Probezeit - Wolfgang B. Engel - E-Book

Probezeit E-Book

Wolfgang B. Engel

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Beschreibung

Der junge Ingenieur Benjamin Neumann wagt einen Neuanfang. Dafür zieht er von Berlin ins Münchener Umland. Doch es läuft nicht wie erhofft. Die Wohnungssuche gestaltet sich schwierig und er verliebt sich in die falsche Frau. Gleichzeitig wird er von seinem neuen Arbeitgeber ins eiskalte Wasser geschmissen. Eine fatale Situation, wenn man kein Land sieht und feststellen muss, in einem Haifischbecken gelandet zu sein. Doch Aufgeben ist keine Option. Er kämpft verbissen weiter, bis er eine Entdeckung macht, die all seine Mühen infrage stellt.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Empfang

Beim Abteilungsleiter

Der Arbeitsplatz

Nestbau

Hierarchie

Vorsicht ist besser als Rücksicht

Bescherung

Kalte Dusche

Ganz nach oben

Abschied I

Status Quo

Baustellen

Neumann in Aktion

Subversiv

Taschenspielertricks

Asymmetrischer Informationsaustausch

Fortuna

Schmankerl

In flagranti

Kontrolle

Nebenher

Konspirativ I

So läuft der Hase

Flittchen

Deadline

Abschied II

Rohrkrepierer

Konspirativ II

Querschüsse

Fehlteil

Konspirativ III

Ultimatum

Bei Nacht und Nebel

Voll auf die Schnauze

Der Tag danach

Schlag bei den Frauen

Der Mann im Schatten

Weichenstellung

Killer

Cowboy ohne Pferd

Konspirativ IV

Planwirtschaft

Das Leben ist bunt!

Tabula Rasa

Finale

Danksagung

Neumann witterte den Köder sofort.

Dummerweise wurde er ihm so tief in den Hals gestopft, dass er keine Wahl hatte und ihn schlucken musste.

Ein junger Ingenieur und eine Einzelgängerin suchen auf ihrem Weg durch eine Welt, in der Profit alles ist, nach Menschlichkeit, und eine clevere Lösung für ihr aktuelles Problem.

Teils heiter, teils spannend, stets hintergründig, nimmt das Buch den Leser mit auf den schwierigen Weg zweier junger Menschen, denen Geld nicht das Wichtigste im Leben ist. Eine Geschichte der Ungerechtigkeiten und der Gier, der Intrigen und Manipulationen, der Liebe, der Selbstlosigkeit und des Sich-selbst-Findens, hineinverwoben in unsere Zeit, unsere Gesellschaft und ein Umfeld, das dem Autor bestens vertraut ist.

Wolfgang B. Engel, Jahrgang 1966, arbeitete als Projektingenieur im Automotive- und Luftfahrtbereich. 2019 drängte sich seine kreative Ader in den Vordergrund und fand ihren Ausdruck im Schreiben. Mit Probezeit entstand sein erster Roman.

Wolfgang B. Engel ist verheiratet und lebt in der Nähe von Rosenheim. Als Selfpublisher ist er auf die Unterstützung seiner Leserschaft angewiesen und freut sich über Rezensionen.

Weitere Informationen über Wolfgang B. Engel finden Sie auf seiner Homepage: www.wolfgang-b-engel.de

Die Handlung in diesem Buch ist fiktiv. Keine der beschriebenen Personen oder Firmen existiert wirklich, jede Ähnlichkeit wäre rein zufällig und dem Umstand geschuldet, dass die Geschichte in die heutige Zeit eingebettet ist. Auch die Örtlichkeiten der Handlung sind Produkte meiner Phantasie, die Kommune Germsbach existiert nicht. Lediglich die in einem Zeitungsartikel genannten Ereignisse entsprechen den tatsächlichen Gegebenheiten. Sie sind Medienberichten entnommen und bedurften keiner dramatischen Überhöhung, wurden jedoch an die Geschichte angepasst.

Letztendlich kannst du etwas in deinem Kopf, in deiner Hand, oder in deinem Herzen haben. Was wählst du?

Mooji

PROLOG

Donnerstag, 25. Juni

Unerwartet tauchte der Mann aus dem Dunkel des Korridors auf, blieb kurz in der Tür stehen, sah sich schnell um und trat, ohne zu fragen, ein. Er umrundete den Tresen, der einerseits als Abgrenzung und andererseits als Anlaufstelle gedacht war, und kam auf sie zu.

Er war groß, muskulös, dunkelhaarig, akkurat gekleidet und bewegte sich, als hätte er einen Stock verschluckt. Trotz der Steifheit hatte sein Auftreten etwas Raubtierhaftes.

Er fixierte sie mit seinen dunklen Augen, während er sich langsam näherte. Schon war er bis in die Mitte des Raumes vorgedrungen und neben dem verlassenen Schreibtisch ihrer sogenannten Kollegin angelangt. Sie selbst hielt sich mehr im Hintergrund auf, an ihrem Arbeitsplatz in der Ecke, und normalerweise war ihr das ganz recht. Doch nun war der einzige Fluchtweg versperrt. Sie saß in der Falle.

Als er ihren Tisch erreichte, stoppte sie die Wiedergabe ihres Diktiergeräts und nahm die Kopfhörer ab. Der Mann setzte sich halb auf die Kante ihres Schreibtischs und musterte sie von oben herab, als wäre sie ein seltenes Insekt. Die Gerüche seines Deos und seines Aftershaves krochen ihr in die Nase. Sie mochte beide nicht.

„Ich hab Licht gesehen“, sagte er. „So spät noch fleißig?“

„Ja“, antwortete sie zögernd.

„Mir ist aufgefallen, dass Sie Ihre zahlreichen Aufgaben schnell und kompetent erledigen. Ich freue mich schon darauf, Sie als Mitarbeiterin in meinem Team begrüßen zu dürfen.“

Sie sah fragend zu ihm auf, sagte aber nichts.

„Sie wissen es wahrscheinlich noch nicht, aber ich will der Nachfolger Ihres Chefs werden. Meine Chancen stehen gut, und mit Ihrer Hilfe stünden sie noch besser. Also, wenn Sie sich für mich engagieren, würde ich mich dankbar zeigen.“

„Warum sollte ich das tun?“, fragte sie.

Der Mann beugte sich vor. Unwillkürlich wich sie zurück. Seine protzige Armbanduhr spiegelte das Deckenlicht und blendete sie. Sie blinzelte, dann heftete sie ihren Blick erneut auf sein Gesicht, das jetzt zur Hälfte ihren Monitor verdeckte.

„Stellen Sie sich mal vor: Ich als Ihr Vorgesetzter, Sie als meine rechte Hand. Wir wären ein fantastisches Tandem. Ich brauche jemand Tüchtigen wie Sie an meiner Seite, der mir den Rücken freihält und mich gelegentlich auf Dienstreisen begleitet. Umgekehrt würde ich Sie in allen Bereichen unterstützen und Ihnen großzügige Privilegien zugestehen. Ein ordentliches Gehalt, üppige Prämien, gesellschaftliche Kontakte zu Entscheidern, in den besten Hotels verkehren. Wichtig sind mir nur absolute Loyalität und ... eine enge Zusammenarbeit.“

Während der letzten drei Worte streckte er seine Hand nach ihr aus. Reflexhaft schlug sie sie weg, noch bevor auch nur ein Finger den Stoff ihrer Bluse erreicht hatte.

Der Mann schnalzte dreimal hintereinander mit der Zunge.

Sie schwenkte langsam ihren erhobenen Zeigefinger und hielt trotzig dem Blick des Mannes stand. Nicht anfassen!, lautete die klare Botschaft. Sie bezwang ihren Impuls, aufzustehen.

„Und wenn ich Sie nicht bei Ihren Karriereplänen unterstütze?“, fragte sie.

„Sie müssen davon ausgehen, dass ich sowieso Ihr nächster Chef werde. Dann könnte es etwas ... ungemütlich für Sie werden. Sie sollten lieber von Beginn an Wert auf ein gutes Verhältnis legen, in Ihrem eigenen Interesse.“

Als sie nichts sagte und ihn weiter wütend anstarrte, legte er nach: „Überlegen Sie es sich, aber nicht zu lange, denn mein Angebot gilt nicht ewig.“

Dann stand er auf und ging.

Kaum war er aus der Tür, fing sie am ganzen Leib zu zittern an. Sie hasste sich dafür, zeigte es doch ihre Verwundbarkeit. Wie lange würde sie sein unmoralisches Angebot abwehren können, ohne ihren Job zu verlieren? Wovon sollte sie dann leben?

EMPFANG

Montag, 13. Juli

Pünktlich um 9 Uhr betrat Neumann das Pförtnerhäuschen neben der Einfahrtschranke, grüßte kurz in die Runde der diensthabenden Wachleute und brachte sein Anliegen vor: „Mein Name ist Neumann und ich bin hier um neun mit Herrn Altvater verabredet.“

Einer der uniformierten Pförtner bedachte ihn mit einem Lächeln, griff zum Telefonhörer, wählte eine Nummer und sagte: „Da ist ein Herr Neumann, der Sie sprechen möchte!“

Der Pförtner nickte zweimal so heftig, dass ihm die Mütze vor die Augen rutschte, legte auf, schob die Mütze wieder hoch und wandte sich an Neumann: „Wenn Sie kurz Platz nehmen möchten, er ist gleich da.“ Dann reichte er ihm ein Kärtchen zum Anheften ans Revers. „Hier ist erst mal Ihr Besucherausweis. Den brauchen Sie, bis Sie Ihren richtigen Ausweis bekommen.“

Während Neumann wartete, betrachtete er das Werbeplakat, das vor ihm hing. Unter einer Farbpalette, wie Kunstmaler sie benutzen, waren Slogan und Name seines neuen Arbeitgebers gedruckt:

Das Leben ist bunt!Germsbacher Universelle Lackieranlagen AG GUL AG

Vor etwa drei Monaten hatte er zum allerersten Mal von der Firma gehört, ab heute würde er ein Teil von ihr sein. Nie hätte er sich vorstellen können, die Stelle zu bekommen, denn sie war eigentlich für einen Ingenieur mit langjähriger Berufserfahrung ausgeschrieben gewesen. Aber dann hatte die Personalabteilung ihm mitgeteilt, dass er sie überzeugt hätte und sie es gerne mit ihm versuchen würden. Vielleicht wollte das Unternehmen aber auch nur Geld sparen, oder sie hatten keinen anderen gefunden.

Weil die Vorstellungsgespräche online stattgefunden hatten, war er gespannt auf das persönliche Kennenlernen der Örtlichkeiten und der Kollegen.

Nach wenigen Minuten betrat ein untersetzter Mann Anfang sechzig das Pförtnerhäuschen. Er kam keuchend auf Neumann zu und reichte ihm die Hand. „Grüß Gott, Herr Neumann!“, sagte er mit bayerischem Akzent. „Mein Name ist Altvater. Schön, dass wir uns kennenlernen.“

„Ganz meinerseits.“ Neumann nickte.

Auf einen Wink von Altvater verließen sie das Pförtnerhäuschen. Als sie in die Sonne traten, glänzte Altvaters von einem grauen Haarkranz umrahmte Glatze und Schweißflecken unter den Achseln wurden auf dem karierten Hemd sichtbar.

„Wir haben noch etwas Zeit bis zu unserem Termin in der Ausweisstelle“, sagte er. „Da können wir uns noch ein wenig umsehen.“

Neumann folgte ihm die Einfahrt hinunter auf das Firmengelände. Sein Blick wurde von einem schmalen, acht Stockwerke hohen, cremefarben verkleideten Büroturm eingefangen, in dessen Fenstern sich die Sommersonne spiegelte. Das Gebäude machte einen neuen und modernen Eindruck. Daneben duckten sich einige niedrigere Gebäude und eine Werkshalle, die auf den ersten Blick einen etwas heruntergekommenen Anschein erweckten.

„Was ist denn in dem Turm?“, fragte Neumann.

„Darin sitzen unsere Führungskräfte und die Verwaltung.“

„Und was ist das für eine helle Verkleidung?“

„Das ist Elfenbein.“

Neumann keuchte entsetzt auf, was Altvater wohl beabsichtigt hatte, denn nach einem Seitenblick fügte er lachend hinzu: „Natürlich nur ein Imitat!“

„Und was befindet sich in den anderen Gebäuden?“, fragte Neumann leicht irritiert.

„Darin wird gearbeitet. Auch Sie werden in einem dieser Gebäude sitzen. Sehen Sie, die zweite Baracke rechts, das ist Ihr Domizil.“ Dabei zeigte er auf ein besonders verwahrlostes Gebäude. „Ein Überbleibsel aus den Fünfzigern. Wegen der schlechten Dämmung ist es im Winter recht kalt. Jetzt, im Sommer, ist es dafür umso wärmer. Das gleicht sich also aus, im Jahresmittel passt es.“ Altvater kicherte.

Sie steuerten auf das turmartige Verwaltungsgebäude zu. Bereits von weitem sah Neumann das Portal, in dem eine junge Frau in einem Glaskasten als Empfangsdame arbeitete. Mit jedem Meter, den sie näher kamen, schien die Frau jedoch um zehn Jahre zu altern. Als sie schließlich das Portal erreichten, glotzte ihnen ein Reptil aus einem Terrarium entgegen, das ebenso verzweifelt wie erfolglos versucht hatte, die Spuren von Alter und Zigarettenkonsum wegzuschminken. Das Reptil warf einen kurzen Blick auf Neumanns Besucherausweis, bevor es ihn passieren ließ. Für Altvater mit seinem Firmenausweis war der Eingang freigeschaltet.

Sie traten in den Verwaltungstempel. Neumann erstarrte vor Ehrfurcht. Staunend betrachtete er den riesigen Innenhof, der sich vor und über ihnen auftat und den zentralen Teil des Gebäudes einnahm. Die Decke war vollständig aus Milchglas und ließ das Tageslicht hereinfluten. Die umlaufenden Wände mit Fenstern, durch die man in Büroräume sehen konnte, waren mit edel aussehendem Holz verkleidet. Über graue Granitplatten ging es an einem Teich in der Mitte des Innenhofs vorbei. Ein kleiner Wasserfall plätscherte, und erst auf den zweiten Blick glaubte Neumann zu erkennen, dass die Goldfische im Wasser und die Seerosen, die an der Oberfläche schaukelten, künstlich waren. Neben dem Teich stand ein stattlicher, alter Olivenbaum in einem riesigen Kübel und verstärkte den Eindruck, sich im Freien zu befinden.

Sie betraten einen der gläsernen Aufzüge an einer Wand und schwebten nach oben. Neumann hatte den Eindruck zu fliegen, ein wahrhaft erhebendes Gefühl. Es erfüllte ihn mit Stolz, für ein so modernes Unternehmen arbeiten zu dürfen.

„Der Innenhof wird als Atrium bezeichnet“, erklärte Altvater, während der Teich und die Personen darum herum immer kleiner wurden.

Im sechsten Stock gingen sie zur Ausweisstelle. Bernd Scheuer, stand auf dem Schild neben der Tür. Altvater klopfte, und als sich nichts tat, öffnete er die Tür. Das Büro war leer.

Altvater ließ ein verärgertes Knurren durch seinen Vollbart entweichen. Noch auf der Schwelle drehte er um und marschierte zielstrebig den Gang entlang. Neumann folgte ihm auf dem Fuß. Schließlich hörten sie aufgeregte Stimmen, die immer lauter wurden, je näher sie kamen. Hinter der nächsten Ecke befand sich eine Kaffeeküche, in der sich mehrere Personen lautstark unterhielten und lachten.

„Herr Scheuer, bitte. Wir haben einen Termin!“, unterbrach Altvater die Runde. Seine buschigen Augenbrauen strebten aufeinander zu.

„Ja, ich komme gleich!“, antwortete ein rundlicher Herr um die fünfzig. „Sie sehen ja, dass ich gerade noch beschäftigt bin. Sie können schon mal vorgehen und kurz draußen warten!“

Neumann folgte dem vor sich hin grummelnden Altvater zurück zur Bürotür. Nach einigen Minuten watschelte Scheuer heran, setzte schnell seine Ich-bin-furchtbar-gestresst-Miene auf und ließ die Bittsteller in sein Büro.

Er kam ohne Umschweife zur Sache und erklärte Neumann mit gerunzelter Stirn: „Sie sind hier an der wichtigsten Stelle des ganzen Betriebs, denn ohne uns kommt keiner rein.“ Er hob den Zeigefinger. „Alle Gebäudezugänge haben Ausweislesegeräte, die die Türen individuell und nur für den unbedingt erforderlichen Personenkreis freigeben. Sie kommen mit Ihrem Ausweis also in das Gebäude, in dem sich Ihr Arbeitsplatz befindet, in die Werkshalle und hierher in einige Bereiche der Verwaltung. Sonst kommen und dürfen Sie nirgendwo hin. Haben Sie das VER. STAN. DEN?“ Die letzten Worte sprach er übertrieben laut, deutlich und feucht aus.

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Setzen Sie sich mal auf den Stuhl dort, für das Foto.“

Neumann tat, wie ihm geheißen.

„Und jetzt lächeln!“, forderte Scheuer.

Neumann konnte seine Bemühungen auf einem Bildschirm mitverfolgen. Er fand das Ergebnis gar nicht so schlecht, doch Scheuer war nicht zufrieden. „Jetzt reißen Sie sich mal zusammen! Lächeln!“, befahl er.

Neumann zwang seine Mundwinkel mit aller Kraft nach oben. Heraus kam ein debiles Grinsen.

„Na also, geht doch!“, jubelte der wichtigste Mitarbeiter der GUL AG und drückte den Auslöser.

BEIM ABTEILUNGSLEITER

Montag, 13. Juli

Sie verließen das Verwaltungsgebäude über den Hinterausgang und überquerten einen ungeteerten, leeren Parkplatz zwischen mehreren Gebäuden. Obwohl der letzte Regen schon mehrere Tage zurücklag, glitzerte das Sonnenlicht in zahlreichen Pfützen. Die Szene erinnerte Neumann an ein Archipel aus der Vogelperspektive. In einer besonders großen Lache entdeckte er ihr Spiegelbild. In seinen Augen gaben sie ein seltsames Paar ab. Er, der hochgewachsene, leichtfüßige Neumann neben dem breitgewachsenen, schwerfälligen Altvater.

Von Insel zu Insel hüpfend erreichten sie trockenen Fußes ein zweistöckiges Gebäude aus den späten Sechzigern, das um eine Sanierung bettelte. Altvater führte Neumann zum Büro des Abteilungsleiters, wie das Schild neben der Tür verriet.

„Jetzt geht´s zum Chef!“, raunte er Neumann zu, während er an die Tür klopfte und sie ohne eine Antwort abzuwarten aufstieß. Im Zimmer saß ein schlanker Mann mittleren Alters mit graumeliertem Haar an einem Bildschirmarbeitsplatz, der aufschreckte und die Eindringlinge durch seine Brille mit großen Augen ansah.

„Darf ich vorstellen, Herr von Preuß, unser Abteilungsleiter, und Herr Neumann, unser neuer Ingenieur“, sagte Altvater und wedelte dabei unbeholfen mit den Armen.

„Freut mich, Herr Neumann. Willkommen in der GUL AG!“, sagte von Preuß und reichte Neumann die Hand. „Unsere Abteilung ist wie eine große Familie und wir duzen uns alle. Also, wenn Sie, äh, wenn du nichts dagegen hast, ich bin Otto.“

„Ja, gerne. Also, ich bin Benni!“, sagte Neumann erfreut und schüttelte von Preuß kräftig die Hand. Als er bemerkte, dass es des Guten zu viel war, ließ er sie leicht beschämt los. Dieser Fehler passierte ihm regelmäßig.

„Ach so, ja, ich bin der Richard!“, schaltete sich Altvater wieder ein.

„Wenn ich mich richtig erinnere, ist das jetzt deine erste Stelle?“, fragte von Preuß.

„Nein, die zweite. Nach meinem Studium bin ich ein bisschen in der Welt herumgereist und habe dann bei einer Berliner Firma angefangen, die leider im darauffolgenden Jahr Insolvenz anmelden musste. Anschließend habe ich mich bei verschiedenen Stellen beworben und aus den Angeboten dann die GUL AG gewählt.“

Nach der Vertragsunterzeichnung war alles ganz schnell gegangen. Eigentlich hätte er noch drei Wochen Zeit gehabt, doch letzten Freitag hatte die Firma bei ihm angerufen und angefragt, ob er nicht bereits am kommenden Montag anfangen könnte. Ihm war also nur das Wochenende geblieben, um seine Siebensachen in einen Treckingrucksack zu packen, sein Fahrrad zu schnappen, ein Zugticket zu kaufen und von Berlin ins oberbayrische Germsbach zu fahren. Alles, was im Rucksack keinen Platz gefunden hatte, hatte er in zwei Pakete gestopft, die er an die GUL AG adressiert hatte, denn eine Bleibe besaß er noch nicht.

Neumann ließ den Blick durch das Büro schweifen. Dem Rang eines Abteilungsleiters entsprechend verfügte von Preuß über ein Einzelbüro, allerdings nur in der Größe einer Besenkammer. Darin befanden sich ein Schreibtisch mit einem Notebook darauf – ein PC hätte auch keinen Platz gefunden – und ein Büroschrank.

Für Besucher musste ein Campingstuhl herhalten, der zusammengeklappt an der Wand neben dem Schrank lehnte. Zweckmäßig nannte man diesen Einrichtungsstil wohl. Der einzige Luxus war eine Kaffeemaschine, die mit Pads gefüttert wurde und auf dem Fensterbrett Platz fand. Wo auch sonst?

Neumann fiel noch die penible Ordnung auf, die im ganzen Büro herrschte. Allerdings ging es auch nicht anders bei dem Platzangebot.

„... geht Richard in sechs Monaten in seinen wohlverdienten Ruhestand. Wie im Vorstellungsgespräch erwähnt, haben wir dich als seinen Nachfolger geplant. Es gibt also viel zu tun.“ Mit diesen Worten brachte von Preuß Neumann in die Gegenwart zurück. Den Anfang hatte er nicht mitbekommen.

„Nutz die Zeit effizient, solange Richard noch da ist“, sagte von Preuß mit erhobenem Zeigefinger. „Ich muss auch weitermachen, die Pflicht ruft!“

Mit diesen Worten entließ er seine Mitarbeiter.

DER ARBEITSPLATZ

Montag, 13. Juli

Altvater führte Neumann in das Nachbargebäude, eine Baracke aus den frühen Nachkriegsjahren, von deren Wänden innen wie außen der Putz abfiel. Zuerst kamen sie in einen Korridor, der vor Schmutz starrte. Staub lag gefühlt zentimeterdick auf allen erdenklichen Oberflächen. Der PVC-Fußboden war schwarz, unmöglich zu sagen, ob das seine ursprüngliche Farbe war.

Mit den Worten: „Das wäre dann dein Büro“, führte Altvater Neumann in ein Zimmer, das den für dieses Gebäude üblichen Hygienestandard aufwies. Neumann erblickte einen vergessenen Siebzigerjahre-Schreibtisch und einen Holzstuhl, der im Mittelalter als Folterwerkzeug getaugt hätte. An der Decke flackerte lustlos eine Neonröhre, die daneben blieb gleich ganz dunkel. Kein PC, aber immerhin eine Steckdosenleiste. Topmodern, sauber und neu, wie sie war, wollte sie sich so gar nicht in die Umgebung einpassen.

Neumann litt unter spontaner Sprachlähmung. Seine Kinnlade wurde auf einmal bleischwer. Er spürte, wie seine Kehle durch den offenstehenden Mund austrocknete und sich etwas von dem Staub, den sie aufgewirbelt hatten, darin ablagerte. Seine Zunge fühlte sich bereits ganz rau an.

Entschuldigend erklärte Altvater, dass es wegen des kurzfristig vorverlegten Arbeitsbeginns noch nicht möglich gewesen wäre, den Arbeitsplatz vollständig einzurichten, sie aber schon mal mit der Steckdosenleiste angefangen hätten. Während seiner Erläuterungen waren ihm aus einem unerfindlichen Grund wieder einmal seine Hände im Weg.

„Das geht so nicht“, war das Erste, was Neumann hervorkrächzen konnte.

„Geht nicht, gibt´s in der GUL AG nicht!“, klärte Altvater ihn auf.

„Wann kommt der Rest?“, fragte Neumann ernüchtert.

„Hoffentlich in den nächsten Tagen. Der PC - ein Notebook - ist bestellt, und die IT weiß Bescheid, sodass sie ihn umgehend einrichten kann. Du bekommst sogar noch einen extra Bildschirm, und ein neuer Stuhl steht dir ebenfalls zu.“

„Wann wird hier geputzt?“

„Hm, damit sprichst du ein Problem an. Dieses Gebäude ist in den letzten Jahren leer gestanden, weshalb man sich den Putzservice gespart hat. Jetzt ist mit dir ein einziger Mann in diesem Gebäude und dabei soll es vorerst auch bleiben. Dafür das ganze Gebäude reinigen zu lassen, ist wirtschaftlich nicht vertretbar, sagt das Controlling.“

„Könnte man wenigstens das Zimmer reinigen?“, bettelte Neumann.

„Das scheitert am Gebäudemanagement. Für die Reinigung einzelner Zimmer in einem Gebäude fehlt das entsprechende Formular. Entweder das komplette Gebäude oder gar nicht. In deinem Fall also gar nicht, leider!“

„Heißt das, dass die Reinigung meines Zimmers an einem Formular scheitert? Das kann doch nicht wahr sein!“, echauffierte sich Neumann.

„Doch, natürlich, schließlich sind wir ein zertifizierter Betrieb, in dem alle Arbeiten formell erfasst und dokumentiert sein müssen!“ Mit diesen Worten ließ Altvater seinen konsternierten jungen Kollegen allein.

Neumann ekelte sich und wollte nichts berühren. Also ließ er sich von einer Reinigungskraft im Nachbargebäude einen Eimer mit Lappen geben und wischte damit über Klinken, Griffe, Schreibtischplatte und die Sitzfläche seines antiken Holzstuhls. Jetzt konnte er wenigstens am Schreibtisch sitzen und sich in seine neue Tätigkeit einlesen. Literatur wurde ihm noch am Nachmittag stapelweise von Altvater gebracht. Über den ganzen restlichen Tag verstreut versuchte Neumann immer wieder, seinen Chef in Sachen Bürohygiene telefonisch oder persönlich zu erreichen, leider ohne Erfolg.

NESTBAU

Dienstag, 14. Juli bis Anfang August

Am nächsten Tag kam das Equipment. Ein nagelneuer, moderner Bürostuhl ersetzte das Vorgängermodell aus der Gründerzeit und ein gebrauchtes, schwächelndes Notebook gab ihm langsam, sehr langsam Einblick in den digitalen Teil der GUL AG. Ein externer Bildschirm ergänzte das kleine Notebook-Display, und sogar die Deckenbeleuchtung wurde auf den neuesten Stand gebracht. Was aber noch fehlte, war die Gebäudereinigung. Der Fußboden war immer noch mit einer schwarzen Schicht verklebt, überall hingen Spinnweben und auf dem Fensterbrett konnte man mit dem Finger in der Staubschicht schreiben. Von Preuß blieb verschollen. Er war nicht am Platz und ging nicht ans Telefon. Schließlich schrieb Neumann ihm eine Mail.

Anschließend unternahm er einen digitalen Streifzug durch die GUL AG. Er entdeckte das Intranet, wo neben allen möglichen firmenspezifischen Informationen auch die digitale Version eines schwarzen Bretts zu finden war. Hier konnten die Mitarbeiter nach Belieben Angebote oder Gesuche einstellen. Angeboten wurde alles, von gebrauchten Autoreifen über Spielzeug bis hin zu Konzertkarten. Auch Wohnungen wurden vermittelt, häufig möbliert zur Untermiete und nur an Wochenendheimfahrer, außerdem befristet, manche sogar mit Besuchsverbot belegt. Eigentlich wollten die Vermieter nur das Geld, viel Geld, hatten aber auf die Bewohner gar keine Lust. Für Neumann kam keine der angebotenen Wohnungen infrage.

Ohne große Hoffnung, aber mit dem Mut des Verzweifelten, gab Neumann ein Gesuch für eine Wohnung auf. Sein derzeitiger Zustand war unhaltbar. Er hatte auf die Schnelle eine Ferienwohnung gefunden. Mit 70 Euro pro Nacht war das Wohnklo mit integrierter Schlafküche völlig überteuert und verschlang fast seinen gesamten Lohn. Er arbeitete also für ein Gehalt, das er quasi komplett aufbrauchte, um genau dieser Arbeit nachgehen zu können. Na toll!

Während seines Feierabends durchforstete er lokale Tageszeitungen und das Internet nach bezahlbarem Wohnraum in Arbeitsplatznähe. Die wenigen Angebote waren entweder ohne öffentliche Verkehrsanbindung oder das Preis-Leistungs-Verhältnis war eine Unverschämtheit. Er rechnete nach. Sich ein Auto anzuschaffen, nur um günstiger wohnen zu können, würde sich nicht lohnen. Außerdem wollte er seine Lebenszeit nicht auf staugeplagten Straßen vergeuden. Und auf Tuchfühlung zu gehen mit erkälteten Menschen in überfüllten, verspäteten S-Bahnwaggons war genauso wenig sein Ding. Insofern waren auch längere Anreisen mit dem berühmt-berüchtigten öffentlichen Nahverkehr äußerst unattraktiv. Seufzend kontaktierte er einige Anbieter von Kleinstwohnungen in der Nähe.

Er startete drei Anfragen per E-Mail und erhielt sofort zwei automatische Absagen. Einmal kam keine Antwort, hier konnte er zumindest hoffnungsvoll abwarten.

Er tätigte ebenfalls drei Anrufe. Bei einer Nummer ging nie jemand dran, bei der nächsten sprang ein Band an und informierte den Anrufer, dass die Wohnung schon vergeben war. Bei der dritten Nummer - ein Maklerbüro - erreichte er endlich einen Menschen aus Fleisch und Blut.

Der Mensch erklärte ihm, dass sich bereits 112 Interessenten gemeldet hatten und Neumann gerne die Nummer 113 sein könne. Die Besichtigung finde am nächsten Tag um 18 Uhr statt. Nur Bewerber mit vollständiger Bewerbungsmappe inklusive Gehalts- und Bonitätsnachweis hätten eine Chance. Neumann ließ sich auf die Liste setzen und die Adresse geben, holte sich eine Schufa-Selbstauskunft aus dem Internet und stellte eine Bewerbungsmappe zusammen. Sein Arbeitsvertrag musste als Gehaltsnachweis herhalten.

Als Neumann zum Besichtigungstermin im siebten Stock kam, wartete bereits eine riesige Menschentraube im Treppenhaus auf Einlass. Neumann stellte sich hinten an. Sobald sich die Schleusen öffneten, drängte die Menschenflut nach vorne. Einige besonders rücksichtslose Zeitgenossen kämpften sich unter Einsatz ihrer Ellenbogen voran. Plötzlich stoppte die Massenbewegung. Neumann ging davon aus, dass die Wohnung nun voll war. Er stand immer noch im Treppenhaus und würde heute nicht zum Zug kommen. Frustriert kehrte er in seine provisorische Unterkunft zurück.

Neumann verbrachte daraufhin seine Tage mit Einarbeitung und seine Abende und Wochenenden mit Wohnungssuche. Die Besichtigungen glichen meist einem Viehtrieb, manche Wohnungen einem Saustall. Da könnte er auch gleich eine Couch in sein Büro stellen. Seine rare Freizeit verbrachte er auf dem Fahrrad, mit dem er die Gegend erkundete.

Eines Morgens fuhr Neumann den Rechner hoch und fand eine Mail von einer Sophie Taff, die, wie er wusste, im Vorzimmer von Bereichsleiter Silberrücken saß. Der Betreff elektrisierte ihn augenblicklich. Er öffnete die Mail und las:

Von: Sophie Taff An: Benjamin Neumann

Betreff: Ihr Wohnungsgesuch im Intranet

Hallo Herr Neumann,

ein Bekannter von mir sucht einen Mieter für seine 2-Zimmer-Wohnung. Seine Telefonnummer lautet 08659-290775.

Falls Sie Interesse haben, können Sie sich bei ihm melden und einen Gruß von mir ausrichten.

VG, Sophie Taff

Sofort griff er nach dem Telefonhörer und wählte die angegebene Nummer. Nach dem dritten Läuten nahm jemand ab.

„Ja, bitte?“, fragte eine sympathische Männerstimme.

„Guten Morgen, mein Name ist Neumann. Meine Kollegin Frau Taff, von der ich Sie übrigens herzlich grüßen soll, hat mir Ihre Telefonnummer gegeben. Ich bin auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Wäre die von Ihnen angebotene Wohnung noch frei?“

„Ja, die ist noch zu haben.“

Sie vereinbarten einen Besichtigungstermin für den Abend. Neumann jubelte innerlich, bremste sich jedoch sofort wieder. Er wollte sich nicht zu früh freuen, denn weder hatte er die Wohnung schon gesehen, noch einen unterschriebenen Mietvertrag in der Tasche.

Ein athletischer Sonnyboy, Sonnenbrille ins gegelte Haar geschoben, der sich als Jackie Neuhaus vorstellte, empfing ihn freundlich. Es war keine dieser Massenveranstaltungen, bei denen Heerscharen von Wohnungssuchenden wie eine Büffelherde durch die Räume getrieben wurden und man eine Bewerbungsmappe abgeben musste, sondern es war eine Einzelvorstellung. Neumann konnte sich Zeit lassen. Der Eigentümer ermunterte ihn sogar, sich in die Wohnung hineinzufühlen und beantwortete alle Fragen ausführlich. Er habe die Wohnung bis zuletzt selbst genutzt und sich darin immer wohlgefühlt. Jetzt sei sie ihm zu klein geworden.

Neumann gefiel die Wohnung sofort. Die Räume waren hell, freundlich und gut geschnitten. Okay, offiziell hatte sie nur 48 Quadratmeter Wohnfläche, aber da es sich um eine Dachgeschosswohnung mit schrägen Wänden handelte, war die Grundfläche um einiges größer. Eine kleine Einbauküche war ebenso enthalten wie ein Mini-Balkon. Und die Miete fand er angemessen.

„Also hier würde ich gerne wohnen“, begeisterte sich Neumann.

„Wunderbar! Von Sophie weiß ich ja, wo Sie arbeiten, da benötige ich keinen Einkommensnachweis.“

Per Handschlag - bei dem sich Neumann unter Kontrolle hatte - besiegelten sie das Geschäft, bevor sie daran gingen, das Mietvertragsformular auszufüllen. Da die Wohnung frei war und Neumann für sein Zimmer keine Kündigungsfrist einhalten musste, konnte der Umzug am nächsten Tag stattfinden. Viele Sachen hatte er eh noch nicht. Die Miete für den angebrochenen Monat wurde ihm großzügigerweise erlassen.

Kaum in seiner Ferienwohnung zurück, fing er an zu packen.

HIERARCHIE

Dienstag, 11. August

Am nächsten Morgen kam Neumann mit schwerem Gepäck und Fahrrad in die Arbeit, das er bis zum Feierabend in seinem Büro parkte. Er konnte es kaum mehr erwarten, seine Wohnung zu beziehen.

Neumann war als Projektingenieur eingestellt worden. Seine Aufgabe war es, Richard Altvater beim Aufbau und bei der Inbetriebnahme von Lackieranlagen zu unterstützen und nach dessen Ausscheiden in sechs Monaten die Projektleitung zu übernehmen.

Theoretisch hatte er mittlerweile viel über das Business mit den Lackieranlagen der GUL AG gelernt, praktisch jedoch war er ein unbeschriebenes Blatt. Diagnose Papiertiger, sagte er sich. Es wurde Zeit für das Learning by Doing. Er würde mit Altvater darüber sprechen müssen.

Das Läuten des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Auf dem Display stand von Preuß. Neumann nahm ab in der Erwartung, dass von Preuß sich endlich wegen der immer noch ausstehenden Büroreinigung melden würde. Doch weit gefehlt, von Preuß erwähnte das Thema mit keinem Wort und fiel gleich mit der Tür ins Haus: „Benjamin, kannst du morgen um vier zu Bereichsleiter Dr. Silberrücken kommen? Wir haben da einen Termin und dein elektronischer Kalender zeigt frei an.“

Neumann fühlte sich völlig überfahren. Gleich beim Bereichsleiter!

„Äh, ja, geht!“, stammelte er.

„Gut, dann bis morgen um vier!“ Von Preuß legte auf, noch bevor Neumann etwas sagen konnte.

Neben dem Thema Putzdienst, das ihm unter den Nägeln brannte, hätte er gerne noch den Anlass für das Treffen gekannt. Zu Meetings erschien er lieber gut vorbereitet. Neumann rief sofort zurück, doch es war schon belegt.

Beim Stichwort Bereichsleiter Dr. Silberrücken ertönte eine kleine Klingel in Neumanns Hirnkästchen. In Silberrückens Vorzimmer saß ja Sophie Taff, die ihm seine Wohnung vermittelt hatte. Er wollte sich unbedingt mit einer Tafel Merci bei ihr bedanken, die er aber noch besorgen musste. Nicht vergessen!, ermahnte er sich, als er Merci auf einen Notizzettel schrieb.

Anlässlich des bevorstehenden Meetings klickte er sich durch die Serverlandschaft und fand schließlich ein Organigramm, das einen Überblick über die unterschiedlichen Hierarchieebenen bei der GUL AG gab.

Ganz oben, am Gipfel der Pyramide, thronte einsam der Vorstand unter Vorsitz von Professor Fürst. Direkt darunter befanden sich die Bereiche mit den Namen der Bereichsleiter. Neumann fand auch seinen Bereich, mit Namen Planung und Realisierung, geleitet von Dr. Arnold Silberrücken. Größere Bereiche, zu denen auch Planung und Realisierung gehörte, waren in Ressorts untergliedert. Neumann gehörte zum Ressort Großkundenprojekte unter der Leitung von Martin Faire. Als unterste Gliederungsebene waren die Abteilungen aufgeführt. Abteilungsleiter von Preuß stand Aufbau und Inbetriebnahme vor. Auf die Erwähnung des Fußvolks am untersten Ende der Nahrungskette wurde verzichtet.

Bereichsleiter Silberrücken ist der Chef von Ressortleiter Faire ist der Chef von Abteilungsleiter von Preuß ist mein Chef, resümierte Neumann.

VORSICHT IST BESSER ALS RÜCKSICHT

Dienstag, 11. August, 17:15 Uhr

Sie sah es schon, als sie den Firmenparkplatz betrat. Fassungslos inspizierte sie die beiden herausgerissenen Außenspiegel an ihrem alten Kleinwagen. Kraftlos hingen sie an den Kabeln, Splitter lagen am Boden. Unter einem Scheibenwischer klemmte ein Blatt Papier:

Vorsicht ist besser als Rücksicht

Ein gewöhnlicher Computerausdruck, Herkunft nicht nachweisbar und natürlich ohne Unterschrift. Das war auch gar nicht nötig, denn sie wusste auch so, wer dahintersteckte.

Wie primitiv, sagte sie sich. Sie verstand es nicht. Als könnte er damit etwas erreichen. Kopfschüttelnd sammelte sie die größten Splitter vom Boden auf und fuhr los.

BESCHERUNG

Mittwoch, 12. August, 15:45 Uhr

Obwohl er kaum fünf Minuten Fußweg zur Bereichsleitung hatte, brach Neumann schon eine Viertelstunde früher auf. Keinesfalls wollte er hetzen, hatte lieber noch ein paar Minuten für sich. Er erschien gerne aufgeräumt und gut vorbereitet zu Meetings. Weil er den Anlass nicht kannte, hatte er dieses Mal allerdings nichts vorbereiten können. Es erwartete ihn eine wie auch immer geartete Überraschung. Die in der Luft liegende Spannung wollte er durch vermeidbare Hektik nicht weiter aufladen.

Neumann verließ seine Baracke und ging hinüber zum elfenbeinfarbenen Verwaltungsgebäude, in dem die Bereichsleitung untergebracht war. Am Himmel türmten sich Wolken und eine drückende Schwüle lag in der Luft. Als er das Atrium betrat, war es gleich viel angenehmer. Weil er so früh dran war, konnte er dem alten Olivenbaum noch einen kleinen Besuch abstatten. Sogleich verspürte Neumann eine tiefe Ruhe in sich. In Gedanken fing er an, ihm Fragen zu stellen: Wo kommst du denn her? Wie lange hast du dort gestanden? Geht es dir gut oder vermisst du deine Heimat? Ob jemand in deiner Heimat dich vermisst? Ihm fielen hier und da ein paar braune Blätter auf, die er an seinem ersten Arbeitstag offenbar übersehen hatte. Nun ja, manche Dinge entdeckte man eben erst auf den zweiten Blick. Er konnte es nicht begründen, aber irgendwie fühlte er sich zu dem Baum hingezogen. Nach einigen Minuten konnte er sich endlich lösen und fuhr mit dem gläsernen Aufzug nach oben.

Nadine Link und Sophie Taff waren die Namen, die unter Sekretariat Planung und Realisierung auf dem Türschild standen. Neumann trat durch die halboffene Tür, wo ihm ein Tresen den weiteren Weg in den Raum versperrte. Hinter dem Tresen erblickte er zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein konnten.

Die Frau mit dem blondierten Bob, die näher am Tresen saß, hatte eine Schwäche für kräftige Farben. Ein knallroter Lippenstift kontrastierte mit giftgrünem Lidschatten, der farblich genau auf ihr Kostüm abgestimmt war. Ähnlich aufdringlich wie ihre Optik war auch ihr süßliches Parfum, das aber den Zigarettengestank, der von ihr ausging, nicht übertünchen konnte. Ihr Alter war wegen einer dicken Schicht Make-up schwer zu bestimmen, Neumann schätzte sie auf Mitte bis Ende fünfzig. Es war nicht zu erkennen, ob oder an was sie gerade arbeitete.

Am anderen Schreibtisch saß, abgerückt und etwas im Hintergrund, eine schlanke, mittelgroße, junge Frau mit langen dunklen Haaren, die ihr wellig auf den Rücken fielen. Sie trug Kopfhörer und ihre Finger bearbeiteten mit Lichtgeschwindigkeit die Tastatur ihres Computers. Sie war kaum geschminkt und ihr Kleidungsstil strahlte lässige Eleganz aus. Ihr Schmuck war dezent, mit Ausnahme eines großen Amuletts, das sie an einer silbernen Kette um den Hals trug. Prägnant waren ihre großen, smaragdgrünen Augen, die ihr ein etwas katzenhaftes Äußeres verliehen.

Wer ist jetzt wer - und vor allem - wer ist Sophie Taff?, fragte sich Neumann, mit der Tafel Merci in der Hand, um die er noch ein Schleifchen gebunden hatte.

Da betrat ein eher zierlicher Mann mit Nickelbrille den Raum. „Sie müssen Herr Neumann sein. Ich darf mich kurz vorstellen, ich bin Martin Faire, Ihr Ressortleiter.“

Faire reichte Neumann die Hand zum Gruß. Neumann ergriff die dargebotene Hand und riss sich zusammen. Er wollte es nicht übertreiben, ihm war noch die peinliche Situation mit von Preuß in Erinnerung. Im Resultat bekam er den Händedruck exakt so hin, wie er ihn haben wollte: trocken, kurz, fest, aber nicht zu eng.

„Das ist ja schön, dass wir uns endlich kennenlernen“, fuhr Faire fort. „Wie Sie vielleicht wissen, war ich die letzten Tage auf Dienstreise und bin erst gestern zurückgekommen.“

Dann wandte er sich den Damen zu. „Haben Sie sich schon bekannt gemacht? Nein? Dann übernehme ich das. Hier, meine Damen, das ist unser neuer Mitarbeiter Herr Neumann. Er hat als Projektingenieur angefangen und wird die Nachfolge von Herrn Altvater antreten, der in seinen wohlverdienten Ruhestand geht.“

„Hallo!“, flötete Neumann.

Faire wies mit der Hand auf die ältere der beiden Damen. „Und das ist unsere langjährige Kollegin Frau Link!“

Link zeigte keine Regung, sie erhob sich nicht und blieb stumm wie ein Fisch. Stattdessen glotzte sie Neumann unverhohlen mit ihren bernsteinfarbenen Augen an.

Faire schien über Links Nichtreaktion keineswegs verwundert zu sein, denn er fuhr ohne zu zögern fort: „Und hier nun Frau Taff. Sie unterstützt uns seit ...“

Beim Wort unterstützt verzog Link höhnisch den Mund und stieß Luft aus: „Pffff!“

“... zwei Jahre sind das, glaube ich, auch schon wieder!“, brachte Faire seinen Satz ungerührt zu Ende. Dabei zeigte er auf die junge Dame im Hintergrund. Sophie Taff schaute hoch, legte die Kopfhörer zur Seite, stand auf und trat heran. Sie lächelte freundlich und reichte Neumann über den Tresen hinweg die Hand. „Herzlich willkommen!“

Ihre grünen Augen versenkten sich in den braunen von Neumann. Sie blitzten vom Licht, das durch die Fenster in den Raum fiel. Neumann stand wie angewurzelt vor ihr. Dieser intensive Blick schien direkt bis auf den Grund seiner Seele zu dringen.

Nach einer endlosen Sekunde erwachte er aus seiner Hypnose und schaltete auf Autopilot. Er ergriff Taffs gereichte Hand und schüttelte sie so heftig, dass ihr ganzer Körper bebte. Dabei keuchte er: „Ich freue mich, dass wir uns endlich kennenlernen und möchte mich ganz herzlich für die Wohnungsvermittlung bedanken.“ Mit der linken Hand überreichte er gleichzeitig die Packung Merci.

Ein unbekannter Schmerz am rechten Daumen holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Abrupt stoppte er das Schütteln und ließ los. Der Schmerz war verschwunden. Neumann fühlte sich fiebrig und hatte einen Kloß im Hals, als ihm bewusst wurde, dass er die Begrüßung schon wieder vergeigt hatte. Taff nahm die Schokolade entgegen und bedankte sich höflich. Sie setzte sich schmunzelnd wieder an ihren Platz und lockerte, etwas verdeckt durch die Tischplatte, ihren lädierten rechten Arm. Neumann sah es trotzdem.

Aus den Augenwinkeln registrierte er, wie Link die Situation mit versteinerter Miene beobachtete.

Faire führte Neumann am Tresen entlang zu einer Tür, neben der ein Schild Bereichsleitung Planung und Realisierung Dr. Arnold Silberrücken