Punished - Markus Gotzi - E-Book

Punished E-Book

Markus Gotzi

4,8

Beschreibung

Comics und Videogames sind Milton Taylors Leidenschaft. Mit Mädchen hat er es nicht so, seit ihm seine Großmutter erzählt hat, seine Mutter habe ihn bösartig im Stich gelassen. Als Doktorand der Chemie verfügt er über genügend Fachwissen, um seinem Hass auf Frauen in mörderischen Experimenten nachzugehen. Er entführt junge Frauen und sperrt sie in den Keller seines Hauses ein. Die junge Polizistin Paula Bogust sucht nach einer zweiten Chance, nachdem sie bei einem früheren Einsatz schrecklich versagt hat. Allein auf sich gestellt, untersucht sie das Verschwinden eines Mädchens, das vorerst letzte Opfer Miltons. In seinem Keller kommt es schließlich zum Showdown.

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»A half-hour’s drive later I had the jump leads clamped to the skin of his balls and I’d been turning the key in the ignition for fifteen minutes and he’d shit all over himself and the world was a beautiful place.«

Garth Ennis »The Punisher – Long Cold Dark«

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

1

Licht. Endlich Licht. Es drang durch Suzans geschlossene Lider und färbte ihre Dunkelheit rot. Mit jedem Herzschlag pulsierte das Blut in den dünnen Adern vor ihren Augen. Die junge Frau hielt sich den Unterarm schützend davor und öffnete sie. Sie wusste nicht, wie lange sie in der Dunkelheit in ihrer Zelle herumgetastet hatte. Stunden? Tage? Langsam gewöhnte sie sich an das Licht. Suzan nahm den Arm von ihrem Gesicht und schaute sich um. Der schmale Raum. Wenn sie sich in die Mitte stellte und ihre Arme ausbreitete, konnte sie beide Wände berühren. Die feuchte Matratze. Voller Flecken. Blut, Schweiß und Dreck. Zwei Eimer vorne am Gitter. Einer mit Trinkwasser, der andere für ihre Notdurft. Er hatte sie ausgetauscht. Auf allen vieren kroch Suzan darauf zu. Das Wasser war frisch, der zweite Eimer leer. Auf einem Plastik-Teller lag ein angebissener Hamburger. Suzan stürzte sich darauf, nahm ihn in beide Hände und biss ab. Ketchup tropfte zwischen den beiden Brötchenhälften hervor und lief über ihre Finger. Sie leckte die Soße ab und biss ein weiteres Stück aus dem Hamburger.

Am liebsten hätte Suzan den Brei aus Weißbrot und Hackfleisch so schnell wie möglich heruntergeschlungen. Sie zwang sich dazu, die Nahrung gründlich zu kauen. Sie zählte, wie oft ihre Kiefer den Klumpen in ihrem Mund zermahlten. Nicht vor 50 schlucken, sagte sie sich. Bei 38 hielt sie in der Bewegung inne. Sie hörte ein Geräusch. Es klang wie ein Scharren. Als würde sich jemand mit schlurfenden Schritten nähern. Suzan kaute noch zwei Mal und schluckte. Sie stand auf und hielt dabei die Reste des Fast Foods weiterhin mit beiden Händen. Bloß nichts fallen lassen. Bloß nichts verschwenden. Suzan schlich zur Zellentür. Wie eine Katze, die sich an eine Maus anschleicht. Doch hier und jetzt war Suzan die Maus. Sie war das Opfer.

Suzan riss die Augen auf. Sie schlug eine Hand vor ihren Mund. Der Hamburger fiel auf den Boden und platzte auseinander. Ketchup spitzte wie Blut bis auf die Matratze. Das Fleisch mit den Biss-Spuren sah aus wie ein böses Grinsen rund um einen Scheibe Gewürzgurke, die weiterhin auf dem Gehackten klebte.

So eine Gestalt hatte Suzan noch nie in ihrem Leben gesehen. Nie hätte sie auch nur vermutet, dass es so etwas gab. Das Wesen war riesig. Es hielt den Kopf gesenkt, um nicht an die Decke zu stoßen, die bestimmt 2,20 Meter hoch war. Sein Gesicht war von fettigen Haaren umkränzt. Durch die Strähnen erkannte Suzan bleiche Haut, die von Geschwüren übersät war. Die gelben Zähne waren so groß wie Suzans Daumen. Sie standen schief wie verwitterte Grabsteine, so dass es seinen Mund nicht schließen konnte. Von den wulstigen Lippen hing eine Flüssigkeit herab. Es zischte und dampfte, als sie auf den Boden tropfte, und Suzan roch etwas wie Schwefel und Hundescheiße.

Arme, dick wie ungespaltenes Brennholz, hingen fast bis zu seinen Knien herab. Geschwüre auch hier. Manche Beulen waren aufgeplatzt, und eine Mischung aus Blut und Eiter floss in trägen Rinnsalen daraus. Pommes rot weiß, dachte Suzan, als sie das Wundsekret entdeckte. Sie würgte hinter ihrer vorgehaltenen Hand.

Die Gestalt war in ein sackähnliches Gewand gekleidet. Um ihren Hals hing eine Kette. Blaue-Weiße Kugeln waren durch einen Lederriemen gezogen. Was sind das für Steine, fragte sich Suzan, Sie stand weiterhin reglos, die Augen aufgerissen, die Hand vor dem Mund und erkannte, dass dieses Wesen vor ihrer Zelle keine Steine, sondern Augen wie riesige Perlen um den Hals trug.

Vom Horror gelähmt, konnte Suzan den Blick nicht von der Gestalt lösen, die reglos nur einen Arm weit entfernt vor ihr stand. Einzig der Kopf wackelte auf und ab. Wie bei einem Menschen mit fortgeschrittenem Parkinson-Syndrom. Die Haare wippten dabei leicht und gaben den Blick auf Augen frei, in denen Suzan keinerlei Intelligenz entdecken konnte. Und keine Gnade.

Sie hörte ein anderes Geräusch. Jemand wimmerte. Dann wurde die Stimme lauter. Verständlicher. »Nein! Nein! Geh weg! Geh weg! Hörst du? Geh weg! Biiitttteee!!!«

Wie auf ein Startsignal, setzte sich das Wesen in Bewegung. Es wandte sich an Suzan. Seine Kopfhaut blieb an der Decke kleben, und Suzan hörte ein Geräusch, als sie einriss und sich vom Schädel löste. Als würde man eine tote Katze von gefrorenem Boden lösen. Die Haut rutschte über die linke Gesichtshälfte und verdeckte eines der toten, trüben Augen. Mit dem anderen schaute es Suzan an. Es öffnete den Mund und presste ein Wort zwischen den schiefen Zähnen hervor. »Du«, sagte es, hob seinen von Geschwüren übersäten rechten Arm und zeigte auf Suzan.

Die Frau löste sich aus ihrer Starre und wich nach hinten in ihre Zelle, bis sie an die rückwärtige Wand stieß. Sie zeigte ihrerseits mit ihrem rechten Arm auf die Gestalt. »Du«, wiederholte das Wesen mit einer Stimme, die nicht von dieser Welt sein konnte. Suzan rutschte die Wand entlang, bis ihre mageren Gesäßbacken den Fußboden erreichten. Ihre Augen flackerten, und ihr Arm sackte nach unten. Dunkelheit. Endlich Dunkelheit.

2

»Logbuch-Eintrag Nummer 429. Harold macht mich noch wahnsinnig. Ob es wohl irgendwann einmal möglich sein wird, eine Fernsehserie zu schauen, ohne über das Offensichtliche mit ihm diskutieren zu müssen? Manchmal frage ich mich wirklich, wie er die Qualifikation zum Besuch einer Universität erworben hat.«

Milton nahm die Hände von der Tastatur seines Laptops und schüttelte den Kopf, als er sich an die Ereignisse des Abends erinnerte…

»So. Hier haben wir einmal Huhn mit Erdnuss-Soße für Harold und einmal Turkey Ham für Milton.« Lionel holte die Sandwiches aus der Subway-Tüte und legte sie auf die Teller. Milton nahm das Brot mit spitzen Fingern und hielt es sich vorsichtig unter die Nase, als sei es kein Snack, sondern eine Windel, die nach einer vollen Ladung am Hintern eines Babys klebte. »Gewürzgurken, keine Tomaten?«

»Yep«, antwortete Lionel.

»Honig-Senf-Soße und Barbecue-Soße?«

»Jawohl!«

»Cheddar-Käse als Feuchtigkeitsbarriere zwischen Salat und Brot?«

»Wie du es gewünscht hast.«

»Das Brot nur 45 Sekunden getoastet und nicht 60 Sekunden wie sonst üblich?«

»Dein Wille geschehe!«

»Sehr gut, Lionel.« Milton nickte wohlwollend und lächelte. »So langsam hab ich noch Hoffnung für dich.« Er nahm das Sandwich und biss hinein.

Harold sah Lionel ungläubig an. »Nur 45 Sekunden getoastet statt 60 Sekunden?«, flüsterte er, als Milton in die Küche ging, um eine Flasche Cola light zu holen.

Lionel schob seine schwarz umrandete Brille mit dem linken Mittelfinger nach oben und verdrehte die Augen.

»Lass ihm den Glauben. Sonst hört er nicht auf zu diskutieren, und wir verpassen noch die neue Folge von Game of Thrones.«

Harold lachte und biss in sein Hühnchen-Sandwich mit Erdnuss-Soße.

»Wisst ihr, was mich an den Drachen stört?« Milton zeigte mit dem Finger auf den 55 Zoll großen Flachbildschirm seines TV-Gerätes. Dort flogen Daenerys Targaryens Drachen über eine gewaltige Armee und spuckten Feuer über die unglückseligen feindlichen Soldaten.

»Was denn? Dass jeder von ihnen eine andere Farbe hat? Bei einem Wurf Katzen hast du auch die komplette Palette von schwarz über getigert bis weiß.« Harold griff in eine Schale mit Kartoffelchips. Um Milton zu ärgern, kaute er mit offenem Mund und drehte seinen Kopf in dessen Richtung. Die Chips knusperten und krachten zwischen seinen Zähnen.

Milton drehte sich angewidert ab. »Du bist ekelig«, sagte er und zog dabei den linken Mundwinkel hoch, so dass Harold einen Eckzahn zwischen den Lippen blitzen sah. »Außerdem sind mir sind die Gesetze der Genetik durchaus bekannt. Mich stört etwas ganz anderes. Und es ist so offensichtlich, dass es selbst euch auffallen müsste. Die Flügel der Drachen sind zu klein. Bei einer üblichen Größe von sechs Metern und einem Gewicht von realistisch geschätzten 700 Kilogramm müssten die Flügel doppelt so groß sein. Oder die Drachen wären nicht manövrierfähig.« Während des Monologs wedelte er mit den Händen vor seiner mageren Brust und breitete sie schließlich auf Armeslänge aus. Dabei stieß er an Lionels Glas, das dieser gerade an seinen Mund führte. Cola schwappte über den Rand und auf sein Superman-T-Shirt. Die Limonade färbte das Gesicht des Helden hellbraun.

»Pass doch auf«, schimpfte Lionel und stellte das Glas auf dem Tisch ab. Er wischte über sein Shirt. »Du weißt schon, dass es keine Drachen gegeben hat?«, mischte er sich in die Diskussion ein. »Von einer üblichen Größe kann also keine Rede sein.«

Milton schaute ihn an und verdrehte die Augen. »Natürlich gibt es eine übliche Größe bei Drachen. Schwerer als höchstens 750 Kilogramm können sie nicht sein. Sonst würden sie die Schwerkraft mit ihrem Flügelschlag nicht überwinden.« Dabei klang er, als würde er sich mit einem Vierjährigen unterhalten.

Harold hatte die Chips heruntergeschluckt. »Ach ja? Und wie erklärst du dir die chinesischen Drachen? Die sind mehr als 20 Meter lang.« Er nahm eine weitere Handvoll Chips aus der Schale. »Auf Bildern«, fuhr Harold fort. »Dir ist klar, dass es Drachen weder in China noch sonst wo tatsächlich gegeben hat.« Wie um seine Aussage zu bekräftigen, schob er die Chips in den Mund und ließ sie krachen.

»Es hat nirgendwo auf der Welt Drachen gegeben«, bestätigte Lionel, inzwischen leicht genervt. »Sie sind überall nur der Phantasie entsprungen. Genau wie beim Hobbit. Du hast die Filme gesehen. Smaug war bestimmt 40 Meter lang und konnte ebenfalls fliegen. Und jetzt haltet die Klappe. Ich habe nichts mehr mitbekommen.« Er zeigte auf den Bildschirm.

Milton griff nach der Fernbedienung und drückte auf einen Knopf. Glücklicherweise hatte er ein modernes TV-Gerät inklusive Receiver gekauft, das die Möglichkeit bietet, das laufende Programm zu stoppen oder zurückzuspulen. Drachen und Krieger bewegten sich in zwölf-facher Geschwindigkeit rückwärts. Es sah aus wie ein stummer Tanz. Milton stoppte den schnellen Rücklauf genau an der Stelle, als ein feindlicher Soldat im Feuerstoß des schwarzen Drachen in Flammen aufging.

Harold nahm sich noch ein paar Chips aus der Schale.

»Hast du ein paar Hemden in XXL gekauft, oder warum stopfst du dich mit diesem fettigen Zeug voll? Du hat doch gerade erst dein Sandwich gegessen«, meinte Milton. Er schüttelte den Kopf. »Um noch einmal auf die Drachen zu sprechen zu kommen… «

Harold gewährte ihm erneut einen Blick auf den orangefarbenen Brei in seinem Mund. »Lass gut sein«, unterbrach er ihn. »Du hast Recht. Die Flügel sind viel zu klein. Und jetzt drück auf Play. Ich will endlich sehen, wie es weitergeht.«

»Natürlich habe ich Recht. Ich habe immer Recht.« Milton drückte die Play-Taste auf der Fernbedienung, nahm sein Sandwich vom Teller und biss hinein. »Irgendwie habe ich den Eindruck, das Brot war doch zu lange im Toaster. Es ist einen Hauch zu knusprig.«

Milton las noch einmal seinen Eintrag im elektronischen Logbuch. Sein Gesicht spiegelte sich im dunklen Teil des Bildschirms. Wenn Harold ihn ärgern wollte, nannte er ihn »Den letzten Scheitelträger«. Milton selbst wollte in seinen Gesichtszügen lieber eine Ähnlichkeit zu Mr. Spock entdecken. Natürlich Leonard Nimoy in der Rolle des Vulkaniers. Nicht Zachary Quinto. Für Milton gab es nur einen Spock, auch wenn die TV-Serie bereits weit vor seiner Geburt zum Kult wurde.

Er hatte vor drei Wochen seinen 24. Geburtstag gefeiert, wobei feiern zu viel gesagt ist. Gemeinsam mit Lionel und Harold hatte er auf der Spielekonsole X-Box die Weltraum-Ballerei »Halo« gespielt und Essen vom chinesischen Lieferdienst kommen lassen. Huhn nach Art General Fong. Ohne Chili, dafür mit Bambussprossen. Ein ganz normaler Donnerstag also. Donnerstag war China-Tag. Immerhin hatten seine Freunde ihm etwas geschenkt: Lionel einen Gutschein für einen Kinobesuch, und Harold eine Tarantel, eingeschlossen in einem transparenten Acrylblock.

Natürlich wusste Harold, dass Milton Angst vor Spinnen hatte, und beobachtete ihn daher ganz genau, als er das Geschenk auspackte. Doch er wurde enttäuscht. Milton hatte sich im Griff. Seine Pupillen weiteten sich in Sekun denbruchteilen, und er wurde blass. Doch er warf die Spinne nicht voller Panik auf den Boden. So wie er es mit der Gottesanbeterin im Acryl-Briefbeschwerer getan hatte, den Harold ihm bei anderer Gelegenheit geschenkt hatte. »Haha«, machte Milton und stellte die tote Spinne in ihrem transparenten Gefängnis auf den Schreibtisch. Später würde er sie wegwerfen. So, wie er es auch mit der Gottesanbeterin getan hatte.

Milton konnte seine Furcht vor diesen Tieren nicht erklären. Und das ärgerte ihn. Ein Therapeut hätte ihm erläutern können, welche Rolle das Weibliche dabei spielte. Dabei erinnerte Miltons Erscheinung selbst an eine menschliche Version der Gottesanbeterin, einschließlich seltsam abgehackter Bewegungen – bei ihm ein Zeichen von Nervosität.

»Zappel nicht so rum, Junge«, hatte seine Großmutter ihn oft genug angeranzt. Sie hatte den Jungen, der seine Mutter nie kennengelernt hatte, erzogen. Oma wendete dabei ganz eigene Methoden an, doch den Zappel-Phillipp in Stress-Situationen konnte selbst sie ihrem Enkel nicht austreiben. Omas Aufmerksamkeit pendelte zwischen Extremen. Sie jagte ihm Angst ein, behütete ihn aber gleichzeitig wie einen Schatz. Miltons Leben bestand aus Anschiss und Anbetung. Das förderte einen Charakter, wie er sonst nur nordkoreanischen Diktatoren eigen ist – eine Mischung aus Hörigkeit und Arroganz, Einsamkeit und Machtphantasien.

Sein ganzes bewusstes Leben hatte er in Omas Haus verbracht, nur wenige Kilometer von der University of New England in Boston entfernt, an der er später sein Chemiestudium weit vor der Regelzeit mit dem Master abschließen sollte, und an der er nun seit anderthalb Jahren als Doktorand an seinem nächsten akademischen Grad arbeitete. Und wo er als Dozent den Erstsemester-Einführungskurs betreute. Eine Qual gleichwohl für ihn wie für seine Studenten.

Seit vier Jahren bewohnte Milton das frei stehende Haus inzwischen alleine. Außen wie innen sah es, von minimalen Änderungen abgesehen, noch genau so aus wie an dem Tag, als ein Herzschlag Omas Leben beendete. Sie hatte im Vorgarten Unkraut gezupft und war bereits tot, als sie mit dem Gesicht voraus in den Löwenzahn fiel.

»…bin mal gespannt, worüber wir noch diskutieren müssen. Als ob es nicht genügt, Harold in jeder Folge von Star Trek erklären zu müssen, wie der Teleporter funktioniert. Er ist manchmal echt anstrengend!« Miltons Finger hämmerten auf die Tastatur seines Laptops.

Ein Geräusch riss ihn aus seiner Konzentration. Ernie und Bert fauchten sich an, seine beiden Halsbandleguane. Milton blickte zu dem Terrarium. Er hatte die Echsen nach dem Tod seiner Großmutter gekauft, als er sich in dem großen Haus einsam fühlte. Zunächst dachte er an etwas kuscheligeres wie einen Hamster oder ein Kaninchen. Oder an eine Katze. Doch je intensiver er darüber nachsann, desto unangenehmer erschien es ihm, das Fell eines Nagetiers zu berühren. Oder das eines Tieres, das sich den eigenen Hinterausgang sauberleckt.

Während er ein Mikrowellengericht in sich hineingeschaufelt hatte, ohne den Geschmack des Hackbratens mit Kartoffelbrei zu identifizieren, hatte er gelangweilt durch die Fernsehprogramme geschaltet und war bei einem Beitrag über Reptilien hängengeblieben. Fasziniert beobachtete er, wie ein Leguan in den Kopf einer Gottesanbeterin biss. Das nahm ihn sofort für die schuppigen Tiere ein. Am nächsten Tag ging er in die Zoohandlung und kaufte Ernie und Bert. Er hatte zunächst andere Namen für die beiden Reptilien auswählen wollen. Pierre und Michelle Curie kamen in die engere Wahl, doch Milton war nicht völlig von ihrer Genialität überzeugt, weil sich die beiden Physiker 1903 ihren Nobelpreis mit Henri Becquerel teilen mussten. Dr. Jekyll und Mr. Hyde kamen nicht in Frage, weil er eines der Tiere nicht beleidigen wollte, indem er ihm den akademischen Grad verweigerte. Mr. Spock und Captain Kirk erschienen ihm zu vermessen. An James Watt und Isaac Newton war eigentlich nichts auszusetzen, doch dann war er beim Zappen mit der Fernbedienung bei einem Sender hängengeblieben, der eine alte Folge der Sesamstraße zeigte. Milton verfiel in eine Art sentimentale Schockstarre. Er dachte daran, wie er gemeinsam mit seiner Oma auf dem Sofa gesessen, Erdnussflips geknuspert und die Abenteuer von Bibo, Oscar, dem Krümelmonster und Ernie und Bert geschaut hatte. Und damit standen die Paten für die beiden Leguane fest.

Milton starrte auf den Bildschirm seines Rechners, blickte jedoch durch ihn hindurch. Seine Gedanken schweiften ab. Soll ich heute Abend noch füttern?, fragte er sich. Er überlegte kurz und entschied sich dann dagegen. Seine Gäste hatten ihn verärgert, und das sollten sie zu spüren bekommen.

Sein Blick wurde wieder klar. »Heute Abend keine Fütterung. Ende Logbuch-Eintrag 429«, schrieb er in sein digitales Tagebuch.

Er speicherte die Datei und verschlüsselte sie mit einem Programm, das er selbst geschrieben hatte. »Gib der NSA keine Chance«, murmelte Milton und schaltete den Rechner aus. Er ging zu dem Terrarium und beobachtete die beiden Leguane. Ernie und Bert fauchten erneut. Ernie stellte außerdem seinen Rückenkamm und die Kehlwange auf.

Milton schraubte eine kleine Dose auf, die neben dem Terrarium stand, griff hinein und nahm eine Hand voller getrockneter Heuschrecken heraus. Er öffnete den Deckel des Glasbehälters und ließ die toten Insekten aus der Hand gleiten. Ernie und Bert packten ihre Nahrung mit den Zähnen und begannen zu kauen. Reglos stand Milton vor dem Terrarium und beobachtete das Mahl der Reptilien. Wie Drachen ohne Flügel, dachte er und schüttete die Reste seines eigenen Essens in einen roten Plastikeimer. Er versiegelte ihn mit Klarsichtfolie, um unangenehme Gerüche zu vermeiden, und verstaute ihn unter der Spüle in der Küche. Heute Abend keine Fütterung.

3

Suzans Kopf schmerzte wie nach einer Nacht mit zu vielen Cocktails und Joints. Sie fasste an ihre Brust und spürte eine feuchte Masse zwischen ihren Fingern. Sie hob die Hand an die Nase und sog die Luft ein. Sauer. Kotze, dachte Suzan und kratzte das Erbrochene mit den Fingernägeln von ihrem Hemd. Dabei verspürte sie keinen Ekel. Darüber war sie längst hinweg.

Aus der Nachbarzelle hörte sie ein Geräusch. Es klang so ähnlich wie die schlurfenden Schritte des rieseigen Wesens. Dann eine Stimme, unverkennbar von einer Frau. »Was war das?«

Suzan antwortete nicht.

»Antworte doch. Bitte! Was war das?«

Keine Reaktion.

»So einen widerlichen Gnom habe ich noch nie gesehen.«

Gnom?, fragte sich Suzan. Wieso Gnom?

»So einen hässlichen Zwerg kann es doch gar nicht geben. Hast Du sein vernarbtes, entstelltes Gesicht gesehen? Es sah aus wie verbrannt.« Die Frau in der Nachbarzelle hörte nicht auf zu reden. »Ich bin irgendwann vor Schreck in Ohnmacht gefallen. Sprich mit mir. Bitte!«

Von wegen Zwerg, dachte Suzan. Der Typ war so groß wie ein Yeti. Sie sagte kein Wort.

Wieso habe ich einen Riesen gesehen, das andere Mädchen aber einen Zwerg?, fragte sie sich. Ihr war klar, dass es sich um einen grausamen Trick des Wahnsinnigen handeln musste. Hatte er sich verkleidet und auf Stelzen gestellt? Doch wie konnte ihre Leidensgenossin dann von einem Gnom sprechen?

Suzan überlegte. Langsam ließ der Kopfschmerz nach, und sie konnte klarer denken. Ihr fiel ein Film ein, den sie vor ein paar Monaten im Pay-TV gesehen hatte. Es war ein Batman-Movie. Der Böse hieß Scarecrow und setzte seine Opfer mit einem speziellen Gift unter Drogen. Unter dem Einfluss der Droge sahen sie Dinge, die er ihnen einredete. Und noch etwas fiel ihr ein. In einer Folge der TV-Serie »Sherlock Holmes« war ähnliches passiert. Ein Nervengift brachte Menschen dazu, einen riesigen Hund zu sehen. So eine Teufelei musste auch er angewendet haben. Der Wahnsinnige. So musste es sein.

Suzan richtete sich auf und kroch durch die Zelle. Ihre Hand stieß an etwas Weiches. Sie zuckte zurück und griff erneut danach. Sie führte ihren Fund an ihre Nase. Es war der Rest von ihrem Hamburger. Die Gewürzgurke klebte noch daran, doch das konnte Suzan nicht erkennen, denn sie sah die Hand vor Augen nicht.

»Hallo? Sag doch was, bitte!«

Die Frau aus der anderen Zelle. Suzan antwortete nicht. Aus gutem Grund. Sie biss in den Hamburger und schmeckte die Säure der Gurke.

4

»Hallo Nerdlinge, wie war euer Tag?« Harold stellte sein Tablett mit dem Mittagessen aus der Kantine auf dem Tisch ab, an dem Milton und Lionel bereits Platz genommen hatten. Er setzte sich und begann, Käsemakkaroni in sich hineinzuschaufeln.

»Harold, du Heimkind! Friss doch nicht so! Und mach den Mund zu! Wird das jetzt zur Gewohnheit? Niemand nimmt dir etwas weg.« Lionel hielt sich demonstrativ die Hand vor die Augen.

»Ich habe drei Brüder und zwei Schwestern. Unser Mittagessen war ein täglicher Kampf um jede Kalorie.«

»Da hast du wohl nur selten etwas auf die Gabel bekommen«, meinte Milton und spielte damit auf Harolds Körpergröße an. Leicht hätte er als Jockey durchgehen können. Er war knapp 1,65 Meter groß und wog nicht viel mehr als eine Kiste Cola. Mit seinem helmartigen Haarschnitt erinnerte er an Ringo Starr, was ihm bei seinen Kommilitonen den Spitznamen »Walross« eingebrockt hatte: Als Gegenteil seiner dürren Statur zum einen und in Anlehnung an den Beatles-Song »I am The Walrus« zum anderen.

»Aber um auf deine Frage zu antworten«, begann Milton und tupfte sich mit der Papierserviette einen Fleck Ketchup von seinem Mundwinkel. Er seufzte. »Katastrophal!« Milton schob sein Tablett in die Tischmitte. Er hatte seinen Salat kaum angerührt. »In meinem Kurs sitzen nur dumme Menschen. Keine Ahnung, wie aus ihnen mal Chemiker werden sollen.«

»Sei nicht so streng. Es sind alles Erstsemester. Vor ein paar Wochen haben die meisten von ihnen noch für ihren Schulabschluss gebüffelt. Da schau.« Lionel zeigte auf die lange Schlange vor der Essensausgabe. So voll war es in der Mensa nur in den ersten Wochen nach Semesterbeginn. Erfahrungsgemäß dauerte es nicht lange, bis die neuen Studenten Käse-makkaroni, Hamburger mit Pommes frites und Salat mit Joghurtsauce satt hatten. Die Mensa der University of New England war nicht gerade ein Gourmet-Tempel.

Milton wandte sich wieder an seine Tischnachbarn. »Das ist keine Entschuldigung. Stellt euch vor: Heute habe ich meine Studenten gefragt, was ihre liebste Aminosäure ist. Und was haben sie geantwortet?«

»Lass mich raten«, unterbrach ihn Harold. »Sie haben gefragt, was eine Aminosäure ist.«

»Wenn es doch nur so gewesen wäre«, sagte Milton. Er machte eine dramatische Pause wie ein schlechter Schauspieler auf einer Provinzbühne. »Leucin! Könnt ihr euch das vorstellen? Einige nannten doch tatsächlich Leucin!« Leucin spielt eine zentrale Rolle im Stoffwechsel des Muskelgewebes und interessierte Milton daher überhaupt nicht. Wer Muskeln hatte, war meistens schwach im Geiste. Er selbst passte bei einer Größe von 1,90 Meter ohne Probleme in T-Shirts der Größe M. An diesem Mittwoch trug er ein rotes Hemd mit Albert Einsteins Formel der Relativitätstheorie E=mc2 in weißer Schrift. Der Mittwoch war einer von Miltons »Freie Auswahl«-Tagen. Dann kamen Shirts zum Einsatz, die er keiner klaren Kategorie zuordnen konnte. Der Dienstag war für Marvels Superhelden wie Spiderman, Hulk und die Fantastischen Vier reserviert, der Donnerstag für die Helden aus dem DC-Universe: Batman, Superman oder die Grüne Laterne.

»Dabei ist die Antwort doch ganz einfach«, ereiferte sich Milton. »Lysin!« Er schüttelte den Kopf. »Wir alle wissen doch, dass ein Mangel an Lysin zu spröder Haut, brüchigen Nägeln und sogar Haarausfall führen kann. Was für eine Generation von Chemikern soll da bloß heranreifen? Glatzköpfige Gestalten mit Schuppenflechte?« Milton betrachtete seine Fingernägel auf der Suche nach Flecken und Riefen und polierte sie anschließend, indem er sie über Einsteins Formel rieb.

Lionel trank einen Schluck Cola direkt aus der Dose und unterdrückte einen Rülpser. »Ich hoffe nicht, dass du sie mit einer Hausaufgabe bestraft hast: Warum Lysin meine liebste Aminosäure sein muss.« Harold lachte und reckte seine rechte Hand in die Höhe. »High Five«, sagte er, und Lionel schlug ein. Klatsch.

»Warum ist mir das nicht selbst eingefallen?«, meinte Milton. »Manchmal hast du tatsächlich überraschend gute Ideen.«

Harold kratzte seine letzten Nudeln zusammen und schob sich die Gabel in den Mund. »Du tickst doch nicht richtig«, sagte er. Milton schaute ihn missbilligend an, reagierte jedoch nicht auf die Beleidigung. Stattdessen fragte er: »Seid ihr fit für heute Abend?«

»Du meinst unseren Bowlingabend. Natürlich. Ich werde euch vernichten«, antwortete Lionel.

»Wer’s glaubt«, sagte Milton. »Mein zweiter Name ist Strike«. Er nahm sein Tablett, verließ den Tisch und schob es in ein leeres Fach der Ablage. »Ich dachte, dein zweiter Name ist Nervensäge«, rief ihm Harold hinterher und an Lionel gewandt: »Ist er nicht allerliebst, unser Milly?«

»Schräg aber harmlos«, antwortete Harold. »Schräg aber harmlos.«

5

Milton schnürte sich die Bowlingschuhe zu, schüttete etwas Talkumpuder in seine Handfläche und verteilte das weiße Pulver auf seinen Fingern. Er erhob sich von seinem Sessel, nahm den Controller der Spielkonsole in die rechte Hand, lief zwei Schritte nach vorne, holte aus und führte den Arm mit dem Controller nach vorne. Auf dem Fernsehbildschirm ahmte eine digitale Spielfigur die Bewegung nach und rollte eine Kugel in Richtung der zehn aufgestellten Pins. Mit einem rumpelnden Geräusch fielen alle Kegel um.

»Strike«, sagte Milton, sprang in die Höhe und schaute nach der Landung mit triumphaler Mimik auf seine Spielkameraden herab, als hätte ihm gerade jemand eine olympische Goldmedaille umgehängt.

Harold stand auf. »Schaut zu und staunt«. Mit dem Controller in der Hand brachte er die digitale Kugel seinerseits ins Rollen.

»Wisst ihr, wir sollten mal in eine richtige Bowlingbahn gehen«, meinte Lionel und stellte sich vor dem Fernsehbildschirm in Position. »So gut wie wir nach dem ganzen Training sind, räumen wir dort bestimmt einen Strike nach dem anderen ab.«

»Training? Das ist doch kein Training. Das ist bitterer Ernst. Wir spielen hier die Wii-Bowling-Meisterschaft aus. Da kommt keine… richtige… Bowlingbahn mit.« Milton machte mit seinen Fingern Anführungszeichen auf Augenhöhe.

»Außerdem ist es dort ungemütlich. Ich darf gar nicht an die feuchten Leih-Schuhe denken.«

»Du hast doch eigene Schuhe. Du trägst sie selbst hier in deinem Wohnzimmer beim Wii-Bowling«, antwortete Lionel und zeigte auf Miltons Füße. Miltons Blick folgte Lionels Zeigefinger. Seine Füße steckten in rot-blauen Spezialschuhen mit dünner Ledersohle. Sie sahen aus wie frisch aus dem Laden. Milton cremte sie nach jedem Tragen mit Pflegemittel ein und polierte sie so lange, bis sie das Licht seiner Wohnzimmerlampe reflektierten.

»Aber es riecht unangenehm. Die ganzen Menschen, die ihre Schuhe ausziehen. Hast du eine Ahnung, wie schnell sich die Duftmoleküle ihrer verschwitzten Füße mit unserer Atemluft vermischen? Ich darf gar nicht daran denken!« Er legte eine Hand vor den Mund und unterdrückte ein Würgen.

»Ist ja schon gut. Mach lieber, du bist wieder dran. Sonst ziehe ich meine Schuhe aus«, sagte Harold. »Hüte dich«, antwortete Milton. »Öffne lieber die Tür, der Pizzabote hat geklingelt.«

6

Stunden später hatte Milton die Wii-Bowling-Meisterschaft gewonnen und seine Freund nicht ohne den traditionellen Ritus entlassen. Lionel musste den goldenen Pokal aus dem Regal nehmen und Milton feierlich überreichen. Danach brüllten er und Harold im Chor: »Ein Hoch unserem Bowling-König. Strike! Strike! Strike!« Milton nahm den Pokal entgegen und konnte den Triumph in seinem Gesicht nicht verbergen. Anschließend stellte er ihn zurück an seinen Platz im Regal. Dabei achtete er darauf, exakt den Kreis auszufüllen, den der Pokal auf dem verstaubten Regalboden hinterlassen hatte. Die Freunde hatten zusammengelegt und den Bowling-Pokal in einem Sportgeschäft gekauft. Die Gravur lautete: »Bowling-König aller Klassen«. Die meiste Zeit stand die Trophäe in Miltons Zimmer. Verbuchten ausnahmsweise Harold oder Lionel den Sieg für sich, hatte Milton meistens eine Ausrede: »Ich habe mir den Fuß verstaucht. Beim letzten Wurf hat Harold mich abgelenkt. Mein Schuh war nicht richtig gebunden.«

Nachdem Lionel und Harold gegangen waren, verstaute Milton seine frisch gewienerten Bowlingschuhe in der Kommode und schaltete die Spielekonsole aus. Er kratzte die Pizzaränder zusammen, zog die Klarsichtfolie von dem Plastikeimer unter der Spüle und kippte die Essensreste des heutigen Abends hinein. Er rümpfte die Nase; aus dem Eimer drang ein säuerlicher Geruch. Wie Erbrochenes, dachte Milton, nahm den Eimer und öffnete die Kellertür im Flur, eine der wenigen Veränderungen, die Milton nach dem Tod seiner Großmutter vorgenommen hatte. Er hatte die alte Holztür gegen eine aus Stahl mit Sicherheitsschloss ausgetauscht. Milton kramte in seiner Hosentasche, holte einen Schlüsselbund heraus und steckte den passenden Schlüssel ins Schloss. Nach zwei Umdrehungen schnappte der Sperrriegel zurück, und Milton zog die Tür auf. Sie klemmte und kratzte auf dem Parkettboden des Korridors. Ein halbrunder Streifen war bereits wie mit dem Zirkel gezogen durch die Kante der Stahltür abgeschabt.

Milton schaltete das Licht an und zog die Tür hinter sich zu. Das kratzende Geräusch vibrierte in seiner Zahnfüllung. Nur ein Backenzahn war plombiert. Oma hatte streng darauf geachtet, dass sich Milton regelmäßig morgens, abends und nach jeder Mahlzeit die Zähne putzte.

Das Licht der Leuchtstoffröhre warf einen trägen Schatten, als er die Stufen herunter ging. Milton erreichte den zentralen Kellerraum und betätigte einen alten, schwarzen Drehschalter. Ein weiteres Licht flammte auf. Direkt unter der Funzel bedeckte ein Teppich den Steinboden. Milton zog den Läufer zur Seite, und das Licht der Glühbirne erhellte eine Bodenklappe. einen Meter lang und genauso breit. An einer Seite war eine Metallschiene festgeschraubt, die über die Klappe hinausragte. Ein Schlitz am Ende der Schiene umschloss einen Stahlbogen, der mit Dübeln im Boden verankert war. Ein massives Vorhängeschloss der Marke Yale verhinderte, dass die Klappe von Unbefugten geöffnet werden konnte. Milton kramte erneut in seiner Tasche, fand den Schlüssel für das Yale-Messingschloss und öffnete es. Er zog die Klappe ein paar Zentimeter auf, was ihn einige Anstrengung kostete. Vielleicht ist Leucin doch nicht so falsch, dachte er. Kräftigere Muskeln wären jetzt nicht schlecht. Er biss die Zähne zusammen, öffnete die schwere Luke komplett und zog eine Taschenlampe aus seiner Gesäßtasche. Er schaltete sie ein und leuchtete in den dunklen Raum zu seinen Füßen.

Der Lichtstrahl fiel auf eine steile Holzleiter, die nahezu senkrecht in die Tiefe führte. Milton klemmte sich die Lampe zwischen die Zähne, nahm den Eimer in die linke Hand und kletterte vorsichtig die Sprossen hinab. Unten angekommen, schaltete er die Taschenlampe aus, zog ein Feuerzeug aus der Hosentasche und entzündete eine Petroleumlampe. Ihr warmer Schein flackerte wie eine Kerze am Weihnachtsbaum. Gleich ist Bescherung, dachte Milton und grinste.

Milton hörte ein leises Stöhnen. Links von ihm befanden sich vier Gittertüren. Milton hob die Lampe an und beleuchtete den Raum, der ihm am nächsten war. Viel war nicht zu sehen. Jenseits des überschaubaren Licht-Radius war es dunkel wie in einem Tannenwald um Mitternacht. Milton stellte die Lampe auf den Boden und schaltete erneut die Taschenlampe an. Ihr Strahl durchschnitt die Dunkelheit wie ein Lichtschwert.

Dort war es. Das Rothaarige. Erbarmungslos strich der strahlende Finger über eine Frau. Sie lag auf einer schmutzigen Matratze, zusammengerollt wie vor zwei Jahrzehnten als Embryo im Bauch ihrer Mutter. Der Strahl der Taschenlampe fand ihr Gesicht.

Er hatte das Rothaarige auf der Straße gefunden. Es saß total betrunken an eine Häuserwand gelehnt auf dem Bürgersteig, zwischen den gespreizten Beinen eine Lache Erbrochenes. Einiges davon war auf ihre Jeans gespritzt. Ihr T-Shirt war ebenfalls verschmutzt. Mit Pailetten verzierte Buchstaben bildeten die Worte »Daddys Darling« auf ihrer Brust. Kotze reduzierte den Aufdruck zu »Dad…ing«.

Daddys Darling hieß Suzan, doch Namen waren für Milton nebensächlich, sogar hinderlich. Namen konnte man einer Katze geben oder einem Hund. Oder Halsbandleguanen. Dieses hier brauchte keinen Namen mehr.

Milton war mit seinem alten Ford Taurus durch die Straßen patrouilliert. Der Wagen war ein Erbe seiner Großmutter. Aus dem Aschenbecher quollen immer noch die Papiere von Omas Lieblingsbonbons. Karamelltoffees ummantelt von dunkler Schokolade. Der Fahrersitz war voller Schoko-Flecken. Manchmal roch Milton daran und meinte dann, seine Großmutter säße neben ihm im Wagen.

Als er das Rothaarige entdeckt hatte, stoppte er den Ford am Straßenrand.

Es war alleine. Es musste volltrunken aus der Bar nach draußen gegangen sein, um frische Luft zu schnappen und hatte sich dann übergeben. Offenbar wurde es noch nicht vermisst. Genau wie beim ersten, dachte Milton, und sein Herz schlug vor Aufregung schneller. Bei seiner Premiere hatte er ebenfalls ein volltrunkenes Mädchen entführt, und alles war glatt gegangen. So wie immer seitdem.

Er betrachtete die Bar. Die bunte Miller-Light-Reklame im Fenster flackerte ein Farbenspiel auf das bleiche Gesicht der Frau. Gelb und rot. Jetzt blau. Selbst die kalte Farbe ließ sie lebendiger aussehen als im Original. Milton zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Er tat so, als wolle er die Bar betreten und überprüfte bei der Gelegenheit die Straße mit einem Blick nach rechts und links. Auf der Schwelle blieb er stehen und ging einen Schritt zurück. Er schaute sich um. Es war niemand zu sehen. Aus der Bar drang bierseliges Gegröle nach draußen. Dazu der Metallica-Song »Enter Sandman«. Nicht, dass Milton ihn gekannt hätte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er. Sollte jetzt ein Betrunkener aus der Tür wanken, hätte Milton immer noch verschwinden können, ohne Verdacht zu erregen.

Suzan schaute zu ihm auf und versuchte dabei, das Gesicht des Mannes zu fixieren. Keine leichte Aufgabe mit zehn Tequilas, fünf Bier und drei Strawberry-Margaritas im Blut. Oder waren es sechs Margaritas? Irgendwann hatte Suzan aufgehört zu zählen. Sie kniff ein Auge zu, um die Person über ihr besser zu erkennen. »Jaja, schon gut, verpiss dich«, lallte sie, beugte sich zur Seite und kotzte auf Miltons Schuhe.

In der Bar gab jemand ein schrilles Geräusch von sich. Milton konnte nicht erkennen, ob es sich um ein Lachen handelte oder um einen Aufschrei des Entsetzens. Er wartete einige Sekunden, doch niemand stürmte aus der Tür. Das Geräusch erklang erneut, und diesmal entschied Milton, dass sich jemand amüsierte.

Er sah sich erneut um und holte dabei die Spritze mit dem Propofol aus seiner Jackentasche. Ein Narkosemittel. Er zog die Plastikhülle von der Spitze und stach der jungen Frau in den Oberarm.

»Au, was solln das«, beschwerte sie sich. Sie versuchte aufzustehen, doch die Betäubung wirkte bereits. Milton griff ihr unter die Arme und zog sie hoch. Sie protestierte nur leicht. »Lass mich los! Wer bissn du überhaupt?«

Milton geleitete sie zu seinem Wagen, öffnete die Beifahrertür und schob sie auf den Sitz. Zum Glück habe ich eine Decke auf den Sitz gelegt, dachte er. Als ihr Hintern das Polster berührte, war sie komplett weggetreten.

Es kostete ihn nur wenig Mühe, die junge Frau in das Verließ zu schaffen. Dabei benutzte er eine Konstruktion aus Flaschenzügen, die er selbst hergestellt hatte. Zu Beginn seiner Karriere war es stets eine heikle Situation, die Frauen ohne größere Verletzungen in die Kammer zu bugsieren. Eines seiner ersten Gäste hatte er die steile Holzleiter hinab ins Dunkle gestoßen, und die Frau hatte sich bei der Landung einen Arm gebrochen. Wegen der Narkose hatte sie zunächst nichts gespürt. Als die Betäubung nachließ, hatte sie zu schreien begonnen, als würde ihr jemand die Haut bei lebendigem Leib abziehen. Ihr Unterarm hing wie die Gliedmaßen einer Stoffpuppe herab. Wie ein Teil, der nicht zu ihrem Körper gehörte. Das Geschrei verärgerte Milton. Er konnte den vorwurfsvollen Unterton nicht ertragen. In seinem Zorn ergriff er einen Schraubendreher von dem Tisch mit den Folterwerkzeugen und rammte ihn der Frau ins Auge. Die Brüllerei stoppte auf der Stelle.

Als die Frau tot und still auf dem Boden lag, und sich eine Blutlache unter ihr ausbreitete, bedauerte er seinen Wutausbruch. Die ganze Mühe umsonst. So ein Schlamassel, hatte er sich geärgert. Als ob ich nicht lange genug nach einem goldblonden Exemplar gesucht habe. Ich hätte ihm zumindest tatsächlich die Haut abziehen sollen. Lebendig. Dann hätte es einen Grund zum Schreien gehabt. Mil ton verschob dieses Experiment auf einen späteren Zeitpunkt und würde das Abbalgen an einem anderen Mädchen testen. Dabei trug er Ohrenschützer wie die Mitarbeiter am Flughafen, um seine Trommelfelle zu schützen.

Die Lider des Rothaarigen flatterten. Milton hielt den Lichtstrahl der Taschenlampe auf seine Augen gerichtet. Es blinzelte und schirmte die Augen mit dem Unterarm ab.

»Hat es Hunger?«, fragte Milton und holte ein Stück des Sandwiches vom Vortag aus dem Plastikeimer.

Die Frau mit den einst glänzenden, roten Haaren stützte sich auf ihre Arme und kroch wie ein Hund zu der Gittertür. Nach Wochen ohne Shampoo sah ihr Schopf aus wie ein um den Kopf gewickelter Putzlappen. Und er roch auch so.

»Bitte«, flüsterte sie und hielt Milton die rechte Hand entgegen. »Bitte!«

»Es gibt mir erst den Eimer!« Milton richtete den Strahl der Taschenlampe auf einen schmutzigen, blauen Eimer in der Ecke ihrer Zelle. Ihr Notdurft-Eimer. Die Frau zog sich an der Wand hoch und schwankte in den hinteren Teil des abgetrennten Raums. Sie ergriff den Henkel und stellte den Eimer an die Gittertür.

»Es geht zurück«, befahl Milton. Suzan schlurfte erneut in die hintere Ecke der Zelle und setzte sich auf ihre Hände.

»Gut, es hat gelernt«, sagte Milton, schloss die Gittertür auf und nahm den Eimer. Dabei behielt er die Frau im Auge. Sorgfältig verschloss er die Tür wieder.

Mitten im Gang befand sich ein Abfluss. Milton kippte den Inhalt des Eimers hinein und drehte einen Wasserhahn auf, der aus der Wand ragte. Daran hatte Milton einen Gartenschlauch angeschlossen. Er zielte mit dem Wasserstrahl auf den Abfluss und spülte die Notdurft der Frau in das Loch im Boden.

Als er sich ihr zuwendete, saß sie noch immer auf ihren Händen. Milton öffnete erneut die Tür, stellte den Eimer in der Zelle ab und schloss sie erneut.

»Hat es Hunger?«, fragte er erneut und zeigte ihr das Stück Sandwich. Dabei achtete er darauf, sich nicht mit der Erdnuss-Soße zu beschmieren.

Die Frau wankte auf die Zellentür zu. »Bitte«, flehte sie. »Bitte!«

Milton warf das Stück Brot durch die Gitterstäbe, und Suzan stürzte sich darauf. Gierig stopfte sie sich die Reste des mit Hühnerfleisch belegten, weichen Brotes in den Mund. Dabei schaute sie ihn von der Seite an, als hätte sie Angst, er wollte ihr das Essen wieder wegnehmen. Von wegen 50 Mal kauen…

Ein Tropfen Soße tropfte der Frau vom Kinn auf ihr T-Shirt. Das hellgrüne Kleidungsstück war nach vielen Wochen hier unten im Keller zu einem löchrigen Fetzen undefinierbarer Farbe geworden. Von »Daddys Darling« keine Spur mehr. Die Pailletten waren längst abgefallen und lagen auf dem schmutzigen Boden verstreut wie tote Fliegen. Die Jeanshose schlotterte ihr an den Beinen. Wenn sie stand, musste sie die Hose am Bund festhalten; sonst wäre ihr das dreckige Kleidungsstück von der Hüfte gerutscht. In den vergangenen Jahren hatte die Frau stets Mühe gehabt, ihr Gewicht in den Griff zu bekommen, doch auf eine solche Diät hätte sie gerne verzichtet. Unter Miltons Gastfreundschaft hatte sie bestimmt zwölf Kilo abgenommen.

»Es sieht aus wie eine Vogelscheuche«, sagte Milton mit dem angewiderten Unterton eines Menschen, der sich im Restaurant über eine Schnecke im Salat beschwert.

Die Frau kaute weiter. Sie hatte es aufgegeben, zu verstehen, was mit ihr geschieht. Zunächst hatte sie die Schuld an ihrer Misere bei sich gesucht. Was habe ich falsch gemacht? Kenne ich diesen Menschen? Habe ich ihm etwas getan? Habe ich jemandem etwas getan, den er rächen will? Warum tut er mir das an? WARUM? Die unbeantwortete Frage nach dem warum war am schlimmsten.

Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, dumm zu sterben. Sie würde diese Zelle nicht mehr verlassen, das wusste sie. Die Wochen in Dunkelheit und Gestank hatten sie zermürbt.

»Es riecht nicht gut«, übte sich Milton weiter in Komplimenten. Er drehte sich ab und wand sich der nächsten Zelle zu.

Darin saß das Brünette mit den Locken. Er hatte es erst vor wenigen Tagen gefangen.

»Es stellt mir den Eimer hier hin«, befahl Milton.

»Fick dich!«, kam es aus der Dunkelheit der Zelle. Milton leuchtete in den kleinen Raum und sah etwas auf sich zufliegen. Der Plastikeimer prallte vor die Gitterstäbe, und ein Schwall mit Urin vermischtem Kot spritzte auf Miltons Kleidung und in sein Gesicht.

»Hahahahah! Hier hast du, was du brauchst, du krankes Arschloch!«

Wortlos wischte sich Milton mit der Hand den gröbsten Schmutz aus dem Gesicht und ging zum Wasserhahn. Er drehte ihn auf, und ließ einen dünnen Strahl Wasser aus dem Schlauch über seine verschmutzte Hand laufen. Als sie halbwegs sauber war, bückte er sich und hielt sein Gesicht unter den Strahl. Er wusch sich, bis das kalte Wasser auf seiner Haut schmerzte. Er drehte das Wasser ab, zog eine Packung Papiertaschentücher aus der Hosentasche und wischte sich mit den Tüchern über das Gesicht. Anschließend holte er einen Hochdruckreiniger aus der letzten Zelle vor der Bunkerwand, löste den Gartenschlauch vom Hahn und befestigte den Wasseranschluss des Geräts daran. Glücklicherweise hatte Opa Norman hier unten auch für Strom gesorgt, als er damals das Haus inklusive Keller und Bunker baute. »Danke, Opa Norman«, flüsterte Milton.

»Was hast du gesagt?«, wollte das Brünette wissen. Es stand inzwischen direkt an der Gittertür und hielt die Stäbe mit beiden Händen umklammert.

»Was machst du da, Arschloch?«, fragte es.

Milton antwortete nicht. Er drehte sich um und hielt die Düse des Hochdruckreinigers in der Hand. Er schaltete das Gerät an, und ein dumpfes Brummen erfüllte den Bunker. Milton stellte das Drehrad auf volle Kraft und drückte einen Hebel am Handstück des Reinigers. Es erinnerte an den Abzug an einem Gewehr.

Milton zielte auf den Kopf der Frau und erwischte sie am Ohr. Sie schrie auf und versuchte, ihr Gesicht vor dem scharfen Strahl zu schützen. Milton visierte ihren Busen an und traf das weiche Fleisch. Der Strahl war hell und hart wie ein Stahlrohr. Sie schrie erneut. Milton lächelte. Er richtete den Wasserstrahl weitere fünf Minuten auf die wehrlose Frau, die inzwischen so weit von ihm weggerückt war wie möglich, bis ihre Schreie nur noch ein Wimmern waren. Sie klang wie ein Fuchs, der mit seiner Pfote in eine Falle geraten und nun damit beschäftigt war, das eingeklemmte Körperteil abzubeißen.

Milton schaltete den Hochdruckreiniger auf die schwächste Stufe und spülte Kot und Urin aus ihrem Eimer in den Abfluss. Er schaltete das Gerät komplett aus, drehte das Wasser ab, blies die Petroleumlampe aus und stieg die Holzleiter wieder hoch. Oben angekommen, hievte er die Klappe auf die Öffnung und verschloss sie. Unter ihm stieß das Rothaarige einen verzweifelten Schrei aus, doch davon drang kein Laut aus dem Verließ.

7

»Wieso macht es so etwas«, fragte sich Milton. Er stand bereits seit einer halben Stunde unter der Dusche und schrubbte die Haut mit einem Schwamm. Sein Körper war krebsrot, sowohl vom heißen Wasser als auch von der Schrubberei. »Wieso ist es so garstig?« Dabei wusste er es genau. Lässt die Wirkung der hallozinogenen Droge nach, die er den beiden Frauen verabreichte, konnte sie bei manchen Probanden zu einem Flashback übersteigerter Aggression führen. So etwas geschah gar nicht mal so selten. Die Literatur sprach von einem unter hundert Fällen. Daran hätte ich denken müssen, dachte Milton. Wieso war ich auf die Nebenwirkung nicht vorbereitet? Er ärgerte sich über sich selbst.

Milton drehte das Wasser ab. Der Strahl war weder so kalt noch so hart wie bei seiner Folter unten im Keller, doch darüber dachte er im Moment nicht nach. Er fragte sich vielmehr, ob tatsächlich alle Kot- und Urinpartikel aus seinen Haaren verschwunden waren. Er drehte das Wasser wieder auf und massierte sich zum fünften mal einen Klecks Shampoo in die Haare.

Als er 20 Minuten später aus dem Badezimmer kam, eingehüllt in einen flauschigen Bademantel aus Frottee, bemerkte er, dass die Zahl eins auf seinem Anrufbeantworter blinkte. Lionel wollte wissen, ob er nicht Lust hätte, morgen mit ihm und Harold ein paar Partien Jenga zu spielen. Milton überlegte kurz. War er morgen in Stimmung dazu? Er zuckte die Achseln. Warum nicht? Er öffnete das Fach seines Schranks, in dem er Brett-, Karten- und sonstige Gesellschaftsspiele aufbewahrte, und griff nach der Verpackung des Jenga-Spiels. Er legte es auf den Tisch und daneben eine Schutzbrille. Er hatte die theoretische Möglichkeit berechnet, sich beim Herabfallen der Holzklötzchen eine Augenverletzung zuzuziehen, und das Ergebnis hatte ihn beunruhigt. Er überlegte, seinen Helm aus Hartplastik zu holen, verwarf den Gedanken daran jedoch. Nicht übertreiben, dachte er. Die Schutzbrille sollte genügen.

Zufrieden mit seinen Vorbereitungen für den morgigen Spieleabend, setzte er sich an seinen Laptop und verfasste einen weiteren Eintrag seines Logbuchs. »Werde die Ernährung umstellen. Probanden benehmen sich wie Tiere im Käfig. Umstellung auf Tiernahrung«, schloss er seine Notizen. »Ende Logbuch-Eintrag 430.« Er öffnete ein anderes Programm.

»Warum willst du nicht mit mir reden?« Die Frau mit den braunen Haaren stand an der Gittertür und umfasste die Stäbe mit beiden Händen. »Ich bin Yvonne. Sprich mit mir, sonst werde ich noch wahnsinnig! Ich weiß doch, dass du da bist!«

»Psst! Sei leise«, antwortete die andere Frau und zischte die Worte dabei durch ihre Lippen. »Er kann uns beobachten. Irgendwo hier hat er eine Kamera installiert.«

»Es ist doch stockdunkel! Wie will er da etwas erkennen?«

»Du hast ja keine Ahnung! Die Kamera kann auch im Dunklen alles aufzeichnen. Wie ein Nachtsichtgerät. Außerdem hört er, was wir sagen. Das reicht schon.«

»Reicht für was? Was macht dieser Verrückte?«

Die Frau mit den roten Haaren antwortet nicht mehr. Zu groß war die Angst vor dem offenbar wahnsinnigen Entführer.

Suzan hatte erlebt, was passiert, wenn seine Verbote missachtet werden. Zu reden, sich mit Leidensgenossen zu unterhalten, war ein absolutes No Go. Das hatte sie erfahren, als sie in ihren Tagen selbst versucht hatte, Kontakt zu einem anderen Opfer aufzunehmen. Suzan hatte überlebt, ihre Leidensgenossin nicht. Und das war reine Glückssache. Oder Pech.

Sie drehte sich auf der Matratze zur Wand und atmete den Geruch der Pferdehaare in ihrer feuchten Unterlage ein. Suzan dachte zurück an die ersten Stunden in diesem Höl lenloch. Sie hatte sie in einem Dämmerzustand zugebracht. Wie nach einer Vollnarkose. Das waren die Nachwirkungen der Betäubung, die Milton ihr verpasst hatte, kombiniert mit dem Kater als Folge ihres Alkoholkonsums.

Der Gedanken-Nebel hatte sie umhüllt wie eine schützende Membran, doch mit der Zeit löste er sich auf. Was dann geschah, beanspruchte einen unauslöschlichen Platz in ihren Erinnerungen. Wie eine Tätowierung auf ihrer Seele. Je klarer sie denken konnte, desto größer wurde ihre Angst. Sie schlich in ihre Knochen und füllte nur kurze Zeit später die kleinste Zelle ihres Körpers aus. In absoluter Dunkelheit begann sie zu schreien. Sie rüttelte an den Gitterstäben ihrer Zellentür. Sie schrie um Hilfe, sie schrie nach ihrer Mutter, sie schrie, bis ihr Hals schmerzte.

Ihre Schreie verebbten in einem Schluchzen. Suzan weinte, bis die Tränen in ihren Augen versiegten, und danach weinte sie trocken weiter.

Zunächst dachte Suzan, sie sei alleine in dieser Dunkelheit. Dann hörte sie etwas. Ein Geräusch, das sie nicht einordnen konnte. Ratten, dachte sie als erstes und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, es innerhalb weniger Sekunden vor Ekel zum Glühen brachte. Als kleines Kind hatte Suzan mit ihren Freundinnen Verstecken gespielt und sich dabei in ein rundes, großes Abflussrohr gehockt. Auf leisen Pfoten hatte sich in ihrem Rücken eine Ratte herangeschlichen, war an ihr vorbei gelaufen und hatte dabei ihre Hand berührt, mit der sich Suzan auf dem Boden des Rohres abgestützt hatte. Noch Jahre später war sie nachts feucht vor Schweiß von ihrem eigenen Schrei aufgewacht. In ihren Träumen wuselte eine ganze Rattenarmee über ihren Körper. Von Ratten würde Suzan künftig nur noch in ihren guten Nächten träumen.

»Oh nein, bitte keine Ratte«, hatte Suzan in ihrer Zelle gewimmert und erneut zu weinen begonnen.

»Pssst! Hör auf!«

Oh Gott, eine menschliche Stimme.

»Wer bist du? Wo bist du?« Suzans eigene Stimme klang schrill wie eine Sirene.

»Sei leise. Er wird uns töten! Wir dürfen nicht miteinander sprechen.«

»Wer ist er? Was geschieht mit uns?«

»Hör auf! Bitte! Glaub mir! Er bringt uns um!« Die Frau war kaum zu verstehen, denn sie sprach sehr leise. Wie in einem Beichtstuhl, in dem die katholisch erzogene Suzan vor ihrer Erstkommunion ihre Sünden beichten musste. Ich habe gelogen. Ich war neidisch. Ich habe schlecht über meine Eltern gedacht…

Suzan versuchte weiterhin, die Frau in ein Gespräch zu verwickeln. Ganz genau so, wie Yvonne sie nun seit Tagen bedrängte. »Sag doch was, bitte. Rede mit mir!« Doch sie hatte keine Antwort mehr bekommen.

Ein paar Minuten später war der Wahnsinnige die Holzleiter in den Bunker hinabgestiegen. Sie hatte es nur gehört, ihn aber nicht gesehen. Alles blieb stockdunkel, denn er hatte sein Nachsichtgerät aufgesetzt. Sie spürte, dass er eine Zeit lang vor ihrer Zelle stand, fühlte seine Blicke in der Finsternis auf ihrem Körper. Dann hörte sie, wie sich seine Füße auf dem Boden bewegten, und kurze Zeit später drangen gesprochene Worte an ihr Ohr. Ganz leise. Sie musste sich konzentrieren, um den seltsamen Singsang zu verstehen. Es war ein Abzählreim, den Suzan früher selbst aufgesagt hatte. »A, be, buh und raus bist du. Raus bist du noch lange, lange nicht. Sag mir erst, wie alt du bist… « Eine Pause. Seine Stimme erhob sich. »He, du da! Rothaariges. Wie alt ist es?«

Suzan schrak zusammen. Hatte er sie angesprochen? »Was…?«, fragte sie.

»Wie alt ist es? Ist es taub, oder was?«

»19. Ich bin 19 Jahre alt.«

Milton begann zu zählen »Eins, zwei, drei… «

Auf wen würde sein Finger zeigen? Und was würde es bedeuten, »raus« zu sein? Suzans Gedanken rasten. »… 17, 18, 19.«

Sekunden später hörte sie, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Es war nicht ihre Tür, oder? Nein, als der Mann zu sprechen begann, ortete sie seine Stimme vor der Zelle nebenan. Zunächst redete er in ruhigem Tonfall, als würde er ein kleines Kind maßregeln, das Schokoladeneis auf die Tischdecke gekleckert hat, doch bald schon wurde er immer lauter. »Es weiß doch, dass es nicht reden darf! Das weiß es doch!« Immer wieder: »Das…weiß…es…doch!« Zwischen den Worten hörte Suzan ein klatschendes Geräusch. Es klang, als würde er einen nassen Lappen gegen die Wand der Zelle schlagen. Doch Suzan wusste, dass es so harmlos nicht sein konnte. Mit einem Stück Starkstromkabel prügelte Milton auf ihre Leidensgenossin ein.

»Das…weiß…es…doch!«, brüllte Milton und malträtierte die Frau mit dem Kabel, bis er völlig außer Atem geriet und endlich, endlich aufhörte. Schweiß tropfte von seiner Stirn in das Gesicht der Frau. Ihre Schreie waren längst verstummt. Der vierte ungeschützte Schlag auf ihren Kopf hatte ihr Licht nicht gedimmt, sondern endgültig ausgeknipst. Die meiste Zeit hatte Milton auf totes Fleisch eingedroschen.

Suzan hatte sich den Daumen in den Mund gesteckt und daran genuckelt. Dabei summte sie ein Kinderlied, das ihr ihre Mutter früher immer vorgesungen hatte. »Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserem Haus herum, widebum… «

Ohne das Summen zu kommentieren, hatte sich Milton über die schweißnasse Stirn gewischt, war die Leiter hochgestiegen und hatte die Luke verschlossen.

Der Mord an der jungen Frau war für Milton eine Vergangenheit ohne Nachhall. Er hatte dieselbe Bedeutung für ihn wie für andere Menschen ein optimal gegrilltes Steak: Lecker, aber schnell wieder vergessen. Milton verschwendete keinen Gedanken mehr daran.

Milton ärgerte sich vielmehr über die Gegenwart. Er saß vor seinem Laptop und betrachtete den Bildschirm. Ein grobkörniges, in Grüntönen gehaltenes Kamerasignal zeigte das Verlies in einer Totalen aus erhöhter Position. Milton hatte die lichtempfindliche Mini-Kamera an der gegenüberliegenden Wand so positioniert, dass er beide Zellen und die Frauen gleichermaßen darin erkennen konnte.

»Wieso können sie einfach nicht gehorchen«, fragte er sich, ehrlich erstaunt. Er beobachtete, wie sich beide Frauen in ihren Zellen bewegten, die Hände voran, tastend, damit sie sich in der Finsternis nicht die Köpfe anstießen. Jetzt hörte er nur die schlurfenden Schritte, doch zuvor hatten sie sich unterhalten. Verbotenerweise. Das Mikrofon der Kamera war empfindlich genug, dass er jedes Wort hatte verstehen können, jedes noch so leise Flüstern.

»Da braucht wohl jemand etwas Nachhilfe«, sagte er zu sich. Er stand auf und ging in den Keller. Zeit, mal wieder eine kleine Lektion zu lehren. Diesmal hatte er sich bereits entschieden. Diesmal würde er auf den Abzählreim verzichten.

Als er sich eine halbe Stunde später wieder vor den Bildschirm setzte, klebte ihm das verschwitzte Haar wie damals an der Stirn, und er sah tatsächlich ein wenig aus wie ein junger Leonard Nimoy als Mr. Spock. Sein T-Shirt war mit dem Cover eines Marvel-Comics bedruckt. Es zeigte die Fantastischen Vier im Kampf gegen ein riesiges, grünes Monster, dass sich aus einem Loch in der Straße wühlte – in seiner Hand hielt es Susan Storm umklammert, ein Mitglied des Superhelden-Quartetts. Nur war das Monster auf dem Shirt nach seinem Ausflug in den Bunker rot gesprenkelt, so wie auch die blauen Anzüge der aufgedruckten Helden und der Rest seines Hemdes.

Milton drückte auf einige Knöpfe an seinem Laptop und sah, wie das grünstichige Bild in 30-facher Geschwindigkeit rückwärts lief. Er stoppte an der Szene, in der er den Bunker betreten hatte, sah sich selbst, grün wie den Hulk, nicht so breit, aber viel bösartiger als der riesige Kerl. Er näherte sich dem Tisch an der Kopfseite des unterirdischen Raumes und wählte eines der Gegenstände aus, die vor ihm ausgebreitet auf der Tischplatte lagen. Es schimmerte hell und scharf. Genauso wie die Netzhaut der weit aufgerissenen Augen seiner Opfer. Milton erkannte das Nachsichtgerät, dass er vor den Augen trug. Er hörte das Gestammel und Gewimmer der Frauen, die bemerkten, dass sie Gesellschaft hatten. Weil er im Kellergeschoss im Stockwerk darüber die Lampe ausgeschaltet hatte, bevor er die Luke öffnete, drang weiterhin kein Licht in das Verlies. Wie damals, als er Suzans Leidensgenossin mit dem Starkstromkabel in einen blutigen Sack verwandelt hatte.

Milton lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, die Hände hinter seinem Kopf ineinander verschränkt, wie ein erfolgreicher Geschäftsmann, der sich über eine gelungene Transaktion freut. Ein Immobilienmakler vielleicht, der gerade per Telefon erfahren hat, dass er einen umfangreichen Deal abgeschlossen hat und eine fette Provision dafür einstreicht. Milton genoss ein zweites Mal, was ihm bereits vor einer halben Stunde Freude bereitete. Er drehte den Ton leiser, denn geflüstert hatte das Brünette nicht mehr.

Soziologie und Psychologie galten in Miltons Kosmos nicht als Wissenschaften, sondern als sinnloses Geschwätz ohne akademischen Inhalt. So würde es ihm auch niemals einfallen, sein eigenes Verhalten zu hinterfragen. Doch selbst die erfahrensten Gutachter würden sich an ihm die Zähne ausbeißen. Er wäre eine neue Kategorie, weit vom Psychopathen aus dem Lehrbuch entfernt. Zwei Jahrzehnte lang hatte es nichts vermisst. Doch nachdem er einmal angefangen hatte, bereitete es ihm nicht nur Freude, anderen Menschen grundlos Schmerzen und Leid zuzufügen. Er war in kurzer Zeit geradezu süchtig danach geworden.

Manche Psychologen schätzen, dass bis zu fünf Prozent der Bevölkerung rund um den Globus genetisch verursacht als Soziopath geboren werden. Diese Experten sehen in fast jedem Manager, in nahezu allen Erfolgsmenschen, einen Geist, der durch einen Mangel an Emotionen und Einsicht geprägt ist. Als einen Menschen, der lügt, manipuliert und andere beherrschen will. Der weder Reue noch Scham kennt, nicht in der Lage ist, aus Fehlern zu lernen und an sich selbst zuerst denkt.