Projekt Zuflucht - Madeleine Wolf - E-Book

Projekt Zuflucht E-Book

Madeleine Wolf

4,8

Beschreibung

Eine Stadt erlässt neue Gesetze gegen die Wohnungsnot. Eine traumatisierte Frau wird aus ihrem Rückzugsort vertrieben. Ein ehrgeiziger Einzelgänger will beweisen, wie er die Welt rettet. Flüchtlinge sehnen sich nach einem normalen Leben. Zuflucht wünschen sich alle, auf die ein oder andere Art. Maja Sneider, fünfunddreißig jährige Schulsekretärin mit ausgeprägter Sozialphobie und mangelndem Einfühlvermögen, lebt nach einem Unfall sehr zurückgezogen. Als sie innerhalb kurzer Zeit ihre Wohnung verliert, ein großes leerstehendes Haus erbt und durch ein neues Gesetz der Kölner Stadtverwaltung gezwungen wird, Flüchtlinge in diesem Haus unterzubringen, muss sie sich ihren Ängsten stellen. Anne Simons, beste Freundin Majas, Architektin mit Leidenschaft für die Sechziger Jahre, bemuttert Maja gern und sorgt dafür, dass sie sich nicht komplett von der Welt absondert. Rafael Muller, links eingestellter Sozialarbeiter bei der Migrationsberatung, soll Maja bei der Renovierung der Flüchtlingswohnungen unterstützen. Ihr Wohnhaus scheint ihm perfekt geeignet für ein ehrgeiziges Selbstbauprojekt mit Geflüchteten. Rücksicht auf Beteiligte ist da nicht vorgesehen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 246

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buchbeschreibung:

Ein neues Gesetz zwingt die kontaktscheue Maja, Flüchtlinge in ihrem Haus aufzunehmen. Trotz ihrer panischen Angst vor Veränderungen übernimmt sie mit Freundin Anne und dem ehrgeizigen Sozialarbeiter Rafael Verantwortung für die fremden Menschen. Erstmals in ihrem Leben spürt sie eine ungewohnte Zugehörigkeit.

Stürzt Maja zurück in die Einsamkeit, als ihre Gefühle zwischen die Fronten von Prestige und Geld geraten?

Über die Autorin:

Madeleine Wolf, ist 1961 in Luxemburg geboren. 1971 Umzug in die Schweiz, seit 1978 Schweizer Bürgerin. Studium der Architektur an der ETH Zürich von 1979-1985. Seit 1986 wohnt sie in Köln. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und führt mit ihrem Mann ein Architekturbüro. Als Mitglied der Schweizer Fechtnationalmannschaft war sie zwanzig Jahre lang in aller Welt unterwegs. Sprachen und Kulturen lassen sie seither nicht mehr los.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Maja

Rafael

Anne

Maja

Kapitel 2

Maja

Anne

Maja

Kapitel 3

Rafael

Maja

Anne

Maja

Anne

Kapitel 4

Rafael

Maja

Anne

Maja

Kapitel 5

Maja

Rafael

Maja

Kapitel 6

Maja

Rafael

Maja

Rafael

Maja

Rafael

Maja

Rafael

Anne

Maja

Anne

Kapitel 7

Maja

Rafael

Maja

Anne

Rafael

Maja

Rafael

Maja

Rafael

Anne

Interview zum Projekt Zuflucht

Maja

Rafael

Kapitel 8

Maja

Rafael

Maja

Rafael

Anne

Maja

Anne

Kapitel 9

Rafael

Maja

Rafael

Maja

Rafael

Kapitel 10

Maja

Rafael

Maja

Epilog

Maja

– 1 –

Maja

»Die Seenothilfe barg letzte Nacht drei vor Griechenland gestrandete Schiffe mit insgesamt achthundert Personen an Bord. Für dreihundertzehn Menschen, darunter siebenundneunzig Kinder, kam jede Hilfe zu spät. Das waren unsere Nachrichten aus aller Welt. Es ist jetzt 06:05 Uhr. Und nun das Wetter für die Kölner Bucht. Der Regen hat aufgehört, es wird sonnig ...«

Verärgertbringe ich das Radio mit einer raschen Handbewegung zum Schweigen. Wie blöd von mir, gestern Abend den Nachrichtensender eingestellt zu haben. Nun beginne ich das neue Lebensjahr mit einer Unglücksnachricht.

Durchatmen, einen Kaffee, eine genüsslich heiße Dusche, das hilft meistens.

In einem Schluck trinke ich den doppelten Espresso, schwarz, ohne Zucker, räume die Tasse in die Spülmaschine, verschwinde im Bad. Genau zehn Minuten später rubbele ich mich sorgfältig mit dem vorgewärmten Handtuch ab. Die Kleider liegen bereit: eine olivfarbene weite Leinenhose, ein Seiden-T-Shirt mit V-Ausschnitt, darüber ein dunkelgrauer Kaschmir-Pullover, bequem, doch verbindlich genug, um dem Rektor keine Angriffspunkte zu bieten.

»Die Schulsekretärin ist das Aushängeschild unserer Schule!« Ich drehe meine schulterlangen Haare zu einem Knoten, stecke ihn mit einer kupfernen Spange fest. Der beschlagene Spiegel zeigt ein rotblond umrahmtes weißes Gesicht. Mit zwei Schritten durchquere ich die Diele, greife mir Fahrradkorb und Regencape, gleichzeitig schlüpfe ich in die gefütterten Slipper. Auf der Türschwelle kurz umdrehen – Blick zurück in alle Zimmer. Ich nehme den Schlüsselbund vom Haken, berühre dabei leicht den Rahmen mit Vaters Foto. Leise ziehe ich die Tür ins Schloss, laufe die Stufen hinunter, vorbei an den vier Wohnungstüren meiner schlafenden Nachbarn, durch den Flur und aus dem Haus.

Es ist kalt, aber trocken. Der Schlüssel knirscht im Fahrradschloss. Hinter dem Absperrgitter ist das Wasser in der Baugrube deutlich höher gestiegen. Mit einem Klick rastet der Fahrradkorb am Lenker ein. Energisch trete ich in die Pedale, das rechte scheuert mit rhythmischem Schrapp-Schrapp am Schutzblech. Vor dem S-Bahnhof am Hansaring weiche ich im Zickzack quer geparkten Fahrrädern und morgenmüden Pendlern aus. Die Uhr am Rudolfplatz zeigt halb sieben. Die Mittelstraße ist verlassen, Boutiquen öffnen nie vor zehn oder elf Uhr. Am Apostelkloster steige ich vor meinem Lieblingsmarktstand ab, wie jeden Dienstag und Freitag.. »Ein Bund Porree, ein Kilo Zwiebeln, sechs Eier, bitte. Außerdem nehme ich ein Glas von dem hausgemachten Paté.« Noch den Strauß Blumen fürs Büro, dann hab ich alles.

Ich gehe in Richtung der Kirchenmauer, doch der Standplatz der Blumenfrau ist leer! Heute kniet eine Frau in der Nische, in dicke bunte Röcke gehüllt, vor sich einen Plastikbecher. Den Kopf zum Boden gerichtet, streckt sie mir bittend ihre Hände entgegen. Unangenehm berührt klaube ich den Reserve-Euro aus der Manteltasche, lege ihn in den Becher. Rasch drehe mich um.

Mist, gestern Nachmittag habe ich den alten Blumenstrauß weggeworfen, hatte selbstverständlich damit gerechnet, einen frischen mitzubringen.

Missmutig packe ich die Einkäufe in den Korb. Ich führe meine Fahrt fort, hinter der Apostelkirche diagonal über den Neumarkt, dann am Völkerkundemuseum vorbei. Natürlich stehe ich wieder wie jeden Morgen ewig an der Nord-Südfahrt-Ampel, bevor ich in die Severinstraße einbiege. Bis dreißig Minuten vor Unterrichtsbeginn muss ich im Sekretariat die Krankmeldungen überprüfen und die Stundenplanänderungen am schwarzen Brett im Eingang aufhängen. Die zeitige Anwesenheit gehört zu den Nachteilen des Jobs als Schulsekretärin, doch lieber früh aufstehen, als nächtelang Prüfungsarbeiten korrigieren!

Am Georgsplatz angekommen, kette ich mein Rad an, eile, den Fahrradkorb überm Arm, zum Eingangsportal. Durch das Foyer, die breite Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal. Um genau zehn nach sieben öffne ich die Tür zum Büro. Nutzlos steht die leere Vase auf der Theke. Der Server summt leise, er ist bereits hochgefahren. Seitdem ich hier arbeite, habe ich Einiges automatisiert. Alle benötigten Anträge können im Intranet heruntergeladen werden, doch trotzdem bleibt, für mich völlig unverständlich, der Formularschrank für manche Lehrer der State of the Art.

Eine rote Fünf blinkt am Anrufbeantworter. Aus dem obersten Fach der Schreibtischschublade nehme ich meinen Montblanc-Füller und den Formularblock für den Stundenausfall heraus. Ich drücke auf die Wiedergabetaste.

Ob ich es erlebe, dass man diese Infos direkt per Computer an ein digitales Pinnbrett durchgeben kann?

Herr Hanneck, der Lateinlehrer, informiert mit heiserer Stimme, er sei zu erkältet zum Unterrichten. Rektor Hansen muss also entscheiden, wer die Vertretung für die erste Stunde der 5b übernimmt.

Frau Hassani, Mutter eines Neuntklässlers, bittet um einen Gesprächstermin mit dem Klassenlehrer. Notiz in sein Brieffach, aber besser, ich spreche ihn in der Pause an.

Frau Wertlin, die Geschichtslehrerin, meldet die Verlängerung ihrer Krankmeldung. Kommt sie wohl noch vor den Osterferien wieder?

Der Vater eines Schülers aus der 7a entschuldigt den Sohn.

Die Sanitärfirma Welfen möchte einen Termin für die überfällige Reparatur der Waschbecken in den Umkleiden vereinbaren.

Mit den ausgefüllten Formularen gehe ich ins Foyer, grüße die eintreffenden Lehrer, bedanke mich für die unvermeidlichen Geburtstagswünsche, öffne den Glaskasten und hänge die Mitteilungen auf. Zurück im Büro atme ich tief durch, ziehe den Ablagekasten mit den Belegen unter der Theke hervor und starte das Computerprogramm für die Abrechnung des letzten Quartals. Aus dem benachbarten Sekretariatszimmer höre ich Stimmengemurmel meiner Bürokollegin Silvia und eines Schülers.

Rafael

Rafael drückt ungestüm die Türklinke zum Versammlungsraum herunter und stürmt hinein. Die tiefstehende Wintersonne flutet durch die sechs hohen Fenster, honigfarben leuchtet der abgetretene Holzboden. Fröhliches, durcheinander fließendes Geplapper einer Gruppe Menschen empfängt ihn. Aufgeregt dreht er an seinem Augenbrauen-Piercing. Lange hat er diesen Augenblick ersehnt!

Vera, seine Chefin und Leiterin der Migrationsberatung, läuft ihm entgegen. Freche graue Locken umringen ihr strenges Gesicht, das heute ungewohnt gute Laune ausstrahlt. »Großartig, ich hätte nie gedacht, dass das so durchläuft.« Sie hält ihm ein Glas Sekt hin: »Es war abzusehen, dass die Änderung im Bau-Gesetzbuch zugunsten der Unterkünfte für Flüchtlinge sich auf die Ratsbeschlüsse auswirkt! Denn die Notunterkünfte platzen schon jetzt aus allen Nähten, die zweieinhalbtausend Asylbewerber, die unsere Stadt dieses Jahr erwartet, gar nicht mitberechnet. Trotzdem, Wahnsinn, dass die Beschlussvorlage ohne Protest durchgewunken wurde.«

Rafael wirft den Winterparka über eine Stuhllehne. Er fischt ein Papier aus der Manteltasche, springt mit einem Satz auf den Stuhl, und schwenkt es über seinem Kopf. »Hört mir mal alle zu! Ich musste mir das Protokoll ausdrucken, um es zu glauben.« Mit leicht zitternder Stimme setzt er an: »Der Rat der Stadt Köln hat am 22. Januar den Antrag zur Einbeziehung von leerstehendem Wohnraum (BELW) in die städtische Wohnraumverwaltung mehrheitlich angenommen. Der Beschluss tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft.«

»He, Rafa«, meldet sich eine Frau aus der dritten Reihe, »Was heißt das denn für uns?«

»Das bedeutet, dass ihr mit offenen Augen durch die Straßen lauft und unbewohnte Häuser bei der Wohnungsverwaltung meldet!«, ruft Rafael mit geröteten Wangen. »Jetzt kann die Stadtverwaltung endlich brachliegenden Wohnraum für fünf Jahre zur Unterbringung von Geflüchteten nutzen. Für die Besitzer gibt’s zwar eine ortsübliche Miete, dafür verpflichtet es sie zur Mitwirkung bei der Vermietung. Für das Amt ist das finanziell und organisatorisch ein Glücksfall! Kooperiert ein Eigentümer allerdings nicht ...,«, er grinst verschwörerisch ins Publikum, seine rechte Faust klatscht laut in die offene linke Hand, »dann erwartet ihn eine Zwangsversteigerung mit Vorkaufsrecht der Stadt!« Zufrieden steigt er vom Stuhl hinunter.

»Da fühlt sich unser Spezialist für shareconomy sogar vom Stadtrat verstanden, das ist doch mal etwas Neues!«, lacht Vera. Sie stößt mit ihm an.

»Wir brauchen keine Hausbesetzungen mehr, ganz legal können wir Leerstand nun für ›die anderen 90%‹ nutzen.« Energisch streicht er eine Haarsträhne hinter das Ohr. «Ich habe heute bereits eine Meldung gemacht. Elf Wohnungen stehen in dem Kasten leer, schon jahrelang. Die alte Dame, der ich täglich das Essen bringe, lebt alleine dort.«

»Du Idealist verlierst keine Minute.« Die schlanke Frau schüttelt stirnrunzelnd den Kopf. »Aber ich bezweifle, dass jedes gemeldete Haus freigegeben wird.«

Anne

»Tilman, beeil dich, wir wollen Maja nicht warten lassen!« Anne hält ihrem Mann den Wintersakko hin.

»Noch einen Moment, ist doch halb so wild, wenn wir nicht als Erste ankommen!« Unschlüssig wandert sein Blick zwischen dem fruchtigen Dornfelder und dem gehaltvolleren Montepulciano hin und her.

»Du weißt doch, wir werden die Ersten sein, die ersten und einzigen Gäste, sie lädt nie jemanden zum Geburtstag ein.«

Tilman schließt die Wohnungstür ab und folgt Anne die Treppe hinab. »Immer noch nicht? Ich dachte, sie hätte wieder mehr Kontakt.« Fragend sieht er seine Frau an. Doch Anne schiebt ihr Fahrrad bereits auf die nasse, spiegelnde Straße.

Maja

Ich folge mit dem Zeigefinger dem Webmuster der Blumen auf der weißen Leinentischdecke, rücke die drei Gedecke ein weiteres Mal zurecht. Am Balkongelände flackern Kerzen in Windlichtern. Alles ist vorbereitet, die Quiche im Ofen. Ein Blumenstrauß steht exakt im Lichtkegel auf dem Küchenblock. Es fühlt sich warm und freundlich an.

So, mein fünfunddreissigster Geburtstag. Hoffentlich bleibt die Zeit so entspannt wie die letzten paar Jahre. Bloß keine Veränderungen, die Naturkatastrophen mein Leben durcheinander werfen! Mit sieben zum Beispiel, als mein Vater nach der Scheidung meiner Eltern verschwand. Oder mit vierzehn, als Mutter von Monat zu Monat unzugänglicher in ihrer bösartigen Grantigkeit versank. Immer wollte ich helfen, handeln, aber ich war ausgeliefert. Sie tat mir leid, sie schimpfte, lamentierte. Dann entzog ich mich, indem ich sämtliche Austauschprogramme mitmachte, die unsere Schule anbot. Ich fuhr nach Frankreich, England, in die USA. Ich reiste auch während des Studiums und meiner Lehrerinnenjahre, die vielen Ferienwochen waren ein wichtiger Grund für meine Berufswahl.

»Vor allem die Sicherheit«, sagte meine Mutter, »Du musst mich unterstützen, mit dem guten Gehalt.«

Aber für mich waren die Ferien das Ausschlaggebende. Die halfen mir über manches hinweg. Die Schüler waren kein Problem. Ihnen die Logik der Strukturen der Natur oder die fantastischen Welten der Mathematik und Geometrie nahezubringen, inspirierte mich. Nur der starre unabänderliche Lehrplan brachte mich zur Verzweiflung. Jedes Abweichen davon musste begründet werden, als ob Lernen nur nach Plan funktioniert. Von den Kollegen im Lehrerzimmer war kein Verständnis zu erwarten. Auch nicht nach dem großen Knall.

Mein Puls klettert die Halsschlagadern hoch. Ich zwinge meinen Blick auf den Strauß Rosen, wandere mit den Augen von den breiten dunkelgrünen Blättern zum dornigen Stiel. Dort versinke ich in einem gelben Blütenkopf, bis ich wieder ruhig atme.

Vor sieben Jahren explodierte ein Böller in der Hand eines Abiturienten direkt neben meinem Kopf. Mein ganzes Leben, jede Gewissheit, geriet aus der Bahn. Ein Hörsturz und Panikattacken in Menschenmengen folgten, selbst eine monatelange Psychotherapie hatte diese klebrige, eindringliche Angst nicht gebändigt.

Als feststand, dass ich nicht mehr würde unterrichten können, dass ich keine Beamtin mit gutem und sicherem Gehalt mehr sein würde, um Mutter zu unterstützen und ihr pünktlich die Miete für meine Wohnung zu zahlen, da sprach sie erstmals wieder vom Vater: »Genau wie er bist du, trotz all meiner Mühen, dich zu erziehen, keinen Deut besser als dein Vater. Packe deine Sachen und verschwinde aus meinem Haus! Ich will dich hier nicht mehr sehen.«

Das war in einem anderen Leben geschehen, meist ist diese bittere Erinnerung in dicke Watte gepackt und sticht nicht mehr. Ich schüttele mich.

Jazz, leichter Jazz hilft, auf schönere Gedanken zu kommen. Ich lege eine Platte auf. Anne und Tilman treffen gleich ein. Zusammen werden wir den heutigen Geburtstagsabend hinter uns bringen, ohne all jene Ereignisse aufzuwühlen. Anne, meine beste Freundin seit der fünften Klasse, stand mir in jeder Notlage zur Seite. Sie half mir, eine Wohnung zu finden, organisierte den Umzug, brachte der Mutter die Hausschlüssel zurück. Ich flüchtete mich in das neue Zuhause wie in ein Schneckenhaus. Ein ganzes Jahr, in dem ich über Strukturen von Ahornblättern, geometrischen Formen platonischer Körper und der endlos verschlungenen Fläche eines Möbiusbandes meditierte. Anne war es auch, die mir so lange zuredete, bis ich mich für die halbe Stelle einer Schulsekretärin in unserem alten Gymnasium bewarb.

»Mit dem Geld, das du dort verdienst, kannst du wieder reisen. Die Ferienzeiten sind fast wie bei Lehrern, das ist doch nicht schlecht!«

Tatsächlich mag ich die Ordnung, den Stundenplan, das Voraussehbare, das sich Wiederholende am meisten an dem Job. Meine Welt ist klein und übersichtlich, genau das brauche ich. Ein neuer Abschnitt im Leben?

Ein dicker Kloß steigt im Hals auf, ich schließe die Augen, das Möbiusband, mein imaginärer Talisman, es fängt langsam an zu laufen, der Klumpen löst sich auf, ich atme weiter.

Vielleicht würde ich wieder reisen, an Orte, die ich bereits kenne, bestimmt gibt es schöne mir bekannte Gegenden, wohin ich mit dem Auto fahren kann.

Es klingelt, unterbrochen in meinem Gedankenfluss drücke ich auf den Türöffner.

– 2 –

Maja

Klopfgeräusche und eine unaufhörlich bimmelnde Glocke wecken mich aus einem Traum. Es ist stockdunkel im Zimmer, bin hundemüde. Erst spät waren Anne und Tilman aufgebrochen. Das Klopfen, nun höre ich es deutlich, kommt von der Wohnungstür. Ich rappele mich auf, stolpere in den Flur. Durch den Türspion sehe ich einen Helm, darunter einen Mann in Uniform, mit einer Feuerwehr-Aufschrift auf der Jacke.

Wie ist der ins Haus gekommen? Und wieso? Ich kann doch jetzt nicht aufmachen, im Pyjama! Wenn der nicht echt ist, ein Trickbetrüger oder Schlimmeres, was dann? Soll ich so tun, als ob keiner da wäre?

»Frau Sneijder, Sie müssen sofort raus, es besteht Lebensgefahr! Hier ist der Räumungsbefehl. Die Polizei wird Ihnen alles erklären.«

Die Hand streckt einen amtlich aussehenden Zettel vor den Spion. Zögerlich öffne ich die Tür. Aus dem Treppenhaus dringen hektische Stimmen in die Wohnung. Der Mann sieht an meinem gepunkteten Schlafanzug herab: »Ziehen Sie sich etwas über, einen Mantel und Schuhe, nehmen Sie ihre Handtasche mit den Papieren, dann verlassen Sie augenblicklich mit uns das Gebäude. Es besteht akute Einsturzgefahr. Das Wasser aus der Baugrube nebenan hat die Fundamente unterspült. Der Mieter aus der ersten Etage hat frische Risse im Mauerwerk entdeckt. Bitte beeilen Sie sich!«

Erstarrt stehe ich da, versuche, mich zu konzentrieren.

Das träume ich nur, ein Albtraum!

Aber der Mann an der Tür, sieht mich so drängend an, er scheint real zu sein.

Eins nach dem anderen. Laptop und Papiere sind in der Handtasche, dann etwas anziehen, Socken, die Stiefel. Ich kann doch die Hose nicht über den Schlafanzug ziehen!

Ich greife nach der Fahrradtasche, stopfe die für morgen zurechtgelegte Kleidung hinein.

Der Mantel, zum Glück ist er wadenlang, mit den Stiefeln sieht man die Pyjamahose kaum.

Ich nehme das Fotorähmchen von der Wand. Sorgfältig stecke ich es in die Handtasche.

Der Feuerwehrmann räuspert sich: »Das reicht so, schließen Sie die Tür ab und folgen Sie mir.« Er tippt mir leicht auf die Schulter. Ich setze mich in Bewegung, meine Füße laufen zur Treppe, steigen die Stufen hinunter, über die Podeste, durch den Flur, aus der Haustür. Draußen parken ein Feuerwehrwagen, ein Transit und ein Polizeiauto mit stummem Blaulicht. Davor stehen alle vier Hausnachbarn, in graue Decken gepackt. Durcheinander reden sie auf zwei Polizisten ein:

»Wann können wir ins Haus zurück?«

»Und Sie sind sicher, dass es einstürzen kann?«

»Wo bleiben wir die Nacht über?«

»Hören Sie, wichtige Arbeitsunterlagen für ein Meeting liegen in der Wohnung!«

»Muss der Vermieter für unseren Schaden aufkommen?«

Kaum bin ich auf die Straße, verriegeln die Feuerwehrmänner hinter mir die Haustüre. Das Gelände sperren sie großflächig mit Absperrgittern und Flatterband ab. An der Fassade ziehen sich zentimeterbreite Risse von der Hauseingangstür bis zum Fenster im zweiten Obergeschoss. Jemand legt mir eine Decke um die Schultern und reicht mir einen dampfenden Becher Tee. »Trinken Sie erst mal. Können Sie diese Nacht bei Verwandten oder Freunden unterkommen? Sonst bringt Sie der Bus gleich in eine Notunterkunft. Und Morgen sehen wir weiter.«

Der Ford-Transit hält an einem Hotel an der Venloer Straße. Die Rezeptionsdame, aus dem Schlaf geweckt, mit übergeworfenem Bademantel, zeigt uns die Bettplätze. Zwei meiner Nachbarn teilen sich ein Doppelzimmer. Ich möge mich leise ins Zimmer schleichen, das zweite Bett sei an eine andere Frau vergeben. Die Luft riecht verbraucht. Eine Straßenlaterne scheint hell durch die dünnen Vorhänge. Am Fußende, im halbhohen Bord auf der rechten Seite, liegt ein schmutziger Rucksack, daneben, halb ausgerollt, ragt eine grüne Isomatte in den schmalen Gang. Vorsichtig, mit spitzen Fingern, schiebe ich die Matte ins Regal. Eine Mädchenstimme murmelt etwas Unverständliches und geht in säuselndes Schnarchen über.

Viel Zeit zu schlafen bleibt sowieso nicht, ist ja bereits halb vier. Wo war das WC noch mal?

Ich tapse durch den dunklen Flur, biege am Ende nach links ab. Um die WC-Türe aufzustoßen, brauchte ich alle Kraft. Misstrauisch kontrolliere ich die WC-Schüssel, bevor ich die Klobrille mit meinen Hygienetüchern abwische.

Welch ein Albtraum! Morgen rufe ich Anne an, hier kann ich nicht bleiben.

Zurück im Zimmer lege ich mich im Mantel unter die Bettdecke. Diesmal beschwöre ich eine langsam rotierende Kugel vor meinem inneren Auge, bis ich einschlafe.

Schlagartig bin ich wach. Ein Mädchen mit dunklen Dreads wendet rasch den Kopf ab.

Blaulicht, die Evakuierung, dieses Hotel! Du meine Güte, wie spät ist es?

Ich schlage die Decke zurück, schnappe mir die Fahrradtasche, grabe nach dem Handy.

Zehn nach sieben! Ich muss sofort los!

Schnell tippe ich eine Kurznachricht an Silvia, – bin verhindert, komme um acht – und hoffe, dass sie heute mal pünktlich ist. Seit ich als Halbtagssekretärin eingestellt wurde, nutzt sie dies gerne in den Morgenstunden zur persönlichen Entlastung. Unsicher lege ich meinen Mantel ab. Die junge Frau, Jeanshose, Norwegerpulli, Anfang zwanzig, packt, vor sich hinsummend, ihren Rucksack. Sie mustert mich interessiert: »Wieso landet jemand wie du denn hier? Hast du kein Geld für ein richtiges Hotel? Viel Gepäck hast du auch nicht dabei, musste wohl schnell gehen, gestern Abend!« Unbehaglich ziehe ich meine Kleider aus der Tasche. Sie lacht. »Kannst dich unbesorgt vor mir umziehen, das stört mich nicht. Ich heiße Lotte. Normalerweise wohne ich in einem Bauwagen, nur ist mir der im Regen abgesoffen. Ziemlich unstylisch hier im Hotel Stadtverwaltung, aber immerhin warm und mit funktionierender Dusche. Frühstück gibt’s bis halb acht.«

Fröhlich pfeifend verschwindet sie aus dem Zimmer, mitsamt Rucksack und Isomatte.

Ach was soll’s, Duschen fällt heute aus.

Ich kleide mich an, falte sorgfältig den Schlafanzug, stecke ihn in die Tasche und folge ihr. »Guten Morgen, Frau Sneijder«, grüßt mich die Bademantelfrau an der Rezeption, jetzt in Bluse und schwarzer Hose. »Ich hoffe, Sie haben trotz der Umstände ein wenig geschlafen. Für die nächste Nacht sollten Sie sich um eine private Unterkunft kümmern, vielleicht bei Verwandten oder Freunden. Unser Stadthotel ist nur für Notfälle vorgesehen.« Sie schiebt mir ein Blatt mit Namen und Unterschriften über den Tresen. »Bitte unterschreiben Sie hier unten, die Übernachtungsliste müssen wir bei der Stadt einreichen.«

Kaffeegeruch dringt aus dem benachbarten Frühstücksraum. Eine vollgepackte Anrichte mit Cornflakes-Spender, Tassen, Tellerstapeln und Besteck zur Selbstbedienung, Butter und abgepackter Marmelade steht an der Wand. An dem hintersten der sechs mit schlichtem weißen Papier gedeckten Tische erkenne ich meine Wohnungsnachbarn, sie wirken zerknittert nach der kurzen Nacht. Herr Laschak, der Bauingenieur aus der zweiten Etage, erblickt mich, als er sich gerade Kaffeenachschub holen will. Durch den ganzen Frühstücksraum ruft mir zu: »Morgen Frau Sneijder! Es gibt leider keine guten Nachrichten. Wir können vorerst nicht in unsere Wohnungen zurück, das Haus wird erst überprüft. Die Versicherung des Bauunternehmers hat einen Fachmann beauftragt. Es wird wohl ein paar Tage dauern. Wir würden informiert, meinte die Feuerwehr. Was denken die sich denn? Ohne meine Arbeitsunterlagen kann ich mein Meeting vergessen.«

Ich nicke ihm knapp zu, unfähig, zu reden. Sekunden später bin aus der Tür, ich muss dringend in die Schule. Hat Silvia geantwortet? Am Friesenplatz nehme ich mir ein Taxi. Acht Uhr könnte gerade noch klappen.

»Zum Georgsplatz!« Ich rutsche müde auf den Rücksitz, tippe die Kurzwahl 2. Nach dreimaligem Klingeln nimmt meine Freundin ab. »Morgen Anne, ich stecke in Schwierigkeiten, ich kann nicht in meine Wohnung zurück! Ist euer Gästezimmer frei?«

»Mein Gott, Maja, was ist denn passiert?«

Ich schaue auf die vorbeiziehende Straße, im Tunnel färbt die Straßenbeleuchtung die Oberflächen orange, vor der Oper fahren wir an den aufgetürmte Baucontainer vorbei, tauchen mit Blick auf den Schriftzug – Liebe Deine Stadt – in den Tunnel unter der Schildergasse ein.

Ich berichte Anne von der letzten Nacht. Das Taxi biegt in den Blaubach ein. Ich fühle mich seltsam gelassen.

»Gehst du wirklich arbeiten? Nimm dir doch frei! Du kannst sofort zu uns kommen.«

»Nein, nein, ich bin zwar müde, ansonsten geht es mir gut. Im Büro ist ja zum Glück alles wie immer, da bin ich wenigstens bis heute Nachmittag abgelenkt. Könntest du für mich netterweise Informationen bei der Baufirma einholen, wann die Wohnung wieder betreten werden darf? Du bist fachlich ja eher im Thema als ich.«

Das Taxi hält auf dem Georgsplatz. Ich zahle. Erleichtert trete ich durch das Schulportal.

Anne

Anne steckt mit einer energischen Bewegung das Bettuch fest, legt ein frisch bezogenes Deckbett darauf. Ein Stapel mit Handtüchern, zuoberst eine verpackte Zahnbürste, liegt für Maja im Bad bereit. Der Bausachverständige hatte ihr am Nachmittag erklärt, dass die Situation ernster sei als erwartet. Die Überprüfung der Statik von Majas Haus werde mindestens zwei Wochen dauern. Wegen des Absackens der Grundleitungen sei das Gebäude unbewohnbar.

Sie räumt ein Regalbrett in dem schlichten Schrank frei. Auf dem Schreibtisch am Fenster steht eine Aalto-Vase mit gelben Tulpen. Maja wird jedes einzelne Detail zu schätzen wissen, da ist sie sich sicher. Ein warmes Gefühl erfüllt sie, ihre Freude am Bemuttern stößt sonst weder bei ihrem Mann noch bei ihrer Tochter auf Gegenliebe.

Die Türglocke schellt, Kinderschritte rennen durch den Flur.

»Hallo Tante Maja, hast du mir was mitgebracht?« Aufgeregt hüpfend öffnet das zierliche Mädchen die Tür.

»Liebste Sophie, das hätte ich gerne, leider musste ich alles in der Wohnung zurücklassen, auch die Schatzkiste. Aber ein Schokolädchen für mein Patenkind konnte ich noch auftreiben.«

Zufrieden greift das Kind nach der Schokoladentafel. Anne tritt hinzu und nimmt Maja in den Arm. »Du Ärmste, du bist sicher völlig erschlagen. Komm rein, wir kriegen das schon hin. Richte dich häuslich ein, Dein Zimmer ist vorbereitet. Das WLAN-Passwort kennst du ja. In einer Stunde kommt Tilman, dann können wir essen.«

Maja

Anne hat recht, der erste Schritt muss von mir ausgehen. Seltsam, dass mir der Gedanke daran überhaupt möglich ist. Als ob der Wassereinbruch etwas verändert hat!

Wie beginne ich einen Brief an meine Mutter, die mich aus dem Haus geworfen hat, als es mir am schlechtesten ging? Die nichts mehr von mir wissen wollte?

Liebe Mutter – werte Mutter – Gertrud? So fremd sind diese Worte!

Ein paar Mal bin ich in den vergangenen Jahren in der Berger Straße an ihrem riesigen Haus vorbeigefahren. Mutters Wohnzimmerfenster im vierten Stock stand unverändert voller Pflanzen zwischen gemusterten Vorhängen,die Fenster der übrigen Etagen sahen hingegen blind und verlassen aus.

Ich gebe mir einen Ruck, ziehe den Deckel vom Füller, positioniere ihn mittig oben auf meinem Block und beginne zu schreiben.

Mama,

ich sitze am Schreibtisch in Annes Gästezimmer, Du erinnerst Dich doch noch an Anne? Sie hat mir stundenlang ins Gewissen geredet, Stolz und Verletztheit zu überwinden. Es ist mir nicht leicht gefallen. Sind wir in den sieben Jahren andere geworden? Anrufen oder spontan bei Dir vorbeifahren war mir jedenfalls unmöglich. Kontakt per Brief ist einfacher, der Adressat kann ihn lesen, sich abreagieren, später antworten oder es sein lassen.

Ich möchte Dich fragen, ob Du Dir vorstellen kannst, mich zu treffen. Du hast mich aus dem Haus verbannt, weil Du Angst hattest, dass ich Dich ausnutze, dass ich ohne Gegenleistung in einer Deiner Mietwohnungen wohne. Ehrlich gesagt, dieses Schreiben hat einen aktuellen Hintergrund. Mein Wohnhaus wurde am Dienstag evakuiert. Es sieht so aus, dass ich mir eine neue Bleibe suchen muss. Bei Dir im Haus sind Stockwerke frei, ich habe einen Job und bin in der Lage, Dir eine reelle Miete zu zahlen. Ich verlange nicht, dass Du mich als Dein Kind empfängst, aber vielleicht lebt unser Kontakt auf einer anderen Ebene wieder auf.

Eine Antwort würde mich glücklich machen.

Deine TochterMaja

Ich lese den Brief durch, falte ihn sorgfältig und stecke ihn in einen Umschlag. Auf dem Weg zu den zwei für heute vereinbarten Wohnungsbesichtigungen werde ich ihn bei der Post aufgeben.

Welche Wahrscheinlichkeit ist wohl geringer? Dass meine Mutter antwortet oder dass ich eine bezahlbare Wohnung in Köln finde?

– 3 –

Rafael

Der weiße Opel Meriva biegt quietschend auf die Berger Straße ein. Nur noch eine Menübox muss Rafael abliefern, dann ist er für heute fertig. Er stoppt bei einem heruntergekommenen vierstöckigen Sechzigerjahre-Schlitten. Im Erdgeschoss schieben sich schräg versetzte Glaskästen bis zum Bürgersteig. Die ehemaligen Werkstätten stehen leer, die Fenster sind mit Papier verklebt, einzig neben dem Hauseingang verkauft ein Büdchen ungerührt von morgens um 8:00 bis abends um 9:00 Uhr Zeitungen, Zigaretten und Süßigkeiten. Rafael steigt aus dem Auto, nimmt die letzte Mittagsessensbox und läuft am stämmigen Kioskbesitzer vorbei zur Haustür. »Hallo Herr Dilian, machen Sie mir einen Mokka, wenn ich wieder runter komme?«

»Tach, Herr Muller, d’r Mokka jeiht klor. D’r ahl Drachen ist hück üvrijens he nit aufgetaucht, un unger uns, ich kann nit sagen, dat ich dat bedaure. Kleene Pause för ming Nerve. Wat servieren Se Frau Knieps dann?«

»Möhrencremesuppe, als Hauptgang Tafelspitz und grüne Bohnen. Ich muss dann mal hoch, eine Lady lässt man nicht warten, vor allem, wenn sie Feuer spucken kann!«

Rafael sucht den Schlüssel mit den Initialen GK im Bund und öffnet die Haustüre. In der Eingangshalle knirschen die hereingetragenen Steinchen unter den Schuhen, er folgt den eigenen Sohlenabdrücken auf der staubigen Wendeltreppe bis zur obersten Etage. Der schrille Klingelton durchschneidet mehrmals die Stille des leeren Hauses, doch die blassblaue Tür mit dem messingfarbenen Drücker bleibt zu. Rafael dreht den ihm anvertrauten Schlüssel im Schloss. »Frau Knieps, sind Sie da? Hallo, Frau Knieps!«

Er durchquert die Diele, vorbei an Zeitungsstapeln, schiebt mit der Box das benutzte Geschirr der letzten drei Tage auf dem Küchentisch zur Seite. Der Fernseher im Wohnzimmer ist aus. Beunruhigt öffnet er die Tür zum Schlafzimmer. Die Überdecke ist zur Hälfte weggezogen, mit zwei Sätzen springt er um das Bett herum. An den Bettpfosten gelehnt, sitzt die alte Frau dort, regungslos. Rafael fühlt den Puls am Handgelenk, dann am Hals, nichts, nur Kälte. Er fröstelt, holt tief Luft, zieht das Handy aus der Hosentasche und wählt den Notruf. Die Zentrale nimmt seine Meldung routiniert auf. Sie bittet ihn, auf den Notarzt zu warten.

Plötzlich durchschießt es ihn heiß. Was, wenn die Stadtverwaltung Frau Knieps nach seiner Leerstands-Meldung geschrieben hat, und sie dadurch einen Herzinfarkt bekam! Er eilt ins Wohnzimmer, dreht sich zur Anrichte mit den grünen Glasschiebetüren um, hier liegt immer die Post. Hastig blättert er den Stapel durch. Werbung, ein paar Rechnungen zum Monatsende, ein Brief mit Kölner Absender. Kein amtliches Schreiben, erleichtert atmet er auf, lässt sich auf das Sofa sinken.

Was geschieht jetzt mit dem Haus? Frau Knieps wollte nie über Angehörige sprechen, an seinem ersten Tag hatte sich Rafael nach ihrer Familie erkundigt und trat damit voll ins Fettnäpfchen.

»Alle wollen mich immer nur ausnutzen, die Mieter, mein Mann, meine Tochter Maja. Ich hab' alle rausgeschmissen. Passen Sie bloß auf, junger Mann!«

Seitdem hat er dieses Thema gemieden. Die alte Dame war paranoid. Es war besser, sie nicht zu reizen. Maja … den Namen hat er doch eben noch gesehen! Er zieht den handadressierten Briefumschlag aus dem Stoß. Maja Sneijder. Maja, das könnte die Tochter sein, Familiennamen sind heutzutage ja Schall und Rauch. Gedankenverloren dreht er den Brief zwischen den Fingern. Es klingelt, rasch steckt er den Umschlag ein.

Maja

Ich nehme ein weiteres Formularblatt vom Stapel und drücke auf die Wiedergabetaste für die letzte Meldung. »Diese Nachricht ist für Frau Maja Sneijder. Sie möchte sich bitte bei der Polizeidienststelle melden. Es geht um ihre Mutter, Frau Knieps. Die Telefonnummer ist die ... herzlichen Dank, Kramer.« Beunruhigt lasse ich den Füller auf den Block sinken.

Was bedeutet das denn? Funkstille seit dem Rausschmiss vor sieben Jahren, keine Reaktion auf meinen Brief und nun ein Anruf von der Polizei?

Das wird es sein: Mutter bezieht Sozialhilfe, daher recherchiert das Amt nach Angehörigen, die die Kosten übernehmen.

Verärgert schiebe ich den Stuhl beiseite.

Das kann jedenfalls warten. Nach der Arbeit ist immer noch früh genug.

Mit den Zetteln für das Pinnbrett stürme ich aus dem Büro.

Morgen endet die Antragsfrist für die Klassenfahrten der Mittelstufe.