Psychotherapeutisches Arbeiten mit alten und sehr alten Menschen - Eva-Marie Kessler - E-Book

Psychotherapeutisches Arbeiten mit alten und sehr alten Menschen E-Book

Eva-Marie Kessler

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Beschreibung

Entgegen gängiger Vorurteile ist Psychotherapie im Alter nachweislich wirksam. Trotz Leitlinienempfehlungen sind jedoch vor allem sehr alte, vulnerable Menschen immer noch äußerst schlecht versorgt. Das Buch beschreibt den psychotherapeutischen Versorgungsbedarf im Alter und setzt diesem die Versorgungsrealität im stationären und ambulanten Bereich entgegen. Zudem wird ein Überblick über ein breites Spektrum evidenzbasierter psychotherapeutischer Verfahren und Methoden für die Patientengruppe gegeben. Auf der Grundlage des neusten internationalen Forschungsstandes werden transdiagnostische und verfahrensübergreifende Leitprinzipien des psychotherapeutischen Arbeitens dargestellt. Konkrete Therapiesituationen erlauben einen anschaulichen Einblick in ein Forschungs- und Praxisfeld, welches in der Gesellschaft des längeren Lebens von größter Bedeutung ist.

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Die Autorin

Foto © Jens Jeske

Eva-Marie Kessler, Prof. Dr. habil., Professorin für Gerontopsychologie an der MSB Medical School Berlin – Hochschule für Gesundheit und Medizin. Psychologische Psychotherapeutin mit Fachkunde Verhaltenstherapie. Promotion 2006 an der Jacobs University Bremen, ausgezeichnet mit dem Margret-und-Paul-Baltes-Preis der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs). Habilitation 2014 an der Universität Heidelberg, ausgezeichnet mit dem Margret-und-Paul-Baltes-Preis der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG). Mitherausgeberin der Zeitschriften »Psychotherapie im Alter« und »GeroPsych – The Journal of Gerontology and Geriatric Psychiatry«. Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (2016–2020). Seit 2018 Projektleiterin des Innovationsfonds-Projektes »PSY-CARE – Depression bei zuhause lebenden Pflegebedürftigen – Kurzzeitpsychotherapie im Behandlungsteam mit Hausärzten und Pflegenden«.

Eva-Marie Kessler

Psychotherapeutisches Arbeiten mit alten und sehr alten Menschen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035114-1

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-035115-8

epub:     ISBN 978-3-17-035116-5

mobi:     ISBN 978-3-17-035117-2

Geleitwort zur Reihe

 

 

 

Die Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt: In den anerkannten Psychotherapieverfahren wurde das Spektrum an Behandlungsansätzen und -methoden extrem erweitert. Diese Methoden sind weitgehend auch empirisch abgesichert und evidenzbasiert. Dazu gibt es erkennbare Tendenzen der Integration von psychotherapeutischen Ansätzen, die sich manchmal ohnehin nicht immer eindeutig einem spezifischen Verfahren zuordnen lassen.

Konsequenz dieser Veränderungen ist, dass es kaum noch möglich ist, die Theorie eines psychotherapeutischen Verfahrens und deren Umsetzung in einem exklusiven Lehrbuch darzustellen. Vielmehr wird es auch den Bedürfnissen von Praktikern und Personen in Aus- und Weiterbildung entsprechen, sich spezifisch und komprimiert Informationen über bestimmte Ansätze und Fragestellungen in der Psychotherapie zu beschaffen. Diesen Bedürfnissen soll die Buchreihe »Psychotherapie kompakt« entgegenkommen.

Die von uns herausgegebene neue Buchreihe verfolgt den Anspruch, einen systematisch angelegten und gleichermaßen klinisch wie empirisch ausgerichteten Überblick über die manchmal kaum noch überschaubare Vielzahl aktueller psychotherapeutischer Techniken und Methoden zu geben. Die Reihe orientiert sich an den wissenschaftlich fundierten Verfahren, also der Psychodynamischen Psychotherapie, der Verhaltenstherapie, der Humanistischen und der Systemischen Therapie, wobei auch Methoden dargestellt werden, die weniger durch ihre empirische, sondern durch ihre klinische Evidenz Verbreitung gefunden haben. Die einzelnen Bände werden, soweit möglich, einer vorgegeben inneren Struktur folgen, die als zentrale Merkmale die Geschichte und Entwicklung des Ansatzes, die Verbindung zu anderen Methoden, die empirische und klinische Evidenz, die Kernelemente von Diagnostik und Therapie sowie Fallbeispiele umfasst. Darüber hinaus möchten wir uns mit verfahrensübergreifenden Querschnittsthemen befassen, die u. a. Fragestellungen der Diagnostik, der verschiedenen Rahmenbedingungen, Settings, der Psychotherapieforschung und der Supervision enthalten.

Nina Heinrichs (Bremen)

Rita Rosner (Eichstätt-Ingolstadt)

Günter H. Seidler (Dossenheim/Heidelberg)

Carsten Spitzer (Rostock)

Rolf-Dieter Stieglitz (Basel)

Bernhard Strauß (Jena)

Die Buchreihe wurde begründet von Harald J. Freyberger, Rita Rosner, Ulrich Schweiger, Günter H. Seidler, Rolf-Dieter Stieglitz und Bernhard Strauß.

Inhalt

 

 

 

Geleitwort zur Reihe

1   Einleitung – Altersbilder im psychotherapeutischen Geschehen

2   Historischer Abriss und aktueller Stand des Forschungsfeldes

2.1   Die Anfänge: von Freud bis in die 1960er-Jahre

2.2   Der Paradigmenwechsel der 1960er-Jahre

2.3   Eine eigene Identität des Fachgebiets bildet sich ab den 1980er-Jahren

2.4   Aktueller Stand der Psychotherapieforschung

3   Gibt es eine spezifische „Alterspsychotherapie“?

3.1   Was bedeutet Alter(n)?

3.2   Ist Alter ein Kriterium in der Psychotherapie?

3.3   Sind alte Patienten »schwierige Patienten« – wie attraktiv ist es, mit alten und sehr alten Patienten psychotherapeutisch zu arbeiten?

4   Psychische Erkrankungen im Alter

4.1   Interaktion psychischer und körperlicher Erkrankungen

4.2   Einige Fakten zu körperlicher Gesundheit und Krankheit

4.3   Psychische Erkrankungen – ein Überblick

5   Psychotherapeutische Versorgung älterer Menschen

5.1   Ambulante Psychotherapie

5.2   Psychotherapie in (teil-)stationären Settings

5.3   Somatische Behandlungsmöglichkeiten

6   Therapeutische Haltung und therapeutischer Stil

6.1   Leitprinzip 1: Reflektierter Umgang mit Altersbildern

6.2   Leitprinzip 2: Paternalismus vermeiden, Selbstbestimmung fördern

6.3   Leitprinzip 3: Wertschätzende Authentizität

6.4   Leitprinzip 4: Intergenerationelle Übertragungsdynamiken reflektieren und nutzen

6.5   Leitprinzip 5: Entwicklungs- und sozialisationsbezogene Unterschiede berücksichtigen

6.5.1   Entwicklungsbezogene Unterschiede

6.5.2   Unterschiedliche Sozialisationserfahrungen

6.6   Leitprinzip 6: Mit dem System des Patienten arbeiten

6.6.1   Bezugspersonen und Pflegekräfte einbeziehen

6.6.2   Interprofessionelles Arbeiten

7   Günstige Therapiebedingungen schaffen

7.1   Über Psychotherapie aufklären

7.2   Günstige motivationale Bedingungen

7.2.1   Positives Selbsterleben fördern

7.2.2   Eine differenzierte Sicht auf das eigene Alter(n) fördern

7.3   Günstige körperliche Bedingungen

7.3.1   Psychoedukation und körperliche Aktivität fördern

7.3.2   Mit körperlichen Grundbedürfnissen und Einschränkungen in der Psychotherapie umgehen

7.4   Günstige kognitive Bedingungen

7.4.1   Psychoedukation und kognitive Gesundheit fördern

7.4.2   Mit kognitiven Ressourcen und Defiziten in der Psychotherapie umgehen

7.5   Günstige emotionale Bedingungen

7.6   Günstige räumliche Bedingungen

8   Evidenzbasierte psychotherapeutische Verfahren und Methoden

8.1   Einzel- versus Gruppentherapie

8.2   Problemlösetherapie (PST)

8.3   Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)

8.3.1   Positive Aktivitäten aufbauen

8.3.2   Probleme beim Aufbau positiver Aktivitäten

8.3.3   Soziale Aktivitäten und Kompetenzen fördern

8.3.4   Kognitive Umstrukturierung

8.3.5   Schlafhygiene/Schlafrestriktion

8.4   Expositionsbehandlung im Rahmen von Kognitiver Verhaltenstherapie

8.5   Dritte Welle Verfahren der Verhaltenstherapie

8.5.1   Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT)

8.5.2   Schematherapie und CBASP

8.6   Lebensrückblicktherapie (LRT)

8.6.1   Therapierational der LRT

8.6.2   Ablauf und Vorgehensweise der LRT

8.6.3   Varianten der LRT

8.6.4   Exkurs: Stuhltechniken

8.7   Psychodynamische Psychotherapie

8.7.1   Konfliktbezogene tiefenpsychologische Psychotherapie

8.7.2   Strukturbezogene Psychotherapie

8.7.3   Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT)

8.7.4   Supportiv-expressive Therapie

8.8   Interpersonelle Psychotherapie (IPT)

8.9   Kognitive Stimulationstherapie (KST)

8.10 Ansätze für Systemmobilisierung

9   Fazit und Ausblick

9.1   Kontextuelles Rahmenmodell und besondere Charakteristika des Fachgebietes

9.2   Handlungsempfehlungen

Literatur

Sachwortregister

1          Einleitung – Altersbilder im psychotherapeutischen Geschehen

 

 

 

Trotz öffentlicher Propagierung und medialer Dominanz der »fitten Alten« ist in der gerontologischen Forschung gut belegt, dass die Bilder in den Köpfen der meisten Menschen über das höhere Lebensalter im Vergleich zu denen anderer Altersphasen eher einseitig und negativ ausfallen (Kornadt et al. 2019). Zu dem typischen Stereotyp über ältere Menschen und das Alter(n) gehören nachlassende geistige Fähigkeiten, Rigidität, Einsamkeit, Hilflosigkeit und schlechte Stimmung. Gleichzeitig gehören Weisheit, Gelassenheit und Würde zu den wenigen positiv besetzten Eigenschaften. Altersbilder haben – wahrscheinlich aufgrund ihrer tiefen kulturellen Verankerung in unserer Gesellschaft – eine hohe Zugänglichkeit, das heißt, sie werden bei Vorliegen entsprechender Hinweisreize wie etwa das Geburtsdatum in der Patientenakte, graue Haare, Gesichtsfalten, Gehhilfen etc. schnell und unwillkürlich aus dem Gedächtnis abgerufen (Hess 2006).

Leider sind solche Altersbilder nachweislich auch immer noch in den Köpfen vieler Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten1 verankert, und sie beeinflussen deren therapeutisches Handeln (Bodner et al. 2018). Die negativen Konsequenzen von defizitorientierten Altersbildern zeigen sich eindrücklich in experimentellen Fallstudien. Variiert man in Fallbeschreibungen experimentell das Alter eines hypothetischen Patienten (zum Beispiel 78 versus 52 Jahre) oder entfernt aus diesen entsprechende »Age cues«, explorieren Psychotherapeutinnen im Fall von älteren Patientinnen psychische Symptome wie gedrückte Stimmung, Libidoverlust und Suizidgedanken weniger hinreichend als bei jüngeren Patienten (Barnow et al. 2004; Kessler und Blachetta 2020). Außerdem beurteilen sie ältere Patientinnen als weniger therapiefähig, schätzen die Erfolgsaussichten einer psychotherapeutischen Behandlung schlechter ein, und sie fühlen sich auch weniger behandlungsmotiviert und kompetent. Außerdem rufen Hinweise auf ein höheres Lebensalter tendenziell vorschnelles, advokatorisches Handeln bei Psychotherapeuten sowie eine Tendenz zu einem weniger klärungsorientierten Vorgehen hervor (Kessler und Schneider 2019). Negative Altersbilder gehen damit mit der Gefahr einher, dass Psychotherapeutinnen die Potenziale und Veränderungsmöglichkeiten älterer Patienten unterschätzen, und damit Therapien weniger effektiv ausfallen. Gleichzeitig führt die Unterschätzung perspektivisch dazu, dass Psychotherapeuten sich in den Therapien mit älteren Patientinnen verausgaben und irgendwann erschöpft zurückziehen.

Es besteht allerdings nicht nur die Gefahr einer negativen Form der Voreingenommenheit gegenüber älteren Patienten. Vielmehr gibt es bei Psychotherapeutinnen auch das Phänomen der Bewunderung und Idealisierung alter Patientinnen, ganz im Sinne des positiven Altersstereotyps. So äußern Psychotherapeuten regelmäßig großen Respekt gegenüber der Lebenserfahrung älterer Patienten und verhalten sich besonders freundlich, zugewandt und zuweilen geradezu ehrfürchtig (Boschann et al. under review). Durch eine Tendenz zur übertriebenen Positivbewertung und zur Konfliktvermeidung bleiben sie damit therapeutisch jedoch letztlich eher distanziert und gehen weniger auf die tatsächlichen Probleme der Patientinnen ein. Damit droht auch die spiegelbildliche Gefahr einer Überschätzung von Widerstandsfähigkeit und Veränderungsmöglichkeiten älterer Patienten.

Aus fachlicher und ethischer Sicht, aber auch im Sinne der Selbstfürsorge, ist es daher in der Arbeit mit älteren Patientinnen essenziell, dass sich Psychotherapeutinnen ihre eigenen Altersbilder bewusstmachen und sich mit diesen auseinandersetzen (Kessler und Bowen 2015; Bodner et al. 2018). Dazu gehört die Selbstreflexion sowohl bezüglich Altersfremdbildern, also Vorstellungen von alten Menschen im Allgemeinen, als auch von Altersselbstbildern, also Vorstellungen vom eigenen Altwerden und Altsein. Je weniger es gelingt, eigene Vorurteile und Ängste aus dem Bewusstsein herauszuhalten, desto größer ist das Risiko für abwehrende Haltungen gegenüber älteren Patienten. Dies kann sich im Erleben von negativen Gefühlen wie Unaufmerksamkeit, Langeweile, Ärger, Aversion oder Ekel im Kontakt mit älteren Patientinnen ausdrücken (Agronin 2010).

Das vorliegende Buch soll Psychotherapeuten dabei unterstützen, eine differenzierte Sicht auf das Alter zu entwickeln, welche die Potenziale und Chancen des Alters umfasst, aber auch dessen Herausforderungen, Risiken und Vulnerabilitäten ( Kasten 1.1). Verfügen Psychotherapeutinnen über ein realistisches Altersbild, sind sie in der Lage, die individuellen Ressourcen, Präferenzen und Defizite ihrer Patienten zu erkennen und in den Therapien mit diesen an deren Altersbildern zu arbeiten. Denn auch ältere Menschen haben im Laufe ihres Lebens, von Kindheit an, negative Vorstellungen über das Älterwerden und Altsein internalisiert (Levy, 2009). Diese Altersbilder wirken tendenziell im Alter fort und werden nur unwesentlich differenzierter. Negative Vorstellungen über und Erwartungen an das Alter begünstigen nachweislich auch psychische Erkrankungen (Chang et al. 2020), und sie beeinflussen die Therapie- und Veränderungsmotivation ungünstig: »Ich und Therapie? Dafür bin ich zu alt.« (Kessler et al. 2015)

Kasten 1.1: Übung zur Selbstreflexion eigener Altersbilder

•  Was sind typische Annahmen und Vorurteile über alte Menschen im Kontext von Psychotherapie?

•  Finden Sie, dass das Leben noch lebenswert ist, wenn man eine begrenzte Zeitperspektive, viele verschiedene Krankheiten und eine eingeschränkte Lebensqualität hat?

•  Fällt Ihnen spontan eine Begegnung/Erfahrung mit einem älteren Menschen ein, der Sie in besonderer Weise geprägt hat?

•  Welche Assoziationen (Gedanken, Gefühle) haben Sie, wenn Sie sich einmal in der Zukunft als alten Menschen vorstellen? Wie alt sind Sie dann? Wie passt dieses Bild von Ihnen in das Bild eines »typisch alten« Menschen?

•  Welche Hoffnungen und Erwartungen, welche Ängste haben Sie in Bezug auf Ihr eigenes Alter(n)?

1     Die Verfasserin verwendet im Folgenden abwechselnd (nur) eine generische Form, wenn sie von Personen spricht: Ist bspw. von Psychotherapeutinnen, Patienten, Ärztinnen oder Psychologen die Rede, stehen diese – sofern nicht ausdrücklich anders erwähnt – stets für alle Geschlechter bzw. Genderformen.

2          Historischer Abriss und aktueller Stand des Forschungsfeldes

 

 

 

2.1       Die Anfänge: von Freud bis in die 1960er-Jahre

Die Begründer der modernen Psychotherapie hatten sicherlich weder alte noch sehr alte Menschen im Sinn, als sie Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts eine Behandlungsform für psychisches Leiden durch Hypnose und die Psychoanalyse entwickelten. Entsprechend finden sich bis in die 1930er-Jahre hinein keine Abhandlungen über Patientinnen dieser Altersgruppe. Wenn überhaupt, dann wurde das höhere Lebensalter eher als Kontraindikation für eine Psychotherapie betrachtet. Ein mittlerweile »klassisches« Zitat Sigmund Freuds (1905, S. 21 f) verdeutlicht diesen therapeutischen Nihilismus anschaulich, wobei es sicherlich nur im historischen Kontext einer noch erheblich jüngeren demografischen Bevölkerungsstruktur und eines anderen gesellschaftlichen »Altersklimas« verstehbar ist:

»Das Alter der Kranken spielt bei der Auswahl zur psychoanalytischen Behandlung insofern eine Rolle, als bei Personen nahe an oder über fünfzig Jahre einerseits die Plastizität der seelischen Vorgänge zu fehlen pflegt, auf welche die Therapie rechnet – alte Leute sind nicht mehr erziehbar –, und als andererseits das Material, welches durchzuarbeiten ist, die Behandlungsdauer ins Unabsehbare verlängert.«

Allerdings gab es schon bald vereinzelt andere Stimmen wie die von Karl Abraham (1920), wonach nicht das Alter des Patienten, sondern vielmehr das Alter der Neurose als Indikationskriterium den Ausschlag geben sollte (Kessler und Peters 2017). Erst im Verlauf der 1930er-Jahre wurde das höhere Lebensalter erstmals Gegenstand psychologischer Betrachtung. Auch wenn sie keinen direkten Bezug zur Psychotherapie herstellen, sind aus historischer Sicht die bedeutsamen Arbeiten der deutschen Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler (1933) zu nennen: Anhand von Interviewdaten arbeitete diese heraus, in welcher Weise individuelle Alternsverläufe in hohem Maße von der jeweiligen Biografie von Menschen geprägt sind. Der Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker C.G. Jung führte bereits Therapien mit älteren Menschen durch. Dabei vertrat er die Annahme, dass es sich beim höheren Lebensalter um die wertvolle Lebensphase der Individuation handelt, in der sich die Persönlichkeit des Menschen vervollständigt.

»Der Mensch würde gewiß keine siebzig und achtzig Jahre alt, wenn diese Langlebigkeit dem Sinn der Spezies nicht entspräche. Deshalb muß auch sein Lebensnachmittag eigenen Sinn und Zweck besitzen und kann nicht bloß ein klägliches Anhängsel des Vormittags sein.« (zitiert nach Alt 1989, S. 159)

Neben C.G. Jung beschäftigte sich auch der heute in Vergessenheit geratene Berliner Mediziner, Psychologe und Philosoph Alexander Herzberg bereits in seinem 1934 veröffentlichten Werk mit der Behandlung älterer Patientinnen auf der Basis von abgestuften Aufgaben und Übungen, die an Vorläufer der Verhaltenstherapie erinnern (Herzberg 1945).

Der Nationalsozialismus hatte für die langsam aufkommende Alternsforschung und die Behandlung älterer Menschen schmerzliche Konsequenzen (Wahl und Heyl 2015). Die Medizin jener Zeit stand dem Alter verachtend gegenüber, wie in diesem Zitat des Arztes und NSDAP-Politikers Walther Schultze zum Ausdruck kommt:

»Gerade auch das Alter hat seine Sünden. Ein weichlicher, aus der Vergreisungsatmosphäre kommender Kult der Alten ist widernational.« (Schultze 1940; zitiert nach Kondratowitz 2000. S. 150)

Im sog. III. Reich herrschte ein offizieller Diskurs vor, der das höhere Lebensalter als »Rückwandlungsjahre« bzw. »Rückbildungsalter« betrachtete, Menschen mit Demenz und Pflegeheimbewohner wurden in Euthanasieaktionen ermordet.

Im Gegensatz dazu war die Gerontologie in den USA in der Zeit um das Ende des Zweiten Weltkriegs herum bereits weit entwickelt und institutionalisiert. Unter anderem lagen dort bereits groß angelegte Längsschnittstudien vor. Allerdings taucht erst Ende der 1940er-Jahre ein zaghaftes wissenschaftliches und klinisches Interesse an psychotherapeutischen Behandlungen älterer Menschen in der Literatur auf.

2.2       Der Paradigmenwechsel der 1960er-Jahre

Wesentlich für die deutlich voranschreitende, positive Entwicklung der Alternsforschung seit Beginn der 1960er-Jahre war ein Paradigmenwechsel, wonach das Alter disziplinenübergreifend nun zunehmend aus der Perspektive seiner Potenziale und Entwicklungschancen betrachtet wurde. Neben einer einsetzenden Institutionalisierung der gerontologischen Grundlagenforschung war dies auch der Beginn der sog. Verhaltensgerontologie, die ebenfalls als Interventionsgerontologie bezeichnet wird. In diese Zeit fällt die Gründung der Boston Society for Gerontologic Psychiatry im Jahr 1962 in den USA (Kessler und Peters 2017). Sie kann als ein erster Schritt einer systematischen Etablierung eines gerontopsychiatrisch-psychotherapeutischen Forschungsfeldes betrachtet werden. Die psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten wurden nun grundsätzlich positiver eingeschätzt. Teilweise existierten allerdings weiterhin noch defizitorientierte Konzepte wie das Regressionskonzept (Alter als Rückentwicklung auf frühere Entwicklungsstufen) und »Alter als zweite Kindheit«.

Von einer solchen Auffassung grenzte sich deutlich der Geriater und Gerontologe Robert Butler in seinem 1963 erschienen Artikel »The life review: an interpretation of reminiscence in the aged« ab. Er beschrieb die Lebensrückschau als entwicklungspsychologisch bedeutsamen psychischen Mechanismus im Alter – und nicht, wie bis dahin üblich, als Ausdruck kognitiven Verfalls. Damit gab er den Impuls zur Entwicklung der Lebensrückblicktherapie ( Kap. 8.6). Butler berief sich dabei auf die bereits 1950 erschienenen Arbeiten des Schweizer Psychoanalytikers und Lebenslaufforschers Erik H. Erikson (1986), der den traditionell ausschließlich auf die Kindheitsphase beschränkten psychoanalytischen Entwicklungsansatz in Richtung einer den ganzen Lebenslauf umfassenden Perspektive erweiterte. Danach besteht im höheren Lebensalter die Entwicklungsherausforderung, Ich-Integrität zu finden. Dabei handelt es sich um einen Zustand des »Seins, was man geworden ist«, welcher Selbstakzeptanz in Bezug auf das eigene gelebte Leben ermöglicht. Die Integrität paart sich im höheren Erwachsenenalter mit einer weiteren Entwicklungsaufgabe, welche in der Weitergabe von Kompetenzen, Erfahrungen, Werten und Visionen an die Mitglieder jüngerer Generationen, innerhalb und außerhalb der eigenen Familie, besteht (sog. Generativität).

Mit Beginn der 1970er-Jahren zog, vorangetrieben von der deutschen Psychologin und Gerontologin Ursula Lehr (2013), die Verhaltens- und Interventionsgerontologie auch nach Deutschland ein. Wesentliche Grundlage hierfür waren neben den mittlerweile umfangreichen Ergebnissen aus interdisziplinären, langjährigen Längsschnittsstudien die Lerntheorie, sowie die Anfang der 1960er-Jahren unter anderem von dem US-amerikanischen Gerontopsychologen Havighurst entwickelte »Activity theory« (1963). Danach ist für Lebenszufriedenheit und ein positives Selbstbild im Alter der Grad der sozialen Eingebundenheit und die Aufrechterhaltung früherer Aktivität von entscheidender Bedeutung. Der Fokus der Verhaltens- bzw. Interventionsgerontologie lag primär auf Gedächtnistrainings, sozialer Teilhabe, Gesundheitsförderung, Rehabilitation sowie Angehörigen- und Wohnberatung. Zugleich wurden schon erste verhaltenstherapeutische Ansätze für Depressionsbehandlung für die Gerontopsychiatrie erprobt (Kessler und Peters 2017).

2.3       Eine eigene Identität des Fachgebiets bildet sich ab den 1980er-Jahren

Mit Beginn der 1980er-Jahre stießen in den USA Fragen der Gerontopsychiatrie nach und nach auf ein immer breiteres Forschungsecho. Dies manifestiert sich beispielsweise in dem 1980 in erster Auflage erschienenen »Handbook of Mental Health and Aging« (Sloane und Birren 1980). Auch finden sich ab den frühen 1980er-Jahren ausführliche Abhandlungen über Psychotherapie mit älteren Menschen durch die aufkommende Verhaltenstherapie. Beispielhaft sind hier das 1981 publizierte Behandlungsmanual »Depression in the elderly« von Gallagher Thompson und das 1986 erschiene Lehrbuch von Bob Knight »Psychotherapy with older adults« zu nennen. Auch die interpersonelle Psychotherapie (Hinrichsen 2017) wurde bereits als besonders geeignete Psychotherapieform für das höhere Lebensalter diskutiert, weil sie qua Therapierational auf die Bearbeitung von alterstypischen Themenbereichen hin ausgerichtet ist ( Kap. 8.8).

In Deutschland war es ein Vertreter der Psychoanalyse, der an der Universität Kassel angesiedelte Hartmut Radebold, der 1983 mit seinem Buch »Gruppenpsychotherapie im Alter« den weiteren Anstoß für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der psychosomatisch-psychotherapeutischen Behandlung älterer Patienten gab. Dabei ging es zunächst darum, die Kernelemente der klassischen psychodynamischen Therapie auch bei dieser Patientengruppe anzuwenden, d. h. mit Deutung und Einsicht – und damit konfliktzentriert – zu arbeiten. Im Mittelpunkt stand die Generation älterer Menschen mit frühen Traumatisierungen im Zusammenhang mit Kriegserfahrungen, Flucht und Vertreibung. Dieser therapeutische Schwerpunkt wurde seit Anfang der 1990er-Jahre durch Fokaltherapien ergänzt, in denen der Fokus auf den auf Verlusterfahrungen im Alter zurückgehenden Aktualkonflikt gelegt wurde (Heuft 1993). An dieser Stelle sei angemerkt, dass davon auszugehen ist, dass ältere Patientinnen in der heutigen Versorgungspraxis kaum mit psychoanalytischen Langzeittherapien behandelt werden (Peters und Lindner 2019). Sowohl in der Versorgung als auch im wissenschaftlichen Diskurs stehen aktuell vielmehr strukturorientierte Kurzzeittherapien ( Kap. 8.7.2) im Mittelpunkt.

Ein für die Entwicklung der Gerontologie wichtiges Datum stellt das Jahr 1989 dar, in dem das international seit den 1970er-Jahren aktive und gut wahrgenommene deutsche Forscherpaar Margret und Paul Baltes das Modell der »Selektiven Optimierung mit Kompensation« (SOK) vorstellte ( Kasten 2.1). Dieses lebensspannenpsychologische Modell kann bis heute zurecht als die zentrale grundlagenwissenschaftliche Theorie in der Gerontopsychologie bezeichnet werden ( Kap. 8.3.1 für eine Anwendung des SOK-Modells auf die therapeutischen Praxis).

Kasten 2.1: Modell der Selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK)

Das SOK-Modell basiert auf der Annahme, dass im Alter eine aktive Anpassung an zunehmende körperliche, kognitive und soziale Verluste möglich ist. Selektion, Optimierung und Kompensation (SOK) sind dabei die drei wesentlichen Komponenten, die ein erfolgreiches Altern (»successful aging«) begünstigen und mit subjektivem Wohlbefinden einhergehen.

•  Selektion bedeutet, wichtige – positive und persönlich bedeutsame – Ziele zu verfolgen, anstatt sämtliche Ziele auf einmal erreichen zu wollen. Das kann für eine ältere Person bedeuten, sich auf ihre wichtigen Vorhaben und Potenziale zu fokussieren und nicht mehr erreichbare Vorhaben aufzugeben, oder die eigenen Ansprüche zu senken. Damit schützt Selektion im Alter davor, sich in Anbetracht knapper werdender Ressourcen körperlich und psychisch auszulaugen und Selbstwert schwächende Frustrationserlebnisse zu vermeiden. Selektion ist bedeutsam, wenn Verluste drohen (proaktive Selektion) oder bereits eingetreten sind (reaktive Selektion). Ein Beispiel für Selektion ist ein älter werdender Langstreckenläufer, der mit zunehmendem Alter das Laufen nicht aufgibt, aber mehr kurze Strecke läuft.

•  Optimierung bedeutet, bestehende Fähigkeiten zu nutzen oder zu verbessern. Die Umsetzung von Optimierungsprozessen wird durch eine fördernde, unterstützende Umwelt und die Bereitstellung von Möglichkeiten begünstigt. Ein Beispiel für Optimierung ist eine ältere Frau, die ihre bestehenden sozialen Kontakte im Alter weiter intensiviert und ihr Talent zum Texteschreiben durch Teilnahme an Online-Schreibkursen noch verbessert.

•  Kompensation ist dann notwendig, wenn Fähigkeiten eingeschränkt sind oder verloren gehen und die bisherigen Strategien nicht ausreichen, um die Verluste auszugleichen. Kompensation kann beinhalten, technische Hilfsmittel wie einen Rollator oder Tablets einzusetzen, oder mehr auf Unterstützung durch andere zurückzugreifen. Kompensation kann sich auch auf das Training und die Nutzung neuer Fertigkeiten beziehen, wie etwa technische Kompetenzen, um Videokonferenzen mit Freunden durchführen zu können, wenn man in seiner Mobilität eingeschränkt ist.

Für das SOK-Modell spricht, dass in Fragebogenuntersuchungen ältere Menschen, die in geringem Umfang SOK-Strategien einsetzen, weniger Zufriedenheit mit ihrem eigenen Altern, mehr emotionale Einsamkeit und weniger positive Gefühle aufweisen (Freund und Baltes 2007).

2.4       Aktueller Stand der Psychotherapieforschung

Die American Psychological Association hat 2003 erstmals »Guidelines for psychological practice with older adults« formuliert (aktualisiert 2014), die auch an vielen Stellen in das vorliegende Buch eingeflossen sind. Die Tatsache, dass ein Grundkonsens unter Experten gefunden wurde, markiert, dass sich das Forschungsfeld seit den 2000er-Jahren klar etabliert hat.

Auf Grundlage der seit den 1990er-Jahren durchgeführten Evaluationsstudien ist die Wirksamkeit von Psychotherapie bei älteren Menschen in der Zwischenzeit zumindest für Depression gut belegt (Mitchell und Pachana 2020). Nach den Ergebnissen von Meta-Analysen und systematischen Reviews sind psychotherapeutische Interventionen zur Behandlung manifester und subklinischer depressiver Symptomatik im höheren Lebensalter effektiv und gegenüber passiven Kontrollgruppen und herkömmlicher Behandlung überlegen (Gühne et al. 2014; Huang et al. 2015). Für Angststörungen liegen mittlerweile auch kontrollierte Studien vor, allerdings fällt die Befundlage gemischter aus.

Insgesamt liegt nach einem Review von Raue (2017) die umfangreichste und positivste Evidenzlage für die psychotherapeutische Behandlung von Depression mittels Problemlösetherapie (PST,  Kap. 8.2), Kognitiver Verhaltenstherapie (KVT,  Kap. 8.3) sowie Lebensrückblicktherapie (LRT,  Kap. 8.6) vor. Außerdem kann die Interpersonelle Psychotherapie (IP,  Kap. 8.8) klar als evidenzbasiertes Verfahren im Alter eingestuft werden. Dabei gab es Fortschritte in der Entwicklung psychotherapeutischer Behandlungen von Depression im Zusammenhang mit chronischen und akuten körperlichen Erkrankungen (etwa Schlaganfall, bei Herzinsuffizienz, COPD, Diabetes und Parkinson) und bei Suizidalität. Innerhalb der »dritten Welle« der Verhaltenstherapie liegt die meiste Evidenz für Akzeptanz- und Commitmenttherapie vor (ACT,  Kap. 8.5.1). Vereinzelt wurden auch Adaptationen für Schematherapie und Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) beschrieben ( Kap. 8.5.2). Insgesamt sind allerdings neuere Psychotherapieansätze einschließlich jener der »Dritten Welle« noch nicht in randomisiert-kontrollierten Studien überprüft worden (Sadavoy 2014). Es liegen vergleichsweise wenige gut kontrollierte Studien für psychodynamische Psychotherapie mit älteren Menschen vor, wobei die bisherige Evidenzlage vielversprechend ausfällt (Gühne et al. 2014).

Allerdings basiert die dargestellte Befundlage primär auf Stichproben mit vergleichsweise »jungen«, selbstständig lebenden älteren Menschen. Sehr alte, pflegebedürftige und gebrechliche Patientinnen mit Multimorbidität und psychischen Komorbiditäten waren bisher noch kaum Gegenstand systematischer psychotherapeutischer Forschung. Wenn multimorbide, immobile, pflegebedürftige bzw. geriatrische Patienten als Patientengruppe berücksichtigt wurden, dann geschah dies innerhalb von Studien, in denen Psychotherapie als Therapiebaustein in ein multimodales Versorgungskonzept integriert war (Tegeler et al. 2020). Dazu gehören Studien auf Grundlage eines kollaborativen bzw. Stepped Care-Ansatzes (z. B. Unützer et al. 2002), außerdem Evaluationen von Gruppentherapien in der stationären Geriatrie z. B. (Hummel et al. 2015) sowie von behavioralen Interventionen in Pflegeheimen (Meeks et al. 2008). Ein weiteres Forschungsdefizit besteht darin, dass bislang lebensspannenpsychologische Erkenntnisse – wie etwa die zum sozioemotionalen Altern ( Kap. 7.5) – noch nicht systemisch in die Therapiekonzeption eingeflossen sind. Eine Ausnahme bildet die in Deutschland laufende randomisiert-kontrollierte Studie PSY-CARE (Gellert et al. 2020), in welcher eine um Elemente der LRT erweiterte kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung bei zuhause lebenden älteren Patientinnen mit Depression und Pflegebedarf in Bezug auf Implementierbarkeit und Wirksamkeit hin untersucht wird.

International ist Psychotherapie im Alter immer häufiger in Zeitschriften wie »Aging and Mental Health«, »International Psychogeriatrics« und »GeroPsych – The Journal of Geriatric Psychiatry« vertreten. In Deutschland gibt es mehrere Lehrbücher, unter anderem von Maercker (2015), Zank et al. (2009) und Supprian und Hauke (2016). Es gibt eine deutschsprachige Zeitschrift (»Psychotherapie im Alter«), die verfahrensübergreifend und interdisziplinär orientiert ist, und in dieser Ausrichtung den zumindest für Deutschland geltenden Trend unterstreicht, das Thema jenseits von traditionellen »Schulen« und Disziplinen zu betrachten. Neben der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP) haben sich innerhalb von Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie, DGGG; Deutsche Gesellschaft für Psychologie, DGPs; Deutsche Gesellschaft für Geriatrie, DGG) eigene kleine Arbeitskreise zu dem Forschungsfeld formiert. Bei Kongressen finden zunehmend entsprechende Symposien statt. Seit über 25 Jahren wird in Kassel jährlich das Symposium »Psychoanalyse und Alter« organisiert. Allerdings schneidet Deutschland trotz dieser positiven Trends im internationalen Vergleich schlecht in Bezug auf Forschung, Lehre und fachpolitisches Engagement in Klinischer Gerontopsychologie ab. In den USA wurde bereits 1993 die Society of Clinical Geropsychology gegründet. Diese Untersektion der Division 12 (Clinical Psychology) der American Psychological Association (APA) hat unter anderem elaborierte Curricula erarbeitet, die in Master- und PhD-Programmen eine hochwertige akademische Ausbildung von Psychotherapeutinnen ermöglichen.