Predigten - Wolfgang Raible - E-Book

Predigten E-Book

Wolfgang Raible

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Beschreibung

* Autor bekannt und beliebt für seine ansprechenden Predigten * Komplette Versorgung mit Predigtanregungen für das Lesejahr B Wolfgang Raible bietet auch in diesem Band der Lesejahrreihe (hier: Lesejahr B) Predigten zu den Schrifttexten aller Sonn- und Feiertage. In ihrer Sprache und Anmutung atmen sie den Charme und ernsthaft gläubigen Humor der erfolgreichen "100 Kurzansprachen", Länge und Thematik orientieren sich dabei aber ganz am Gebrauch für die sonntägliche Praxis.

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Wolfgang Raible

Predigten

Für die Sonn- und Feiertage im Lesejahr B

Impressum

©Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung Finken & Bumiller, Stuttgart

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN (Buch): 978-3-451-34108-3ISBN (E-Book): 978-3-451-33870-0

Inhaltsübersicht

Statt eines Vorworts

Advent und Weihnachtszeit

1. Adventssonntag: Bilden Sie sich ruhig etwas ein!

2. Adventssonntag: Mit Ernst, o Menschenkinder

3. Adventssonntag: Vor-läufer Jesu und Vor-bild der Kirche

4. Adventssonntag: Ja, ist denn schon Weihnachten?

Christmette: Wittgenstein contra Augustinus

Weihnachten am Tag: Expedition Mensch

Fest der Heiligen Familie: Der Wolf an der Krippe

Neujahr – Hochfest der Gottesmutter Maria: Drei „fabelhafte“ Wünsche

2. Sonntag nach Weihnachten: Es kam ein Engel hell und klar

Erscheinung des Herrn: Ein spannender Bibelabend

Taufe des Herrn: Trinken müssen Sie selber!

Fasten- und Osterzeit

1. Fastensonntag: Eine Goldader in der Wüste

2. Fastensonntag: Fenster putzen

3. Fastensonntag: Tempelreinigungen 2012

4. Fastensonntag: Die Quelle des Königs

5. Fastensonntag: Der Lehrplan Gottes

Palmsonntag: Die Ouvertüre zur Karwoche

Gründonnerstag – Karfreitag – Osternacht: Auftrag, Herausforderung und Verheißung

Osternacht: Jedoch: ich kann nicht

Ostersonntag: Ostermarschierer

2. Sonntag der Osterzeit: Österliche Menschen

3. Sonntag der Osterzeit: Herr K. und die Auferstehung

4. Sonntag der Osterzeit: Ein Herdenbrief

5. Sonntag der Osterzeit: Ein provozierendes Bild: Prozession ohne Hostie

6. Sonntag der Osterzeit: Liebes Christentum!

Christi Himmelfahrt: Zwei Wege: Jesus zu Gott und wir zu den Menschen!

7. Sonntag der Osterzeit: Rechenschaftsbericht und Hausaufgaben

Pfingsten: Ein polyglottes Christentum

Zeit im Jahreskreis

2. Sonntag: Fragen– Wagen – Weitersagen

3. Sonntag: Schneller– Größer – Pfiffiger

4. Sonntag: Eine neue Sprache

5. Sonntag: „Ein Leben in der Schachtel“

6. Sonntag: Vielen Dank, Paulus!

7. Sonntag: Ein pfiffiger Zubringerdienst

8. Sonntag: Ich wollt’ ich wär’ ein Brief

9. Sonntag: „Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung…“

10. Sonntag: Drei „unterbelichtete“ Jesus-Bilder

11. Sonntag: Ein Gleichnis – drei Akzente

12. Sonntag: Riese und Zwerg

13. Sonntag: Ein altes Handbuch der Lebensberatung

14. Sonntag: Hat Jesus in seiner Kirche eine Chance?

15. Sonntag: „Du aber sitzt an deinem Fenster…“

16. Sonntag: Boxen oder einladen?

17. Sonntag: Brot des Lebens – für alle ein KörnchenWahrheit

18. Sonntag: Christliches „Outfit“

19. Sonntag: Meine Wüste, mein Ginster, mein Engel, mein Horeb

20. Sonntag: Ein singender Glaube

21. Sonntag: Gott und Ziele

22. Sonntag: Nicht sauber, sondern rein!

23. Sonntag: Wir brauchen einen „Bilder-Schutz-Bund“!

24. Sonntag: Geschichten zu unserer Geschichte mit Jesus

25. Sonntag: Dienst-Plan und Dienst-Geheimnis

26. Sonntag: Der Geist weht, wo er will

27. Sonntag: Angebrannte Suppen und kalte Herzen

28. Sonntag: Ist jeder Reiche ein Kamel?

29. Sonntag: Ein erster Schritt auf dem Dienst-Weg

30. Sonntag: Die Stadt der Blinden – die Gemeinde der Sehenden?

31. Sonntag: Viel Vertrautes und drei kleine Überraschungen

32. Sonntag: Jesus und ein unflätiger Papagei

33. Sonntag: „Last Lecture“

Feste im Kirchenjahr

Dreifaltigkeitssonntag: Erklärst du noch oder lebst du schon?

Fronleichnam: Evergreens und Ohrwürmer

Allerheiligen: Ein Heiligen-Quiz für Fortgeschrittene – oder: Die etwas anderen Seligpreisungen

Christkönigssonntag: Pilatus und Jesus: Weltliche Macht gegen göttliche Ohnmacht

Verzeichnis der Bibelstellen

Stichwortverzeichnis

Anhang: Vom Himmel hoch, da komm ich her

Fußnoten

|9|Statt eines Vorworts

Eine rechte evangeliumsgemäße Predigt muss so sein, als ob man einem Kind einen schönen roten Apfel hinhält oder einem Durstigen ein Glas Wasser und fragt: „Willst du?“

(nach Dietrich Bonhoeffer)

Sag nicht den Menschen von heute, sie haben keinen Zugang zu dem, was Gott ist. Es ist nicht wahr. Nur müssen wir es ihnen anders sagen.

(Mario von Galli)

Fehlende Plausibilität des Glaubens macht es erforderlich, erfinderisch in dem Versuch zu werden, das Angebot der Frohen Botschaft in attraktiver Weise weiterzusagen.

(Thomas Meurer)

Statt eines Vorworts: Drei Hoffnungen, die mich beim Schreiben dieses Predigtbuchs begleitet haben:

Die Hoffnung, dass Sie darin den einen oder anderen „roten Apfel“ oder hin und wieder ein „Glas Wasser“ für Ihre Predigtpraxis entdecken; und dass Sie auf die Frage „Willst du?“ bei manchen Angeboten antworten können: Ja, ich will mich davon inspirieren lassen und daran weiterdenken.

Die Hoffnung, dass die Beispiele Ihnen Mut machen, neue Predigtwege auszuprobieren und den Menschen von heute das vertraute Evangelium „anders“ und unkonventionell zu sagen.

Die Hoffnung, dass die Vielfalt der Predigtformen– Briefe, Liedmeditationen, Märchen, Gespräche, Bildbetrachtungen, Quiz– Ihre Phantasie weckt und Sie selbst animiert, „das Angebot der Frohen Botschaft in attraktiver Weise weiterzusagen“.

Wolfgang Raible

|11|Advent und Weihnachtszeit

|12|1.Adventssonntag

Bilden Sie sich ruhig etwas ein!

Jes 64,3–7

Leute, die sich etwas einbilden, mögen wir in der Regel nicht.

Wer von sich selbst ein viel zu schönes Bild hat, das mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, der ist unsympathisch.

Wer sich eine Krankheit einbildet, kann seiner Umgebung das Leben zur Hölle machen.

Wer sich Erlebnisse, die er weitererzählt, nur eingebildet hat, der ist ein Träumer oder ein Lügner.

Leute, die sich etwas einbilden, sind also mit Vorsicht zu genießen.

Ich möchte Ihnen heute zeigen, dass das nur zum Teil richtig ist, und mein – vielleicht etwas eigenartiger – Adventswunsch für Sie heißt: Bilden Sie sich ruhig etwas ein!

Es gibt nämlich Bilder, die es wert sind, dass wir sie ganz nah an uns heranlassen, dass wir sie in uns aufnehmen, dass wir sie verinnerlichen, dass wir sie uns – im wahrsten Sinn des Wortes – ein-bilden.

Die Lesungen der Adventszeit sind in jedem Jahr voll von solchen wertvollen Bildern. Was der Prophet Jesaja uns anbietet, das ist, so könnte man sagen, ein Adventskalender für Erwachsene, eine Fülle von Bildern, die man sich gut einprägen, einbilden kann: Das Bild von der Wüste, die plötzlich zu blühen anfängt; vom abgehackten Baumstumpf, aus dem wieder ein junger Trieb herauswächst; von den Schwertern, die zu Pflugscharen umgeschmiedet werden.

„Wir sind der Ton und du bist unser Töpfer“ – dieses Bild aus der heutigen Lesung möchte ich mir zum Leitbild für die kommenden Tage und Wochen nehmen. Es ist vielleicht nicht so spektakulär, so farbenfroh wie die anderen, aber es regt mich an, über mich nachzudenken, und darüber, was Gott mit meinem |13|Leben zu tun hat. Dieses Bild ist offen, es lässt genügend Raum, um immer neue Linien einzuzeichnen; es reizt zum Ausmalen.

„Wir sind der Ton und du bist unser Töpfer“ – das heißt: Du hast mit jedem von uns etwas vor. Du hast eine Idee für jede und jeden einzelnen und willst unserem Leben eine Form, eine Gestalt geben. Du willst an mir modellieren – durch Worte aus der Heiligen Schrift, die mich treffen; durch das Beispiel Jesu, der gezeigt hat, wie man wirklich Mensch sein kann. Du willst mich prägen – durch Menschen, denen ich begegne und die mich beanspruchen; durch Situationen, die mich herausfordern, mit meinem Glauben ernst zu machen. Du willst mich verändern – in der Stille, wenn ich über mich nachdenke; in der Hektik, wenn ich unzufrieden werde.

„Wir sind der Ton und du bist unser Töpfer“ – das heißt auch: Wir sind gedacht als deine Gefäße; als Menschen, die für deine gute Sache zu gebrauchen sind. Obwohl deine Phantasie, dein Einfallsreichtum für verschiedene Formen keine Grenzen kennt – jede und jeden von uns hast du so modelliert, dass wir etwas von deiner Güte in uns aufnehmen und wieder an andere weitergeben können. Wir sind zum Empfangen und Schenken geschaffen.

„Wir sind der Ton und du bist unser Töpfer“ – das heißt aber auch: Wir sind von der Erde genommen, zerbrechlich, unsere Zeit ist begrenzt. Aber weil du unser Schöpfer bist, glauben wir, dass du auch die Bruchstücke unseres Lebens annimmst.

An diesem Bild vom Ton und vom Töpfer möchte ich im Advent weitermalen, immer wieder einen Pinselstrich hinzufügen, eine neue Farbe ins Spiel bringen.

Und dieses Sinn-Bild, das Bild also, das mir hilft, über den Sinn, den Sinn meines Lebens und meines Glaubens an Gott nachzudenken, dieses Bild soll in den nächsten Tagen und Wochen immer wieder auftauchen:

Ich möchte es hervorholen in Zeiten, wo ich müde und leer bin, und will dann sagen: „Ich bin der Ton und du bist mein |14|Töpfer – nimm mich in deine Hand und mach etwas aus meinem Leben, mir fehlt die Kraft. Gib meinen Gedanken und meinem Tun wieder ein Profil, eine Gestalt.“

Dieses Bild möchte ich aber auch hervorholen, wenn ich voll Energie bin und etwas Neues anfangen will. Dann kann ich sagen: „Ich bin der Ton und du bist mein Töpfer – mach ein Gefäß aus mir, das deine Liebe aufnehmen kann. Lass mich davon abgeben und dabei reicher werden. Vielleicht kann jemand Hoffnung schöpfen aus meiner Freude; vielleicht spürt jemand durch meine Fragen, dass du dich für ihn interessierst.“

Morgens soll dieses Bild auftauchen, und ich will sagen: „Halte mich offen für das, was du und andere Menschen heute in mich hineinlegen werden.“ Und abends möchte ich versuchen zu beten: „Ich war der Ton – und ich bin dankbar, dass ich gespürt habe, in deiner Hand zu sein. Vielleicht war ich nicht wachsam genug für die Zeichen, mit denen du mich in eine andere Richtung führen wolltest – verliere nicht die Geduld mit mir!“ Ich möchte aber auch protestieren und klagen dürfen: „Wenn du mein Töpfer bist – warum hast du mich heute so gedrückt, gepresst und geknetet?“

Zum Schluss noch einmal mein Wunsch: Bilden Sie sich doch auch etwas ein!

Es muss nicht dieses Bild vom Ton und vom Töpfer sein. Vielleicht spricht Sie ein anderes aus dem Bilderbuch des Jesaja mehr an. Entdecken Sie Ihr eigenes Adventsbild, prägen Sie es sich ein, malen Sie es aus, holen Sie es immer wieder hervor, und – sagen Sie es weiter. Erzählen Sie in der Familie, bei Ihren guten Freunden, welches Bild Sie fasziniert und was es für Sie und Ihren Glauben bedeutet.

In diesem Fall könnte man mit Fug und Recht behaupten: Einbildung ist auch eine Bildung! Denn wo einer dem anderen von seinem Leitbild erzählt, da bildet sich lebendige Gemeinde, und da hat Gott eine Chance, anzukommen – nicht nur im Advent.

|15|2.Adventssonntag

Mit Ernst, o Menschenkinder

Liedmeditation zu GL 113

Der Advent ist eine Zeit des Singens und Musizierens, und viele freuen sich schon lange auf die vertrauten Lieder und Weisen, die uns durch diese Tage begleiten.

Wenn wir im Gottesdienst miteinander singen, dann gelten unsere Lieder zum einen Gott: ihn wollen wir loben; ihm wollen wir danken; ihm wollen wir Antwort geben auf sein Wort, das er uns schenkt. Zum anderen aber singen wir für uns selbst. Man könnte sagen: ein Lied ist eine besondere Form der Verkündigung; eine Predigt, die wir uns gegenseitig halten.

Ein Lied kann Worte, Verheißungen und Aufforderungen des Evangeliums auf eine Art und Weise an uns heranbringen, die über die begriffliche Vermittlung und Auslegung hinausgeht.

Es gibt in unserem Gesangbuch nur ein einziges Adventslied, das den Gedanken des heutigen Evangeliums aufgreift; das die Bilder vom Straßenbauen und vom Wegbereiten aufnimmt. Deshalb möchte ich es heute mit Ihnen singen und versuchen, der Predigt, die dieses Lied enthält, auf die Spur zu kommen.

„Mit Ernst, o Menschenkinder“, so fängt dieses Lied an und Sie finden es im GL unter der Nr.113.Obwohl die Melodie schon unabhängig vom jetzigen Text existierte, verdeutlicht und vertieft sie die Worte, die ihr knappe 100Jahre später unterlegt wurden.

Lassen wir zuerst einmal die Melodie allein auf uns wirken.

GL 113: Cantus firmus (Orgel oder Flöte)

Beides spiegelt sich für mich in dieser Melodie – die ernste Grundstimmung des Textes; der Bußruf Johannes des Täufers – aber auch die Zuversicht, dass Gott sein Versprechen |16|wahr macht und den Retter in die Welt schickt. Die herbe Kirchentonart am Anfang unterstreicht den provokativen Klang der Umkehrpredigt des Johannes. Das tröstliche Schlussmotiv in der weicheren Moll-Tonart verstärkt die Hoffnung auf das Heil. Der kurze Dur-Teil nach dem Doppelstrich ist das Mittelstück der ganzen Melodie und hebt auch in jeder Strophe einen Kerngedanken hervor.

Der Text, den der Königsberger Professor Valentin Thilo 1642 geschrieben hat, und dessen 3.Strophe 15Jahre später überarbeitet wurde – dieser Text beinhaltet für mich so etwas wie einen adventlichen Drei-Stufen-Plan: Das Herz bestellen – den Weg bereiten – Jesus einziehen lassen. Das sind für mich die entscheidenden Themen der drei Strophen.

GL 113,1

Das Herz bestellen – das heißt:

eine gründliche Innenrenovation meines Lebenshauses vornehmen;

die Herz-Kammern aufräumen und freimachen;

Wände herausbrechen, die mein Lebenshaus eng und dunkel machen;

meine Abstellräume untersuchen auf Vergessenes und Verdrängtes, auf Ballast und Gerümpel;

die Schubladen aufmachen, in die ich andere gesteckt habe;

entdecken, was alles im Lauf der Zeit unter den Teppich gekehrt wurde.

Das Herz bestellen – die erste Aufgabe im adventlichen Drei-Stufen-Plan. Die zweite heißt: Den Weg bereiten.

GL 113,2

Den Weg bereiten – das heißt:

das Gelände um mein Lebenshaus herum begehbar machen;

Zufahrtsstraßen bauen, damit Gott mit seinem befreienden und tröstenden Wort bei mir ankommen kann: die Zufahrtsstraße |17|der Hl. Schrift; die Zufahrtsstraße der Stille und des Gebets; die Zufahrtsstraße des sozialen Engagements; die Zufahrtsstraße der Gottesdienstfeier;

Steine aus dem Weg räumen, die Gott den Zugang zu meinem Lebenshaus erschweren: den Stein der Bequemlichkeit; den Stein der Gehetztheit und Ruhelosigkeit; den Stein der Überheblichkeit.

Den Weg bereiten – der zweite adventliche Appell. Würde das Lied hier enden, würden wir uns beim Singen eine reine Moralpredigt halten. Bestell dein Herz, bereite den Weg! Auf das Tun folgt das Lassen. Wir haben Vorarbeit geleistet, jetzt dürfen wir warten und Jesus einziehen lassen.

GL 113,3

Jesus einziehen lassen – das heißt:

ihm mein Lebenshaus zur Verfügung stellen;

ihn nicht in Stall und Krippe links liegen und verkümmern lassen;

ihm Wohnrecht bei uns geben;

ihn in die verschiedenen Lebens-Räume hereinbitten – in den Arbeitsraum, in den Freizeitraum.

Jesus einziehen lassen – die Erfüllung des adventlichen Drei-Stufen-Planes liegt nicht mehr in unserer Hand. Wir können das Herz bestellen und ihm einen Weg zu uns bereiten. Wir können Jesus einen Lebens-Raum bei uns anbieten – und wir dürfen mit Herz und Lippen danken, wenn wir spüren, dass er bei uns eingezogen ist und bei uns wohnt.

|18|3.Adventssonntag

Vor-läufer Jesu und Vor-bild der Kirche

Joh 1,6–8.19–28

Zwei biblische Gestalten bestimmen – wenn wir die liturgischen Texte anschauen – die ersten Wochen der Adventszeit: Jesaja, der Prophet, und Johannes der Täufer.

Vom einen kennen wir eine Fülle von wunderschönen Hoffnungsbildern:

die Wüste, die zu blühen anfängt;

der abgehackte Baumstumpf, aus dem ein neuer Trieb hervorwächst;

das Kind, das ohne Angst am Versteck einer Natter spielen kann.

Vom anderen kennen wir nur wenige Sätze und einige Details zu seinem Aussehen und Auftreten. Aber das, was wir wissen, hat es in sich. Dieser Johannes muss schon ein „besonderer Heiliger“ gewesen sein – eine faszinierende Persönlichkeit; einer, der der Kirche eine ganze Menge zu sagen hat, obwohl er von einer Kirche überhaupt noch nichts ahnen konnte.

Unter drei Überschriften möchte ich das bringen, was wir über ihn aus den Evangelien wissen:

Johannes, der Provozierende;

Johannes, der Vorläufer;

Johannes, der Fragende.

Eigentlich ist alles an diesem Johannes provozierend: Seine Kleidung, seine Lebensweise und seine Predigt. Er läuft mit seinem Kamelhaarmantel in der Wüste herum, ernährt sich von Heuschrecken und Wespenhonig und geht mit den Leuten, die zu ihm kommen und ihn hören wollen, nicht gerade zimperlich um: Ihr Schlangenbrut und Natterngezücht, nennt er sie.

|19|Provozieren – das heißt wörtlich übersetzt: heraus-rufen, herausfordern. Und das hat Johannes wirklich getan:

Er hat die Leute aus den Städten und Dörfern herausgerufen in die Wüste und er hat sie herausgefordert zur Selbstbesinnung, zu Buße und Umkehr.

Er hat sie herausgeholt aus ihrer Selbstzufriedenheit und Bequemlichkeit, aus ihren Abhängigkeiten und aus dem Gefängnis ihrer Selbstgerechtigkeit.

Er hat so gepredigt, dass die religiösen und politischen Machthaber in Jerusalem kalte Füße bekamen und eine Abordnung losschickten, die ihn verhören musste: Wer bist du? Warum taufst du?

Er hat die Sicherheit derer zerstört, die sich selbst für gut und fromm hielten, und er hat die in eine heilsame Unruhe versetzt, deren Leben festgefahren war, die nach dem Motto lebten: „Ein feste Burg ist unser Trott“.

Johannes – der Provozierende.

Aber er ruft die Leute nicht in die Wüste heraus, um einen eigenen Fan-Club aufzumachen; um ihnen seine Ideen anzupreisen, sondern um sie auf einen anderen hinzuweisen; um sie wachzurütteln für das Kommen eines anderen.

Er sieht sich nur als Vorläufer eines Größeren: „Ich bin es nicht, ein anderer ist es“, predigt er. Jetzt geschieht noch nicht das Entscheidende. Das Endgültige oder der Endgültige kommt erst noch und da wird es dann feuriger zugehen.

„Er muss wachsen, und ich muss kleiner werden“, sagt er. Das heißt: Was ich mache, ist alles nur vor-läufig; was nach mir läuft und passiert, das ist wichtig.

Als der Verheißene dann wirklich kommt, verliert sich die Spur des Predigers im Kamelfell im Sand der Wüste.

Johannes – der Vorläufer.

Wir begegnen ihm dann erst wieder im Gefängnis. Er ist unsicher geworden, ob er den Richtigen angekündigt hat, und er |20|lässt fragen: „Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?“

Er hat einen Messias verkündet, der die Spreu vom Weizen trennt und reinen Tisch macht. Und nun hört und sieht er nichts von diesem Jesus. Seit Jahren sitzt er in Festungshaft und es ist noch nichts Umwerfendes geschehen.

Entweder ist Jesus nicht der Messias oder er ist es, aber die Gottesherrschaft bricht dann ganz anders an, als er es erwartet hatte: nicht überwältigend, sondern ohnmächtig, im Kleinen und Verborgenen.

Deshalb fragt Johannes; er stellt sich selbst und seine Predigt in Frage, und er fragt neu nach Jesus.

Johannes – der Fragende.

Mein Adventswunsch wäre, dass dieser Johannes vom Vorläufer Jesu zum Vor-bild der Kirche wird; dass wir immer mehr zu einer Johannes-Kirche werden.

Eine Kirche, die sich die Wesensmerkmale des Johannes zu Eigen machen könnte, das wäre dann eine provozierende, eine vorläufige und eine fragende Kirche.

Eine Johannes-Kirche – das wäre eine Kirche, die die Menschen wirklich provoziert, herausruft und herausfordert zum Umdenken; die mit ihrer Botschaft die Menschen trifft und betroffen macht; die ganz deutlich machen muss: Wir haben ein Evangelium zu verkünden, das die Wertmaßstäbe der Welt auf den Kopf stellt.

Eine Johannes-Kirche – das wäre auch eine Kirche, die sich ihrer Vorläufigkeit bewusst ist; die weiß, dass sie noch nicht das Reich Gottes ist; die nicht sich selbst bespiegelt, sondern zum Fenster wird, durch das die Menschenfreundlichkeit Gottes zu sehen ist; die nicht Selbstzweck ist, sondern ihren Sinn nur darin hat, auf Jesus Christus hinzuweisen. „Johannes, nimm dich nicht so wichtig“, hat der sympathische Papst Johannes XXIII. zu sich selbst gesagt, um der Gefahr zu entgehen, sich und sein Amt und nicht Christus in den Mittelpunkt zu stellen.

|21|Eine Johannes-Kirche – das wäre schließlich eine Kirche, die noch fragen kann und nicht nur Antworten gibt; die immer wieder neu nach dem Kern der Botschaft Jesu sucht und nicht einfach alte Katechismusantworten auf ein Podest stellt und beweihräuchert; die Fragen zulässt und auch sich selbst in Frage stellen kann; die sich fragt, ob sie dem Maßstab des Evangeliums gerecht wird.

Eine Johannes-Kirche – das bedeutet eine provozierende, vorläufige und fragende Kirche: Ich hoffe, dass viele von Ihnen das auch auf ihrem Wunschzettel haben. Und spätestens seit dem Ende unserer Kinderzeit wissen wir, dass wir die Erfüllung mancher Wünsche nicht nur anderen überlassen dürfen.

|22|4.Adventssonntag

Ja, ist denn schon Weihnachten?

Lk 1,26–38

Kennen Sie die Geburtsgeschichte Ismaels? – Nein? – Ich werde sie Ihnen kurz erzählen: Ein Engel kommt zu Hagar, der Magd Abrahams, die vor ihrer Herrin Sara in die Wüste geflohen ist. Er sagt ihr: „Du bist schwanger, du wirst einen Sohn gebären und ihn Ismael nennen… Er wird ein Mensch sein wie ein Wildesel…“ (Gen 16,11f). Und genauso geschieht es.

Und wie sieht es mit der Geburtsgeschichte Isaaks aus? – Eine kleine Auffrischung gefällig? – Gott erscheint dem Abraham und sagt zu ihm: „Deine Frau Sara wird dir einen Sohn gebären, und du sollst ihn Isaak nennen. Ich werde meinen Bund mit ihm schließen… ich segne ihn, ich lasse ihn fruchtbar und sehr zahlreich werden“ (Gen 17,19–20). Und im Jahr darauf bringt Sara Isaak zur Welt.

Wenn ich Sie jetzt nach der Geburtsgeschichte Johannes des Täufers frage, sind Sie schon gut vorbereitet: Ein Engel erscheint dem Zacharias, als er im Tempel sein Opfer darbringt, und sagt zu ihm: „Fürchte dich nicht… Deine Frau Elisabeth wird dir einen Sohn gebären: dem sollst du den Namen Johannes geben… Er wird groß sein vor dem Herrn… Viele Israeliten wird er zum Herrn, ihrem Gott, bekehren“ (Lk 1,13–16). Und die Verheißung des Engels wird wahr.

Der Anfang der Geburtsgeschichte Jesu kann Sie nun gar nicht mehr überraschen: Der Engel Gabriel tritt bei Maria ein und spricht: „Fürchte dich nicht, Maria… du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden“ (Lk 1,30–32). In wenigen Tagen feiern wir seinen Geburtstag.

Ja, ist denn schon Weihnachten? – könnten Sie jetzt fragen, wenn Sie auf die Geburtsgeschichten Ismaels und Isaaks zurückschauen. |23|Steht denn alles, was uns Lukas am Anfang seines Evangeliums über Jesus erzählt, schon im Alten Testament – nur mit anderen Namen?

Ja, wird denn auch die Geburt Johannes des Täufers mit genau denselben Worten angekündigt wie die Geburt Jesu?

Ja, laufen denn alle Geburtsgeschichten der Bibel nach Schema F ab?

Wenn Sie so fragen, haben Sie schon etwas ganz Wichtiges entdeckt: Die Geburtserzählungen von vielen bedeutenden biblischen Gestalten folgen tatsächlich einem festen Schema. Man könnte es „Schema V“ nennen – V wie Verkündigung. Dieses Verkündigungsschema besteht aus vier Elementen:

Ein himmlisches Wesen erscheint – ein Engel oder Gott selbst.

Die Geburt eines Sohnes wird angekündigt.

Sein Name wird bestimmt.

Seine Zukunft wird vorausgesagt.

Ein Muster mit Wert, denn mit diesem Muster wird in der Bibel häufig die Lebensgeschichte eines wertvollen Menschen angekündigt. Es gibt uns das Signal: Achtung, hier kommt einer zur Welt, der in den Augen Gottes ein ganz Großer ist!

Wenn Lukas mit diesem Verkündigungsschema sein Evangelium beginnt, dann ist allen seinen Leserinnen und Lesern, die mit der Heiligen Schrift vertraut sind, sofort klar: Dieser Mensch wird große Taten vollbringen.

Mit dem Schema V ist allerdings nur der erste Teil der Verkündigungsszene beschrieben. Für den zweiten Teil müssen wir noch einmal unser Wissen über das Alte Testament aktivieren.

Erinnern Sie sich noch, wie Mose zum Führer des Volkes Israel berufen wird? Gott spricht zu Mose: „Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus! Mose antwortete Gott: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen |24|könnte? Gott aber sagte: Ich bin mit dir; ich habe dich gesandt, und als Zeichen dafür soll dir dienen: Wenn du das Volk aus Ägypten herausgeführt hast, werdet ihr Gott an diesem Berg verehren“ (Ex 3,10–12).

Oder fällt Ihnen ein, wie Jeremia zu seinem Prophetenamt kommt? „Das Wort des Herrn erging an mich: Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen… zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt. Da sagte ich: Ach, mein Gott und Herr, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung. Aber der Herr erwiderte mir: Sag nicht: Ich bin noch so jung. Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen… Dann streckte der Herr seine Hand aus, berührte meinen Mund und sagte zu mir: Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund…“ (Jer 1,4–9).

Die Geburtsgeschichte Johannes des Täufers könnten Sie jetzt schon selbst weiterschreiben: „Zacharias sagte zu dem Engel: Woran soll ich erkennen, dass das wahr ist? Ich bin ein alter Mann und auch meine Frau ist in vorgerücktem Alter. Der Engel erwiderte ihm: Ich bin Gabriel, der vor Gott steht, und ich bin gesandt worden, um mit dir zu reden und dir diese frohe Botschaft zu bringen. Aber weil du meinen Worten nicht geglaubt hast,… sollst du stumm sein und nicht mehr reden können, bis zu dem Tag, an dem all das eintrifft“ (Lk 1,18–20).

Und auch bei Maria kann es eigentlich nur so weitergehen: „Maria sagte zu dem Engel: Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne? Der Engel antwortete ihr: Der Heilige Geist wir über dich kommen… Auch Elisabeth, deine Verwandte, hat noch in ihrem Alter einen Sohn empfangen“ (Lk 1, 34–36).

Inzwischen ist es Ihnen längst klar: Wir haben schon wieder ein Schema ausfindig gemacht, diesmal das „Schema B“ – B wie Berufung. Auch dieses Berufungsschema hat vier Bestandteile:

Gott oder sein Bote spricht eine Berufung aus.

Der oder die Berufene äußert Bedenken und wehrt sich.

Die Bedenken werden beseitigt.

Gott bekräftigt die Berufung durch ein Zeichen.

|25|Wenn die biblischen Schriftsteller zeigen wollen, dass Gott einen Menschen zu einer bestimmten Aufgabe ruft, dann greifen sie gern auf dieses Muster zurück. Und alle Leserinnen und Leser wissen sofort: Diese Person ist ab jetzt im Auftrag des Herrn unterwegs.

Der Evangelist Lukas ist ein Komponist im wahrsten Sinn des Wortes: er komponiert aus „Schema V“ und „Schema B“ eine wunderschöne Geschichte. Er setzt zwei uralte Muster zusammen und formt daraus eine neue Erzählung. Historische Fakten dürfen wir darin nicht erwarten, aber wir wissen vom ersten Kapitel seines Evangeliums an: In Jesus begegnet uns ein Mensch, der mit einem göttlichen Auftrag zu uns kommt; ein großer Prophet, der uns etwas zu sagen hat, an dem wir uns orientieren und zu dem wir uns bekennen dürfen. Das nachösterliche Glaubensbekenntnis: Jesus ist der Sohn Gottes, der Messias – das setzt Lukas mit seiner genialen Komposition wie ein Ausrufezeichen gleich an den Anfang seiner Jesusgeschichte.

Normalerweise sind konstruierte Geschichten langweilig – aber die Konstruktion, die Lukas in der Szene mit Maria und Gabriel gelungen ist, macht Appetit auf mehr. Freuen Sie sich auf die Fortsetzung in ein paar Tagen…

(Nach Lohfink, Gerhard: Jetzt verstehe ich die Bibel. Ein Sachbuch zur Formkritik. Stuttgart: KBW ²1974, 109–120)

|26|Christmette

Wittgenstein contra Augustinus

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, sagt Ludwig Wittgenstein, der Philosoph. Wenn er recht hätte, müsste ich jetzt „Amen“ sagen und Sie hätten die kürzeste Weihnachtspredigt Ihres Lebens gehört.

Aber wir haben ja – Gott sei Dank oder leider, je nachdem – unseren Philosophen und Theologen, den Heiligen Augustinus, und der gibt uns einen anderen Rat: „Erklären können wir’s nicht“, sagt er, „schweigen aber dürfen wir nicht – also lasst uns singen!“

Und deshalb soll das, was ich Ihnen heute Nacht sagen möchte, nichts anderes sein als eine Einladung zum Singen. Denn:

„Erklären können wir’s (wirklich) nicht“,

warum wir immer noch daran festhalten, dass es gut wird mit dieser Welt und mit unserem Leben;

warum wir bei allem, was wir erleben, immer noch die Hoffnung haben, dass das Licht stärker sein wird als die Dunkelheit;

warum wir trotz vieler negativer Erfahrungen immer noch darauf vertrauen, dass es einen Gott gibt, dem wir nicht gleichgültig sind.

„Erklären können wir’s nicht“,

dass in diesem Menschenkind Jesus, dessen Geburtstag wir feiern, die ganze Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes sichtbar sein soll;

dass in diesem einen Menschen das aufscheinen soll, was Gott mit uns und mit der Welt vorhat;

dass im kleinen Flüchtlingskind, im angefeindeten und schließlich getöteten, im ohnmächtigen Jesus der mächtige |27|Gott unseren menschlichen Lebens- und Leidensweg mitgegangen sein soll.

Begreifen können wir die Weihnachtsbotschaft nie, so wie wir auch letztlich nie begreifen werden, warum jemand sich selbstlos für andere einsetzt, hilft, sich Zeit nimmt, verzichtet. Wenn jemand uns seine Sympathie zeigt, können wir das nicht begreifen, wir können uns davon nur ergreifen lassen. Und wer ergriffen ist, der muss das zum Ausdruck bringen.

„Erklären können wir’s nicht, schweigen aber dürfen wir nicht“.

Wir dürfen nicht verschweigen, wie sympathisch – wörtlich übersetzt: wie mitfühlend und mitleidend – Jesus den Menschen in seiner Umgebung begegnet ist.

Wir dürfen nicht verschweigen, wie viele durch ihn an Leib und Seele gesund und heil wurden.

Wir dürfen nicht verschweigen, wie er ermutigt und getröstet hat, wie er andere aufatmen ließ und ihnen neue Orientierung, neues Leben geschenkt hat.

„Schweigen dürfen wir nicht“,

weil wir selbst spüren, dass ein Leben im Sinn Jesu gelungenes und erfülltes Leben ist;

weil wir selbst ahnen, dass mit seinen Vorstellungen und Maßstäben unsere Welt menschlicher werden könnte;

weil wir selbst schon entdeckt haben, wie befreiend seine Worte sind, wie hilfreich der Blick auf sein Leben ist in unseren dunklen Stunden.

Wer einmal von dieser rettenden Kraft unseres Glaubens ergriffen wurde, der kann das nicht für sich behalten.

|28|„Erklären können wir’s nicht, schweigen aber dürfen wir nicht – also lasst uns singen!“

Wenn wir singen, ist etwas zu spüren von der Begeisterung, der Freude und der Dankbarkeit, die zu unserem Glauben gehören.

Wenn wir singen, schwingen wir uns ein auf einen gemeinsamen Rhythmus und lassen so eine Spur des Friedens wahr werden, der mit Jesus in diese Welt kam.

Wenn wir singen, finden unsere verschiedenen Stimmen in einer Melodie zusammen, und wir machen deutlich, dass wir Gemeinschaft sein möchten.

„Also lasst uns singen!“

Unsere Weihnachtslieder sind – aufmerksam betrachtet und bewusst gesungen – alles andere als einlullend, süßlich und kitschig. Sie sind Protestlieder gegen Hass und Krieg, gegen Feindschaft und Gewalt; Protestlieder, mit denen wir ansingen gegen die Todesnacht, in der wir liegen (GL 141,3), gegen Not und Leid, die nicht das letzte Wort haben sollen in unserem Leben.

Unsere Weihnachtslieder sind kleine Präludien – Vorspiele, die etwas anklingen lassen von der neuen Welt Gottes; die uns die „Tür zum schönen Paradeis“ ein wenig öffnen (GL 134,4); die uns vom „Blümlein mitten im kalten Winter“ erzählen (GL 132,1); die uns Mut zum Träumen machen, aus dem dann unsere Kraft zum Handeln erwachsen kann.

Unsere Weihnachtslieder sind schließlich Programm-Musik. Sie enthalten ein christliches Lebensprogramm: Mit den Hirten gehen und das Kind suchen (GL 143,2); an der Krippe stehen und alles, was uns geschenkt wurde, unsere Begabungen und Fähigkeiten, in den Dienst dieses Kindes stellen (GL 141,1); sich freuen über die Rettung und Christus in sich wohnen lassen (GL 144,5).

Zwischen Reden und Schweigen, zwischen Erklären und Verstummen liegt das Singen. Und deshalb ist und bleibt die |29|Weihnachtszeit die Zeit der Lieder. Nur die Sprache der Musik, der Begeisterung, der ansteckenden Freude ist dem angemessen, was wir feiern.

Als der Vater des Alten Fritz in Preußen das fröhliche und temperamentvolle Singen in den Weihnachtsgottesdiensten per Dekret verbieten und durch würdevolle Predigten ersetzen wollte, hat er damit jämmerlich Schiffbruch erlitten. Die Pfarrer, die sich an das Dekret hielten und gleich mit der Predigt begannen, wurden von ihren Gemeinden einfach niedergesungen.

Bevor mir das passiert, höre ich auf. Denn: „Erklären können wir’s nicht, schweigen aber dürfen wir nicht – also lasst uns singen!“

|30|Weihnachten am Tag

Expedition Mensch

Joh 1,1–5.9-14

Ich gebe zu – ich habe ein Faible für das Weihnachtsbrauchtum und für die Symbole, mit denen wir in diesen Tagen unsere Wohnungen und Kirchen schmücken: Ich freue mich an den Christbäumen, die uns den paradiesischen Baum des Lebens ins Gedächtnis rufen, an den glitzernden Glaskugeln, die die Äpfel an diesem Baum darstellen. Ich genieße die Augenblicke im Schein der Kerzen, die den Satz illustrieren: „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt.“ Ich mag die Strohsterne, die mir sagen: Dieses Kind – in der Krippe auf Heu und auf Stroh gebettet – kann der rettende Strohhalm in deinem Leben sein. Und ich bin ein großer Freund der Weihnachtspyramiden, die mir helfen, meine Gedanken um den kreisen zu lassen, dessen Geburtstag wir feiern.

Aber ein Symbol vermisse ich jedes Jahr in unseren Wohnungen und Kirchen: ein Zelt. Es könnte uns helfen, den Kernsatz der Weihnachtsbotschaft in Erinnerung zu behalten: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet“ – so müsste man den griechischen Text des Johannesevangeliums korrekt übersetzen.

Ein Zelt würde unseren Blick zurücklenken in die ersten Bücher der Bibel, in die Geschichte des Volkes Israel, das die Bundeslade mit den Gesetzestafeln in einem Zelt aufbewahrte und sich so auf seiner Wüstenwanderung von Gott begleitet wusste (Ex 26).

Ein Zelt würde unseren Blick auch nach vorne lenken auf das letzte Buch der Bibel und die Vision des himmlischen Jerusalem lebendig werden lassen: „Da! Das Zelt Gottes bei den Menschen: Ja, zelten wird er bei ihnen“ (Offb 21,3) – so wird in der Offenbarung des Johannes die endgültige Gemeinschaft mit Gott beschrieben.

|31|Im Symbol des Zeltes könnten wir vor allem aber schon das Profil des Menschen erkennen, in dem das Wort Gottes Hand und Fuß bekommen hat.

Wer zeltet, liebt die Freiheit: Er lebt mit der Sonne und unter dem Sternenhimmel. Er will sich nicht festsetzen, sondern beweglich bleiben und weiterziehen, wenn Neues ihn lockt.

Wenn Gott in Jesus bei uns zeltet, dann lässt er uns so seine Freiheitsliebe spüren. Jesus ist immer unterwegs zu den Menschen. Er hat keinen festen Ort, wo er sein Haupt hinlegen könnte (Mt 8,20). Und auf seinem Weg befreit er die Menschen von Krankheiten und Zwängen. Er lässt sie aufatmen, richtet die Gebeugten auf und kämpft an ihrer Seite gegen die Machthaber, die andere unterdrücken, verachten, ausgrenzen und am Leben hindern. Er befreit vom Buchstaben des Gesetzes, indem er die Menschlichkeit zum Maßstab der Gebote macht: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27). Er befreit von Verbissenheit und dem Druck, alles selbst machen zu müssen und er schenkt Gelassenheit.

Und er zwingt niemanden, seine Worte anzunehmen. Er lässt – zwar traurig – den reichen Jüngling weggehen, der sich nicht von seinem Besitz trennen kann. Er gesteht allen die Freiheit zu, sich auch gegen ihn zu entscheiden.

Wer zeltet, lebt auch bescheiden: Er verzichtet auf Komfort und Luxus, stellt keine hohen Ansprüche, bevorzugt das einfache Leben. Er schläft auf dem Boden und kocht am offenen Feuer.

Wenn Gott in Jesus bei uns zeltet, dann solidarisiert er sich so mit den armen und einfachen Leuten. Jesus lebt bescheiden und bedürfnislos. Er setzt sich mit den Kleinen und Schwachen an einen Tisch, isst und trinkt und feiert mit ihnen. Er lässt sich nicht beeindrucken von den Großkopfigen und Hochnäsigen, die sich für besser, klüger und frömmer halten.

Und er lädt seine Freunde ein, dieses einfache Leben mit ihm zu teilen: „Nehmt nichts mit auf den Weg, keinen Wanderstab |32|und keine Vorratstasche, kein Brot, kein Geld, kein zweites Hemd“ (Lk 9,3), bittet er sie.

Wer zeltet, beweist schließlich Mut und zeigt Risikobereitschaft: Er bricht auf zu Expeditionen und abenteuerlichen Reisen. Er setzt sich den Kräften der Natur aus und will neue Erfahrungen machen.

Wenn Gott in Jesus bei uns zeltet, dann geht er so das Risiko ein, in die Hände der Menschen zu fallen. Jesus scheut nicht den Konflikt mit den weltlichen und religiösen Machthabern. Er sichert sich nicht nach allen Seiten ab, sondern steht für seine Überzeugungen ein. Er provoziert das Priestertum und stellt die Tempelgesetze in Frage. Er konfrontiert seine Hörerinnen und Hörer mit den Zumutungen der Bergpredigt.

Und er ermutigt andere zum Aufstehen, zum aufrechten Gang. Er lädt ein zu Umkehr und Neuanfang.

Jesus – das freiheitsliebende, das bescheidene und das risikofreudige Wort Gottes in Person.

Das Bild des Zeltes charakterisiert aber nicht nur unser Geburtstagskind. Es skizziert auch ein Programm für alle, die heute sein Fest mitfeiern und in seinem Sinn leben wollen. Es deutet schon an, wie die Weihnachtsgabe zur Weihnachtsaufgabe werden kann; wie wir mithelfen können, dass dieses Wort in unserer Welt nicht verstummt. Denn:

Weihnachten feiern heißt auch: Die Freiheit des Wortes respektieren.

Die Botschaft Jesu kann wohltuend und befreiend weiter klingen, wenn wir der Versuchung widerstehen, sie in feste Formeln und Begriffe einzumauern; wenn unsere Worte einladend sind und anderen einen Spielraum eröffnen; wenn wir Visionen entwickeln, wie lebendiges Kirche-Sein heute aussehen könnte; wenn unsere Gemeinden zu Orten werden, an denen man aufatmen und ungezwungen beieinander sein kann.

|33|Weihnachten feiern heißt auch: Sich an der Bescheidenheit des Wortes orientieren.

Die Botschaft Jesu kann ehrlich und überzeugend weiter klingen, wenn wir auf hochtrabende, gestelzte und aufdringliche Worte verzichten; wenn wir immer wieder überprüfen, ob unsere liturgische Sprache noch verständlich ist; wenn wir zu den eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten stehen; wenn wir uns um einen einfachen Lebensstil bemühen und mit denen teilen, die unsere Hilfe brauchen.

Weihnachten feiern heißt auch: Sich vom Mut des Wortes provozieren lassen.

Die Botschaft Jesu kann klar und aufrüttelnd weiter klingen, wenn wir uns selbst von seinem Wort anfragen lassen; wenn wir Position beziehen und mutige Worte nicht scheuen, wo die Menschenwürde auf dem Spiel steht; wenn wir mitbauen an einer Kirche, die etwas riskiert, die ausgetretene Wege verlässt und sich in Neuland vorwagt.

Freiheitsliebende, bescheidene und risikofreudige Christen werden – die weihnachtliche Hausaufgabe für alle, die heute den Geburtstag Jesu feiern.

„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet.“ Ich hätte nichts dagegen, wenn sich das Repertoire des Weihnachtsschmucks um das Symbol des Zeltes erweitern würde; wenn in Zukunft an manchen Christbäumen neben den Glaskugeln und den Strohsternen auch kleine glitzernde Zelte hängen würden. Sie könnten uns daran erinnern, dass uns in Jesus ein Gott begegnet, der nicht unter Hausarrest stehen will, sondern die Freiheit, die Bescheidenheit und den Mut liebt. Sie könnten uns warnen vor einem versteinerten, starren und unbeweglichen Glauben. Sie könnten kleine Zeichen des Protests sein gegen den religiösen Mauerbau jeder Art. Und wir hätten eine Gedächtnisstütze für unser christliches Lebensprogramm, für unsere etwas andere „Zelt-Mission“: den Menschen zu zeigen, wie Gott mit seinem freiheitsliebenden, bescheidenen und mutigen Wort bei ihnen ankommen will.

|34|Fest der Heiligen Familie

Der Wolf an der Krippe