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Von außen ist das Versteck zwischen Büschen und Bäumen nicht zu sehen. Jeden Tag begegnen sich dort ein junges Mädchen und ein deutlich älterer Mann. Die magnetische Geschichte einer Beziehung, die nicht vorgesehen ist – und ein doppelbödiger Roman, in dem vieles anders ist, als es scheint. Alles beginnt im Spätsommer, in einem Park. Als er plötzlich vor ihr steht, fühlt sie sich überrumpelt. Quasi ist "quasi vierzehn" und schwänzt nicht zum ersten Mal die Schule. Der Alte ist freundlich, schüchtern fast, gar nicht wie die anderen Männer, denen sie schon begegnet ist. Am nächsten Tag kommt er wieder. Der Alte liebt nichts mehr als Vögel und die Musik von Nina Simone, arbeiten will er nicht. Quasi glaubt, allein zu sein in der Welt, die Gleichaltrigen sind ihr fern und fremd. Sie findet sich uninteressant, wäre gern abenteuerlustiger, vielleicht verführerischer. Den Alten scheint das nicht zu kümmern. Aber was steckt dann hinter den "falschen Verdächtigungen", von denen er erzählt? Tage und Wochen vergehen so: redend und schweigend im Gebüsch, und zugleich wächst die Gefahr, entdeckt zu werden – von den Eltern, der Schulbehörde oder anderen Parkbesuchern. Quasi weiß, dass etwas passieren muss … Reduziert und mit beunruhigender Unterströmung erzählt dieser kurze Roman von zwei Außenseitern – und nähert sich langsam dem Tabu einer Beziehung, an der alles verdächtig, ja fast unerträglich erscheint.
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Seitenzahl: 189
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Die spanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Cara de pan bei Editorial Anagrama S.A. in Barcelona.
La traducción de esta obra ha recibido una ayuda del Ministerio de Cultura y Deporte de España.
Die Übersetzung dieses Werks wurde gefördert durch das Spanische Ministerium für Kultur und Sport.
Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung seiner Arbeit am vorliegenden Text.
E-Book-Ausgabe 2020
© 2018 Sara Mesa
© 2020 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach
Emser Straße 40/41, 10719 Berlin www.wagenbach.de
Covergestaltung Julie August unter Verwendung eines Motivs der Tapetenfabrik Rasch
Alle Rechte vorbehalten
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 9783803142733
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3321 2
www.wagenbach.de
Beim ersten Mal ist sie so überrumpelt, dass sie bei seinem Anblick zusammenzuckt. Das Mädchen sitzt mit dem Rücken an den Baum gelehnt da und liest eine Zeitschrift, als sie hört, wie Schritte näherkommen, das Rascheln im Laub, da steht er plötzlich vor ihr – vielleicht ein wenig verwirrt, aber nicht überrascht, sie hier, hinter den Büschen versteckt, anzutreffen. Der Alte bittet um Verzeihung – »Ich wollte dich nicht erschrecken!«, sagt er – und fragt anschließend, was sie da liest. Aber zwischen dem einen und dem anderen – zwischen der Entschuldigung und der Frage – findet das Mädchen Zeit, um zu reagieren. »Das hier«, antwortet sie und zeigt ihm die Zeitschrift, »eine Mädchenzeitschrift.« Vielleicht, sagt sie sich, wird er sie angesichts der Zeitschrift, bei der es sich offensichtlich nicht um eine Zeitschrift für Kinder handelt, für älter halten, als sie in Wirklichkeit ist, und sich die gefürchtete Frage – »Was machst du hier, um diese Uhrzeit?« – sparen, aber der Alte begnügt sich damit, zu lächeln und unsicher die Zeitschrift zu mustern. Zunächst sieht es so aus, als wollte er nach ihr greifen – seine Finger zögern, strecken sich in ihre Richtung aus –, doch dann bricht die Bewegung ab, und die Hand fällt schlaff, wie tot, seitlich nach unten. Jetzt sieht der Alte das Mädchen an, dann wieder die Zeitschrift, das Mädchen, den Baum, die kleine Zuflucht zwischen den Büschen, fängt schließlich an zu sprechen und sagt: »Was steht in der Zeitschrift? Um was geht es da?« Das Mädchen löst die Schultern vom Baumstamm, beugt sich vor, in Richtung der übereinandergeschlagenen nackten Beine. Vom stundenlangen Dasitzen im trockenen Gras hat sie Abdrücke auf der Haut, lauter kleine rote Flecken. »Um Mädchensachen«, sagt sie. »Um Musik und Spiele und so, und Filme und Klamotten, Klatsch und Musik, Klatsch über Sänger und Schauspieler, also über ihr Leben und so, meine ich.« »Da kenne ich mich nicht aus«, sagt er, aber aus seinen Worten spricht weder Ablehnung noch Verachtung. »Ich lese auch Zeitschriften«, sagt er, »aber in meinen geht es um Vögel!« Das Mädchen murmelt verwundert: »Um Vögel?« Dabei denkt sie, dass der Alte sich vielleicht auf etwas anderes bezieht, dass er auf etwas anspielen will. Dieser Gedanke verstärkt ihr Misstrauen, ja, sie überlegt sogar, ob sie weglaufen soll, doch da spricht der Alte weiter, und was er sagt, klingt ehrlich, ohne Hintergedanken. »Nicht nur um Vögel«, erklärt er, »sondern um Tiere im Allgemeinen, reine Vogelzeitschriften sind nicht so einfach zu bekommen, und außerdem sind sie teuer!« Früher hatte er mal eine abonniert, aber die gibt es nicht mehr, sie wurde jede Woche zu ihm nach Hause geliefert, und da hat er alles gelernt, was er über Vögel weiß, und das ist ziemlich viel! Der Alte spricht wie ein Kind – mit der Selbstvergessenheit und Begeisterung eines Kindes –, und das Mädchen betrachtet ihn neugierig. Morgens – fährt er fort – trifft man in diesem Park des Öfteren auf Wiedehopfe, und immer häufiger auch auf Halsbandsittiche, ja, manchmal sogar Türkentauben, ob sie das noch nicht bemerkt hat? Das Mädchen schüttelt den Kopf. Sie weiß nicht einmal, woran man eine normale Taube erkennt, wie soll sie die da von einer Türkentaube unterscheiden? Und außerdem denkt sie: Was für ein komischer Typ. Sie sieht ihn an, ohne ganz den Kopf zu heben, von schräg unten, schließlich sitzt sie noch, während er weiterhin steht. Sie mustert ihn – von unten nach oben: die eleganten Schnürschuhe, die helle Anzughose, das dazu passende – trotz der Hitze dicke und feste – Jackett und den kleinen Sportrucksack, der ihm über der Schulter hängt und so gar nicht zu seiner übrigen Montur passt. Sie betrachtet die fleckigen dicklichen Hände, den kleinen Kopf, die Brille mit dem Drahtgestell und den Schnurrbart, das wirre hellbraune Haar, ein bisschen wie bei einem Verrückten. Sie findet ihn zum Lachen, aber nicht so sehr, dass sie ihr Misstrauen völlig ablegen würde. Der Alte spricht weiter. »Inzwischen tauchen exotische Arten auf, die früher hierzulande nie zu sehen waren«, erklärt er, »neue Arten, die sich an die unbekannte Umgebung anpassen und zu einer Gefahr für die autochthonen« – bei diesem Wort kommt er ins Stottern, erst beim dritten Versuch gelingt es ihm, es korrekt auszusprechen –, »also für die autochthonen Arten werden.« Ihm ist das egal, fährt er fort, ihm gefallen alle Arten, die von auswärts und die von hier, für ihn kommt es nicht darauf an, woher sie stammen, sie sind allesamt außergewöhnlich! Er verstummt und versinkt für einige Sekunden in Nachdenklichkeit. Und dabei ändert sich sein Gesichtsausdruck. Die Augen treten hervor und werden kreisrund – als würde er auf einmal etwas begreifen –, das Kinn beginnt leicht zu zittern. »Ich bin lästig«, sagt er und bittet zum zweiten Mal um Entschuldigung. »Nein, nein«, sagt das Mädchen aus Höflichkeit, aber er besteht darauf und erklärt bekümmert, dass er immer zu viel spricht und dass er, wenn es ihm niemand sagt, weiter und weiter redet. Er braucht jemanden, der ihm das sagt, fügt er traurig hinzu, von allein merkt er das nicht, das schafft er nicht! Er blickt sich um und verabschiedet sich dann mit einem ruckartigen Nicken von dem Mädchen, das ihm ratlos zusieht. Sie spürt Erleichterung, als er sich umdreht und sich ungeschickt durchs Gebüsch schlägt – zum Glück ist sie wieder allein, sagt sie sich, obwohl der Mann eigentlich harmlos wirkte, ganz anders als die Männer, denen sie auch schon begegnet ist, die gefährlichen Männer.
Ungefähr um die gleiche Uhrzeit kommt der Alte wieder. Jetzt findet das Mädchen ihn nicht mehr zum Lachen, sie fragt sich, ob er ihr womöglich nachspioniert. Er benimmt sich allerdings so schüchtern und zurückhaltend wie am Tag davor. Er ist auch genauso angezogen und schaut genauso erstaunt und verlegen drein. Diesmal fragt er, ob er sich eine Weile zu ihr setzen darf. Dann lässt er sich in der größtmöglichen Entfernung von ihr nieder – das Versteck, die freie Fläche zwischen den Büschen und dem Baum, ist kaum mehr als ein paar Meter breit. Im Schneidersitz, die Hände auf den Knien, sieht er sie lächelnd an und atmet tief durch. »Liest du heute nichts?«, fragt er, aber er fragt so, als ob er ihr auch irgendeine andere Frage hätte stellen können, sagt sich das Mädchen, wohl um das Schweigen zu brechen. Sie holt ein Buch aus ihrem Schulrucksack, eins der Bücher, die sie für die Schule hat kaufen müssen, und hält es dem Alten hin, der sich vorbeugt und es ihr abnimmt. »Gefällt es dir?«, fragt er, während er darin blättert. »Naja, geht so. Ganz interessant.« Wieder lächelt der Alte. »Dir ist wohl oft langweilig, was?« »Nein«, sagt sie. Und fügt hinzu: »Nicht besonders, ganz normal.«
Er hat noch nie gern gelesen. Nur seine Vogelzeitschriften, sagt er, oder Bücher über die Natur im Allgemeinen. Bei Romanen dagegen kommt er immer ganz durcheinander. Sobald er anfängt, einen Roman zu lesen, ist er schon nach kurzer Zeit mit den Gedanken woanders, aber nicht weil er unaufmerksam ist, im Gegenteil, er steigert sich viel zu sehr in die Geschichte hinein! Er heftet sich dem Protagonisten oder irgendeiner anderen Figur an die Fersen und stellt sich vor, er oder sie sei er, oder er er oder sie. Und dann fängt er an, in die Geschichte einzugreifen, er kann nicht anders. Manchmal versetzt er sich auch in mehrere Figuren gleichzeitig hinein, und dann entsteht ein heilloses Durcheinander. Jedes Mal stellt er dann irgendwann fest, dass er liest, ohne etwas mitzubekommen. Er ist imstande, Seite um Seite zu lesen, ohne auch nur das Geringste mitzubekommen! Seine Gedanken schwirren währenddessen frei um ihn herum! Ob ihr das nicht so geht? Das Mädchen zuckt die Schultern. Sie liest auch nicht gern, gibt sie zu.
»Und warum hast du dann ein Buch dabei?«
Eine Amsel hüpft unter den Zweigen hervor, sieht die beiden und macht sich, aufgeregt zwitschernd, eilig wieder davon. Ihr Auftritt lenkt den Alten ab, was dem Mädchen die Möglichkeit verschafft, sich eine angemessene Antwort auf eine derart dumme Frage zu überlegen. Warum hat sie ein Buch dabei? Bloß nicht die Schule erwähnen. Sonst fragt der Alte gleich noch, in welche Klasse sie geht, und wird seine Schlüsse daraus ziehen. Sie kann sagen, dass das Buch ihrem Bruder gehört. Dass sie es sich aus seinem Zimmer geholt hat – was nur logisch wäre, schließlich besitzt ihr Bruder haufenweise Bücher, und jetzt, wo er nicht da ist, kann sie sich so viele davon ausleihen, wie sie möchte. Als sie das gerade sagen will, also dass das Buch ihrem Bruder gehört, steht der Alte auf, schüttelt sich die Grashalme von der Hose und reckt und streckt sich, als tue ihm alles weh. Uff, stöhnt er, sein Körper taugt nicht mehr dazu, wie ein Indianer auf dem Boden zu hocken! Das Mädchen fragt sich, wie alt dieser Alte sein mag, der sie rätselhafterweise immer noch nicht gefragt hat, wie alt sie ist.
Sie hat schon überlegt, ob sie sich ein neues Versteck suchen soll, aber sie findet keins, das so gut ist wie dieses. Obwohl die Rinde des Baums hart und rau ist, gibt es eine ziemlich glatte Vertiefung im Stamm, wo sie sich bequem anlehnen kann. Die kleinen, samtig grünen Blätter des Baums sind zart und weich, und die Zweige, die tief herabhängen, bilden eine Art Unterschlupf, ein Geflecht aus Licht- und Schattenflecken. Der Zugang befindet sich an einer Stelle, wo das Gebüsch etwas weniger dicht ist – gerade so licht, dass das Mädchen hindurchsteigen kann. Sobald sie einmal dort drinnen ist, zwischen Baum und Büschen, kann sie von niemandem mehr entdeckt werden, auch nicht von jemandem, der in unmittelbarer Nähe vorbeigeht, es sei denn, er streckt den Kopf hinein. Falls sie pinkeln muss, kann sie das einfach dort erledigen, irgendwo seitlich am Rand, sie kann nahezu sicher sein, dass niemand sie sehen wird. Außerdem ist der Park zu dieser Uhrzeit menschenleer. Sie kommt immer gegen halb neun, hastig, mit gesenktem Kopf, wobei sie sich bemüht, möglichst lässig zu gehen – mit dieser Lässigkeit, die sie bei den älteren Mädchen beobachtet hat, bei den Jugendlichen –, den Rucksack über der Schulter hängend, Kopfhörer auf den Ohren, mit den Turnschuhen über den Boden schleifend. Normalerweise begegnet sie niemandem, nur manchmal sieht sie in der Ferne die vielbeschäftigten Parkarbeiter in ihren Uniformen. Um elf isst sie ihr Pausenbrot, um eins wird sie ein wenig schläfrig – nicht, weil sie das so geplant hätte, die Mittagshitze sorgt von selbst dafür –, und um zwei macht sie sich bereit, um wieder zwischen den Büschen hervorzukommen und nach Hause zu gehen. Dabei begegnet sie den Kindern, die – an der Hand ihrer Eltern oder Großeltern – aus der nahegelegenen Schule kommen, sie dagegen bleibt unbemerkt: Im Vergleich zu diesen Kindern ist sie schon ein großes Mädchen, alt genug, um nicht mehr abgeholt zu werden. Möglicherweise gibt es noch andere Verstecke in diesem Park, hinter einem der vielen Büsche, die hier in langen Reihen wachsen, bis jetzt aber hat sie noch kein vergleichbar gutes gefunden, abgesehen davon, dass es nicht besonders klug wäre, durch ausgedehntes Herumsuchen Verdacht zu erregen. An den ersten Tagen war sie in einem größeren, aber auch stärker besuchten Park unterwegs. Dort haben sich ihr einmal zwei Männer genähert und ihr eine Menge Fragen gestellt. Einer der beiden fasste sie sogar am Arm und versuchte sie zu überreden, mit ihm einen Spaziergang zu machen. Und eine Frau – eine alte Frau – wollte wissen, was sie dort macht, ob sie nicht anderswo erwartet wird, ob ihre Eltern von diesem Ausflug wissen – das Wort »Ausflug« hörte sich für sie in diesem Zusammenhang ein wenig übertrieben, ja boshaft an. Deshalb hat sie sich für diesen ruhigeren und etwas abseits gelegenen Park entschieden, wo ihr niemand irgendwelche Fragen stellt. In diesem Versteck hat sie bis jetzt noch nie jemand gestört, bis auf den Alten, der ist allerdings gleich an zwei Tagen hintereinander aufgekreuzt. Was allerdings, sagt sie sich, nicht heißen muss, dass er von nun an jeden Tag kommt.
Obwohl er natürlich genau das tut.
Diesmal zieht er vor dem Hinsetzen ein Tuch aus der Tasche, faltet es feierlich auseinander und breitet es auf dem Gras aus. »Damit ich mich nicht schmutzig mache!«, sagt er, das Mädchen stellt jedoch fest, dass seine helle Hose, die sich so schlecht für Parkspaziergänge eignet, nicht nur längst Flecken hat, sondern auch eingestaubt ist, und die Säume außerdem ganz schwarz, weil sie auf dem Boden schleifen. Der Alte schwitzt, eine Haarsträhne klebt ihm an der Stirn, die Brillengläser sind verschmiert, und vor seiner Brust baumelt ein kleines Fernglas, das ihn noch schrulliger aussehen lässt. Und dennoch – trotz seines leicht nachlässigen Äußeren – erinnert er sie an einen früheren Nachbarn, einen sehr vornehmen und eleganten Lehrer – als »sehr vornehm und elegant« hat ihre Mutter ihn bezeichnet –, was unter anderem mit der Art zu tun hat, wie er sich das Haar glatt streicht, und sogar mit den Sommersprossen an den Händen, mit der so ungewöhnlich hellen Haut mit dem rötlichen Flaum.
Was will er von ihr? Versucht er, sich behutsam der heiklen Frage zu nähern? Der nach ihrem Alter? Der Tatsache, dass ein Mädchen ihres Alters sich um diese Uhrzeit, entspannt an einen Baum gelehnt, im Park aufhält? Sollte es darum gehen, ist er tatsächlich dabei, um sie herumzuschleichen wie ein Raubtier, das seine Beute erspäht hat und sich alle Zeit der Welt lässt, bevor es sich auf sie stürzt. Womöglich möchte er zuerst ihr Vertrauen gewinnen, um später umso überraschender zuschlagen zu können.
Das sagt sich das Mädchen, wenn sie kühl – und zugleich wirr – überlegt, aber wenn sie ihn dann vor sich hat und ihn in Ruhe betrachtet, verliert sich die Eindeutigkeit. Vielleicht ist dem Kerl ja bloß langweilig, vielleicht ist er einer von diesen vorzeitig in den Ruhestand versetzten Typen, die nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen, eine Nervensäge, ein Loser, vielleicht auch ein geiler alter Sack. Aber kein Verräter. Er scheint es nicht darauf abgesehen zu haben, ihr zu schaden.
Der Alte legt den Finger an die Lippen und schließt die Augen. Konzentriert lauscht er der Stimme eines Vogels, der gerade über sie hinweggeflogen ist. Auch das Mädchen wartet schweigend und mit klopfendem Herzen ab. »Ein Rotkehlchen«, verkündet der Alte schließlich triumphierend.
Sie ärgert sich, dass er sich so viel herausnimmt – das hier war ihr Platz, sie hat ihn entdeckt! Gibt es in diesem Park etwa keine anderen Orte?
Am nächsten Tag bringt er ein Handtuch für sie mit. Ein ganz dünnes, altes raues Handtuch, es ist beige mit braunem Mäandermuster. Als er es aus dem Rucksack holt und ihr hinhält, steigt ihr der Geruch von billigem Waschmittel in die Nase. »So brauchst du nicht auf dem Gras zu sitzen«, sagt der Alte, »da krabbeln überall kleine Tierchen rum, außerdem pieksen die Halme!« Misstrauisch nimmt das Mädchen ihm das Handtuch ab. Sie hatte selbst schon überlegt, eins von zu Hause mitzunehmen, aber ihre Mutter ist dermaßen ordentlich und hat ein so unfehlbares Gedächtnis, dass sie das Verschwinden sofort bemerken würde. Davon abgesehen benutzen sie bei ihr zu Hause keine so dünnen alten Handtücher. Ihre Handtücher sind weich, sehr groß und flauschig, »Hundertprozentbaumwolle« – wie ihre Mutter immer sagt –, genau wie die Bett- und die Unterwäsche: »Hundertprozentbaumwolle.« Bessere Handtücher gibt es nicht, aber das Mädchen kann trotzdem nichts damit anfangen, weil sie viel zu voluminös sind, um sie unbemerkt im Rucksack zu verstauen. Also bedankt sie sich bei dem Alten, murmelt allerdings hinterher: »Nach Hause kann ich es nicht mitnehmen.« »Warum nicht?«, fragt der Alte. »Warum kannst du es nicht mit nach Hause nehmen?« »Meine Mutter würde fragen, wo ich es herhabe«, antwortet sie, »das ist doch klar!« Der Alte zieht zweifelnd eine Braue hoch, als verstünde er nicht ganz. »Dann sag ihr die Wahrheit! Sag ihr, dass ich es dir geschenkt habe, sie wird ja wohl nicht annehmen, dass du es geklaut hast, oder?« Das Tuch noch in der Hand, dessen unteres Ende bereits den Boden berührt, sieht das Mädchen ihn schweigend an, und er blickt verwundert zurück, offenbar hat er eine Veränderung an ihr bemerkt, eine vorsichtige Distanznahme. »Was ist?«, fragt er schließlich. »Habe ich was falsch gemacht?« Das Mädchen schüttelt den Kopf. Nein, nein, sie möchte nur nicht, dass sich andere um sie sorgen. »Warum? Was ist schlecht daran, wenn man sich um die anderen sorgt?« Das Mädchen antwortet nicht. Sie breitet das Handtuch aus und setzt sich genau in die Mitte, ohne Platz für den Alten zu lassen. Der setzt sich seinerseits auf sein lächerliches Taschentuch, so weit wie möglich von ihr entfernt. Erwartet er, dass sie ihn auffordert, sich neben sie zu setzen, auf das Handtuch, Schulter an Schulter, wie zwei gute Freunde beim Picknick? Ist es unhöflich, wenn sie das nicht tut? Sie ist so verwirrt, dass sie nicht mehr sagen kann, was das Richtige wäre, das grundsätzlich Richtige und das Richtige für sie, in diesem Augenblick.
Der Alte fragt, ob sie keine Zeitschriften mehr liest, und sie sagt: »Heute nicht.« Ob sie Tiere mag, und sie sagt: »Geht so.« Ob sie gern Musik hört, und sie sagt: »Na klar.« Er fragt, welche Art von Musik, und sie sagt: »Ich weiß nicht.« Er fragt, ob sie möchte, dass er geht, und sie sagt: »Ist mir egal.« Da sagt er nichts mehr, das Schweigen wird größer, und auch alles andere kommt zur Ruhe: Selbst das ferne Brummen eines Rasenmähers bricht schlagartig ab. Das Mädchen spürt die ganze Last der Ungewissheit, blickt auf und mustert ihn. Zum ersten Mal schaut sie sich sein Gesicht genauer an, konzentriert sich auf die blauen, durch die Brillengläser klein wirkenden Augen und den dünnen, leicht nach oben gebogenen Schnurrbart – so was von altmodisch, sagt sie sich, niemand trägt heute noch solche Schnurrbärte. Ihr Blick ist offenbar hart und durchdringend, denn der Alte ist nicht in der Lage, ihm standzuhalten. Er senkt den Kopf, stemmt sich in die Höhe und steht auf. Er nimmt sein Taschentuch, faltet es sorgfältig zusammen und steckt es wieder in die Hosentasche. »Ein altes Handtuch ist ein altes Handtuch«, sagt er, »daran sollte man sich nicht stören!« Er hat es mitgebracht, um behilflich zu sein, nicht um ihr Unannehmlichkeiten zu bereiten. Er seufzt bekümmert. Er war schon wieder lästig, sagt er. Warum mischt er sich auch in Dinge, die ihn nichts angehen? Das Mädchen weiß nicht, was sie tun soll. Sie sieht ihn besorgt an, fragt, ob er das Handtuch zurückhaben will. »Ja, natürlich, du willst es ja nicht!«, erwidert er. Das Mädchen gibt es ihm, und er verstaut es auf die erstbeste Weise im Rucksack, stopft es irgendwie zwischen die übrigen Sachen. »Ich war lästig!«, sagt er mehrmals, und dann, leiser: »Es war doch bloß ein Handtuch.«
Als er weg ist, legt sich das Mädchen wieder hin – jetzt direkt aufs Gras – und blickt nachdenklich in den Himmel. Ob er ihr böse ist? Ob er sie verraten wird? Was hätte sie tun sollen, um das zu verhindern? Ihn nicht verärgern? Sein unsinniges Geschenk annehmen, das alte, tausendmal gewaschene Handtuch, das nach billigem Waschmittel riecht? War es nötig, so unhöflich zu sein?
Das aus dem Baumgrün ausgeschnittene Stück Himmelblau verändert seine Position, wandert vor die Silhouette der Blätter. Alle Zweige haben rote Ränder – weil sie nicht blinzelt, fangen die Augen an zu brennen. Sie hält sie offen, solange sie kann. Dann kneift sie die Augen zu und verfolgt das Schauspiel der tanzenden Farbflecken. Das Abbild des Alten ist auch auf ihrer Netzhaut, es lässt sich nicht so ohne Weiteres vertreiben. Wirklich seltsam, dieser Alte.
Es ist fast Mittag, als er auftaucht. Obwohl ein Teil von ihr hocherfreut war, ihn losgeworden zu sein, freut sich unverständlicherweise ein anderer insgeheim über seine Rückkehr. Der Alte scheint verwirrt, als hätte er nicht erwartet, sie hier noch anzutreffen, als sähe er sie zum ersten Mal, als hätte er sie soeben entdeckt. »Ich hab geglaubt, du kommst nicht mehr wieder!«, sagt er. »Gestern und vorgestern war ich auch hier, aber du nicht. Ich hab geglaubt, du bist mir immer noch böse!« Böse? Das Mädchen braucht eine Weile, bis sie begreift, dann ist auf einmal alles klar – der Alte hat nicht bedacht, dass Wochenende war. Samstags und sonntags kommt sie nie her, da braucht sie sich nirgends zu verstecken. Wenn der Alte tatsächlich noch nicht von selbst darauf gekommen ist, dann weil er nicht den geringsten Verdacht hegt. Statt sie zu beruhigen, verärgert dieser Gedanke sie eher. Sie hätte ihm also gar nichts vormachen müssen! Was für ein Idiot! Sie fasst Mut, spricht ungezwungen, ja vertraulich. »Am Wochenende komme ich nie«, sagt sie. »Ach so«, murmelt er, »und warum nicht?« Das Mädchen starrt ihm unmittelbar in die hinter den Brillengläsern zwergenhaft kleinen Augen. »Weil da keine Schule ist«, sagt sie. Der Alte kratzt sich am Kopf, begreift immer noch nicht. Weshalb sie sich gezwungen sieht – fast wütend – weiterzusprechen: »Statt zur Schule zu gehen, komme ich hierher.« Er öffnet den Mund, als wollte er etwas sagen, was er – weil er es sich noch einmal überlegt hat – dann doch nicht sagt. Dafür fragt er, ob er sich setzen darf. Sie nickt.