Klima. Sie treiben Wind- und Meeresströmungen an, die um die ganze Erde ziehen und auch unser Klima in den gemäßigten Breiten beeinflussen. Eis, Ozean und Atmosphäre sind dabei miteinander verbunden wie ein erdumspannendes, sensibles Mobile. Es ist alles mit allem verwoben. Veränderungen wirken sich auf das ganze System aus – und damit auch auf uns in Mitteleuropa. Unser Klima wird maßgeblich in den Polarregionen gemacht, daher ist es elementar wichtig, sie zu verstehen. Nicht zuletzt, um vorhersagen zu können, wie unsere Welt von morgen aussehen wird.
Antarktis ist die Bezeichnung der imposanten Region jenseits von 66°33’ südlicher Breite, die aus Eis, Land und Meeresgebieten besteht, abgelegen und im Grunde unbesiedelt ist. Antarktika, wie der Kontinent ohne das zugehörige Meeresgebiet genannt wird, ist der kälteste, windigste und trockenste aller Erdteile. Er ist von kilometerdicken Eismassen bedeckt, die bis ins Meer hineinragen. Der Zirkumpolarstrom, der die Antarktis umfließt, ist der mächtigste Meeresstrom der Erde. Über ihn sind der Pazifische, der Atlantische und der Indische Ozean miteinander verbunden. Gigantische Wassermassen umströmen, von mächtigen Westwinden angetrieben, den antarktischen Kontinent und dienen als Schwungrad der erdumspannenden Meeresströmungen. Der antarktische Zirkumpolarstrom dient auch dem Golfstrom als Motor, der das Klima in unseren Breiten maßgeblich prägt. Dabei betreibt der Golfstrom gewissermaßen Wärmepiraterie, indem er auf der Südhalbkugel die Wärme stiehlt und sie zu uns in den Norden und nach Europa bringt. So hilft er, die Südhemisphäre relativ kühl zu halten. Der Zirkumpolarstrom spielt darüber hinaus eine wichtige Rolle bei der Nährstoffverteilung der Ozeane und somit bei der Ernährung riesiger mariner Ökosysteme und trägt dazu bei, dass Kohlendioxid in der Tiefsee gespeichert werden kann.
Ähnlich verhält es sich bei Wind und Wetter. Kalte, ablandige Fallwinde, die vom eisbedeckten Kontinent herunterwehen, sind die stärksten Winde weltweit, sie können bis zu 300 Kilometer pro Stunde erreichen und beeinflussen das Windsystem der Erde. Sie spielen auch eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Meereis, das wiederum enorm klimawirksam ist. Es reflektiert wärmende Sonneneinstrahlung und ist beteiligt an der Entstehung des antarktischen Bodenwassers im Südozean, das wiederum für den Antrieb der großen Meeresströmungen von Bedeutung ist.
Die Zusammenhänge sind vielfältig und wirkmächtig. Uns betrifft ganz unmittelbar, was in der Antarktis passiert, jetzt und auch in Zukunft. Deswegen wird die Neumayer-Station III betrieben. Sie steht zwar »am Ende der Welt«, aber an einem wichtigen Forschungspunkt im Eis, dort, wo man bedeutende Mosaiksteine für das Gesamtverständnis von Erde und Klima bekommen kann. 365 Tage im Jahr ist sie rund um die Uhr besetzt – demnächst von uns. Es wird unsere Aufgabe sein, die jahrzehntelangen kostbaren Messreihen weiterzuführen und die Station am Laufen zu halten. Darauf und auf das Leben in der Antarktis werden wir in den nächsten vier Monaten vorbereitet, ehe wir Ende Dezember Richtung Antarktis aufbrechen werden.
Die Vorbereitungszeit für die Überwinterung ist vielfältig und anspruchsvoll. Die unterschiedlichsten Dinge lernen wir nun für unsere Zeit in der Antarktis, denn wir müssen für alle Eventualitäten, die dort irgend anfallen können, vorbereitet sein. Es kann in der Überwinterung niemand zu uns kommen, um zu helfen. Acht Monate lang werden wir geografisch vom Rest der Welt abgeschnitten sein. Das Meer ist über viele Hundert Kilometer mit Packeis bedeckt, das nur im Sommer aufbricht. Hier ist für Schiffe kein Durchkommen, noch nicht einmal für Eisbrecher. Flugzeuge, die auf Schnee landen können, sind nur sommers vor Ort, danach verlassen sie den Kontinent. Sie könnten wetterbedingt während der Überwinterung ohnehin nicht fliegen, denn andauernd ist schlechte Sicht, Sturm oder schlichtweg Dunkelheit. Daher müssen wir neun alles vor Ort selbst bewältigen können. Wir sollen Notfälle technischer und medizinischer Art handhaben können, sollen in der Lage sein, Brände zu löschen, uns aus Gletscherspalten zu retten und Konflikte zu lösen.
Zu den Kursen, die wir als ganze Gruppe machen, kommt die fachspezifische Vorbereitung. Wissenschaftler lernen nötige Fertigkeiten und Hintergründe für ihre Observatorien, Techniker werden an Pistenbullys, Windkraftanlagen und Blockheizkraftwerken eingearbeitet. Ich als bald einzige Ärztin vor Ort lerne, Vollnarkosen und Regionalanästhesien zu machen und Zähne zu bohren. Der Terminkalender ist voll.
Das gegenseitige Kennenlernen und das Zusammenwachsen als Team sind ein enorm wichtiger Teil der Vorbereitungszeit. Wir genießen ihn in vollen Zügen und legen jede Menge Freizeitaktivismus an den Tag. Wochenends unternehmen wir Wattwanderungen bei Sonnenaufgang oder Radtouren entlang der Küste, die mit Faulenzen in der Sonne enden oder mit Akrobatik am Deich und Jongliereinlagen mit Kugeln aus Wattschlick. Wir liegen zum Sternegucken auf einem nächtlichen Acker, verdrücken Tränen im Kino (zumindest Benita und ich), gehen zu Lesungen und zum Kurzfilmfestival. Beim Ausflug nach Helgoland teilen wir uns auf der Fähre die Pommes und frieren an Deck, »weil’s draußen trotzdem schöner ist«. Auch in unseren WGs ist immer etwas los. In der bald schon legendären »Kombüse Albatros«, der Küche von Werner und Markus, »brutzelt« Werner in den ersten Wochen viel für uns alle. Er möchte unsere Geschmäcker ausloten, denn er wird demnächst den Jahreseinkauf für uns bestellen. »Feuer frei, was wünscht ihr euch?«, schreibt er in unsere Chatgruppe. Auch sonst geht es darin viel hin und her: »Möchte jemand Kaffee trinken? In Wohnung ›Seefalke‹ wird gerade einer gekocht«, »Kettensägenkurs morgen, wer fährt alles mit dem Fahrrad hin?« Im Treppenhaus finden, vermutlich zum Leidwesen unserer Nachbarn, spontane Treffen statt, ständig kommt aus irgendeiner WG-Wohnungstüre noch jemand dazu, immer gibt es was zu bequatschen und zu lachen. Kastanienversteckspiele machen die Runde, Kuchen werden gebacken, erste Geburtstage gefeiert. In Alicias Zimmer, das wegen seiner Größe auch als Wohnzimmer fungiert, entsteht unser Überwinterungslogo. Das ist Tradition, jedes Überwinterungsteam entwirft sein eigenes. Alle gestalten daran mit, viele Ideen werden dabei unter einen Hut gebracht. Am Ende zeigt das Logo die antarktische Schelfeiskante mit winziger Neumayer-Station, darunter das Meer und seine Bewohner, darüber der Sternenhimmel mit Polarlichtern. In Anlehnung an Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams steht unsere Überwinterung, die 42. bisher, unter dem Slogan »Life, Antarctica, Everything«. Unser Team, die »42«, eint eine unbeschreibliche Vorfreude auf die Antarktis und das uns bevorstehende Abenteuer, aber auch das Wissen, dass es auf uns neun ankommen wird, dass wir wirklich alles gemeinsam wuppen müssen.
Bei aller Vorfreude und Lockerheit ist mir bewusst, dass uns eine gewaltige Aufgabe bevorsteht. Das Ausmaß dessen, was von uns gefordert sein kann, ist, wie mir scheint, vorab nicht zu ermessen. Die Antarktis ist ein harscher, lebensfeindlicher Ort, den wir nicht verlassen können, wenn wir dort nicht gut zurechtkommen. Selbst wenn es schrecklich wird, kommen wir nicht weg. Noch nicht einmal dann, wenn jemandem von uns etwas zustößt.
Ich gehe davon aus, dass ich mehrfach operieren muss, dass sich jemand verletzt oder möglicherweise eine Blinddarmentzündung oder Ähnliches bekommt. Mit nur zwei geschulten Händen und ohne Narkosearzt vor Ort birgt jede Operation ein hohes Risiko. Auch wenn ich viel Verantwortung und schwere Operationen gewohnt bin – dieses Setting geht zwangsläufig mit einem enorm hohen Druck einher.
Nicht zuletzt ist da noch die soziale Situation. Wir wissen nicht, wie wir uns während der Überwinterung entwickeln werden, einzeln und als Gruppe. Wie werden wir sein, wie verhalten wir uns, wenn es uns lange Zeit schlecht geht oder wenn wir stark unter Druck geraten? Wenn das Gruppengefüge ins Rutschen gerät, wenn die Dunkelheit uns im Griff hat oder es Notfälle gibt? Wir müssen als Team zusammenhalten und gut zueinander sein, das ist essenziell, ansonsten wird es sehr schwierig. »Es wäre mein absoluter Albtraum, mit Menschen ein Jahr lang eingesperrt zu sein und nicht wegzukönnen«, sagte mein Vater, als ich mich für die Antarktisüberwinterung bewarb. Er hatte Szenarien wie in Sartres Drama Geschlossene Gesellschaft vor Augen, Menschen, die miteinander eingeschlossen sind und sich ohne Hoffnung auf Entrinnen in ihrer selbsterschaffenen Hölle quälen. Ich selbst war bezüglich des »Miteinander-eingesperrt-Seins« optimistisch, ging von netten Leuten aus, dachte an Fröhlichkeit, Gemeinschaft und Zusammenhalt und an all die wundervollen Dinge, die man während der Überwinterung auf die Beine stellen könnte. Dennoch ist mir klar: Auch hier kann von harmonisch und konstruktiv bis katastrophal entgleist alles drin sein.
Trotz aller Unwägbarkeiten haben wir alle aus dem Team uns bewusst dafür entschieden. Für das Risiko, für die unbekannte Herausforderung, für die Verantwortung. Niemand, der das nur »ein bisschen« will, zieht für ein Jahr in die Antarktis. Wir wurden gezielt ausgesucht und werden umfassend vorbereitet von einem Institut mit 40 Jahren Überwinterungserfahrung. Nicht zuletzt haben wir mit diesem ein Netz im Hintergrund, das uns aus der Ferne unterstützen kann.
Schneller, als mir lieb ist, gibt es das erste Nadelöhr. Wir sind gerade auf Bergkurs, Mitte August, noch im ersten Teil der Vorbereitungszeit. Tim, unser Leiter und mein Vorgesetzter aus Bremerhaven, und Steffi, unsere technische Vorgesetzte, sind mitgekommen nach Tirol, wo wir auf dem Taschachferner Kletter- und Gletschertraining bekommen. Beim Hochklettern einer Eisstufe, zu niedrig, um sich anzuseilen, breche ich mit Pickel und Steigeisen aus dem sulzigen Eis und falle hintenüber, es geht rasend schnell. Ich finde mich kopfabwärts in der Gletscherspalte liegend wieder, meinen linken Ellenbogen nach hinten durchgebogen, sozusagen falsch herum durchgeknickt. Auf jeden Fall ist der Arm kaputt, vermutlich irgendwas gebrochen. Meine Finger werden taub, ich muss den verletzten Arm zügig wieder einrenken, sonst drohen dauerhafte Nervenschäden – der ärztliche Notfallplan in meinem Kopf läuft sofort an.
Der Bergführer hilft mir, den Oberkörper aufzurichten, und ich renke den Arm ein. Es geht erstaunlich leicht. Noch nie habe ich bei mir selbst etwas eingerenkt, genau genommen bin ich auch zum ersten Mal in meinem Leben verletzt. Schon ist Tim bei mir, der ebenfalls Chirurg und Notarzt ist. Er kümmert sich in seiner sicheren, fürsorglichen Art um mich, während der Bergführer den Hubschrauber ruft. »Kann ich denn jetzt noch mit in die Antarktis fahren?«, frage ich, und mir ist entsetzlich bang. Trotz Schmerzen und Verletzung ist das meine größte Sorge. Tim nimmt sie mir sofort. Natürlich könne ich mit, ich solle mich in Ruhe behandeln lassen, es sei ja noch über vier Monate Zeit. Wir könnten den Zeitplan für die Vorbereitung einfach neu stricken, sodass es mit der Heilung des Armes passe. Ich bin unendlich erleichtert. Und gerührt von so viel prompter unerschütterlicher Unterstützung. Tim hätte schließlich die Stelle auch einfach neu besetzen können.
Jetzt muss nur noch der Arm wieder heile werden (meine zweite große Sorge – für meinen Beruf als Chirurgin nicht unbedeutend). Schon landet der Hubschrauber auf dem Gletscher, Tim und Steffi bringen mich über das Eis hin. Meine Mit-ÜWIs stehen abseits, um nicht zu stören, aber ihr Mitgefühl ist mit Händen zu greifen. Und schon fliegen wir über die Tiroler Alpengipfel. Mein erster Hubschrauberflug. Ich kann ihn trotz allem irgendwie genießen. Im Krankenhaus in Zams werde ich kompetent und überaus herzlich erstversorgt. Es ist nichts gebrochen, schon mal gut, aber offenbar sind viele Bänder gerissen, der Ellenbogen völlig instabil, das wird auf jeden Fall dauern. Ob operiert werden muss, ist derzeit noch unklar, ich brauche in ein paar Tagen ein MRT. Um alles Weitere zu besprechen, rufe ich Tim auf dem Gletscher an. Er stellt mir frei, nach Hause zu meiner Familie in den Schwarzwald zu fahren und dort das MRT zu machen oder hierzubleiben und in Zams zu übernachten. Wir könnten abends eine Pizza essen gehen und morgen früh wieder zusammen auf den Berg raufwandern. Oder aber ich könnte gleich heute noch zurück auf die Berghütte.
Ich bin zwar ziemlich durch den Wind, möchte aber gerne bei meiner Gruppe sein, daher entscheide ich mich, sofort zurückzugehen. Tim und Steffi holen mich im Krankenhaus ab. Sie umarmen mich und haben fürsorglich an alles gedacht: eine kurze Hose, weil es im Tal heiß ist und ich Gletschermontur trage. Sie bieten mir Essen und Trinken an, haben sowohl getrocknete Mangostreifen dabei als auch was Frisches, falls mir das lieber wäre. Ich bin einfach froh, dass sie da sind. Wir wandern den Berg hinauf zu unserer Gletscherhütte. Oben kommen uns schon meine ÜWIs entgegengerannt, umarmen mich, helfen, wo es nichts zu helfen gibt, und freuen sich, dass ich zurück bin. Ich fühle mich so gut aufgehoben bei ihnen und mit ihnen, es wird mir unvergesslich bleiben und mein Gefühl prägen, in unserer Gruppe getragen zu sein. Werner hat an unser leibliches Wohl gedacht und beim Hüttenwirt veranlasst, dass für uns Spätheimkehrer Essen zurückgestellt wurde. Als ich später in unser Matratzenlager komme, wo die anderen schon in ihren Nestern schlafen, steht Katrin sofort leise auf und hilft mir beim Ausziehen. Sensibel, wie sie ist, hat sie schon auf dem Schirm, dass ich es mit dem Gipsarm nicht so gut allein aus den Kleidern schaffe.
Da ich auf meinen MRT-Termin in Zams warten muss und sonst nicht viel tun kann, verbringe ich den Rest des Bergkurses an der Berghütte. Während die anderen den Gletscher hoch- und runterkraxeln, werde ich von den Wirtsleuten verwöhnt, sitze in der Sonne, schwatze mit Bergführern und verbringe viel Zeit damit, den Arm hochzulegen. Ich habe durchaus am Schreck und an meiner Verletzung zu knabbern, aber ich versuche trotz der leicht bedrückenden Lage, das Beste daraus zu machen und es mir gut gehen zu lassen. Das gelingt ziemlich gut. Als ich mich mal wieder nach einer großzügigen Portion Kaiserschmarrn im Matratzenlager einem Mittagsnickerchen hingebe, ruft es plötzlich: »Aurelia! Aurelia!« – kein Traum, sondern Tim und Steffi vor der Tür. »Hast du vielleicht Nähzeug dabei?« Tim ist verletzt. Er hat sich zur Übung von meinen Mit-ÜWIs aus einer Gletscherspalte retten lassen und dabei ein Steigeisen tief in die Wade bekommen.
Dort klafft jetzt eine ordentliche Wunde. Ich habe Nähzeug dabei, chirurgisches, das nehme ich immer in die Berge oder auf Reisen mit. Dazu Lokalanästhetikum, Spritzen und Desinfektionsmittel. Oft wurde ich dafür ausgelacht, aber aus chirurgischer Sicht ist es unerträglich, stundenlang in ein Krankenhaus zu fahren und in einer überfüllten Notaufnahme herumzusitzen, bloß wegen einer Platz- oder Schnittwunde, die man ratzfatz am Küchentisch nähen kann.
Hier im Matratzenlager haben wir keinen Küchentisch, dafür aber eine Almwiese vor der Hütte. Da legt Tim sich jetzt hin. Steffi soll nähen, denn sie hat, im Gegensatz zu mir, zwei funktionierende Arme. Als Schiffsbetriebsingenieurin hat sie in ihrer Ausbildung einen medizinischen Crashkurs gemacht. Tim ist einverstanden. Er ist tapfer und kostet mit Humor das leicht Absurde der Situation aus: der Patient auf der sonnigen Almblumenwiese anstatt in der Notaufnahme, eine Ingenieurin, eifrig nähend über die verletzte Wade gebeugt, während die Chirurgin mit Gipsarm ihr gut zuredet und sie durch die Prozedur führt. Im Hintergrund schönstes Bergpanorama samt Blick auf den Gletscher, in dem unser Team gerade herumklettert. Steffi macht wirklich einen super Job. Nur an der Patientenführung sollten wir noch arbeiten. Dinge wie »Uii, das geht ja ganz schön tief rein, ist es normal, dass das so klafft?« sagt man allenfalls, wenn der Patient in Vollnarkose liegt.
Mein Arm heilt nur langsam. Dafür werde ich die nächsten Monate der Vorbereitungszeit von allen Seiten unterstützt. Hannes und Alicia fahren mich auf dem Fahrradgepäckträger durch Bremerhaven. Micha und Karsten schleppen meine Frachtkisten oder holen Pakete beim Pförtner für mich ab. Werner fährt mich mit seinem Auto zur Polarklamottenanprobe ins Bekleidungslager. Katrin hat mir wunderschöne Brettchen mit dem Lötkolben graviert, Figuren am Berg, Knotentechniken, Seilschaftsaufbau und T-Anker: die Bergkursinhalte, die ich verpasst habe. Alle nehmen Anteil und freuen sich mit, wenn ich im Ellenbogen ein paar Grad mehr beugen oder strecken kann.
In meiner früheren Klinik in Lörrach, in der ich den Ellenbogen behandeln lasse, werden immer Termine möglich gemacht, die mit meinem Vorbereitungsprogramm in Bremerhaven vereinbar sind. Dort gestalten Ausbilder und Kursleiter die Ausbildung so, dass sie »einarmig« zu machen und zeitlich flexibel ist, sodass ich uneingeschränkt Physiotherapie und ambulante Reha machen kann. Es ist ein ganz schön voller Plan, aber Wohlwollen und Unterstützung von allen Seiten sind enorm. Am Ende ist der Arm wie neu, und ich fahre mit dem guten Gefühl in die Antarktis, dass dieses Netz unzweifelhaft trägt.
Seit einem Jahr bewege ich mich jetzt schon darauf zu. Auf die zunächst noch irrwitzig erscheinenden Idee, in der Antarktis zu leben und zu arbeiten, folgten Notarztausbildung, Bewerbung, medizinischer Check auf Expeditionstauglichkeit, Stellenzusage, viermonatige Vorbereitung und dreiwöchiger Heimaturlaub. Nach all dem Galopp geht es jetzt entsetzlich langsam voran, und wir warten nur noch darauf, dass es endlich Realität wird: Überwintern in der Antarktis. Der Abschied von den Lieben zu Hause fällt sehr schwer. Über ein Jahr ins Ungewisse, die meiste Zeit ohne Evakuierungsmöglichkeit, das ist für sie kein leichter Brocken. Und zu Hause? Wird es allen gut gehen? Ich kann ja nicht zurückkommen, wenn was ist. Umarmungen und Tränen. Tschüss. Immerhin können wir ja telefonieren, ich bin nicht völlig aus der Welt.
Hannes, Alicia und ich sind schon am Vortag des Abflugs nach Frankfurt gereist. Die Zeit läuft nun entsetzlich langsam, wir sind ungeduldig, gelangweilt und übermütig zugleich. Es ist der erste Weihnachtsfeiertag, die Bordsteine im flughafennahen Dorf sind hochgeklappt. Um die Zeit bis zum lang ersehnten Abflug totzuschlagen, streunen wir durch den nahen Wald, schnuppern am Boden, beißen in Tannennadeln und umarmen alte Eichen. Pflanzen und duftende Natur wird es für uns bald lange nicht mehr geben. Eis ist geruchlos. Wir schaukeln auf einem Kinderspielplatz, veranstalten eine Kissenschlacht im Hotelzimmer und tanzen auf einer verlassenen Fußgängerbrücke. Zuletzt zählen wir vor Ungeduld abwechselnd die Minuten herunter, bis endlich der Airport-Shuttlebus kommt.
Abflughalle B, da steht schon Werner und weiß über alles Bescheid, wo, wie, was. Nach und nach trudeln alle ein, jedes Mal gibt es große Wiedersehensfreude, Umarmungen, Geschnatter. Hat was von Klassenfahrt. Die Letzte wird von ihrer Familie gebracht, der tränenreiche Abschied geht uns allen nah. Auf Wiedersehen im übernächsten Frühjahr. Dann liegen die Abschiede hinter uns! Wir sind aufgekratzt und feiern jeden noch so kleinen Schritt, der uns Richtung Antarktis bringt. Unser Flug nach Kapstadt wird an der Tafel angezeigt, juhu! Die Lufthansa schluckt kulant unser sattes Übergepäck, jippie, und der Theodolit, ein Winkelmessgerät, das wir für die Messung des Erdmagnetfelds mitbringen sollen, wird nach kritischen Nachfragen vom Zoll freigegeben. Es ist einfach zum Jubeln.
In Sachen Anreise haben wir das ganz große Los gezogen. Aufgrund der Corona-Pandemie werden wir, anstatt zu fliegen, ab Kapstadt mit dem Schiff in die Antarktis fahren – und zwar mit dem Forschungseisbrecher Polarstern. Das hatten wir uns alle sehr gewünscht, auch wenn wir wussten, dass es kaum eine realistische Chance auf Erfüllung gab, denn die Anreise mit dem Flugzeug bis in die Antarktis ist üblich und war bereits komplett organisiert. Nun wird es doch noch wahr!
Schon in der Vorbereitungszeit in Bremerhaven war es mir immer wieder aufgefallen. Die Polarstern löst unter allen, die auf ihr gefahren sind, die gleiche Reaktion aus: ein verklärtes Glimmen in den Augen, sobald ihr Name fällt. Während der Vorbereitung durften wir mal an Bord. Anlass war die Einweisung in das Schiffshospital, das die gleichen Medizingeräte hat wie die Neumayer-Station. Außerdem sollte ich dort für meine Mit-ÜWIs einen Erste-Hilfe-Kurs geben. Damals lag die Polarstern im Trockendock der Lloyd-Werft, wurde grundsaniert und mutete an wie ein einziger Verhau. Kabel hingen aus den Wänden, die Kombüse war herausgerissen, überall Schutt, Schläuche, Baumaterial. Mit Zugangspass um den Hals und Bauhelm auf dem Kopf, vorsichtig über Werkzeuge steigend und immer schön den schwenkenden Kran im Blick, ging es über Deck, durch den betriebsamen Ameisenhaufen von Seeleuten und Bauarbeitern, die uns freundlich weiterhalfen. Trotz laufenden Baubetriebs bekamen wir eine komplette Führung, von der Kommandobrücke bis in den Maschinenraum, und ich begann trotz Baustellenchaos zu ahnen, was es mit den leuchtenden Augen auf sich hat, wenn der Name der Polarstern fällt. Sie strahlt eine gelebte Expeditionspatina aus, die mit Händen zu greifen ist: eine Mischung aus Abenteuer, Stärke und Verlässlichkeit in allen Lebenslagen und zugleich aus Wärme und Behaglichkeit. Vermutlich ist selten ein Schiff von so vielen Menschen derart geliebt worden.
Seit der MOSAiC-Expedition, die als bislang weltweit größte Arktisexpedition gilt, ist sie auch international eine Legende. Ein Jahr lang fror sie geplanterweise im Nordpolarmeer fest und driftete mit dem Eis über die Nordpolregion, während vorher nie möglich gewesene wissenschaftliche Messungen zur Klima- und Meeresforschung durchgeführt werden konnten. Ein Schiff, um das man international beneidet wird, wie uns Tim erzählte. Kein Wunder! Die Polarstern kann hohe See fahren und Eis brechen. Sie kann als Versorgungsschiff jede Menge Fracht aufnehmen – Container, Treibstoff, Stückgut, Kühlware – und sich überall selbst entladen, da sie ihre eigenen Löschkräne dabeihat. So kann sie, ohne auf einen Hafen angewiesen zu sein, entlegenste Orte wie die Schelfeiskante in der Antarktis anlaufen und die Neumayer-Station mit allem versorgen, was man zum antarktischen Leben braucht.
In ihrer Funktion als Forschungsschiff ist sie beeindruckend. Für die wissenschaftliche Materialgewinnung ist sie mit Seilwinden ausgestattet, die Proben aus bis zu 10 000 Meter Wassertiefe heraufholen können. Spezielle Schwerelote machen es möglich, Sedimentproben aus dem Meeresboden zu entnehmen. Am Heck ist ein Rahmen angebracht, mit dem schwere Geräte oder Netze geschleppt werden können. Es gibt Instrumente für Seismik, zur Vermessung des Meeresbodens und zur Gewinnung von Wasserproben aus verschiedenen Ozeantiefen. Auch Fahrzeuge sind an Bord, Schneemobile und Festschlauchboote, die mit dem Kran zum Befahren von Eis und Meer ausgesetzt werden können. Zur Aufbewahrung und Bearbeitung des Probenmaterials gibt es zahlreiche Labore und teils gekühlte Lagerräume, einen –80 °C-Gefrierschrank und sogar Aquarien. Die Polarstern fungiert darüber hinaus als mobile Wetterstation. Ihre meteorologischen Daten werden engmaschig in das System des Deutschen Wetterdienstes eingespeist. Auch einen Hubschrauberlandeplatz gibt es und zwei bordeigene Hubschrauber, die beispielsweise der Umgebungserkundung oder dem Ausfliegen von Wissenschaftsteams und Materialien dienen. Alles in allem ist die Polarstern nicht nur ein extrem leistungsfähiger Forschungseisbrecher, sondern auch eine lebende Legende und ein Sehnsuchtsort. Die Nachricht, wir würden mit ihr in die Antarktis fahren, löste bei uns unbeschreiblichen Jubel aus. Vermutlich würden wir uns sehr bald einreihen in die Fraktion der Menschen mit dem Glimmen in den Augen, sobald der Name Polarstern fällt.
Am Abfluggate des Frankfurter Flughafens treffen wir die Schiffscrew. Manche erkennen wir wieder von unserem Besuch in der Werft. Sie reisen mit dem gleichen Flug nach Kapstadt, um die jetzige Besatzung abzulösen, denn die Polarstern ist bereits auf der Südhalbkugel. »Hallo, wir sind die neuen ÜWIs und fahren mit euch mit«, stellen wir uns vor. Wir sind reichlich befangen, wollen uns trotzdem aktiv bei ihnen vorstellen und nicht nur in der eigenen Sitzecke untereinander Spaß haben. Immerhin nehmen sie uns mit in die Antarktis, als eigentlich ungeplante Last-minute-Gäste. Kapitän Moritz Langhinrichs heißt uns herzlich willkommen: »Wir rücken ein bisschen zusammen, das kriegen wir schon hin.« Der Plan ist, dass wir mit der Polarstern auf ihrer Forschungsreise mitfahren bis ins östliche Dronning Maud Land in der Antarktis, auf Deutsch Königin-Maud-Land. Per Hubschrauber sollen wir dann vom Schiff aufs antarktische Festland zur russischen Forschungsstation Molodyozhnaya ausgeflogen werden, wo uns ein Schneekufen-Flugzeug abholen und zur Neumayer-Station fliegen wird. Eine spektakuläre Anreise, die alles in allem mehrere Wochen dauern wird.
Im Flugzeug sitze ich neben einem jungen Ozeanografen aus Bordeaux. Er hat gerade in Japan promoviert und wird auf der Polarstern-Fahrt eigene Messreihen durchführen. Bordeaux, da habe ich ja früher studiert, und Messreihen, was heißt das genau? Sofort entspinnt sich ein Gespräch, und ich erhalte eine Kostprobe seines Forschungsgebiets. Er bezeichnet sich selbst als »deep ocean mud guy«, ist also Spezialist für Tiefseesedimente und hat eine augenfällige Begeisterung für Muscheln und Fossilien. Konkret geht seine Arbeit in etwa so: Nachdem aus horrenden Wassertiefen, beispielsweise aus 4000 Metern, Schlamm vom Meeresboden geholt wurde, schneidet er ihn in Scheiben und bestimmt unter dem Mikroskop die Mikrofossilien darin. Er analysiert, ob es silizium- oder kalkhaltige sind, welche Arten vorkommen, ob Tier- und Pflanzenplankton zu finden ist. So kann er Rückschlüsse auf lang zurückliegende Erdzeitalter ziehen, auf damals herrschende Temperaturen, auf Ökosysteme und Nährstoffreichtum. Tagebuchlesen im Schlamm der Erde. Es sind Einblicke in eine faszinierende Welt.
In Kapstadt ist alles generalstabsmäßig vorbereitet. Wir sind über 100 anreisende Expeditionsteilnehmer, die hier Quarantäne machen. Im Gewusel der Hotellobby – hier Zimmerkarten A–K, dort L–Z – stelle ich mich noch schnell dem wissenschaftlichen Fahrtleiter der Schiffsexpedition vor, dann verschwinden wir in den Einzelquarantänezimmern. Wir feiern die Feste, wie sie fallen. In Sachen Ruhe und Privatsphäre werden die Tanks jetzt noch mal richtig vollgemacht. Zehn Tage später quellen wir wieder aus den Zimmern, mit viel Gepäck und reichlich Aufregung. Zwei Busse bringen uns direkt an den Pier. Und da liegt sie, im glitzernden Blau des strahlenden Morgens, und stiehlt dem Tafelberg die Show: die Polarstern. An der Reling des oberen Decks lehnen Techniker in roten Overalls, der Kapitän sowie die nautischen Offiziere in Uniform und schauen uns zu beim Ausladen, Staunen und Fotoposieren. Sie sind seit den frühen Morgenstunden an Bord, um alles vorzubereiten.
Direkt an der Gangway steht ein deplatziert wirkender Klapptisch. Zwei Beamte kontrollieren dort unsere Pässe. Ausreise per Sondergenehmigung. Ich schleppe mein vieles Gepäck die Gangway hinauf, helfende ÜWI-Hände strecken sich mir entgegen und nehmen mir Koffer und Taschen ab, hier entlang, wir sind auf Deck C. Aufgeregtes Gewusel auf Schiffsfluren und Niedergängen. Die einzige Kammer mit vier Betten, schiffsintern daher »Ponyhof« genannt, wird von Alicia, Benita, Katrin und mir bezogen. Die anderen wohnen gleich nebenan. Klasse, dass wir zusammen sind.
Unsere neue Bleibe wird sofort erkundet. Wir haben vier gemütliche Kojen mit Leselämpchen und Vorhang und an der Wand ein uraltes Radio mit Drehknöpfen und zwei Kanälen, das ein bisschen scheppert. Auf den Matratzen liegen Bettbezüge, Wolldecken und Handtücher bereit. Im Vorraum gibt es eine Sitzecke mit Tisch und zwei große Bullaugen, aktuell mit Tafelbergblick. Sogar eine eigene Nasszelle haben wir mit Waschbecken, Toilette und Dusche. Alles platzsparend, tipptopp und enorm schiffsgemütlich. Katrin, unsere leitende Ingenieurin die ja Seefahrerin ist, checkt bereits routiniert Schwimmwesten und Überlebensanzüge, während wir anderen unsere Spinde einräumen.
Dann haben wir Schiffseinführung und lernen Kapitän, Chief, nautische und technische Offiziere kennen, lernen das kleine Einmaleins der praktischen Dinge und den Schiffs-Knigge. Wir machen Sicherheitstraining, üben Generalalarm und Alarm zum Verlassen des Schiffs. Anschließend warten wir in der Kammer, während das Schiff nach blinden Passagieren abgesucht wird. Wäre bitter, wenn einer aus Versehen in die Antarktis fährt, der eigentlich nach Europa oder Amerika will, schießt es mir durch den Kopf. Jetzt zieht es uns alle nach draußen, es ist ein herrlicher Tag. Aufgekratzt und faul lungern wir auf dem obersten Deck herum, genießen Sonne, Wind und Tafelbergblick und holen uns den ersten Sonnenbrand.
Wir erwarten Wind und Seegang, denn schließlich fahren wir durch die Breitengrade, die für ihre Stürme berüchtigt sind: die »Roaring Fourties«, die »Furious Fifties« und die »Screaming Sixties«, wie sie genannt werden. Hoffentlich werde ich nicht die nächsten zwei Wochen in meiner Koje verbringen, in Gesellschaft eines Eimers. In Sachen Seekrankheit ist bei mir alles möglich. »Besser, man merkt es nicht zu spät, dass man spucken muss«, rät mir ein Crewmitglied. »Sonst versucht man noch, es mit der Hand drinnen zu halten, aber es drückt trotzdem immer die Stückchen zwischen den Fingern durch«, kichert ein anderes. »Selbst wenn wir rote Overalls anhaben, auch wir sind nicht vor Seekrankheit gefeit«, fügen sie entlastend hinzu, denn seekrank sein ist irgendwie unrühmlich, auch wenn man nichts dafür kann.
Leicht beunruhigt gehe ich Richtung Kammer, um zusätzliche Eimer für den Fall des Falles aufzutreiben. Immerhin haben wir für vier Leute nur eine Toilette – und eine vollgebrochene Kammer macht ja alles nur noch schlimmer. Mutig eigentlich, dass hier Teppichboden verlegt ist, überlege ich. In der Kammer finde ich Katrin, die gerade ihren Spind einräumt. »Ach was, brauchen wir nicht«, sagt sie nur in ihrer entspannt-nüchternen Art, »eine kann in die Dusche kotzen, wenn das Klo besetzt ist, und das Waschbecken ist ja auch noch da.« Zuzüglich zweier kleiner Mülleimer. Wunderbar, dann kann’s ja losgehen.
Das tut es nun auch. Zumindest laufen wir endlich aus, am späten Nachmittag des 6. Januar, und werden im Schneckentempo aus dem Hafen geschleppt. Das Schiff tutet. Wir sehen Kapstadt entschwinden, es geht hinaus aufs offene Meer. Müde vom aufregenden Tag lege ich mich in meine urgemütliche, leicht schwankende Koje. In der Sitzecke daneben plaudern die lieben ÜWIs, einer zupft an der Gitarre, es ist unbeschreiblich heimelig, und ich sinke in herrlichen Nachmittagsschlummer. Aufgeregtes Stimmengewirr weckt mich. »Weiß die Aurelia das schon?« Ich reiße ein Auge auf und schäle mich aus der Koje. Es gibt Neuigkeiten und Aufregung. »Molodyozhnaya ist gestrichen, wir laufen direkt Neumayer an«, weiß Markus. Quelle: stellvertretende Fahrtleitung. Kein Flurgerücht also. Ringsumher enttäuschte Gesichter. Wir hatten uns sehr auf die spektakuläre Weiterreise gefreut.
Die Polarstern, das ist der neue Plan, fährt ihre Dreiecksroute nun andersherum, sodass wir früher und direkt an Neumayer ankommen. So kann es nicht passieren, dass wir bei schlechtem Wetter tagelang vor Molodyozhnaya festhängen, ohne dass das Schiff uns »loswird« und somit kostbare Forschungszeit verliert oder dass wir nach Molodyozhnaya kommen, aber dann dort festsitzen und unsere ohnehin sehr knappe Einarbeitungszeit weiter schrumpft, weil kein Flugwetter ist. Die aktuelle Packeissituation vor Ort scheint den neuen Plan zuzulassen. Wir bekommen gerade eine Kostprobe der pragmatischen Flexibilität, wie sie für Expeditionen bezeichnend ist. Ein Plan geht nicht auf? Dann wird eben neu geplant. Das ganze große mühevolle Mobile wird umgestellt, ohne nennenswerte Aufgeregtheit oder Gemecker. Nachdem wir nun das Thema miteinander durchgekaut haben, legt sich auch unsere Aufregung.
Wir gehen raus an Deck. Es ist unbegreiflich schön. Wir haben knallblauen Himmel, sommerliche 27 °C Wärme und so starken Wind, dass wir breitbeinig vorwärtswanken, um zur anderen Reling zu gelangen. Wir setzen uns aufs Peildeck, das ganz oben auf dem Dach der Kommandobrücke liegt. Die Sonne geht allmählich unter und taucht die südafrikanische Steilküste in zarte Pastelltöne, an Land funkeln die Lichter der letzten entschwindenden Ortschaften. Es ist ein erhebendes Gefühl von Aufbruch und Weite, die zivilisierten Kontinente hinter uns zu lassen und nach Süden in See zu stechen. Auf geht’s in Richtung Südpolarmeer, jetzt kommt kein Fleckchen Land mehr über Tausende von Seemeilen. Nur irgendwo, ganz unten auf dem Erdball, Antarktika: der Kontinent, der unser neues Zuhause sein wird. Jetzt kommt, was kommt, und das fühlt sich groß und schön an. Mich ergreift ein unbändiger innerlicher Jubel, ein Empfinden von Freiheit, Unbegrenztheit und Gelassenheit. Was habe ich für ein unfassbares Glück, hier zu sein, so etwas erleben zu dürfen! Wenn man an zu viel Glücklichsein sterben könnte, wäre es hier und heute todsicher um mich geschehen.
Viele Stunden später sitze ich immer noch draußen auf dem Peildeck. Es ist zu schön, um reinzugehen. Auch Katrin ist noch da. Sie hat jahrelang die Südhalbkugel besegelt und möchte das Kreuz des Südens sehen. Schweigend schauen wir in die Ozeanweite und warten auf die Nacht. Allmählich zieht der klare Abendhimmel auf, eine zarte Mondsichel zeigt sich, der erste Stern. Begleitet von Walen und Möwen, fahren wir in den Abend hinein. In der Ferne sinken die letzten Küsten in den Dunst, und allmählich steigt das Kreuz des Südens über den Horizont.
Die nächsten Tage vergehen für mich in purem Glücklichsein, das auch meine milde Übelkeit nicht zu trüben vermag. Von Seemüdigkeit keine Spur. Ich bin glockenwach, finde auch nachts kaum Schlaf. Stundenlang werde ich in meiner gemütlichen Koje hin- und hergeschwenkt – durchaus angenehm, aber einfach nicht das Richtige für Schlaf. Tagsüber verbringen wir die meiste Zeit draußen an Deck, beobachten Wale, Vögel und Fliegende Fische, bestaunen Meer und Wellen, stundenlang. Das glatte Blau bei sanfter Dünung im Sonnenschein, schwarzblaue Wogen bei Nebel und verhangenem Himmel, spritzende Gischt und Schaumkronen bei Wind. Der Sicherheitsoffizier kommt gerade des Wegs, als wir, über die Reling gebeugt, fasziniert in die blaugrünen Wellen schauen. »Was seht ihr denn da?«, fragt er. »Wasser«, antwortet Alicia wahrheitsgetreu. Er muss lachen. Die neuen ÜWIs ham’ se nicht mehr alle, wird er sich vermutlich denken. Stehen da und starren grundlos ins Wasser.
Unsere Begegnungen mit den Crewmitgliedern sind durchweg herzlich und entspannt. Die Leute, die hier arbeiten, strahlen Zugehörigkeit aus, sind fröhlich und äußerst hilfsbereit. Nach und nach lernen wir immer mehr Menschen an Bord kennen, es ist eine wunderbar bunte Mischung: Techniker und Nautiker, Küchencrew und Matrosen, Wissenschaftler aus Paläozeanografie und -klimatologie, aus Meeres- und Landgeologie, aus Geophysik, Seismologie und Ozeanografie. Menschen, die beruflich Wale beobachten, den Meeresboden kartografieren oder wissenschaftliche Messgeräte bauen und reparieren. Das Meteorologieteam und die Helikoptercrew. Professoren und Studierende.
Wir lernen Estella kennen, ihres Zeichens Geophysikerin, die 1990 in der Antarktis überwintert hat, als zum ersten Mal Frauen überwintern durften – aber nur als reines Frauenteam. Offenbar ein voller Erfolg, der eine Bresche geschlagen hat. Seither überwintern selbstverständlich Frauen wie Männer.
Da ist auch Ebbe, ein schlaksiger Biologiestudent mit sonnigem Gemüt, der das Glück hat, hier einen Praktikumsplatz ergattert zu haben – und da trifft es wirklich den Richtigen. Er hat enormes Interesse an allem, was um ihn herum geschieht, ist unglaublich aufgeschlossen, kann zu unserer Freude auch noch hervorragend singen und Gitarre spielen und ist mein persönliches Lexikon in Sachen Hochseevögel. Oft treffe ich ihn frühmorgens vor dem Frühstück an Deck, mit einem Fernrohr in der Hand, staunend.
Nach tagelanger Fahrt durchs ewige Blau sehen wir neue Vögel. Sturmschwalben, sagt Ebbe. Sie sind winzig und gleiten sachte haarscharf über die Wogen, ohne Anstrengung oder nennenswerten Flügelschlag. Stundenlang, tagelang. Du kleiner Vogel, was machst du hier draußen, möchte man fragen. Sie wirken viel zu zart für diese wilde Welt und strahlen dennoch eine mühelose Geborgenheit aus in dieser endlosen Ozeanweite. Majestätische Albatrosse segeln neben uns her, und Sturmvögel umkreisen in geschicktem Flug das Schiff.
Was wir nie sehen, sind Zeichen der Zivilisation: keine anderen Schiffe, keine Flugzeuge am Himmel, noch nicht mal ihre Kondensstreifen. Wir fahren ans Ende der Welt. Nachts sitze ich oft auf dem Peildeck, bestaune die gestochen scharfe Milchstraße und zähle Sternschnuppen. Mir fällt nichts mehr ein, was ich mir noch wünschen könnte, zumindest nichts für mich.
Nach fünf Tagen auf See und einer letzten Testung für alle entfällt die Maskenpflicht. Zur Feier des Tages macht die Schiffsbar »Zillertal« auf. Jedwedes Getränk kostet gleich wenig, es wird auf einer Strichliste angeschrieben. Hannes, Alicia und Markus haben es übernommen, die Bar zu schmeißen. Als ich abends um acht aufs Deck D runtergehe, ist der Raum schon zum Bersten voll, riesiges Gelärme und Gedränge, unmöglich, nach vorne und an Getränke zu kommen. Ich stürze mich in die erstbeste Unterhaltung und habe plötzlich zwei Getränke in der Hand – eine Rum-Cola, die mir ein mitfühlendes Crewmitglied vorne in der Schlange organisiert hat,und ein Bier von den hinteren Plätzen, wo gerade eine private Kiste Jever unter den Bedürftigen verteilt wird. Prost 50° Süd! Großartig hier!
Jetzt sind alle da: Wissenschaftler und Matrosen, Studenten, Offiziere, Professoren, Überwinternde, Stewards, Techniker und die Jungs vom Heli. Ich feiere mit Uwe aus der Maschine, Lars vom Löschkran und »Sebastian, aber nenn mich Ede« vom Deck. Marlena von »Kommunikation und Medien« stößt zu uns, der Heli-Mechaniker und ein paar Wissenschaftler, ab und zu driften Werner und Micha durchs Bild. Es entspinnen sich frotzelige Gespräche zwischen Schiffsingenieuren und Nautikern – »Wenn’s in Mathe nicht reicht, kannste immer noch Nautik machen«, »… als Techniker kannste halt nie Kapitän werden«. Selige Erinnerungen an frühere Expeditionsfahrten werden geteilt: »Der Dirk und ich, wir ham schon so viel miteinander erlebt«, »… mit dem Ralf, da weiß man, da wird’s immer lustig«, »… weißt du noch, damals auf dem russischen Forschungsschiff …«, »… Vive la France, sind die Franzosen einfach mit uns in fremde Gewässer gefahren, um Bodenproben zu ziehen …«
Am nächsten Morgen verschlafe ich das Frühstück, was mir beim Mittagessen prompt vom Steward mit einem Augenzwinkern vorgehalten wird. Er ist hier die gute Seele, weist Essensplätze zu, deckt den Tisch wieder schön ein oder scheucht einen auf, wenn man sitzt und quatscht, während andere noch auf einen Platz warten. Manchmal bringt er mir eine Extraportion übrig gebliebene Mousse au Chocolat (»ist ja nur Luft«) oder räumt das Geschirr für uns weg (»wird ja noch hart genug für euch im Winter da unten«).
Nach dem Mittagessen sehen wir den ersten Eisberg! Micha hat ihn in der Ferne entdeckt, und plötzlich können auch wir ihn vom Bullauge aus sehen. Nichts wie raus an Deck! Wir sind äußerst aufgekratzt. Zugegeben, es ist eher ein kleiner Eisbrocken als ein Eisberg, aber es ist eben der erste, und wunderschön ist er noch dazu! Jetzt haben wir erstmals das Gefühl, richtig in den Süden zu kommen, dem Eis näher zu rücken, unserem baldigen Zuhause. Bisher war die See ungewöhnlich glatt, heute ist sie unruhig, die Wellen kabbelig, der Himmel verhangen, alles grau in graublau. Das Arbeitsdeck wurde sicherheitshalber gesperrt, ab und an leckt die See darüber. Es zeigen sich zunehmend Schaumkronen, Hochseevögel fliegen im böigen Wind. Unglaublich, wie kalt es geworden ist. Bei 27 °C sind wir in Kapstadt losgefahren, und jetzt, nach fünf Tagen Seefahrt gen Süden, sind es nur noch wenige Grade über null.
Das Schiff kennen wir nun wie unsere Westentasche: die aussichtsreichen und die windstillen Ecken, die heimeligen, die nützlichen und die ruhigen Orte und – nicht zu vergessen – die, an denen man noch spätabends was zu essen aufstöbern kann. Wir genießen die Aussicht vom Peildeck oder treiben uns auf der Brücke herum, wo uns Kapitän und Wachoffiziere vom Schiff und der faszinierenden Welt da draußen erzählen. Obwohl wir in letzter Minute als ungeplante Gäste aufs Schiff kamen und man unseretwegen zusammenrücken musste, sind wir an Bord gern gesehene Gäste und werden ganz selbstverständlich in die große Expeditionsfamilie aufgenommen. Ob ich im Wetterlabor beim Meteorologieteam bin, in der Funk- und Poststelle vorbeischaue oder gemeinsam mit Bordarzt und Heli-Team Notfallabläufe probe, es gibt viele Gelegenheiten, sich kennenzulernen. So mancher Plausch draußen an der Reling setzt sich als langes Gespräch bei einer Tasse Kaffee im »Roten Salon« fort, und so sind im Laufe des gemeinsamen Schiffsalltags längst herzliche Bekanntschaften und Freundschaften entstanden. Manche witzeln schon, dass sie uns lieb gewonnene ÜWIs einfach nicht absetzen werden. Auch ich würde gerne noch viel länger mitfahren, nicht nur des Schiffs wegen, sondern vor allem wegen der Menschen an Bord.
Wir ÜWI