Quecksgold - Bert Ruben Rotgerber - E-Book

Quecksgold E-Book

Bert Ruben Rotgerber

4,8

Beschreibung

Zacharias Abel war immer ein Sucher. Als er in eine Krise gerät, fragt er sich nach dem Geheimnis seines Lebens. Er kommt ins Grübeln, als der Sommer besonders früh beginnt und das Jahr extrem heiß wird. Eine Reihe von Umbrüchen lassen Zacharias an der Welt zweifeln: der Klimawandel, die Veränderungen in der Medienwelt, das Internet oder der Beginn der Finanzkrise. Außerdem hat er Probleme in seiner Familie und in der Liebe. Sie sind durchsetzt von Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend. Kurz: Zacharias Abel ist in einen Ameisenhaufen des Daseins getreten. Dennoch scheitert er nicht – dank der Quantenphysik, einer positiven Sicht auf das Leben und einem Hauch von Ironie.

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Danke an alle lieben Menschen für ihre Geduld.

INHALT

PRÄLUDIUM

KANON

AUFBRUCH

UNTERWEGS

EINDRÜCKE

AM STROM

BEGEGNUNG

ALBTRÄUME

WIRRNISSE

AM WEG

NEULAND

UMKEHR

GEGENWART

VORABEND

IM FREIEN

TAUWETTER

FINSTERNIS

IM WIND

STILLE

ANBRUCH

EPILOG

CADENZA

GLOSSAR

PRÄLUDIUM

Als er noch tot war, vor seiner Zeugung also, konnte er nicht wissen, was für ein Leben das sein wird, das mit seiner Geburt in Gang gesetzt würde. Heute weiß er mehr, dennoch weiß er nicht alles. Warum das so ist, hat viele Gründe. Aber es genügte ihm nicht zu wissen, dass er nicht alles wissen kann, nein, es plagt eine Kreatur wie ihn zu wissen, dass er nicht alles weiß. Also begab er sich auf die Suche nach den Geheimnissen seines Lebens.

KANON

Was mir wohl tat, war das Vorwärtsfinden in mir selber, das zunehmende Vertrauen in meine eigenen Träume, Gedanken und Ahnungen, und das zunehmende Wissen von der Macht, die ich in mir trug.

HERMANN HESSE ››Demian‹‹

Aber die Atome oder Elementarteilchen sind nicht ebenso wirklich. Sie bilden eher eine Welt von Tendenzen oder Möglichkeiten, als eine von Dingen und Tatsachen.

WERNER HEISENBERG ››Physik und Philosophie‹‹

Aber Du bist ja Schachspieler, hast den Sinn geschult für Zeitmaß und Züge, für kleine Wendungen, die viel bewirken. Es ist eine Kunst einfach nur zu gehen, ohne ans Gehen zu denken. Sozusagen zu spielen, ohne zu spielen.

UWE REITER ››Brief an einen Freund‹‹

Als er noch ein Kind war, hatte ihm der Großvater erzählt, dass Schmetterlinge Glück bringen. Wie Grillen, vierblättriger Klee und Hufeisen.

PAULO COELHO ››Der Alchimist‹‹

AUFBRUCH

Zacharias Abel saß in seinem Garten und veränderte sich: Er tat nichts, er dachte nichts; er nahm auf, was um ihn war, ohne davon berührt zu sein.

Die Jahreszeit war diesmal anders, als alle Jahre zuvor; der Goldflieder war kaum verblüht, da hatte sich schon der Sommer in den Frühling gedrängt.

Seine Hitze machte die Halme kurz und die Ähren früh reif. In einer Zeit, in der sonst die Sommertage erst beginnen, stand schon jetzt mancher Haselstrauch mit pergamentdürren Blättern am Zaun.

Viel zu früh.

Nur der Klatschmohn entfaltete sein feuriges Rot und der Löwenzahn trieb seine Wurzeln tiefer ins Erdreich als sonst.

Eifriges Wässern half da nicht viel.

Das Gras in seinem Garten hatte Zacharias schon längst aufgegeben und an die Trockenheit verloren.

Die Behörden hatten den Wassernotstand verhängt, denn die Landschaft im Ried zeigte wieder Risse.

Sie waren tiefer als sonst.

Folgen eines großen Wasserbedarfs, der über die Jahre zugenommen hatte.

Die Großstadt will trinken, Fahrzeuge müssen im Sommerlicht glänzen, Industrie und Gewerbe, aus deren PR-Etagen dieser Weltglanz ausgeht, dürfen nicht trocken bleiben – Kühlwasser, Klärfluter, Nassreinigung: Bedarf in allen Bereichen und überall Verbrauch.

Es war zum Lauf der Dinge geworden, seit Dampf und Ruß aus Maschinen den Wolkenhimmel mehr und mehr geprägt und das Antlitz der Erde verändert hatten.

Die meisten Menschen nahmen es nicht wahr.

Wie sollten sie auch sehen, dass Wasserdampf das heitere Blau am Himmel da oben, zwar wenig mehr, aber zunehmend stärker eintrübte?

Geschah das alles doch so langsam, dass einer die Veränderungen gar nicht bemerken konnte, wenn sein Auge dafür nicht aufmerksam genug war.

Viele Jahrzehnte ist es inzwischen her, das mit der Dampfmaschine. Kraftwerke sind es in unserer Zeit, die Atome spalten, Kohle verbrennen oder massenhaft Müllmengen beiseite schaffen. Fetter weißer Wasserdampf quillt dann unablässig aus den großen Trichtern eleganter Stahlbetontürme.

An nasskalten Herbsttagen, wenn der Sommer nicht rechtzeitig weicht, steigt nebliger Flaum empor.

Warm ist dann auch das Wasser im Fluss, denn die Meiler strahlen Wärme ab in die Elemente.

Wohlig und angenehm lebt es sich in solchen Gefilden.

Flusskrebse kriechen heran und vermehren sich stärker als üblich.

Auch der Mensch fröstelt kaum an klammen Tagen in seinen Büros, Werkshallen oder Unterkünften.

In einer solchen Zeit kommt niemand auf die Idee, der Wolf könnte zurückkehren zu den kommoden Biotopen der Vorstädte oder in die schicken Naturgärten denkmalgeschützter Trabantendörfer und deren friedliche Idylle stören.

Fortschritt und Harmonie kamen Zacharias in den Sinn.

Warum zum Teufel aber diese plötzliche Wassernot?

In der Zeitung hatte er wieder einen Bericht über den drohenden Wassermangel gelesen.

Leben wir nicht inmitten einer alten Flusslandschaft?

Auen umsäumt von dichtem Buschwerk und reichem Bewuchs; Sumpftümpel und fette Grasflächen prägen den Uferkorridor am großen Strom.

Schleppt dieser Strom nicht seit Urzeiten gewaltige Wasser mit sich – vom Band der Alpen, bis hin zum Meer?

Überflutet er nicht – mehr oder weniger regelmäßig – mit unbändiger Gewalt das Land an seinen Ufern?

Und ist es nicht derselbe starke Strom, den der mächtige Frost in den zwanziger Jahren zum letzten Mal bezwingen konnte?

Wie ein Stanzteil der Zeit, zeigt ein Foto mit gezacktem Rand, den Vater zusammen mit anderen Männern vom Dorf: alle im Mantel, mit Mütze, ohne Schal, die Frauen mit Fuchspelz um den Hals und in Schuhen mit Riemchen – alle zusammen auf einer Eisfläche aus Rheinwasser.

Zu ihren Füßen eine Tafel aus Schiefer, mit Kreide vermerkt:

››3. März 1929‹‹.

Als Kind hatten ihn die Eltern beim Angucken dieser Bilder immer wieder daran erinnert – an das Ereignis von damals.

Damals habe es auf dem Fluss ein Schlachtfest gegeben, erzählten sie, und gar ein Karussell habe das Eis getragen, und eisig sei die Luft gewesen, und das Blut sei gefroren, und das Fleisch.

Heute gefriert der Eisschrank das Fleisch und die entzogene Wärme entweicht aus dem Luftschlitz vor der Wand.

Der Strom für die Kälte kommt vom Meiler im Ried, geleitet über ein Netz von Kabeln, Leitungen und Strängen.

Energie für uns alle!

Der warme Wind an diesem frühen Sommertag so kurz nach dem Winter – es war erst Anfang Februar – machte alles leicht und weich, was im Garten schon fast verdorrt oder gerade noch grün war.

Wellenartig pulsierten die Zweige im Wind und ihre Blätter brachen silbrig das Licht.

Zwischen den Schatten am Boden vertrockneten schon die ersten Halme der härteren Gräser.

Mit Mähen war da nicht viel; seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet.

Über dem Hochrot der Dächer spannte der Himmel eine gertenweite hellblaue Fläche und um die elfte Stunde hatte sich die Sonne eingebrannt.

Aus den Mörtelrillen der Backsteinmauer von nebenan holten sich die Spatzen kleine Larven oder Eier, vielleicht auch Sandkörner?

An den alten Mauersteinen trieben dicke Adern von wildem Wein empor.

Die trugen im Herbst dunkle Beeren unterm scharlachroten Blätterkleid.

Aus einer Astader war eine Ranke von der Backsteinwand gerissen.

Jetzt trieb sie am Boden mühsam frische Wurzeln in die harte Erde.

So wuchs ein neuer Steckling ran, mühsam zwar, doch ganz vernabelt mit dem filigranen Astwerk seines Stammes.

Mit dem Handrücken wischte sich Zacharias Schweiß von der Stirn.

Im Schatten unterm Gartensitz hatte sich die Katze einen Platz ergattert; die Augen leicht geschlossen, langgestreckt und spannungslos, zuckte sie zuweilen mit den Ohren.

Sie war matt.

In dieser Zeit war sie des Nachts oft unterwegs.

Und wäre es der Morgen eines Sonntags gewesen, dann hätten schon die nahen Kirchturmglocken dem frischen Tag ihr Geläute geschlagen – mild und versöhnlich.

Geräusche von der Straße und von den Handwerkern aus der Nachbarschaft ergänzten die Anmutung einer halben Stille, bestimmten sie – wie es werktags üblich ist – das Klangklima des späten Morgens.

Eine Kreissäge nervte aus der Ferne; Zacharias hörte Häuser wachsen.

Die Brandung des Windes ließ ab und an den Blätterschirm des Nussbaums rauschen.

Von irgendwoher zog ein Duft von Waldmeister durch die Luft.

Zacharias Abel fühlte sich wohl in diesem Spiel.

Die Ärmel über die Armbeugen gekrempelt, die oberen Knöpfe gelöst, unterm Baumwollhemd die graue Brust mit der feuchtwarmen Haut; die Sonne wollte sie eher röten als bräunen.

Seine Arme ruhten auf den Narben der Holzlehnen des alten Gartensessels. Seinen Kopf hoch zum Himmel gerichtet – fast ein bisschen unbequem, um jeden Sonnenstrahl zu fangen – fügte er sich der Gegenwart.

So saß er still und fühlte den Tag, spürte innig was ihn umgab, und was Zeit und Raum ihm flüsterten.

Seine Gedanken waren bei Jesa.

Sie ist das flüssige Gold allumfassender Liebe!

Der Klopfring am Hauseingang zerhämmerte die Andacht des versonnenen Moments.

Jäh war sein Schlummer gebrochen und sein Verstand hell wach.

Zacharias stand auf.

Hinter der Hausecke, der Briefträger.

››Ah, die Post … – Gmorg’n!‹‹

Leicht erschrocken und nicht drauf gefasst, vom Garten her angesprochen zu werden, kam der Bote näher.

Ihn schien die Hitze nicht zu belasten.

››N-tach!‹‹ entfuhr es tief aus seinem Rachen.

Nach kurzem Wortwechsel über die Hitze und die extreme Trockenheit, und dass man es gut habe, bei diesen Temperaturen schon spät morgens im Garten zu sitzen und zu ruhen, hinterließ der Mann ein Bündel Post – darunter Briefe vom Wasserwerk und der Ortsverwaltung.

Dann ging er.

››Alla dann! – bis morgen.‹‹ dröhnte sein kehliger Bass.

Die Wasserrechnung war soweit in Ordnung; neu waren die Gebühren der Gemeinde für den Kanal: viel Abwasser – hohe Kanalgebühr!

Weil mit den Jahren zuviel Regenwasser ins Kanalnetz floss, setzte die Gemeinde den Preis hoch.

Viele Höfe, zumeist jene der Bauern und die der Neubürger in den Siedlungen, waren völlig versiegelt.

Stein an Stein gereiht, Platte an Platte gepresst oder teerüberzogen, liegen die Freiflächen zwischen allen Bauten.

Und im Herbst, wenn feuchtfaules Blattwerk lästig wird und den Menschen viel Arbeit macht, sind die Hofstücke gut zu säubern.

Und regnet es einmal kräftiger – selten genug wie viele in diesen Tagen meinten – findet das Wasser seinen Weg direkt zum Abwasserkanal.

Nur hier und da zeigt der glatte Beton hässliche Risse oder es stören holprige Kanten die gleichförmigen Reihen der Betonknochen, sodass das Regenwasser kaum Platz findet zum Versickern.

Mehr und mehr Menschen spürten inzwischen, dass das nicht gut sein konnte – dass früher oder später was ganz Schlimmes passieren würde.

Und tatsächlich: Immer häufiger gab es Anzeichen dafür, dass längst was aus dem Lot geraten war, ja dass diese Unwucht Ursache sein könnte für Ereignisse, wie das ungewöhnlich mächtige Hochwasser des vorigen Jahres.

Nun gut: Jahrhundertfluten hatte es schon immer gegeben.

So berichten Analen ››...von dem großen Meer, das dämonisch von Westen wogt.‹‹ Anno 1883 sei das gewesen, und in beinahe vergessenen Versen steht gereimt: ››... immer höher steigt die gewaltige Fluth‹‹– mit th, und ››lässt Häuser erzittern vor des Sturmes Wuth!‹‹ – mit th.

Aber dass bei starkem Regen sofort die Flüsse anschwellen, wie unlängst wieder, das war ungewöhnlich.

In Sturzfluten schießt das Wasser zu den Deckeln der Kanäle und durch dicke Rohre in nahe Bäche, bis hin zum Strom.

Dem hebt es rasch den Pegel an und treibt sogleich – der Enge trotzend – seine Wut unaufhaltsam über alle Ufer.

Wer will dem Fluss die Rache verübeln?

Die Kinder haben daran ihre Freude; weil eindrucksvoll ist es schon: weite Flächen unter Wasser!

Stille Stellen im Feld, an denen sie sonst auf Fahrrädern Erkundungen treiben oder im wilden Herbstwind ihre bunten Drachen zum Himmel jagen.

Dort stehen bei Flut lauter Buschkronen im See.

An flacheren Stellen lassen angefaulte Holzstümpfe die Umrisse von Kuhweiden erahnen.

Manchmal setzt sich auf einen der Strünke ein Vogel nieder: Ruheplätze inmitten der Flut!

Auch treibt da so allerlei Zeug.

Ein ruhiges Spiel der Weite!

Zuweilen hebt ein Tier kreischend zum Anflug an; längt tief seine Flugbahn über die Fläche, schnappt sich geschickt einen Halm aus dem flachen Wasser oder einen der flinken Wasserläufer – und flattert der nächsten Baumspitze zu.

Dann wieder Stille!

Schrill und kurz jaulte das Handy.

Zacharias hatte es neben sich auf dem Holzklotz abgelegt.

Sein Ton peitschte das SMS-Signal durch sein Ohr – und fast hätte er vor Schreck das Glas mit Mineralwasser umgestoßen.

Zacharias griff eilig nach dem Gerät.

Ein leichter Druck mit dem Daumen, dabei die Hand etwas kreisend, um Spiegelung zu meiden – im Display eine eilige Nachricht von Rita:

WASSER IST ALLE – BITTE NEUES BESORGEN!!!

UNTERWEGS

Für das alte Flickzeug, das er gottlob noch in der brüchigen Satteltasche hatte, war Zacharias heilfroh; ohne den zähen Klebstoff und die spröden Gummiflicken hätte er den Schlauch nicht reparieren können und sein Rad schieben müssen.

Kein erfreulicher Gedanke bei diesen hohen Temperaturen – und die Sonne hatte den Zenit noch nicht erreicht.

Jetzt konnte er weiterfahren; der Schlauch war dicht und hielt – vorerst jedenfalls.

Erst aber versuchte er noch den schwarzen, fettigen Schmutz an seinen Fingern mit dürren Grasbüscheln abzuwischen.

Das war mühsam und gelang ihm nur unzureichend.

Unruhig flimmerte die Luft über den Betonplatten des Feldwegs und leichte Windwirbel drehten Staub hoch.

Seine Sandalen waren mit dem hellbraunen Puder gleichermaßen bedeckt wie die Füße.

Im Nacken war es ihm unangenehm auf der Haut, denn der Fahrtwind kühlte den feuchten Haaransatz so kräftig ab, dass es weh tat.

Zacharias rieb immer mal mit der Hand über die kalte Stelle.

Wenige Meter noch, dann konnte er auf den Weg zum nächsten Aussiedlerhof einbiegen.

Dort lagen frische Weidenblätter herum.

Wer hier mit dem Rad vorbei kommt, ergreift meist die niedrigen Astpeitschen des großen Baums, der mit seinen vollen Ästen eine kurze Wegstrecke im Schatten hält und reißt Blätter oder junge Triebe weg.

So war an der Stelle ein Portal entstanden, das geradezu einlud, in die Ferne zu schauen.

Wer einen Blick dafür hat, empfindet den Ort als Idylle!

Zacharias fuhr seit Jahren immer mal wieder hier vorbei.

Das weite Feld und der Saum der Auen dahinter zogen ihn magisch an.

Der Beton des Feldwegs war besonders heiß an diesem Tag und die Luft darüber flimmerte.

Das machte den Weg länger als er tatsächlich war.

Hätte ihm nicht der laue Fahrtwind Linderung gebracht – der salzige Schweiß wäre ihm nur so über den Rücken gelaufen.

Jeder Tritt in die Pedale wog von Mal zu Mal schwerer und mit Mühe erreichte Zacharias den nächsten Hof.

Inmitten der Felder lebten Mensch und Tier eng beisammen.

Kühe lagen matt im Stall und muhten.

Sie litten in diesen Tagen besonders stark unter den Fliegen.

Ein Hofhund kam angerannt.

Bellend drohte er Bisse an.

Eines jener abgerichteten Tiere, die Fremde nicht dulden!

Enttäuscht, dass keine Gefahr droht, taperte der Hund davon: mit hängender Zunge und bereit für den nächsten Einsatz.

Ein Stück weiter, am steilen Damm, musste Zacharias sein Rad hochschieben.

Anstrengend war das in der Hitze des Nachmittags, aber die Anhöhe öffnete ihm den Blick zum Strom.

In der Ferne lockte eine Bank unter einer ausgewachsenen Erle, umringt von dichtem Gebüsch, dahinter üppige Kopfweiden und Schilf.

Die Mühe, dort hinzukommen war erträglich, aber Zacharias sank ziemlich erschöpft auf ihr verwittertes Holz.

Wie vielen Menschen war diese Bank wohl schon Rast-und Ruheplatz gewesen – und wer hat sie wohl gezimmert?

In welchem Wald mag ihr Holz gewachsen sein, aus dem sie ist?

Das Grübeln darüber schwemmte ihm Gedanken wie Treibholz heran.

Zacharias war müde, schlapp, und nahezu unfähig, all diese Zwänge der Sinne verträglich zu verarbeiten.

Fast zwanghaft gerieten ihm wilde Überlegungen durcheinander; ungeordnet und turbulent huschten Fetzen von Gedanken vorbei, glitten ab, wallten hoch, spreizten sich ein, klemmten und klammerten sich fest.

Eine drückende Spannung legte sich quer in seinem Kopf.

Vorboten eines nahen Wechsels?

Die Schwüle erdrückte sein Gemüt.

Es lag was in der Luft, das er insgeheim zu kennen schien und das er irgendwie auch körperlich spürte.

Es war wieder soweit: Selten hatte er sich getäuscht!

Beklommenheit kam auf, ja Unheil drohte – so jedenfalls deutete er die Spannung in sich und um sich herum.

Er roch es geradezu.

Wie von Panik gepackt bestieg Zacharias sein Rad, besprang eilig den Sattel und fuhr voller Hast drauflos.

Die Richtung kam nicht aus dem Kopf; den Weg heimwärts schlug er intuitiv ein.

Einen Takt schneller als sonst trat er in die Pedale, gerade so, als wolle er fliehen.

Deutlich spürte er seine Muskeln unter der Anspannung krampfen, besonders in den Beinen und im Bauch.

Das ging eine ganze Zeit so.

Endlich gebot ihm sein Kopf den nötigen Einhalt.

Obwohl abgehetzt, ließ Zacharias ruhig und beinahe gelassen das Rad rollen, atmete wieder reichlicher, tiefer und gleichmäßiger, so lange, bis er allmählich ein neues Gleichgewicht gefunden hatte.

Der Tritt in die Pedale drehte wieder rund und mit Gleichmaß, und in seinen Körper kehrten Gelassenheit und Gefasstheit zurück.

Im Blickschatten flog eilig ein Vogel vorüber.

Zacharias hatte es noch nicht richtig bemerkt – der Himmel über ihm war mittlerweile tief dunkel und bedrohlich geworden.

Jeden Moment musste es geschehen: holprig der Donner, kurz der Blitz – grell und hart!

Wie oft schon hatte Zacharias Abel in seinem Leben ein Gewitter erlebt, überall gleich oder wenigstens ähnlich: in Häusern, im Zug, im Auto oder eben im Freien.

Wie vor zwei Jahren, auf dem Schauinsland, als er mit seiner Familie ein Wochenende im Breisgau verbrachte.

Da kommt jedes Mal ein Drang nach Schutz auf: Das quälende Bedürfnis, den ewigen Gewalten der Natur zu entgehen und verschont zu bleiben vor jeder Gefahr und vor aller Bedrohung.

Tatsächlich: erste Donnersalven!

Den Gedankenblitz danach, schnell Schutz unter einem Baum zu finden, verwarf er.

Weit und breit keine Buche in Sicht – und ein Reigen aus Gewitterkaskaden um ihn herum.

Das mit dem Schutz vorm Gewitter unter dem Buchenbaum, das hatte ihm seine Großmutter Babette erzählt.

Ach ja – sich tief seiner Kindheit besinnen: an einen gelösten Gewittertag nach der Heuernte denken, an den fruchtigen Duft des nassen Grasschnitts, an Geruch von Kamille und Klee – auf einmal, hier und jetzt?

Eines Kindertages wurde es ebenso duster im Zimmer wie jetzt.

Der Bube Zacharias saß bei der Großmutter – allein, wie so oft.

Babette blickte vor sich hin – einfach so.

Eine einfache Frau, auf dem Feld zu Hause und im Stall.

Sie hatte noch Zeit zwischen der schweren Arbeit – einfach so.

Was sie tat, tat sie mit Bedacht, sachte und behutsam – einfach so.

Wie oft saß sie nur stumm und still, ruhte und sann vor sich hin – jedenfalls schien es ihm so.

Gutmütig war sie und freundlich, wie kaum ein anderer Mensch in Zacharias’ Kindheit.

Eine alte Frau, mit dem Wind ihrer Jahre im schlohweißen Haar: niemandes Feind, aber auch mal zornig.

Und wenn sie so dasaß, die eine Hand über der anderen, da reizte es den Buben, die Haut auf ihren Handrücken hochzuziehen – einfach so.

Dann blieb die dünne fahle Haut eine Weile stehen – und nur langsam glättete sich der steife Wulst.

Alt waren ihre Hände aber schön, und weich waren sie, wenn eine davon über seine Wange strich; und wenn ihr die ››böse Hand‹‹ dann doch mal ausrutschte, was ab und an passierte, dann war es eben verzeihlich.

Dann hatte Zacharias Abel was angestellt – und das missfiel eben der Großmutter.

Aber das alles war ein Zeugnis gerechter Güte, ja ein Merkmal von Liebe und Zuwendung von einem Menschen, der einfach da war und lebte – damals, und in seiner eigenen Zeit.

Ohne Amt und ohne Orden; keine Zeitung nahm je Notiz von dieser Frau: Außer nach ihrem Tod – weil meist eine Anzeige darin das Leben schwarz umrandet und somit offiziell beendet.

Nie in ihrem Leben hatte sie die Hand erhoben zum Führergruß, wenn die SA-Leute aus dem Dorf Sonntagsmorgens durch die Straßen zogen.

Dann musste sie schnell in die Küche, damit die Milch auf dem Herd nicht überkocht, oder weil sie noch schnell die Kartoffeln aufsetzen musste fürs Mittagessen.

Nie kam ein Hitlergruß über ihre Lippen; stets ein freundliches ››Guten Tag‹‹.

Das war der beharrliche Widerstand einer bescheidenen Bäuerin im Alltag der Macht.

Zacharias dachte häufig an sie: Babette die Große, Babette die Gütige – Großmutter aller Freundlichkeit.

Doch was er zum Teufel nicht mochte, war ihre unsägliche Angewohnheit, mit einer gebogenen Stricknadel, das bernsteintrockene Ohrenschmalz aus den Tiefen ihrer Ohrmuscheln zu schaben.

Da war es ihm wie Hagelkörner auf der nackten Haut – einfach so.

Diese Erinnerungen lagen manchmal wie frische Weinblätter auf seiner geschundenen Seele.

Wenn er an Großmutter dachte, dann spürte er Schwingungen kindlichen Glücks und seliger Geborgenheit.

Wenn die Gute nach schwerer Arbeit vom Acker kam; die Hacke über der runden Schulter, daran das durchgewetzte blaugrau-karierte Leinentuch geknotet, darin eingeschlagen, der Rest der Butterbrote von der Feldarbeit.

Die aß Zacharias dann mit Genuss – Vögelchesbrote nannte er sie; weil die Vögel ihr Lied darüber getrillert hatten.

Dass das Brot trocken war und warm von der Sonne, die Butter ins Leinen gelaufen und die Krustenränder hart und gewölbt waren – das störte ihn nicht.

Manchmal, wenn er Glück hatte, war noch ein wenig lauwarmer Kaffee – der aus Zichorien oder Malz – in der verbeulten Zinkbottel mit dem ausgeleierten Schnappverschluss und der spröden, roten Gummidichtung.

Den Muckefuck trank der Junge dann gierig zu dem alten Feldbrot.

Erinnerung an eine monotone Kindheit, heute bloß noch ein Zapfen kleinen Glücks – dank eines Menschen mit festem Boden unter den Füßen und Patina in den freundlichen Falten ihres lieben Gesichts: Babette!

Der erste Regentropfen fiel ihm wie Blei in den Nacken, – gleich mehr und mehr davon: dickes, fettes Wasser!

Im Nu war Zacharias klatschnass; ihn überkam Unbehagen.

Schwarz hing das Gewitter über dem Feld.

Links am Feldrain war ein offener Geräteschuppen.

Schleunigst stellte er sich unter das schräge Dach, denn es goss unablässig aus allen Kannen.

Der Himmel schien sich diesmal besonders heftig austoben zu wollen; so sehr, als könne er augenblicklich jeden Gedanken an die unsägliche Trockenheit der vergangenen Wochen wegschwemmen und die wie Stein gewordene Erde ein für alle Mal fluten.

Einstmals muss es so gewesen sein, nur: Noah hatte vorgebeugt.

Der Archetyp der Hütte hier, hielt dem Gewitterregen nicht lange stand; das Dach war schadhaft und es trommelte bald an allen Ecken und Enden durch.

Die feuchte Luft hatte stark abgekühlt und Zacharias fröstelte.

Sicher wird es eine Erkältung geben, dachte er.

Das kannte er zu gut.

Widerstehen kam ihm in den Sinn; der Kälte widerstehen – dem Schnupfen und dem, was jetzt klammern will!

Den Blick bangig nach innen gerichtet und von körperlichem Widerstand getrieben, setzte sich Zacharias zur Wehr und lehnte sich tapfer auf.

Zwei Tage lang lief ihm die geschundene Nase.

Die Plastiktüte voll von ››Tempos‹‹; dann hatte er noch die Toilettenrolle genommen.

Das Gesicht gerötet und die Haut wund und trocken, wie der harte Boden der vergangenen Tage im Feld, und wenn er versehentlich die Lippen anspannte, platzten die dünnen, wunden Stellen auf.

Sie schmerzten und begannen zu bluten.

Viele Papiertücher mit roten Flecken lagen dann in der ››Tengelmann-Tüte‹‹ und alle um ihn herum mieden den Kranken wie einen Aussätzigen.

‹‹Das fehlt noch, dass du die Kinder ansteckst‹‹, mahnte die Seine.

Ritas Mahnungen kannte er gut.

Er mochte nicht immer ermahnt werden.

Zacharias litt!

Er litt immer – oder immer wieder.

Das Leben war ihm verhasst in Momenten wie diesen.

Jetzt tot sein!

Das dachte Zacharias jedes Mal, wenn er Schnupfen hatte.

Diese Höllenqualen wollte er nicht mehr ertragen müssen.

Einfach nicht mehr leben!

Die Zeit schien sich im Kreis zu drehen.

Zacharias wollte einfach nicht mehr da sein, das war schon seit seiner Kindheit so.

Vielleicht hilft ja lesen?

Er zwang sich ein Buch vor die verquollenen Augen.

Da war noch das Hämmern im Kopf, das Pochen des Blutes in der Nase und in den Stirn-und Nebenhöhlen.

Dreimal schon hatte er angesetzt.

Immer wieder die selbe Seite – und er wusste noch immer nicht was da gedruckt stand; er war unfähig, sich auch nur ein kleinwenig zu konzentrieren.

Das Papier quoll an manchen Stellen auf, wie Pusteln unter der Haut – der tropfenden Nase wegen.

Zacharias wischte sie weg – das Papier blieb gewölbt.

Er klappte das Buch zu und gab sich wehrlos der Todessehnsucht hin.

Schmerzlich schööön!

Rita kannte das von ihm und raunzte ihn an.

‹‹Wie deine Mutter, wehleidig, wenn ein Problem auftritt!‹‹

Immer wieder die gleichen Wörter, immer die gleiche gereizte Tonlage, das gleiche Abwinken, der gleiche Blick, ihr typisches Kopfschütteln – immer und immer wieder.

Zacharias hörte weg, war gleichgültig und tot und nur mit sich selbst beschäftigt – und mit dem Jenseits.

Nach dem Schwitzbad drohte alles zu bersten: die Adern, der Kopf, einfach alles, was in und an ihm war.

Taumelnd fiel er ins Bett und schlummerte erschöpft ein.

In der Ebene des Tiefschlafs war alles grausam; nur die starre Stille wölbte sich vor dem flachen Schein der Mondscheibe.

Der Trabant stand am Abendhimmel wie ein Kartoffelkloß – so gelb, so rund und so voll, als hätten Kinder ihn dort aufgemalt.

Den kümmerte noch immer nicht das Gebell der Hunde auf dem Globus bei uns hier unten.

Zacharias aber kam es vor, als lebte der Mond, ja als hätte er ihm zugezwinkert, sich trotz seiner Trägheit ein kleinwenig zur Seite geneigt und ihm etwas zugeflüstert.

Doch ihm blieb die Botschaft des Gestirns verborgen.

Ach, könnte ich dem Mond bloß von den Lippen lesen, dachte er.

Weit draußen im Weltall verwischten die Worte des Mondes wie Wellen.

Erst das Ende des Kosmos reflektierte sie und warf sie zurück wie heiße Handbälle, die kein Spieler fangen will.

Auch Zacharias griff nicht zu, so müde und matt war er.

Als er in seinem Leiden die Welt betrachtete, fühlte er sich von allen verlassen.

Kein Mensch verstand ihn – und richtig gern hatte ihn auch keiner.

Da stand nun Zacharias Abel auf der großen, runden Erdenscheibe, so wie bei Ebbe vor einem weiten und fernen Meer.

Grauer Missmut umschloss ihn!

War denn nicht alles nur eine einzige große Lüge?

Alle Wissenschaften, die ihn eigentlich sehr interessierten, täuschten doch Wahrheit nur vor.

Waren sie nicht bloß Ausdruck des gegenwärtigen Standes von Wahnsinn und Irrtum?

Diese Erde, Mutter aller Wesen, schien ihm in Wirklichkeit flach – ja, ganz einfach flach und platt – halt ein paar Berge, Meer und Flüsse, sonst nichts.

Eine Scheibe halt!

Unter ihr ewiges Wasser und über ihr, weit gespannt, das Dach des wolkigen Himmels.

Dahinter vielleicht endliches Universum?

Darunter die Schar der Vögel, aufgehängt wie Marionetten, an Seilen durch die Lüfte gezogen, und – mit Stecknadeln dazwischen angeheftet – das Sternenlicht, durch das zuweilen die Götter äugen, um mal Menschen zu sehen.

All das Wissen, das sich Zacharias unter Verzicht auf manch angenehme Dinge in seiner zerknitterten Jugend angeeignet hatte, ja eingesogen hatte, wie ein Schwamm das Wasser, all das Wissen war nun tief getrübt.

Ihm war, als hätte schwarze Tinte die Pappe durchtränkt, auf der all die wichtigen Erkenntnisse und die großen Versprechungen der Menschheit abgelegt sind.

In seinem Computer verfingen sich Byte-Bündel zwischen drahtigen Fasern.

Kein holzfreier, keimresistenter oder irgendwie sicherer Arbeitsspeicher.

Die DIN-Norm des Dateimanagements gefälscht, rote Karte statt super-VGA in der Hardware, der Zugang zum Web im ISDN-Gewusel verschüttet – und damit soll ein Mensch leben können?

Als er auf der schmutzverschmierten Tastatur neue Buchstaben setzen wollte, biss überraschend die Maus zu – gleich zweimal hintereinander.

Die Haut seiner rechten Hand war angeritzt; hinterhältig von dem Doppelklick des Nagers verletzt – und damit offen für Viren und Bakterien.

Das Teil hatte sich unerwartet verselbständigt, hatte dem Computer seine Unabhängigkeit abgetrotzt.

Eine aufsässige Maus!

Sie hatte das Kabel eine handbreit hinter der mittleren Taste gekappt und nutzte das restliche Stück fortan als Schwanz.

Noch ziemlich unsicher im Umgang mit der Freiheit, huschte das androide Tier nervös über die Schreibtischplatte.

Schnupperte mal hier an einem Wort, mal da an einem verlorenen Gedanken, roch dort an einer zerbrochenen Idee und knabberte ab und zu an wahllos umherliegenden Bytes – und wäre das Tintenfass nicht verschlossen gewesen, hätte die Maus auch noch die Tinte geschluckt: in einem Zug und ohne das Glas abzusetzen.

Steif und starr schaute Zacharias dem tollwütigen Treiben des Nagers zu.

Seine Fingernägel waren blau unterlaufen – so sehr waren die Hände auf die Schreibtischkante gepresst.

Das Vieh hatte sogar den Zugang zum Netzwerk zerstört.

Am Monitor zog der Bildschirmschoner träge Figuren über die schwarze Fläche.

Geometrische Muster, oder waren es Rahmen, deren Ecken sich permanent ineinander schoben, und Dreiecke, nein, dreidimensionale Fünfecke zu bilden schienen: aufgepeppt und spektralfarbig hinterleuchtet?

Permanente Veränderung fließender Muster im virtuellen Raum, nie endende stumme Bewegung, ruhig und anmutig, wie der Flug von Papierfliegern!

Hinter dieser Maske saßen sie nun in ihrem Netzwerk.

Unverändert ihr Wirken, so, wie schon immer; einige seit Jahrhunderten, wenige aber erst wenige Jahre, doch unablässig dem Pfad der Erkenntnis folgend und Dateien besetzt haltend: Jederzeit bereit, jede erreichbare Diskette nach jedem ihrer Muster zu formatieren und zu rubrizieren.

Am Eingang zum Netzwerk die Pförtnerloge.

Ein Palast in der Weite der Halle!

Hinter schussfestem Glas der Pförtner: Umgeben von Monitoren, verbunden mit künstlichen Augen überall im Werk.

Das Bild war auf allen Bildschirmen gleich.

Eine Formel inmitten eines Tulpenmusters:

Jedem der eintritt streckt der Zerberus die Zunge entgegen.

Mit listigen Äuglein folgt er dem Weg der Neugierigen und bellt ihnen nach.

Die meisten Gaffer bewegen sich unsicher auf ihrem Pfad durch die Schluchten des Palastes: keine Piktogramme an Türen, kein Mensch auf den Fluren, der nach dem Weg zu fragen wäre.

Staubfreie Atmosphäre schon im Vorfeld, steril und keimfrei: Das Klima geeignet zur Operation.

Die Ahnentafel im Tresor ist lang, fern ab der Online und sorgsam unter Verschluss: darauf Namen wie Sokrates, Descartes, Newton, Darwin und Leibnitz.

Weitere folgen auf der Liste: bekannte und unbekannte, dennoch nicht unwirkliche Personen.

Ein Verzeichnis des gültigen Weltbildes?

Einige Köpfe fehlen.

Ein Indiz?

Ihre Namen geschwärzt, damit zur Unkenntlichkeit geblendet.

Bruchstücke nur, Silbenfetzen zwischen blinden Balken und virtuellen Tasten: Hi…g… .on .in.en, P.at.., Me.st.r Ec.h.rt, Par.c.l.us.,

.ah.e..nn, C.pr..

Allesamt Spurenelemente des Teufels in der Mottenkiste der Aufklärung!

Erschrocken wachte Zacharias auf.

Sein linker Arm war eingeschlafen.

Er drehte das Radio an.

Der Moderator auf einer der vielen Plauderwellen laberte belangloses Zeug in den Äther.

Schweißgebadet, aber irgendwie wohler als am Abend zuvor, reckte er seine müden Glieder.

Das Schlimmste schien überstanden.

Willig gab er sich dem Zustand der Genesung hin: scheue Ergebenheit ohne Bitternis, aber mit einem Flügelschlag von Dankbarkeit.

Zacharias stellte das Radio ab und schlief abermals ein.

Nach knapp einer Stunde war er wieder völlig zurückgekehrt in die Welt der Irdischen: Gut erholt – als habe er wochenlang die Inseln der Südsee bereist.

Als er sich anziehen wollte, bemerkte er, dass er die Schlafanzughose verkehrt herum anhatte – mal wieder: Hinten spannte das Tuch und vorne beulte es.

Eine Polizeisirene mit Blaulicht tönte eilig am Haus vorbei; oder war es eine Ambulanz?

Es wird sich schon rumsprechen im Dorf.

Meist erfuhr Zacharias per Zufall von den Dingen.

Seinen Kaffee hatte er diesmal besonders stark gemacht, sogar ein Brot gönnte er sich an diesem Morgen, entgegen der üblichen Gewohnheit.

Die Zeitung brachte nichts Neues.

Die Variationen der Akteure waren andere: die Namen, die Orte, die Umstände – weiter nichts.

Hier, im Lokalteil, ein Artikel über den geplanten Polder in den nahen Flussauen.

Der neue Hochwasserplan erregte die Gemüter der Leute im Dorf – und das schon seit einigen Wochen.

Was sollte er davon halten?

Ein Wissenschaftler macht Furore: Wiedergeburt einer Auenlandschaft, Instandsetzung des Ursprünglichen – die Zeit zurückdrehen und Gegenwart leugnen zum Wohle der Menschen, der Tiere, der Erde und der Natur.

Fortschritt muss auf der Strecke bleiben, muss faulen und absterben, Errungenschaft muss weichen, für Ideen des Umkehrbaren!

Soll hier etwa der Golem bezwungen werden?

Niedergestreckt in einer Landschaft, an deren Fraktale eines Ungeheuers wuchern?

Vielleicht Zeitzeichen?

Brut einer neuen Wirklichkeit ohne Materie?

Die Menschen begriffen es nicht.

Es war doch Hab und Gut in Gefahr: Ihre Keller, ihre tiefergelegten Wohnzimmer – das alles drohte doch morgen zu ertrinken, würden die Pläne heute verwirklicht.

Aber lagen nicht die Ursachen des Übels, bei anderen an anderen Orten?

Warum büßen für den Raubbau der Nachbarn?

Haben nicht sie die Dämme errichtet, die Flüsse begradigt, die Auen getrocknet und die Inseln besiedelt?

Haben nicht sie die Werke gebaut, aus denen immerzu Zugpferde eines Zeitalters rollen, das sich stolz wähnt, das Beste der Epochensammlung zu sein?

Nervös schweifte sein Blick umher, flog durchs Fenster, schwebte unterm Nussbaum hin, weit hinab über die dürre Grasfläche bis hoch zur Fassade des Hauses hinterm Zaun.

Nicht viel Platz war dort für Natur.

Steil steigt die Erde hoch zur Terrasse, diese flach gefliest, daran scharf und zackig die Mauer, das Fenster, darüber die nächste Öffnung gestapelt, bis hoch zum Giebel.

Kunststoffumrahmt jede Glasfläche, die Licht in Räume bittet: Die Abgrenzung zur Welt mit schalldichtem Glas besiegelt, der Keller darunter wenige Meter über Normal, der Betonpegel des Hofes mit der Garage synchronisiert.

Also, das ist bedroht!

Geschaffen aus Eifer am Fließband der Fabrik in der nahen Stadt, zusammengelötet an endlosen Kabeln, zusammengetragen über lange Strecken der Zeit und des Leids.

Gerät das in Gefahr, gerät alles ins Rutschen, gerät gewaltige Kraft in Bewegung.

Kraft, die zusammenhält, was zusammengehört?

Nein: Kraft, die abdriftet ins Uferlose!