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Kiera Cass' mitreißende Liebesgeschichte geht weiter! Hollis hat ihre Heimat verlassen und sich der Familie ihres verstorbenen jungen Ehemannes Silas angeschlossen. Aber dort sind nicht alle Hollis wohlgesonnen. Vor allem Silas' düsterer Cousin Etan macht aus seiner Abneigung ihr gegenüber keinen Hehl. Bei der geheimen Revolte gegen den tyrannischen König jedoch ist man auf Hollis' Hilfe angewiesen. Wird es ihr gelingen, aus Feinden Verbündete zu machen? Aus einem unterdrückten Volk ein Land, das in Freiheit lebt? Und wird sie ihre Gefühle weiter verraten – oder sich der geheimen Sehnsucht ihres Herzens hingeben? Ein umkämpfter Thron, finstere Intrigen und ein Schicksal, das Undenkbares bereithält! Band 2 von 2. Das Hörbuch erscheint bei Argon. Alle Titel von Kiera Cass bei Sauerländer: »Selection« (Band 1) »Selection – Die Elite« (Band 2) »Selection – Der Erwählte« (Band 3) »Selection – Die Kronprinzessin« (Band 4) »Selection – Die Krone« (Band 5) »Promised« (Band 1) »Promised – Die zwei Königreiche« (Band 2)
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Seitenzahl: 318
Kiera Cass
Promised 2
Die zwei Königreiche
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Angela Stein
FISCHER E-Books
Für Tara, die meinen Geschichten für junge Erwachsene lauscht, seit wir junge Erwachsene waren.
AUS DEN CHRONIKEN DER COROISCHEN GESCHICHTE, BAND I
Und darum, Coroer, schützt die Gesetze.
UDenn missachten wir eines, missachten wir alle.
Während der Reise schaute ich immer wieder durchs Kutschenfenster nach hinten, als verfolge uns jemand. Doch wer hätte das sein sollen? In ganz Coroa gab es niemanden, der mir folgen würde. Nicht mehr.
Mein geliebter Ehemann Silas war tot, meine Eltern auch. In Keresken Castle hatte ich noch ein paar Freundinnen, aber die hielten König Jameson die Treue – sicher auch, weil ich ihn genau an dem Abend verlassen hatte, an dem der König mir offiziell einen Heiratsantrag machen wollte. Jameson selbst schien mir sogar zu verzeihen, dass ich mit einem Fremden durchgebrannt war – und noch dazu mit einem Fremden aus dem verfeindeten Nachbarland. Meine Freundin Delia Grace hatte meine Stelle an der Seite des Königs eingenommen, und ich hatte keinerlei Absicht, nach Keresken Castle zurückzukehren.
Mehr Menschen gab es nicht mehr in Coroa, mit denen ich verbunden war. Die beiden anderen saßen mit mir in der Kutsche. Trotzdem konnte ich es nicht lassen, nervös nach hinten zu schauen.
»Genau das mache ich schon mein Leben lang«, bemerkte meine Schwiegermutter, Lady Eastoffe, und legte mir eine Hand aufs Bein. Auf der Sitzbank gegenüber schlief meine junge Schwägerin Scarlet. Selbst im Schlaf wirkte sie, als könne sie im nächsten Moment hellwach sein. Das war jetzt immer so, seit dem schrecklichen Überfall.
Draußen vor dem Fenster sah ich Etan Northcott, stolz und überheblich wie eh und je, auf seinem Pferd. Er spähte in den Nebel und legte immer wieder den Kopf schief, um in die Dunkelheit zu lauschen.
»Hoffentlich können wir nach dieser Reise damit aufhören, uns ständig ängstlich umzuschauen«, sagte ich.
Lady Eastoffe – die ich inzwischen »Mutter« nannte – betrachtete Scarlet mit ernstem Blick. »Ich hoffe vor allem, dass wir gemeinsam mit den Northcotts etwas gegen König Quinten unternehmen können. Danach wird alles entschieden sein … auf die eine oder andere Art.«
Ich schluckte, verstört über die Endgültigkeit ihrer Worte. Entweder wir würden den Palast von König Quinten siegreich verlassen – oder tot.
Noch immer konnte ich kaum fassen, dass meine neue Mutter aus freien Stücken eine Ehe eingegangen war, die sie so eng an einen bösartigen König band. Aber ich selbst hatte im Grunde das Gleiche getan, indem ich Silas Eastoffe geheiratet hatte.
Die Eastoffes waren Nachfahren von Jedreck dem Großen, dem ersten Monarchen einer langen Dynastie auf dem isoltischen Thron. Der jetzige Herrscher von Isolte, König Quinten, stammte vom ersten Sohn von Jedreck ab, nicht jedoch von dessen erstem Kind. Die Eastoffes waren Nachfahren des dritten Sohnes von Jedreck. Nur Etan Northcott konnte sich einer direkten Abstammung zu Jedrecks erstem Kind rühmen, einer Tochter, die man in der Thronfolge übergangen hatte, weil sie ein Mädchen war.
König Quinten jedenfalls betrachtete sämtliche Eastoffes und Northcotts als Bedrohung für seine Herrschaft. Und das, obwohl sie bald enden würde, sollte sich der schlechte Gesundheitszustand seines einzigen Sohnes, Hadrian, nicht bessern.
Quintens Verhalten war mir vollkommen rätselhaft.
Ich konnte einfach nicht verstehen, warum er alle Menschen königlichen Blutes vertrieb oder brutal ermorden ließ. Prinz Hadrian war gebrechlich, und wenn König Quinten sterben würde – diesem Schicksal entging auch ein Monarch nicht –, musste schließlich irgendjemand die Thronfolge antreten. Deshalb fand ich es sinnlos, dass Quinten alle auslöschte, die einen legitimen Anspruch darauf hatten.
Auch meinen Mann Silas Eastoffe.
Wir alle waren nun entschlossen, dafür zu sorgen, dass unsere Lieben nicht umsonst gestorben waren. Und fürchteten gleichzeitig, dass wir mit unserem Vorhaben scheitern würden.
»Wer da?« Wir hörten den harschen Ruf über das Knarren der Räder hinweg, und die Kutsche kam abrupt zum Halten. Scarlet fuhr hoch und hielt im nächsten Moment ein kleines Messer in der Hand. Ich hatte nicht gewusst, dass sie es in ihren Röcken verborgen hatte.
»Soldaten«, raunte Etan uns durchs Fenster zu. »Isolter.« Dann rief er: »Seid gegrüßt. Ich bin Etan Northcott, ein Soldat in Diensten von König …«
»Northcott? Bist du das?«
Etans Gesicht entspannte sich, und er blinzelte verblüfft.
»Colvin?«, rief er zurück. Da keine Antwort kam, sprach er weiter. »Ich eskortiere meine Familie auf dem Rückweg von Coroa. Du hast gewiss schon gehört, was geschehen ist. Ich geleite die Witwe meines Onkels und ihre Töchter nach Hause.«
Es entstand ein Schweigen, dann fragte der Soldat, hörbar bestürzt:
»Witwe? Lord Eastoffe ist doch wohl nicht tot?«
Etans Pferd bockte, aber er zügelte es rasch. »Doch. Seine beiden Söhne auch. Mein Vater erteilte mir den Auftrag, den Rest der Familie sicher nach Hause zu bringen.«
»Unser Beileid für deine Familie. Wir lassen euch natürlich passieren, müssen die Kutsche aber dennoch überprüfen. Das ist Vorschrift.«
»Selbstverständlich, das verstehe ich«, erwiderte Etan.
Ein Soldat blickte unter den Boden der Kutsche, einer spähte zu uns herein. Der Stimme nach zu schließen, war es der Mann, der gerade gesprochen hatte. »Lady Eastoffe«, sagte er und verneigte sich. »Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.«
»Wir danken Ihnen. Auch für Ihren Einsatz«, erwiderte Mutter.
»Zum Glück sind Sie dem besten Regiment von ganz Isolte begegnet«, verkündete der Soldat mit stolzgeschwellter Brust. »Auf dieser Straße wimmelt es sonst von Coroern. Erst vor zwei Wochen haben sie ein Dorf an der Grenze in Brand gesteckt. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn die auf Sie gestoßen wären.«
Ich schluckte und schaute auf meine Hände, wandte den Blick dann wieder dem Soldaten zu. In diesem Augenblick schien er gerade zu überlegen, was ich in der Kutsche zu suchen hatte, und sah fragend Etan an.
»Die Witwe meines Cousins Silas«, erklärte er.
Der Soldat schüttelte den Kopf. »Kann nicht fassen, dass Silas tot ist … und dass er schon geheiratet hatte.« Der Mann beäugte mich erneut. Ganz sicher war er vor allem fassungslos, weil Silas eine Coroerin geheiratet hatte.
Damit war der Mann nicht alleine.
Sein Blick wurde sanfter. »Kann schon verstehen, dass Sie da wegwollen«, sagte der Soldat und wies mit dem Kopf Richtung Coroa. »Ich bin nicht über alles auf dem Laufenden, aber man hört, dass der König inzwischen wohl völlig verrückt ist.«
»Das war er doch schon immer«, wandte Etan ein.
Der Soldat lachte. »Stimmt. Aber er wurde von einer Frau sitzengelassen und benimmt sich anscheinend seither wie ein Irrer. Es heißt, er hätte eines seiner wertvollsten Boote mit der Axt kurz und klein geschlagen. Am Fluss, wo ihn jeder sehen konnte. Er soll wohl eine Neue haben, der er aber überhaupt nicht treu ist. Und vor ein paar Wochen hat er angeblich sein eigenes Schloss in Brand gesteckt.«
»Ich kenne das Schloss«, erwiderte Etan trocken. »Kann durch einen Brand nur schöner werden.«
Ich musste mir fast auf die Zunge beißen, um den Mund zu halten. Nicht einmal in kompletter geistiger Umnachtung würde Jameson Keresken Castle, den Inbegriff coroischer Handwerkskunst, zerstören.
Was mir aber weh tat, war das Gerücht, dass er angeblich Delia Grace betrog. Es würde mir wahnsinnig leidtun für sie, wenn sie glaubte, ihre Wünsche seien in Erfüllung gegangen, und dann das Gegenteil feststellen musste.
Der Soldat lachte lauthals über Etans Bemerkung, wurde dann aber wieder ernst. »Weil König Jameson jetzt so unberechenbar ist, fürchten wir jederzeit einen Überfall. Deshalb müssen wir die Kutschen so sorgfältig überprüfen, auch bei Leuten, die uns bekannt sind. Der irre Jameson ist wohl zurzeit zu allem imstande.«
Ich merkte, wie ich rot anlief, und ärgerte mich furchtbar darüber. Das war alles gelogen. Jameson war weder verrückt noch plante er einen Überfall auf Isolte. Aber da der Soldat so argwöhnisch wirkte, behielt ich meine Gedanken lieber für mich.
Mutter legte mir beruhigend die Hand aufs Knie und sagte zu dem Soldaten: »Das verstehen wir natürlich und danken Ihnen für Ihre Sorgfalt. Und wenn wir unversehrt unser Zuhause erreicht haben, werde ich Gebete für Sie sprechen.«
»Alles in Ordnung«, rief der zweite Soldat von der anderen Seite der Kutsche.
»Natürlich«, erwiderte sein Kollege laut. »Das sind schließlich die Eastoffes, du Schwachkopf.« Kopfschüttelnd trat er zurück und rief den anderen zu: »Weg frei machen! Lasst sie durch! Und dir alles Gute, Northcott«, fügte er hinzu.
Etan nickte ihm wortlos zu.
Als wir die Grenze passierten, sah ich draußen Dutzende von Soldaten. Einige salutierten, andere glotzten nur. Ich fürchtete plötzlich, dass einer mich als die Frau erkennen würde, die den König zum Wahnsinn getrieben hatte. Und dass man mich aus der Kutsche zerren und zu Jameson zurückkarren würde.
Doch das geschah zum Glück nicht.
Ich hatte mich freiwillig für diese Reise entschieden, war der Kutsche sogar nachgejagt, um sie einzuholen. Aber dieser Vorfall verdeutlichte mir, dass ich gerade nicht nur eine Landesgrenze passierte, sondern in eine ganz andere Welt kam.
»Bis zum Anwesen sollte eigentlich alles glattgehen«, bemerkte Etan, nachdem wir den Grenzposten hinter uns gelassen hatten.
Scarlet steckte das kleine Messer, das sie unter ihren zarten Händen verborgen hatte, in ihre Röcke zurück. Ich fragte mich verwundert, was sie überhaupt damit hätte tun wollen.
Mutter legte den Arm um mich. »Ein Hindernis ist überwunden, unzählige liegen vor uns«, bemerkte sie scherzhaft.
Und ich lachte, obwohl mir gar nicht danach zumute war.
Die Sonne ging schon auf, als wir uns dem Anwesen der Northcotts näherten. Scarlet spähte zum Fenster hinaus, ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht, als sie die vertraute Landschaft wiedererkannte.
Wiesen mit hohem Gras erstreckten sich bis zum Horizont, Mühlen nutzten die starke Kraft des Windes, der über die Ebenen fegte. Immer wieder sah ich auch Wäldchen, in denen die Bäume so dichtgedrängt standen, als wollten sie sich vor dem kalten Wind schützen.
Schließlich bog der Kutscher auf eine Allee mit hohen alten Bäumen ein, die vor einem efeubewachsenen Anwesen endete. Im frühen Morgenlicht hatte es einen ganz besonderen Zauber. Die alten Steine an der Zufahrt, der dichte Efeu an den Wänden des Hauses – vieles wies darauf hin, dass die Familie Northcott schon sehr lange hier lebte.
Mutter, die sehr gedankenverloren gewirkt hatte, lächelte jetzt ebenfalls ein wenig, streckte gar nicht damenhaft den Kopf zum Fenster hinaus und winkte wie wild.
»Jovana!«, rief sie aus und sprang aus der Kutsche, kaum dass sie angehalten hatte.
»Ach, Whitley, ich habe mir solche Sorgen gemacht! Wie war die Reise? Waren die Straßen schlimm? Scarlet! Ich bin ja so froh, dich zu sehen!«, sprudelte Jovana, ohne Antworten abzuwarten.
»Wir haben einen unerwarteten Gast«, teilte Etan seinen Eltern in einem Tonfall mit, der keinen Zweifel an seinem Missfallen ließ.
Da er jedoch Manieren hatte, half er mir formvollendet aus der Kutsche. Und da ich mich auch benehmen konnte, nahm ich das Angebot an.
»Lady Hollis?«, fragte Lord Northcott überrascht.
»Oh, Lady Hollis! Sie Ärmste!« Lady Northcott stürzte auf mich zu und schloss mich in die Arme. »Diese weite Reise haben Sie auf sich genommen! Haben Sie Ihre Heimat verlassen?«
»Sie ist jetzt Herrin eines eigenen Anwesens«, berichtete Etan. »Eines sehr eindrucksvollen sogar, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
»Aber diesem Anwesen fehlt eine Familie«, sagte ich leise. »Ich möchte bei meiner Familie sein.«
»Wie tapfer.« Lady Northcott strich mir über die Wange. »Sie müssen sich bestimmt erst einmal ausruhen. Natürlich sind Sie jederzeit in Pearfield willkommen. Hier sind Sie in Sicherheit.«
Etan verdrehte die Augen, und inzwischen wusste ich, warum er das tat: In Sicherheit waren wir nirgendwo.
Lord Northcott trat zu Scarlet und ergriff ihre Hand. »Wir haben das Zimmer zum Wald hin für dich gerichtet. Und Lady Hollis, Sie …«
»Bitte einfach Hollis.«
Lord Northcott lächelte. »Gerne. Dann bin ich für dich ab jetzt dein Onkel Reid. Wir lassen sofort das Bett im Zimmer gegenüber beziehen. Was für eine schöne Überraschung.«
Etan verzog mürrisch das Gesicht, worauf seine Mutter ihn mit dem Ellbogen anstieß.
Ich war zu erschöpft, um mich zu ärgern.
»Und ich bin ab jetzt deine Tante Jovana, Hollis«, erklärte Lady Northcott. »Kommt, lasst uns reingehen, ihr seid doch bestimmt alle müde.«
Sie führte uns im ersten Stock zu einem Gang, in dem jeweils zwei Zimmer gegenüberlagen. Mutter würde in einem anderen Trakt des Hauses wohnen, vermutlich, damit sie ihre Ruhe hatte. Wir drei wurden in diesem Flur einquartiert, und mein Zimmer lag ausgerechnet neben dem von Etan, der sich keinerlei Mühe gab, seinen Ärger darüber zu verbergen. Er warf mir einen finsteren Blick zu und schloss die Tür hinter sich mit einem Knall, der mir durch Mark und Bein ging.
Aus meinem Zimmer hatte ich Aussicht auf den Himmel und die weiten Ebenen. Das Anwesen gefiel mir, und wenn ich hier nicht so fehl am Platz gewesen wäre, hätte ich mich beinahe zu Hause gefühlt.
Scarlet war im Zimmer gegenüber, an der Rückfront des Hauses. Von ihrem Fenster aus sah man einen dichten Wald, in dem man an einer Stelle Bäume gefällt und einen Weg zum Anwesen angelegt hatte.
Während Scarlet und ich uns einrichteten, ließen wir beide die Tür offen, und ich hörte, wie meine Freundin Dinge auspackte und Möbel verschob.
Inzwischen kannte ich Scarlets Laute – ihre Schritte, ihren Atem – so gut wie von niemandem je zuvor. Delia Grace’ energischen Gang hätte ich wahrscheinlich von anderen unterscheiden können, aber mittlerweile war ich mit Scarlet vertrauter. Vielleicht lag es daran, dass wir mehrere Wochen zusammen in einem Bett geschlafen hatten. Am liebsten hätte ich das auch weiter so gemacht, aber ich spürte, dass sie jetzt mehr Raum für sich brauchte.
Jovana erschien in meiner Tür, einen Stapel Kleider in den Händen. »Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte sie. »Aber mir ist aufgefallen, dass du nicht viel Kleidung mitgebracht hast. Vielleicht könnten wir dir hiervon etwas zurechtschneidern. Ich fürchte, dass wir irgendwann bei Hofe erscheinen müssen, und dann würdest du dich vielleicht wohler fühlen, wenn du … ich meine … mit deinen Kleidern ist natürlich alles in Ordnung … ach herrje …«
Ich ging hinüber und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Das ist sehr fürsorglich, vielen Dank. Ich kann tatsächlich recht passabel nähen, und die Aufgabe wird mir guttun.«
Jovana seufzte tief. »Wir haben über die Jahre so viele Menschen verloren. Dennoch weiß ich nie, was ich Hinterbliebenen sagen soll.«
»Ich mache so etwas zum ersten Mal durch … lässt der Schmerz irgendwann nach?«
Sie presste mit traurigem Lächeln die Lippen zusammen. »Ich wünschte, ich könnte die Frage mit Ja beantworten.«
Dann hielt Jovana den Kleiderstapel hoch. »Im Salon ist das Licht schön hell. Möchtest du gleich mitkommen?«
Ich nickte.
»Gut. Ich hole nur rasch Scarlet und Etan dazu. Es ist so lange her, seit wir zusammen in einem Zimmer sein konnten.«
Auf ihren Sohn hätte ich allerdings liebend gern verzichtet.
Die Stimmung im Salon war angespannt. Etan tigerte mit finsterer Miene durch den Raum und schaute immer wieder zur Tür, als wolle er das Weite suchen. Auch Scarlet war anzumerken, dass sie sich gerne verdrückt hätte, und Mutter unterhielt sich verschwörerisch leise mit Reid.
»Die zwei haben immer schon Pläne geschmiedet«, murmelte Jovana, als sie merkte, wie ich zu den beiden hinüberschaute.
»Was für Pläne denn?« Ich beobachtete, wie Jovana so angestrengt versuchte, den Faden einzufädeln, dass sie dabei die Zungenspitze herausstreckte.
»Das kann ich doch machen«, bot ich an. »Dann kannst du das Heften übernehmen.«
Als ich merkte, dass Etan neben uns stehen blieb, verlor ich die Konzentration und blickte auf. Er starrte auf den Ring an meiner rechten Hand, den Mutter mir geschenkt hatte. Der Ring hatte früher Jedreck dem Großen gehört und war in der Familie Eastoffe seit Generationen weitervererbt worden.
Etan fand, dass ich keinerlei Anspruch auf den Ring hatte, und ausnahmsweise war ich einmal der gleichen Meinung. Ich trug ihn dennoch mit Liebe, denn nur weil Mutter ihn mir im Garten von Abicrest Manor geschenkt hatte, waren wir beide während des Überfalls am Leben geblieben.
»Danke, Liebes«, sagte Lady Eastoffe. »Ach, die zwei hecken die üblichen Pläne aus. Es geht immer um …«
»Mutter …« Etan blickte zweifelnd zwischen uns beiden hin und her. »Meinst du wirklich, sie sollte das erfahren?«
Jovana seufzte. »Mein lieber Junge, sie steckt doch schon mittendrin, wir sollten ihr nichts vorenthalten.«
Mürrisch richtete Etan sich auf und taperte wieder ruhelos durchs Zimmer.
»Quinten«, begann Jovana aufs Neue, »ist kein guter König. Das ist seit Anbeginn seiner Herrschaft deutlich, auch wenn die Angriffe auf Isolter, die sich ihm widersetzen, erst seit etwa zehn Jahren begonnen haben. Dieser grausame Mann darf nicht länger dieses Land regieren, und unsere Familie sucht nach einer rechtmäßigen Möglichkeit, ihn zu stürzen.«
Ich sah auf. »Gibt es nicht ohnehin meist eine Revolte, wenn jemand so ein schlechter Herrscher ist? Ist das Volk nicht irgendwann so wütend, dass es den Palast stürmt?«
Jovana seufzte. »Das könnte man annehmen, ja. Aber als Coroerin verstehst du gewiss, dass Isolte ein Land mit strenger Gesetzgebung ist. Quintens Auftreten lässt uns vermuten, dass er hinter allen Schreckenstaten steckt, die in Isolte je begangen wurden. Und er hat nichts unternommen, um diesen Eindruck zu zerstreuen. Aber wenn wir uns nun irren? Wenn in Wahrheit ein einzelner Rebell dafür verantwortlich ist? Oder Hadrian, der andere beauftragt, Widerstand zu unterdrücken? Auch eine Bande von Schurken wäre denkbar. Einen König unrechtmäßig zu stürzen, ist gesetzeswidrig. Hat man jedoch das Recht auf seiner Seite, verstößt man auch nicht gegen die Gesetze. Wenn wir Quinten auf frischer Tat ertappen könnten, hätten wir Beweise und somit die tausendjährige Gesetzgebung unseres Landes im Rücken. Dann würde auch das Volk uns unterstützen. Andernfalls würden wir als Gesetzlose angesehen, und alles, wofür wir gearbeitet haben, wäre im Nu zunichte.«
»Bisher hat also niemand miterlebt, wie Quinten einen Befehl zum Töten gibt oder selbst jemanden ermordet?«, fragte ich.
Etan wanderte am anderen Ende des Zimmers auf und ab, und ich war froh, ihn nicht ständig hinter mir zu spüren.
Jovana nickte. »Aber wenn irgendjemand das bewerkstelligen kann, dann diese beiden. Sie sind sehr klug.«
»Na, dann sind wir doch in guten Händen«, sagte ich. »Zum Glück muss ich mir so etwas nicht ausdenken, darin bin ich gar nicht gut.«
Jovana lächelte. »Aber du hast andere Talente, Hollis, das habe ich ja schon miterlebt. Und das ist das Wichtigste. Wir müssen alle tun, was wir können, um etwas zu verändern.«
»Ja, stimmt.« Ich warf einen Blick auf Etan. Silas hatte mir erzählt, dass Etan in vielerlei Hinsicht begabt war. Er war wohl ein guter Soldat und bewahrte in schwierigen Situationen kühlen Kopf. Freundlichkeit gehörte eindeutig nicht zu seinen Stärken, aber ich merkte, dass er ein schneller Denker war. Deshalb fand ich ihn aber noch lange nicht angenehm.
Jetzt leerte er gerade seine Tasse und stellte sie so lautstark ab, dass ich unwillkürlich zu ihm hinüberschaute. Er warf mir einen Blick zu, der mir einen Schauer über den Rücken jagte. Etan Northcott gelang es mühelos, mir mit einem einzigen Blick mitzuteilen, dass er mich hasste und sich wünschte, ich wäre nicht hier.
Aber er hatte nicht das Sagen in diesem Haushalt, und seine Eltern schienen mich herzlich in die Familie aufzunehmen. Es war beinahe, als hätte Reid meine Gedanken gelesen und wollte sie mir bestätigen, denn er stand plötzlich auf und kam zu uns herüber.
»Berichtet dir meine Gattin gerade von der Misere, in der du gelandet bist?«, fragte er. »Von den Plänen, in die du ab jetzt verwickelt wirst?«
Ich lächelte ihn an. »Ein bisschen wusste ich schon Bescheid. Aber ich habe nicht geahnt, wie sehr ihr daran arbeitet, die Lage in Isolte zu verbessern. Da muss ich sicher noch viel lernen.«
Reid ließ sich in einem großen Sessel nieder, Mutter trat hinzu und legte die Hände auf die Rückenlehne. »Das ist genau der richtige Augenblick, Hollis«, begann Reid, »um dir zu erklären, was wir wissen, was wir vermuten und woran wir arbeiten.«
»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«, flüsterte Etan, der neben Mutter getreten war. Schon zum zweiten Mal zweifelte der Kerl meine Vertrauenswürdigkeit an.
Reid lächelte, ohne seinen Sohn zurechtzuweisen, und sagte nur: »Ja, ich finde, unsere neue Nichte muss in unsere Pläne eingeweiht werden, so gefährdet sie auch sein mögen.«
Etan verkniff argwöhnisch die Augen.
»Jovana hat mir schon einiges erklärt«, sagte ich. »Wir brauchen Beweise, dass König Quinten hinter den Taten der Dunklen Ritter steckt, damit wir ihn stürzen können?«
»Ja, das stimmt so im Wesentlichen.« Reid seufzte. »Nicht, dass wir das nicht schon versucht hätten. Wir haben Wachen bestochen. Freunde von uns, die im Palast wohnen, halten jederzeit Augen und Ohren offen. Wir haben … mehr Unterstützung, als man vermuten würde. Aber bisher war uns dennoch kein Erfolg vergönnt.« Er sah uns alle einzeln an. »Und da die Angriffe immer häufiger und immer brutaler werden, weiß ich nicht, ob wir noch viele Chancen bekommen werden. Deshalb müssen wir alle eng zusammenarbeiten. Was wissen wir bereits? Wer könnte uns noch helfen? Da fällt mir ein … Etan?« Reid wandte sich seinem Sohn zu. »Hast du bei deinen Grenzübertritten etwas mitbekommen? Du hast doch Freunde unter den Soldaten.«
Etan nickte langsam. »Ja. Königin Valentina hat wohl ihr Kind frühzeitig verloren und versucht ein weiteres zu bekommen.«
Ich starrte ihn an. Ich war begierig auf Neuigkeiten von Valentina, mit der ich eine ganz besondere Freundschaft begonnen hatte. Aber ich wollte dabei nicht ausgerechnet auf Etan angewiesen sein.
»Wie geht es ihr?«, fragte ich schließlich.
Etan blinzelte und zuckte die Achseln. »Üblicherweise erkundige ich mich nicht nach dem Wohlbefinden meiner Feinde.«
Ich war mir sicher, dass er zu denen auch mich zählte.
»Sie ist eine junge Frau, die niemandem etwas getan hat«, wandte ich ein.
»Aber sie ist die Gemahlin unseres größten Feindes und versucht für die skrupelloseste Familie in dieser Dynastie einen Thronfolger zu gebären. Eine Freundin kann sie also wohl kaum sein.«
»Valentina ist aber meine Freundin«, flüsterte ich.
Etan sprach weiter, als hätte er mich nicht gehört.
»Quinten bemüht sich, die Nachricht zu verbreiten, dass sie schwanger ist. Aber von den Hofdamen weiß ich, dass Valentina noch sehr lebhaft wirkt und keine besonderen Gelüste hat. Deshalb würde ich das bezweifeln.«
Ich schluckte, sah Valentina vor meinem inneren Auge – einsam in ihrem Palast, dankbar, dass sie noch eine Chance bekommen hatte, und voller Angst, was mit ihr geschehen würde, wenn sie ein weiteres Mal versagte. Diese Anspannung würde für eine weitere Schwangerschaft sicher nicht hilfreich sein.
»Prinz Hadrian war unlängst wieder krank«, fuhr Etan fort. »Oder vielmehr – noch kränker als gewöhnlich. Er zeigte sich ein paar Tage lang nicht bei Hofe, und als er wieder in Erscheinung trat, konnte er kaum gehen. Ich habe keine Ahnung, was Quinten sich dabei denkt, seinen Thronfolger in so schwächlichem Zustand der Öffentlichkeit vorzuführen.«
»Armer junger Mann«, seufzte Jovana. »Ich weiß gar nicht, wie es ihm gelungen ist, überhaupt so lange am Leben zu bleiben. Es wird einem Wunder gleichen, wenn er an seiner eigenen Hochzeit teilnehmen kann.«
»Wann soll die stattfinden?«, erkundigte sich Mutter.
»Die Braut soll wohl Anfang nächsten Jahres eintreffen«, antwortete Jovana.
»Ich kann immer noch nicht fassen, dass sie ihm eine Braut aus dem Ausland gesucht haben«, sagte Reid kopfschüttelnd.
»Ist es denn so außergewöhnlich, dass Prinz Hadrian ein Mitglied einer ausländischen Königsfamilie heiratet?«, fragte ich.
»Ja«, antworteten alle wie aus einem Munde.
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Bevor ich König Jameson verließ, sollte ich in einen Vertrag eingeschlossen werden, ohne vorher gefragt zu werden. Meine erstgeborene Tochter – vorausgesetzt, sie hätte einen älteren Bruder, der Thronfolger sein konnte – sollte Hadrians ältesten Sohn heiraten. Jameson sagte, es sei untypisch für Quinten, so etwas zu arrangieren, weil im isoltischen Königshaus üblicherweise nicht ins Ausland geheiratet werde. Ich nehme an, Jameson hatte recht.«
Reid starrte mich verblüfft an. »Ist das wahr?«
Auch die anderen sahen mich erwartungsvoll an.
»Ja. Jameson und Quinten unterschrieben den Vertrag, in Anwesenheit von Hadrian, Valentina und mir. Ich vermute, er ist jetzt wirkungslos, weil ich wegen eines Einwands des obersten Priesters namentlich nicht erwähnt wurde. Aber vielleicht wird er auf Delia Grace übertragen. Warum ist euch das so wichtig?«
»Was kann wohl der Grund dafür sein?«, sinnierte Reid.
»Sie wollen anderes Blut in der Linie«, antwortete Etan sofort, »damit niemand ihren Nachkommen den Anspruch auf den Thron streitig machen kann. Im Gegenzug bietet Quinten Coroa ein Bündnis mit Isolte, dem größten Königreich des Kontinents.« Etan schüttelte den Kopf. »Genialer Zug.«
Ein ausgedehntes Schweigen entstand, während alle nachdachten. König Quinten machte ausgeklügelte Pläne, wie er sich und seine Nachkommen schützen konnte, wir dagegen hatten nichts in der Hand, womit wir angreifen konnten.
»Können wir irgendetwas unternehmen?«, fragte ich schließlich.
»Vorerst wohl nicht«, antwortete Reid stirnrunzelnd. »Aber es ist gewiss wichtig, das zu wissen, danke, Hollis. Fällt dir vielleicht noch irgendetwas von diesem Besuch ein, was uns weiterhelfen könnte?«
Ich schluckte. »Tut mir leid, ich fürchte nicht. Ich hatte Anweisung, mich von Quinten fernzuhalten, deshalb haben wir nur kurz gesprochen.«
Die Szene spielte sich vor meinem inneren Auge ab, und ich spürte wieder deutlich den Abscheu, den ich auf Anhieb vor dem König empfunden hatte.
»Obwohl …« Ein Schauer lief mir über den Rücken. Mir fiel noch etwas ein, das kein Zufall sein konnte.
»Was ist?«, fragte Etan.
Unwillkürlich traten mir Tränen in die Augen. »Er hat mir gedroht.«
»König Quinten?«, fragte Mutter fassungslos.
Ich nickte. Tränen rannen mir übers Gesicht, als ich mich vor meinem geistigen Auge wieder im Thronsaal von Keresken Castle stehen sah, in den Händen die Krone, die Silas angefertigt hatte. Er hatte neben mir gestanden. »Quinten hatte mitbekommen, dass ich deiner Familie nahegekommen war, und er … ich weiß die Worte nicht mehr genau, aber er sagte so etwas wie, ich solle mich in Acht nehmen, sonst würde ich verbrennen.«
Mutter schlug voller Entsetzen eine Hand vor den Mund.
Quinten hatte es damals schon gewusst. Er hatte den Überfall bereits geplant und gewusst, dass ich in der Nähe der Eastoffes in Gefahr sein würde.
»Reicht das nicht schon aus, Vater?«, fragte Etan.
»Nein, ich fürchte nicht, mein Sohn. Das ist ein einzelner Ziegelstein, wir jedoch brauchen eine ganze Mauer.«
Ich saß ganz still und durchforstete mein Gehirn nach weiteren Erinnerungen.
»Alles in Ordnung mit dir, Hollis?«, fragte Scarlet leise. Sie war so stumm gewesen, dass ich ihre Anwesenheit beinahe vergessen hatte. Bestimmt rang Scarlet auch gerade mit ihren schlimmen Erinnerungen.
Ich nickte, obwohl das gelogen war. Manchmal kam es mir vor, als sei Silas schon Jahre tot, als sei er nur ein Kapitel in einem Buch gewesen, das ich schon vor langer Zeit zu Ende gelesen hatte. Dann wieder war der Schmerz so heftig und grausam, als sei die Wunde erneut aufgerissen, als fließe Herzblut wegen dieses Verlusts einer Liebe, die noch so jung gewesen war.
Ich tupfte meine Tränen ab. Trauern konnte ich, wenn ich alleine war, nicht hier und nicht jetzt.
»Was den Überfall angeht«, meldete sich Etan wieder zu Wort, »macht mir noch etwas anderes Sorgen.«
Er zupfte an seinen Hemdmanschetten, als müsse er seine Hände beschäftigen.
»Was denn?«, erkundigte sich Mutter.
»Dass die Posten an der Grenze nichts davon wussten.«
»Und was beunruhigt dich daran?«, fragte Mutter weiter.
»Wenn der König nahezu eine ganze Familie auslöscht, müsste sich das doch herumsprechen. Entweder, weil er sich selbst damit brüstet oder weil es im Land Angst erzeugt. Aber bei meiner Einreise nach Coroa wurde es nicht erwähnt, und als wir jetzt die Grenze passiert haben, wusste noch immer niemand davon.« Etan schüttelte den Kopf. »Ich denke, wir sollten auf der Hut sein.«
Reid betrachtete seinen Sohn forschend. »Wir sind immer auf der Hut.«
»Ja, aber das ist doch sehr auffällig«, wandte Etan ein und blickte zu Mutter hinüber. »Es müsste sich in Windeseile herumgesprochen haben, aber so ist es nicht. Das kann nur bedeuten, dass der König Leute zum Schweigen bringt. Und dann sind auch wir noch mehr gefährdet.«
»Deine Phantasie geht mit dir durch, Sohn«, widersprach Reid. »Wir sind seit jeher vorsichtig, was den König angeht. Aber es besteht kein Anlass, panisch zu werden. Wir sind Nachkommen einer Prinzessin, nicht eines Prinzen. Königin Valentina ist jung, und Prinz Hadrian lebt noch. Ich denke, dass der König in nächster Zukunft noch auf diese beiden setzen wird. Und wir werden weiter unbeirrt unsere Suche nach unleugbaren Beweisen fortsetzen, ohne uns zu verstecken oder davonzulaufen.«
Etan machte ein verdrossenes Gesicht, äußerte aber aus Achtung gegenüber seinem Vater nichts mehr. Reid Northcott schien der einzige Mensch zu sein, dem Etan Respekt entgegenbrachte.
Doch tatsächlich konnte ich Etans Befürchtungen gut verstehen. Von Valentina wusste ich, dass die Dunklen Ritter immer wieder Leichen vor König Quintens Palast ablegten, um sich mit ihren Gräueltaten zu brüsten. Auch davon sprach niemand. Warum?
Es gab so unendlich viele Fragen, auf die wir noch keinerlei Antwort wussten.
Obwohl es schon Mitternacht war, konnte ich nicht einschlafen. Ich vermisste die vielen Geräusche von Keresken, auch wenn sie mich manchmal gestört hatten. Das Tuscheln und Raunen der Dienstmädchen, Schritte auf den langen Korridoren, das Rumpeln von Kutschen draußen auf den Wegen – all das hatte beruhigend auf mich gewirkt und fehlte mir noch immer. Ich horchte, ob die Nacht nicht irgendwelche Laute hervorbrachte, doch es blieb still.
Wenn es um mich her zu still war, entstanden in meinem Kopf stattdessen Geräusche, die ich mir einbildete. Ich hörte Silas schreien, manchmal auch meine Mutter. Dann zwang ich mich dazu, mir vorzustellen, dass meine Mutter schon nicht mehr bei Bewusstsein war, als sie starb, und dass mein Vater neben ihr kniete, ihre Hand hielt und den Tod nicht nahen sah.
Bei Silas war ich mir sicher, dass er nicht aus Angst geschrien hätte und auch nicht, um Gnade zu erflehen. So wie ich meinen Ehemann gekannt hatte, hätte er sich seinem Schicksal widersetzt und bis zum Letzten gekämpft.
Ruhelos wälzte ich mich im Bett. Ich hatte schon geahnt, dass mein Gehirn weitersuchen würde nach wichtigen Details von König Quintens Besuch damals. Aber da es nichts mehr zutage förderte, gab es wohl auch nichts mehr zu finden. Was mein Gehirn aber nicht von der Suche abhielt, obwohl ich mich nach Schlaf sehnte. Dann wurde mir klar, dass mir einfach zu vieles durch den Kopf ging. Und zwar nicht zuletzt, weil im Zimmer neben mir jemand schlief, der mich hasste.
Zuletzt stand ich auf und tappte in Scarlets Zimmer gegenüber. Ich wusste, dass sie auch nachts oft schlaflos war.
»Wer ist da?« Sie fuhr sofort hoch, als sie das Knarren der Tür hörte, und hatte wahrscheinlich schon ihr Messer gezückt.
»Ich bin’s nur.«
»Oh. Entschuldige.«
»Mach dir keine Gedanken, ich bin gerade genauso unruhig.« Ich legte mich zu Scarlet. Als ich aus Keresken geflohen und bei den Eastoffes untergekommen war, hatte ich auch bei Scarlet in ihrem Bett übernachtet, das so alt und reparaturbedürftig gewesen war wie das gesamte Haus. Es war gemütlich gewesen, jemanden neben mir atmen zu hören und zu spüren, dass ich nicht alleine war.
Wir hatten im Flüsterton Lieder gesungen und über Geschichten von früher und den Klatsch und Tratsch bei Hofe gelacht. Für mich war ein Traum in Erfüllung gegangen, als ich plötzlich eine Familie bekommen hatte, in der es jüngere und ältere Geschwister und vor allem eine Schwester gab.
Aber jetzt war unsere Lage leider alles andere als behaglich.
»Ich grüble die ganze Zeit, ob mir noch etwas von Quintens Besuch in Keresken einfällt, das uns als Beweis dienen könnte«, gestand ich. »Aber ich finde nichts weiter, und das macht mich ganz verrückt.«
»Du bist bestimmt auch unruhig, weil du dich erst mal hier eingewöhnen musst«, erwiderte Scarlet. »Wir hätten vielleicht darum bitten sollen, dass wir ein Zimmer zusammen bekommen. In der kleinen Wohnung in Keresken habe ich erst gemerkt, wie gerne ich meine Familie in meiner Nähe habe. Und dass wir später in Abicrest Manor beide in einem Bett geschlafen haben, fand ich herrlich.«
»Genau, ich hätte hier auch gern mit dir ein Zimmer geteilt, wollte aber nicht unhöflich sein. Dein Onkel und deine Tante sind so lieb und fürsorglich.«
»Sie mögen dich richtig gern«, sagte Scarlet. »Tante Jovana hat gesagt, du seist ja ein richtiger Sonnenschein.«
Ich kicherte. »Das haben meine Eltern anders ausgedrückt«, bemerkte ich trocken. »Aber ich freue mich natürlich, das zu hören. Wenn nur Etan mich nicht dauernd so hasserfüllt anstarren würde.«
»Versuch ihn doch einfach nicht zu beachten.«
»Dass ich das versuche, kannst du mir glauben.« Ich seufzte und brachte dann meine größte Befürchtung zur Sprache. »Glaubst du, wir haben eine echte Chance, Scarlet? Du bist ja mit der ganzen Lage schon dein Leben lang vertraut, du kannst das bestimmt besser einschätzen als ich.«
Ich hörte, wie Scarlet neben mir schluckte. »Wir haben sehr starke Unterstützung. Seit Jahren schon wäre quasi ein ganzes Heer einsatzbereit. Jovana hat dir die Situation ja erklärt …«
»Ja, hat sie. Ich verstehe auch, dass sie nicht gegen die Gesetze verstoßen wollen … aber kann man Quinten wirklich auf diesem Wege stürzen?«
Als Scarlet antwortete, klang sie ernst und dramatisch. »Wenn wir etwas falsch machen, werden alle Beteiligten getötet. Und wenn wir nicht schnell genug sind, werden wir von den Dunklen Rittern umgebracht, bevor wir überhaupt handeln können. Ich wünsche mir, dass Quinten für seine Untaten bezahlen muss … aber wir müssen es richtig anfangen, sonst ist alles vergebens.«
Ich seufzte erneut. Es schien mir ein gewaltiges und schier unmögliches Vorhaben, aber wenn die Familie davon überzeugt war, würde ich natürlich mitmachen.
»Weißt du überhaupt, warum wir Isolte verlassen haben?«, fragte Scarlet jetzt.
»Silas hat mir gesagt, es sei seine Idee gewesen. Und Mutter hat mir erzählt, eure Tiere seien abgeschlachtet worden … da wäre ich auch geflüchtet …«
Scarlet schüttelte den Kopf. »Vergiss eines nicht: Wenn wir Quinten stürzen wollen, kann nur eine Person den Thron besteigen, in deren Adern das königliche Blut von Jedreck dem Großen fließt.«
Ich überlegte. Als es mir klar wurde, setzte ich mich ruckartig auf, fassungslos, weil ich nicht selbst darauf gekommen war.
»Silas?«
Scarlet nickte. »Erstgeborener Sohn der männlichen Linie … er war derjenige, von dem die Leute sprachen. Na ja, die zumindest, die überhaupt noch zu sprechen wagten.«
Bedrückt dachte ich daran, wie selbstsüchtig ich gewesen war. Ein gesamtes Land verlor einen Thronfolger durch den Tod von Silas Eastoffe. Ich fragte mich plötzlich, ob Etan recht hatte und das Volk noch nicht wusste, dass Silas tot war. Silas, auf den die Menschen ihre Hoffnung gesetzt hatten …
Beim nächsten Gedanken stockte mir der Atem. »Scarlet … heißt das etwa … du könntest Königin werden?«
Sie seufzte und zupfte an der Decke. »Ich habe gebetet, dass es dazu nicht kommt. Wir sind auch deshalb nach Isolte zurückgekehrt, um Onkel Reid zu unterstützen. Er sollte König werden.«
»Aber … aber du könntest herrschen! Du könntest die Welt nach deinen Wünschen gestalten!«
»Du hast diese Möglichkeit doch auch gehabt«, widersprach Scarlet. »Und diesem Brief von Jameson nach zu schließen, hättest du sie sogar immer noch. Würdest du das machen, wenn du könntest?«
»Nein«, antwortete ich entschieden. »Aber ich wäre auch nur Gemahlin, nicht Herrscherin. Du dagegen schon.«
Scarlet zuckte die Achseln. »Das Volk würde vielleicht zu mir stehen. Aber wohl nicht so verlässlich wie bei Silas.«
Ein Schauer überlief mich. »Du meinst, er wusste es? Dass er das Volk hinter sich hätte?«
»Einmal hatten wir einen Plan gemacht«, antwortete Scarlet, »etwa vier Monate, bevor wir nach Coroa kamen. Mutter und Reid hatten ihn geschmiedet. Wir hatten zwar immer noch nicht genügend Beweise gegen Quinten, glaubten aber, dass wir es wegen des Beistandes des Volkes wagen konnten. Die Menschen sind bereit … aber sie fürchten sich auch. Doch dann sprach sich irgendwie herum, dass Silas den Palast stürmen wolle, und wir konnten nichts mehr gegen das Gerücht tun. Keiner von uns hatte damit gerechnet. Es kam auch dem Hofstaat zu Ohren, und wenn wir im Palast waren, bemerkten wir die argwöhnischen Blicke. Wir hatten das Gefühl, dass Silas in großer Gefahr schwebte. Deshalb schlug er dann auch vor, dass wir das Land verlassen sollten, um unsere Familie zu retten. Mutter und Vater hofften, irgendwann zurückkehren zu können. Und dass Quinten seine gerechte Strafe bekommen würde, hat Silas sich natürlich gewünscht, aber er wollte eben auch, was wir alle wollen: leben. Er hat geschworen, nie wieder zurückzugehen nach Isolte. Und dann lernte er dich kennen und hatte noch viel mehr Grund, in Coroa zu bleiben.«
Ich hatte kaum gemerkt, dass ich zu weinen begonnen hatte, doch jetzt spürte ich den salzigen Geschmack der Tränen. »Und es war alles sinnlos, denn er wurde dennoch getötet. Quinten konnte ihn nicht in Ruhe lassen.«
»Ja«, bestätigte Scarlet. »Er vernichtet alles, was ihm im Wege steht. Vielleicht sollten wir deshalb aufgeben. Aber mich spornt es eigentlich nur noch mehr an, ich will, dass er bezahlt für seine Grausamkeit.«
Als ich mich wieder hinlegte, zitterte ich am ganzen Körper. Ich dachte an Silas, der so selbstbewusst, warmherzig und klug gewesen war. Der mich geliebt hatte, obwohl seine Landsleute mein Volk verabscheuten. Der nach Kräften versucht hatte, Frieden zu schaffen.
Er wäre ein großartiger König geworden.
»Aber wie soll Quinten denn für seine Taten büßen, Scarlet? Wie können wir weitere Untaten verhindern?«
»Ich sehe nur eine Möglichkeit, um die zu verhindern«, antwortete sie.
»Ihn zu töten?«, sagte ich, obwohl es mir zuwider war, Tod durch noch mehr Tod zu vergelten.
»Und nicht nur ihn, sondern auch Hadrian. Und Valentina wahrscheinlich. Man müsste wohl die gesamte Familie vernichten.«
Mir stockte der Atem. »Niemals würde ich gegen Valentina die Hand erheben«, protestierte ich. »Sie ist meine Freundin, immer noch.«
Im Mondlicht sah ich, dass Scarlet stirnrunzelnd an die Decke starrte. »Ich wüsste nicht, wie man sie da heraushalten könnte. Sie ist schließlich die Königin.«
»Ich … nein, Scarlet, das darf nicht sein.«
Nach ein paar Momenten drehte sich Scarlet zu mir. »Kann ich dich was ganz anderes fragen?«
»Ja, natürlich.«
»Glaubst du, dass du jemals wieder heiraten willst?«