Rabenfeder
Dunkle Geheimnisse
April Morgan
Düsterer Romance – Psychothriller
Triggerwarnung
In diesem Buch werden sexuelle Inhalte, Gewalt und Missbrauch eindeutig beschrieben.
Auch psychische Erkrankungen und Suizid spielen in dieser Geschichte eine Rolle.
Alle Orte, Charaktere und Handlungen sind frei erfunden, dennoch empfehle ich das Buch nicht, wenn man sich mit einem dieser Themen nicht wohlfühlt.
Vielen Dank, dass du dich getraut hast, mein Buch zu holen.
Wenn du dir ein Bild von den Charakteren machen möchtest, findest du sie am Ende.
Viel Spaß beim Lesen.
In Liebe
April
Korpskogen – der Rabenwald
Korpskogen ist ein kleines verschlafenes Örtchen inmitten von Fichtenwäldern. Früher war es eine sehr beliebte Urlaubsregion, gerade bei Menschen aus der hektischen Stadt. Neben dem Ortskern von Korpskogen, der alles Wichtige für den täglichen Bedarf hat, gibt es noch einen großen verträumten See, umgeben von alten Schwarzfichten.
Die kleinen Ferienhaussiedlungen, die nie mehr als 3-5 Häuser beinhalten, sind über Zufahrtsstraßen zu erreichen und nur einige Kilometer von dem Ortskern entfernt. Man kann hier wandern, Boot fahren oder im Winter die märchenhafte Schneelandschaft bewundern. Korpskogen ist überregional bekannt für die vielen Rabenkolonien, die sich hier niedergelassen haben und an jeder Ecke zu finden sind.
Leider schätzen die Menschen nicht mehr solche Orte und reisen lieber in weit entfernte Länder, sodass die Glanzzeit von Korpskogen bereits seit vielen Jahren vorüber ist.
Die Einwohner von Korpskogen sind dennoch stolz auf ihr idyllisches Fleckchen Erde.
Wer Raben, Ruhe und malerische Landschaften liebt, der wird Korpskogen lieben.
Raven
Bald wirst du hier sein.
Jede Faser meines Körpers schreit schier nach dir.
Das lange Warten hat ein Ende und endlich kann ich mir nehmen, was schon immer mir gehörte.
Jahrelang habe ich mich genau auf diesen Moment vorbereitet.
Ich wusste immer, dass du hier her zurückkommen wirst, dass wir uns wieder sehen.
Meine Vorfreude auf unser Spiel ist groß, die Karten sind gemischt und ich bin der Geber.
Ich bin ehrlich, ich spiele nicht fair, aber wer hat schon mit Fairness sein Ziel erreicht?
Bald gehört mir alles von dir, dein Herz, dein Verstand und zum Schluss dein Leben.
Kapitel 1
Emily
Die Fahrt scheint kein Ende zu nehmen, ich gebe mir Mühe, dass meine Augen nicht zufallen. Die Müdigkeit lässt sich durch keinen Energydrink oder Kaffee mehr vertreiben, davon habe ich nun schon wirklich genügend Intus.
Ich wusste ja, dass das Haus am Arsch der Welt ist, aber das letzte Mal, als ich dort war, war ich noch ein Kind und vielleicht drei Jahre alt. Die Strecke konnte ich früher immer mit Spiele oder Schlafen gut herumbekommen. Wenn man aber selbst am Steuer sitzt, ist das wohl eher keine Option, außer ich will gegen den nächsten Baum fahren und hier draußen bin ich mir nicht mal sicher, ob ich genügend Empfang habe, um im Notfall jemanden zu kontaktieren. Autos kamen mir bisher auch keine auf dem Streckenstück entgegen.
Noch ein triftiger Grund, hier keinen Unfall oder eine Panne zu haben. Gefühlt wohnt hier niemand und überall sind nur Wälder und das Weite, nichts. Die Fichten stehen so dicht beieinander, dass man kaum 10 Meter in den Wald sehen kann; dann ist der Boden noch bedeckt mit wildem Gestrüpp und Moos, wie er in dunklen Ecken zu finden ist.
Warum meine Eltern unbedingt hier ein Ferienhaus haben mussten, weiß ich nicht. Vermutlich, um dem Alltagsstress und Großstadtlärm zu entfliehen.
Meine Mutter ist leider früh gestorben, ich kann mich kaum noch an sie erinnern und nach dem Tod meiner Mutter waren wir auch nicht mehr dort.
Mein Vater hat nicht gerne über die Vergangenheit gesprochen, zu groß schien der Schmerz über den Verlust, weshalb wir auch nie mehr zurückkamen.
Ich wünschte, ich hätte mehr Erinnerungen an sie; es ist merkwürdig, ohne Mutter aufzuwachsen und einen Vater, der so tut, als wenn sie nie existiert hat.
Dennoch oder gerade weil wir nur zu zweit waren, hat er einen großartigen Job gemacht; er war immer für mich da. Hat nie eine Schulaufführung verpasst und versucht, mir jeden Wunsch von den Lippen abzulesen.
Nach dem Tod meiner Mutter hat er nicht mehr geheiratet und Frauen hat er mir auch keine vorgestellt.
An seinem Aussehen kann es nicht gelegen haben, er war ein groß gewachsener Mann, hat immer auf sein Erscheinungsbild geachtet, trug einen modernen gepflegten Vollbart und hatte bis zu seinem Tod volles schönes Haar.
Meine Freundinnen sagten mir jedes Mal, wie gut er aussieht, und auch ich war stolz darauf, einen so junggebliebenen attraktiven Vater zu haben. Er sagte mir einmal, dass er mir erst jemanden vorstellen wird, wenn sie sich als würdig erweist, ein Teil unseres Lebens zu sein und offensichtlich hat niemand die strengen Kriterien meines Vaters erfüllt.
Warum mein Vater das Haus trotzdem nie verkauft hat, weiß ich nicht und darauf werde ich nun auch keine Antwort mehr bekommen. Vielleicht hätte er öfter hier hinausfahren und sich eine Pause von seinem stressigen Job nehmen sollen, dann hätte er mit 61 eventuell keinen Herzinfarkt bekommen.
Das ganze gut verdiente Geld und Streben nach der perfekten Rente hat ihm in Endeffekt nun auch nichts gebracht.
Jetzt ist er tot, kann sein Leben nicht mehr genießen und ich habe keine Eltern mehr.
Streng genommen habe ich niemanden mehr, lediglich oberflächliche Bekannte und Arbeitskollegen. Nur noch meine liebe Freundin Mia ist übrig geblieben, beinaheschon armselig, wenn man nicht mal eine Handvoll Freunde vorweisen kann.
Aber irgendwie bin ich auch eher der zurückgezogene Typ, der sich gerne am Wochenende in seiner Wohnung verkriecht, ein Buch liest oder eine romantische Komödie auf Netflix schaut.
Wo soll ich da dann auch Menschen kennenlernen? Und einen Mann gibt es aktuell nicht in meinem Leben, die meisten sind nur auf eine schnelle Nummer aus und ich bin so langsam bereit für etwas Ernstes. Immerhin bin ich beinahe Mitte dreißig.
Haus, Mann, Kinder, Goldenretriver, weißer Zaun oder so etwas in der Art.
Da ich bis vor Kurzem nicht einmal wusste, dass das Haus noch in Familienbesitz ist, war das eine schöne Überraschung bei der Erbschaft und nun bin ich auf dem Weg dahin, um zu schauen, ob man es noch verkaufen kann oder was damit geschehen soll.
Zudem kann ich nach all dem Stress und der Trauer eine kleine Auszeit gebrauchen. Meinen Job als Redakteurin habe ich vorerst pausiert und mir für die nächsten Monate etwas Ruhe verordnet.
Ich möchte nämlich nicht wie mein Vater immer nur arbeiten und dann auf einmal im Büro dahingeschieden auf meinem Schreibtischstuhl sitzen.
Der Gedanke versetzt mir direkt einen Stich und treibt mir die Tränen in die Augen.
„Nicht losheulen“, sage ich streng zu mir.
Ich sollte mich auf das Fahren konzentrieren und eine verschleierte Sicht bringt mich den Bäumen am Straßenrand nur näher; dann sehe ich meinen Vater doch noch schneller, als mir lieb ist, wieder.
Ich weiß, dass meine Eltern diesen Ort damals geliebt haben und hoffe, dass dort kein halb zusammen gefallenes Haus auf mich wartet. Dann wäre ich am Arsch, denn die Fahrt zurück schaffe ich nicht.
Zwar bin ich vor einigen Kilometern an einem Motel vorbeigekommen, das in einer belebten Holzarbeiterregion liegt, aber selbst der Weg dorthin erscheint mir gerade zu weit und unbezwingbar.
Die gute Nachricht ist, dass, soweit man mir sagen konnte, wohl immer mal jemand vorbeischaut, der sich um das Haus und Grundstück kümmert.
Es wird zumindest jemand dafür bezahlt, aber ob der sich auch wirklich darum kümmert, kann ja niemand kontrollieren, wenn niemand mal nachschaut.
Wieder ermahne ich mich nicht alles so schwarz zusehen und einfach das Beste zu hoffen.
Endlich sehe ich das Ortsschild;
„Korpskogen“ esist groß auf der hölzernen Platte in geschnörkelter Schrift geschrieben, drauf prangt neben den schönen Lettern ein eingebranntes Bild von einem schwarzen Raben.
Das Schild hat seine besten Zeiten bereits hinter sich und Pflanzen ranken ihren Weg nach oben.
Es würde mich nicht wundern, wenn es just in diesem Moment hinunterstürzt.
Hier gibt es nur wenige Häuser und die meisten sind wie das von meiner Familie Ferienhütten. Ich habe mir bereits vorab einige Fotos von diesem Ort online angeschaut, damit ich weiß, was mich hier erwartet.
Direkt am Ortseingang ist eine kleine Tankstelle mit einem Supermarkt. Beides scheint noch in Betrieb zu sein. Zudem gibt es hier eine Bar und ein kleines Diner, wo man etwas essen könnte. Außer der Bar sieht jedoch alles geschlossen aus und auch Menschen sind auf der Straße nicht zu sehen.
Aber das liegt vielleicht daran, dass es bereits fast 21 Uhr hat und unter der Woche ist.
Auch der Ortskern hat wie das Schild seine besten Zeiten hinter sich und alles ist bereits in die Jahre gekommen. Abgeblätterte Farbe, Risse in der Fassade, Rost an Metallschildern.
Ja,die Glanzzeit ist eindeutig vorbei.
Ich wünschte, ich wäre schon früher am Tag hier angekommen, um mich besser orientieren zu können.
Im Hellen irgendwo zu landen, nimmt dem Ort den Schrecken, den er bei Nacht oft ausstrahlt.
Mein Navi führt mich weiter, die dunklen schlechten Straßen aus dem Ortskern raus und anschließend eine Schotterstraße nach links runter, immer weiter in den dichten Wald.
Überall sitzen Raben in den Bäumen und Krähen, wodurch eine Horrorfilm-ähnliche Stimmung herrscht.
Das Ortsschild hatte die Bewohner bereits angekündigt, und auch auf der Webseite von Korpskogen konnte ich lesen, dass Raben sich besonders gerne hier niederlassen.
Ich merke, wie ich immer unruhiger werde und befürchte, dass jederzeit jemand mit einer Axt aus dem Dickicht springt, aber das passiert natürlich nicht.
Wäre der Wald nicht so dicht, könnte man den großen See vielleicht sehen, an dem drumherum die Häuser stehen.
Es ist Vollmond und der Abend herrlich hell. Aber außer der Straße und den umliegenden Bäumen, die ich mit meinen Scheinwerfern anstrahle, kann ich nichts erkennen.
Dann gelange ich endlich, nach der nächsten Kurve, ans Ende der Straße. Ineinem Wendekreis taucht eine Häusergruppe auf. Ich kann mich noch vage an sie erinnern, drei Häuser stehen dort.
Eines der Häuser scheint gar nicht mehr bewohnt zu sein und ist teilweise eingestürzt. Ein Baum liegt quer über dem zerfallenen Dach, Efeu rankt sich die Wände hinauf und Stück für Stück holt die Natur sich wieder, was ihr vor langem gestohlen wurde.
Vermutlich ein Sturmschaden und den Eigentümern war es egal oder zu teuer, es wieder instand zu setzen.
Das andere Haus scheint nicht in einem so schlimmen Zustand zu sein. Der Garten ist gepflegt, wild.
Dieblaue Farbe blättert von der Holzvertäfelung der Fassade ab, aber die Wege sind frei und es scheint auch noch bewohnbar zu sein. Zudem steht ein dunkler Jeep ein paar Meter weiter neben dem Haus, der Gedanke nicht komplett alleine hier draußen zu sein beruhigt mich etwas.
Außer der verrückte Axtmörder wohnt doch noch da.
Unser Haus ist das im besten Zustand, was mich sehr überrascht und glücklich macht, es steht in der Mitte von den beiden anderen Häusern.
Offenbar hat es sich gelohnt, jemanden zu engagieren, der sich darum kümmert.
Die gelbe Farbe wirkt nahezu neu und der Garten ist schön hergerichtet.
Ich fahre mit meinen großen roten Hyundai SUV auf den vorgesehenen Parkplatz, unter einer Art Carport.
Unsicher umgreife ich festdas Lenkrad und sage zu mir selbst, da meine ganze Aktion enorme Zweifel in mir auslöst.
„Großartig Emily, fahr alleine mitten ins Nirgendwo, in ein Haus, in dem du seit Jahren nicht mehr warst und von dem dein Vater dir nicht erzählt hat, dass er es noch hat. Vielleicht hatte er seine Gründe, warum ihr nicht mehr hergefahren seid. Wenn doch wenigstens Mia mitgekommen wäre. Immerhin ist sie deine beste Freundin und hatte dir angeboten, mitzukommen. Aber nein, du musstest natürlich alleine fahren.“
Schnaufend und verärgert über mich selbst, schüttele ich den Kopf und öffne die Tür.
Eine angenehme Spätsommerluft schlägt mir entgegen. Durch den Wald riecht es leicht vermodert, aber trotzdem herrlich frisch. Mein Herz klopft immer stärker, am liebsten würde ich mich wieder in das Auto setzen und zurückfahren und das ewige Krähen der Raben hebt die Atmosphäre auch nicht.
Warum sind sie um diese Uhrzeit überhaupt noch wach? Oder krähen sie nur, weil ein Eindringling gekommen ist? Warnen all ihre Freunde vor dem nächtlichen Besucher, der hier nichts zu suchen hat?
Langsam bewege ich mich auf das Haus zu und leuchte mit meinem Handy den Weg. Der Vollmond spendet eigentlich genügend Licht, aber mit der Lampe kann ich in den Wald leuchten und sehen, ob dort vielleicht doch noch der Mann mit der Axt steht, bereit, sein Opfer in Empfang zu nehmen und in kleine Stückchen zu verarbeiten. Danach kann er sich eine schöne wärmende Emily Suppe kochen.
Wider ermahne ich mich selbst, die dunklen Gedanken abzuschütteln. Niemand ist hier und niemand wartet auf dich!
Das Gartentor quietscht, der Weg zum Haus ist gepflastert, die Fugen sind, wie der Rest, den man sieht, ordentlich gepflegt.
Das Haus ist nicht groß, eher wie eine Gartenblockhütte auf zwei Etagen. Es sieht genauso aus, wie man sich einen Ferienbungalow vorstellt, da muss man nur einmal kurz bei Air B und B schauen und findet sicher Hunderte solcher Häuser.
Der Eingang ist ebenerdig, vor der Haustür ist eine braune Fußmatte aus Kokosfasern, auf ihr prangt in bunten Buchstaben „Willkommen“.
Ich hebe die Fußmatte an und bin erleichtert, dass der Schlüssel wie vereinbart dort liegt. Kein besonders gutes Versteck, aber wer sollte schon hier hinauskommen zu den abrissreifen Häusern, in denen ohnehin nichts zu holen ist?
Angespannt öffne ich die Tür, sie klemmt etwas und ich muss sie anheben.
Das Holz hat wahrscheinlich in den vergangenen Jahren gearbeitet. Dadurch ist es etwas verzogen.
Im Haus angekommen, fasse ich links neben der Tür und finde den Lichtschalter auf Anhieb.
Pure Erleichterung macht sich breit, als der Raum hell erleuchtet wird.
Das wäre sonst mein persönlicher Albtraum geworden, hier alleine im Dunkeln zu sitzen.
Ich stehe in einem kleinen Flur, auch hier ist eine Holzvertäfelung an den Wänden, sie sind in einem Weiß gestrichen und der Boden ist aus hellem Holz. Eine Treppe führt direkt nach oben. Dort werden mich ein Kinderzimmer und das Schlafzimmer meiner Eltern erwarten, zudem ein kleines Badezimmer.
Links von mir ist das Wohnzimmer und rechts von mir eine kleine Küche. Gerade aus, links neben der Treppe, kommt noch ein Gästebad und eine Tür in den Garten.
Das werde ich mir aber morgen alles genauer anschauen. Ich bin von der langen Fahrt zu müde. Die Treppe ist auch aus einem hellen Holz und sieht für ihr Alter noch relativ gut aus. Aber meine Eltern hatten damals das Haus neu gekauft und wenn es nicht viel genutzt wird, nutzt sich auch nicht viel ab.
Die Wände sind in einem neutralen Beige gehalten. Es hängen einige Bilder an ihnen, wie man sie in einer Ferienwohnung erwarten würde. Blumen, Boote usw.
Ich sehe aber nichts Persönliches, was an die Familie erinnert, die einst hier so gerne Urlaub gemacht hat.
Entweder mein Vater hat alle Erinnerungen entfernt oder meine Eltern haben drauf verzichtet, da es nur ein Ferienhaus war.
Jetzt, wo ich weiß, dass das Licht geht, gehe ich so schnell wie möglich zurück zu meinem Auto und hole meine Tasche, sie ist schwer und für eine unbestimmte Zeit gepackt.
Anschließend gehe ich wieder auf direkten Weg in das Haus und nach oben, wo auch alle weiteren Lampen ohne Probleme die Räume beleuchten.
Automatisch gehe ich nach links und stehe in meinem rosafarbenen Kinderzimmer.
Es sieht noch genauso aus, wie ich es in Erinnerung habe; ein kleiner Teddy liegt im Bett und wartet auf seinen Kuscheleinsatz. Es ist ein richtiges Prinzessinnenzimmer, flauschiger grauer Teppich, Glitzersterne an den Wänden, Bücher von heldenhaften Abenteuern.
Das ganze Haus wirkt wie eine Zeitkapsel gefangen, als wäre hier kein Tag seit unserem letzten Besuch vergangen.
Das Bett ist jedoch für mich mittlerweile zu klein, also drehe ich wieder um, gehe an dem kleinen Bad vorbei, was ein schlicht weiß gefliester Raum ist und eine Dusche, Toilette, Waschbecken und Spiegelschrank beinhaltet. Ich setze den Weg weiter fort und betrete das ehemalige Zimmer meiner Eltern. Das große weiße Holzbett sieht so aus, als könnte man es noch gefahrlos benutzen.
Die Wände sind in einem hellen Blau gestrichen. Der Boden hat einen gräulichen Teppich, wie er bereits im Kinderzimmer zu finden war, zusätzlich ist es noch mit einem weißen Kleiderschrank und einer weißen Kommodeausgestattet.
Das Bett sieht frisch bezogen aus und eine Flasche Wasser mit einem Zettel liegt auf dem Nachtschrank.
Ich gehe hin und falte den Zettel auf.
Sehr geehrte Frau Mikkelsen,
ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich das Bett bereits vorbereitet habe.
Der Nachlassverwalter hatte mir Bescheid gesagt, dass sie für einige Tage herkommen, damit der Schlüssel für sie bereitliegt.
Ich möchte Ihnen mein herzlichstes Beileid für Ihren Vater aussprechen.
Wenn sie etwas benötigen, rufen sie einfach an, die Nummer hängt am Kühlschrank.
Ich habe mich die letzten Jahre bestmöglich um das Haus gekümmert und hoffe, dass alles zu Ihrer Zufriedenheit ist.
Beste Grüße
Günthers
Der Gedanke, dass vor einigen Stunden noch ein fremder Mann hier im Haus war und das Bett bezogen hat, ist merkwürdig und irgendwie unheimlich.
Aber er hat sich immerhin schon lange im Namen meines Vaters um das Haus gekümmert und wird es nur gut gemeint haben.
Ich stelle meine Tasche neben das Bett ab und beschließe, dass ich morgen erst auspacken werde, da ich die Erschöpfung bereits in jeder Faser meines Körpers spüre.
Um etwas frische Luft reinzulassen, öffne ich das Fenster im Schlafzimmer und ein leichter Wind weht hinein, sodass die hellblauen Vorhänge leicht darin flattern.
Vor meinem Fenster ist ein Baum und man hat direkten Blick auf das Haus nebenan, aber es brennt kein Licht.
Ich sollte auch nicht weiter hier stehen und in eines der vermutlichen Schlafzimmer reinstarren; wenn jetzt jemand am Fenster auftaucht, denkt er noch, gegenüber wohnt nun eine perverse Spannerin.
Schnell entferne ich mich von dem Fenster und widme mich meiner Tasche.
Auch wenn es eine schlechte Angewohnheit ist und der Herzinfarkt meines Vaters mich wachrütteln sollte, so rauche ich immer mal wieder und nach der langen Fahrt und den strapazierenden Tagen werde ich mir heute Abend eine Zigarette gönnen.
Nachdem ich mir eine bequeme Jogginghose angezogen habe und eine Sweatshirtjacke, krame ich eine Schachtel Marlboro aus der Tasche.
Zudem ziehe ich noch eine Flasche roten Wein zwischen meiner Kleidung hervor und nehme diese mit nach unten in die Küche.
Die Küche ist wie so vieles im Haus auch in hellen weißen und grauen Tönen gehalten. Eine alte Holzküche, Arbeitsplatte, Hängeschränke, ein kleiner Tisch, zwei Stühle.
Auf der Arbeitsplatte sehe ich bereits alltägliche Gebrauchsgegenstände, eine Kaffeemaschine, Toaster, Messerblock. Schnell werde ich in einer der Schränke fündig und habe neben einem Flaschenöffner auch ein großes Weinglas für meinen Nachttrunk hervorholen können.
Mit meinem gefüllten Glas und den Zigaretten in der Tasche gehe ich zu der Hintertür, auch diese quietscht und klemmt ein wenig, lässt sich aber ohne Hindernisse öffnen.
Draußen angekommen befinde ich mich auf der Veranda, das Mondlicht spiegelt sich im Wasser des großen Sees.
Der dichte Wald und der See wirken in der Nacht märchenhaft. Auf dem See liegt leichter Nebeldunst und um den See herum sind vereinzelnd Häuser mit Lichtern in der Ferne zu sehen.
Die Häuser stehen alle in ihrer eigenen kleinen Siedlung, ein Stück weit weg von unserem. Der Gedanke, dass hier noch andere Menschen sind, wirkt sich auf jeden Fall auf mein Wohlbefinden aus und vermittelt mir ein Gefühl von Sicherheit, wobei es sich um eine trügerische Sicherheit handelt. Niemand könnte in der Entfernung meine Rufe hören und durch den dichten unebenen Wald kann ich mich auch nicht ohne Weiteres schleppen, ohne das Risiko eines Unfalls einzugehen oder einfach an einer der Böschungen in den See zu plumpsen. Aber ich könnte in meinem Auto steigen und hinfahren, immerhin, besser als keine Menschenseele hier.
Auf der Veranda ist eine Hängebank an Ketten befestigt. Auch die Veranda ist in den sonnigen gelb gestrichen wie das Haus und zum See hinaus ist eine einfache kurz gemähte Wiese, die leicht abfällig ist.
Ich hoffe sehr, dass die Ketten nicht nachgeben werden, sobald ich mich darauf setze.
Es quietscht und knirscht, aber ich liege nicht auf dem Boden.
Bisher läuft das ganze Unterfangen Ferienhaus besser als erwartet.
Ich zünde meine Zigarette an und inhaliere einen tiefen Zug des Gifts.
Es ist einfach göttlich, wie gut man sich durch so viele Schadstoffe fühlen kann.
Als Nächstes schreibe ich Mia eine Nachricht, dass ich heile angekommen bin und kein Axtmörder auf mich gewartet hat.
Sie wird mir sicher erst morgen antworten, also lege ich das Handy wieder in meine Tasche und widme mich meinem Wein und der fantastischen Aussicht.
Diese unglaubliche Ruhe bin ich nicht gewohnt und bereitet mir Unbehagen. Normalerweise höre ich in der Stadt ständig Autolärm oder streitende Nachbarn. Es ist merkwürdig, dass man hier einfach nichts hört, nur der Wind, der durch die Bäume pfeift.
Nachdem ich die Zigarette aufgeraucht und den Wein geleert habe, stehe ich auf und gehe wieder ins Haus. Die Tür verschließe ich sorgfältig und auch die Haustür prüfe ich noch einmal.
Ich lösche die Lichter in der unteren Etage und mache mich im Bad frisch, damit ich ins Bett kann.
Gerade als ich mich in das laut nach mir rufende Bett legen will, fällt mir eine Feder auf, die auf meinen Kissen liegt.
Ich nehme sie in die Hand und inspiziere sie, eine schwarze Feder, vermutlich von einem der vielen Raben hier.
Nachdenklich betrachte ich sie und frage mich, wie sie wohl auf mein Kissen gekommen ist; ich bin mir absolut sicher, dass sie vorhin noch nicht dort lag.
Vielleicht habe ich sie aber auch nur mit reingeschleppt, auf meiner Kleidung oder sie ist durch das offene Fenster geflogen.
Ein Willkommensgeschenk der Raben.
Hoffentlich wohnt keiner von diesen schwarzen Biestern hier im Haus.
Vorsichtshalber schließe ich das Fenster und schaue noch einmal in allen Ecken des Zimmers nach, aber es ist nichts zu sehen.
Die Feder lege ich auf den Nachtschrank und gehe gedanklich zum wiederholten Male die letzten Wochen durch. Den Tod meines Vaters, die Beerdigung, die ständige Erschöpfung und Niedergeschlagenheit, die mich gefangen halten. Das Gefühl, mein Leben ändern zu müssen, damit ich nicht eines Tages genauso wie mein Vater ende.
Ich lösche das Licht und falle komplett erschöpft in das Bett und ein tiefer traumloser Schlaf zieht mich in die Dunkelheit......
….....unruhig werde ich wach.
Es kommen Geräusche aus dem Haus oder ist es nur der Wind?
Ich schüttele den Schlaf ab.... Stille.....
Sofort greife ich nach meinem Handy und schaue auf die Uhr 3:41.
Vermutlich spielt mir die fremde Umgebung einen Streich.
Plötzlich wieder ein Knarren, als wenn jemand auf alte Dielen laufen würde.
Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich lausche noch genauer in die Dunkelheit.
Erneute Geräusche. Sie scheinen von dem unteren Teil des Hauses zu kommen.
Was tut man in so einer Situation?
Tritt man mutig den Unbekannten entgegen oder versteckt man sich im Schrank und hofft, dass man nicht entdeckt wird?
Vielleicht ist das Knarren auch normal, das Haus ist alt und da können schon mal merkwürdige Geräusche entstehen und wenn man sich genügend hineinsteigert, kann man alles in diese Geräusche interpretieren.
Meine Atmung geht stoßweise. Was ist, wenn hier jemand eingebrochen ist?
Jeden Moment rechne ich damit, dass die Tür aufgerissen wird und jemand Unbekanntes dort stehen wird, mit einer erhobenen Hand und einem tödlichen Messer, daser auf mich richtet.
Ich starre die Tür an, warte darauf, dass etwas passiert. Aber es passiert nichts, nur das unregelmäßige Knarren von unten.
Ganz vorsichtig stehe ich auf, schleiche in Zeitlupe zu der Tür und bin dankbar, dass sie einen Schlüssel hat, um diese zu verschließen und mir etwas Sicherheit zu bieten.
Wieder Geräusche.
Ich bin mir schon nahezu 100 % sicher, dass dort jemand ist.
Am besten sollte ich direkt die Polizei rufen, aber was ist, wenn es doch nur das alte Haus ist? Dann habe ich direkt meinen Ruf hier weg als verrückte Stadt Göre, die wegen knarrender Balken ausflippt.
Wer sollte auch hier im Nirgendwo in einer der Ferienhäuser nachts herumschleichen?
Ich wünschte, ich hätte wenigstens irgendetwas, was sich als Waffe eignen würde.
Wenn ich diese Nacht unbeschadet überstehe, werde ich mir morgen eine besorgen, zur Not tut es ein Baseballschläger.
Ganz behutsam und so leise wie möglich gehe ich wieder in das Bett. Blicke weiter wie gebannt auf die Tür und bilde mir schon ein, dass der Knauf sich bewegt.
Aber außer den knarrenden Geräuschen passiert nichts.
Die Sekunden fühlen sich an wie Minuten, die Minuten wie Stunden. Ich habe das Gefühl, bald zu hyperventilieren, ziehe die Decke um mich wie ein Schutzschild.
Irgendwann hört das Knarren auf.
Noch immer sitze ich in Schockstarre da, lausche der Stille, aber höre nichts mehr. Als ich mir sicher bin, dass keine Geräusche mehr kommen, nehme ich mein Handy in die Hand, 4:16 Uhr.
Ich warte noch weitere 10 Minuten, doch das Knarren kommt nicht zurück.
Wieder wünschte ich mir Mia her, sie würde einfach durch das Haus stürmen und alles absuchen und wage es Gott, da ist jemand, dem würde sie die Hölle heiß machen.
Aber so viel Mut habe ich nicht und bleibe in diesem verschlossenen Zimmer.
Zu mindestens lege ich mich wieder hin, bin jedoch bereit, bei jedem Geräusch mich erneut aufzurichten und versuche noch etwas zu schlafen.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch so da lag, bevor der Schlaf mich endlich geholt hat.
Kapitel 2
Emily
Am nächsten Morgen wache ich komplett gerädert auf, ein Rabe sitzt auf dem Baum vor meinem Fenster und gibt sein Bestes, möglichst laut zu krähen.
Die Raben, die eine Art Wahrzeichen hier sind und ich, werden wohl keine Freunde mehr.
Müde ziehe ich mir die Decke über den Kopf.
Ich bin noch nicht bereit, den Tag zu starten. Die erste Nacht war schon einmal nicht so gut.
Verrückt, wie Leute in der Stadt Schreie, Gepolter oder Sirenen nicht beunruhigend finden, aber ein knarrendes Haus raubt einem den Schlaf.
In meiner Stadtwohnung habe ich mich bisher nie unsicher gefühlt, aber hier alleine so abgeschieden und ich fürchte mich.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass hier etwas passiert im Gegensatz zu der Stadt? Ich wette, sehr gering. Vermutlich war meine Panik letzte Nacht nicht besonders rational, und ich werde mich bald an das Haus und die neue Umgebung gewöhnen.
Ich nehme mein Handy in die Hand und Mia hat mir geschrieben.
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Na mein Sonnenschein,
ich hoffe, kein verrückter Axtmörder hat dich in der Einöde geholt.
Komm bald wieder nach Hause, so ein Dorfleben ist doch für Frauen wie uns nichts.
:* Mia
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Meine Stimmung wird direkt besser.
Ich vermisse sie furchtbar und auch meine Wohnung.
Besonders erholsam scheint mir das Leben auf dem Land bisher nicht.
Vielleicht bekomme ich ja auch bald einen Herzinfarkt, aus Schreck vor knarrenden Holzböden.
Schnell tippe ich eine Nachricht auf mein Handy, damit sie nicht noch die zuständige Behörde hier informiert und ein Verbrechen meldet, nur weil ich zu müde war, um ihr zu schreiben.
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Hallo Süße,
kein Axtmörder in Sicht, nur viele Raben, die mich zu verfolgen scheinen und alte knarrende Balken, die mir den Schlaf rauben.
:* Em
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Anschließend lege ich das Handy wieder zur Seite auf den Nachtschrank, wo die Rabenfeder liegt. Ich schaue die Feder noch einmal genau an und lege sie in die Schublade des Schranks.
Heute wird ein guter Tag, nehme ich mir vor. Es wird Zeit, dass die alte, zuversichtliche Emily wieder kommt, die bereit ist, ihre Kämpfe selbst auszutragen.
Müde und verspannt strecke ich mich noch einmal, stehe auf und öffne das Fenster, wo sich direkt lautstark ein Rabe über meine Störung beschwert.
„Sei doch ruhig, das ist mein Haus und ich wohne jetzt hier, deswegen sollten wir beiden besser auskommen.“ schimpfe ich.
Das scheint den Vogel aber nicht zu interessieren, und er schimpft einfach noch lauter zurück.
Ich schüttele den Kopf, drehe mich um und schnappe mir ein paar Sachen, um mich frisch zu machen.
Nach der Dusche, die erstaunlich gut war, fühle ich mich schon beinahe wie ein neuer Mensch und gehe runter. Geradewegs zu meinem Auto, in dem eine Kiste mit dem nötigsten bereitliegt. Unter anderem Kaffee mein Lebenselixier. Ich schnappe mir die Kiste und trage sie in die Küche, dort verräume ich alles und sehe die bereits erwähnte Karte am Kühlschrank mit der Telefonnummer von „Günthers“, dem Herren, der sich um das Haus gekümmert hat.
Noch ein Punkt auf meiner Liste: Regeln, wie es mit ihm weitergeht und überlegen, ob er zukünftig noch für die Hauspflege benötigt wird.
Dafür ist jedoch später Zeit, erst einmal benötige ich einen Kaffee, um vernünftig denken zu können. In den Schränken finde ich alle notwendigen Utensilien und freue mich, dass die Kaffeemaschine noch funktioniert.
Als der schwarze Wachmacher durch gebrüht ist, nehme ich mir eine Tasse und schnappe mir eine Zigarette, womit ich mich auf die Veranda begebe.
Sosehr ich die Stadt auch immer geliebt habe, war eine Veranda irgendwie schon immer mein Traum. Tag für Tag hier sitzen und jeden Moment des Jahreszeitwechsels in sich aufnehmen. Es sollten Stadtverandas zum Mieten in Parks geben, scheint mir eine geniale Idee.
Es ist frisch, wie es an einem Septembermorgen häufig der Fall ist, der Ausblick ist jedoch traumhaft, dafür nimmt man gerne etwas Frösteln in Kauf.
Zu sehen ist der riesige See und der Fichtenwald.
Zwischen den Fichtenbäumen sind hier am See auch einige Laubbäume, die bald in herrlichen Herbstfarben strahlen werden.
Hinter dem Haus befindet sich noch eine kleine Wiese mit direktem Zugang zum Wasser. Einige alte Bäume stehen hier, alles einfach gehalten, da sich niemand die letzten Jahre bemüht hat, hier Beete oder Ähnliches anzulegen. Die Veranda und das Haus fügen sich gut in die Umgebung ein.
Die Überdachung wird dafür sorgen, dass ich auch bei Regen draußen sitzen kann.
Rechts von mir sehe ich das fast eingestürzte Haus; das Grundstück sieht ungepflegt aus und hier scheint wirklich schon seit Jahren niemand mehr gewesen zu sein. Auch die Wiese ist kniehoch, mit altem Gestrüpp durch wuchert.
Links von meinem Haus ist das nicht ganz so heruntergekommene Grundstück mit dem verwilderten, aber nicht ungepflegten Garten. Die Wiese zum See ist gemäht, der Seezugang aber mit Schilf etwas bedeckt.
Als ich genauer hinsehe, sehe ich auf der Veranda jemanden sitzen und verschlucke mich vor Schreck an meinen Kaffee. Ich huste, ringe nach Luft und verschütte dabei noch weiteren Kaffee.
Nach einigen Minuten habe ich mich wieder gefangen und blicke erneut zu der Veranda.
Die Gestalt, die dort im Schatten sitzt, schaut zu mir rüber und ich meine ein leichtes Nicken wahrzunehmen.
Ich hebe kurz meinen Arm zum Gruß und schaue schnell wieder zu dem See. Es wäre unhöflich, jemanden anzustarren. Wobei es auch ziemlich unhöflich ist, wenn die Gestalt gesehen hat, dass ich hier fast an meinen Kaffee ersticke, mich einfach nur stillschweigend aus dem Schatten beobachtet.
Das Krähen der Raben zieht mich wieder aus meinen Gedanken und ich sehe, wie der Rabe oben auf dem Baum sitzt und mich fixiert.
Irgendwie unheimliche Tiere. Nach einiger Zeit traue ich mir abermals, einen kurzen flüchtigen Blick auf die Veranda zu werfen, aber es ist niemand mehr zu sehen.
Habe ich mir die Gestalt doch nur eingebildet? Das kann nicht sein, sicher war mein Nachbar dort.
Ich weiß nicht, was ich gruseliger finden würde, wenn ich mir jemanden eingebildet habe oder wenn jemand wirklich da saß.
Da ich nicht weiter darüber nachdenken möchte, gehe ich zurück in das Haus und nehme mir vor, in den Ort zu fahren, um einige Lebensmittel zu kaufen und etwas zu organisieren, was als Waffe taugen wird.
Voller Tatendrang fahre ich los in den kleinen Supermarkt, den ich bei meiner Ankunft gesehen habe. Ich bin über die doch gute Auswahl überrascht und auch eine Metallstange finde ich hier, das Beste, was einer Waffe zur Selbstverteidigung nahekommt.
Die junge braunhaarige Frau an der Kasse beäugt mich skeptisch, ist aber freundlich. Ich bin eine Fremde und Leute auf dem Land sind häufiger mal misstrauisch neuen gegenüber.
Heute bin ich noch nicht in der Stimmung, Kontakte zu knüpfen. Die unruhige Nacht und lange Fahrt haben ihre Spuren hinterlassen.
Anschließend fahre ich wieder zurück zu der Hütte und trage meine Einkäufe rein.
Gerade als ich einige Flaschen Wein in den Schrank verräumen will, bemerke ich einen Schatten hinter mir und die Flasche fällt mir mit einem lauten Klirren zu Boden.
Ich drehe mich hektisch um und presse mich laut atmend gegen einen der Küchenschränke.
„Wer … wer sind sie und was wollen sie hier?“, frage ich ängstlich.
Vor mir steht ein großer Mann, er ist sicher über 1,90 m, hat ein markantes Gesicht, schwarze kinnlange Haare, die ihn in Strähnen ins Gesicht fallen und es teilweise verdecken. Er ist schlank und trotzdem muskulös, soweit man es erkennen kann.
Verlegen räuspert er sich, hebt eine Hand, was vermutlich beruhigend wirken soll, mich aber keineswegs beruhigt. Ein fremder Mann ist ohne zu fragen in mein Haus gekommen. Ist es vielleicht Herr Günthers?
Mit einer tiefen, rauen, aber dennoch melodischen Stimme sagt er:
„Ich wohne nebenan, entschuldigen sie, ich wollte sie nicht erschrecken. Die Tür stand offen und nachdem ich mich heute Morgen nicht vorgestellt habe, als sie auf der Veranda waren, wollte ich jetzt noch einmal offiziell herüberkommen und es nachholen.“
Er hält mir seine Hand entgegen, die ich misstrauisch beäuge, unsicher, ob ich ihm vertrauen kann; wieso kommt er einfach in mein Haus und klopft nicht an?
Etwas verärgert sage ich, ohne seine Hand zu nehmen
„Nachdem sie mich also heute Morgen schon beinahe zu Tode erschreckt haben, haben sie sich gedacht, sie wiederholen das Ganze jetzt noch einmal?“
Er schüttelt den Kopf, sieht zu Boden, wirkt verunsichert und verlegen.
„Es tut mir leid, ich wollte sie wirklich nicht erschrecken. Ich wusste nicht, dass jemand da sein wird und war selbst überrascht, sie zu sehen.“
Erst jetzt fällt mir mein zickiges Verhalten auf. Natürlich wusste er es nicht.
Er hat vollkommen recht, eigentlich bin ich der Eindringling hier. Das Haus steht ja sonst immer leer. Versöhnlich reiche ich ihm nun meine Hand.
„Schon gut, lassen wir das einfach hinter uns und fangen noch einmal neu an. Mein Name ist Emily und meinetwegen können wir gerne zum Du wechseln, immerhin sind wir ja jetzt Nachbarn.“
Jetzt nimmt er mit seiner kräftigen großen warmen Hand meine in seine. Die Hand ist so groß, dass sie so wirkt, als könnte sie augenblicklich jeden Knochen in meiner brechen.
„Mein Name ist Adrik, willkommen in der Nachbarschaft. Also eigentlich wohne nur ich hier“, sagt er mit einem schiefen und irgendwie liebevollen Grinsen.
Erst jetzt sehe ich seine Augen und sie scheinen komplett schwarz zu sein. Er trägt einen kurzen Bart, hat volle Augenbrauen und schöne wohlgeformte Lippen. Seine ganze Erscheinung wirkt wie ein mythologischer Gott in Stein gemeißelt.
Mein Nachbar Adrik ist absolut heiß.
Ich rufe mich wieder zur Besinnung und ziehe meine Hand schnell aus seiner. Er sieht mich noch immer mit einem durchdringenden Blick an, der mir schon beinahe unangenehm ist.
Verlegen streiche ich mir eine von meinen roten langen Strähnen aus dem Gesicht. Jetzt bin ich es, die sich räuspert.
„Und Adrik, wohnst du schon lange hier?“
Mit einem leichten Lächeln schüttelt er den Kopf.
„Nein, erst seit ein paar Jahren, vorher bin ich viel umgezogen. War eher rastlos und habe mich nie zu Hause gefühlt. Dann bin ich hierhergekommen und liebe diese abgeschiedene Ruhe; ich bin gerne für mich und kann mit der hektischen Welt nicht viel anfangen.“
Abermals blickt er mich an, als wenn er geradewegs in meine Seele schauen könnte.
Seine Augen sind schwarz wie die Nacht, man müsste schon ganz genau hinsehen, um die Pupillen auszumachen.
„Und was zieht eine Frau, ganz alleine hier in die Einöde, Emily?“
Wie er meinen Namen betont, lässt mich direkt erschaudern.
Brüchig erwidere ich „Ähm, also das ist weniger bewusst entschieden gewesen. Das Haus gehörte meinen Eltern; wir waren immer hier, als ich noch ein Kind war, also schon sehr viele Jahre her. Ich wusste nicht mal mehr, dass das Haus noch in unserem Besitz war. Mein..... mein Vater, er ist gestorben...... da habe ich erfahren, dass das Haus noch uns gehört. Na ja, und ich wollte es mir mal anschauen, ich wohne also nicht fest hier. Aber ich benötigte auch gerade einfach mal eine Auszeit und da bietet sich dieser Ort doch ausgezeichnet an.“
Er setzt ein fast hämisches Grinsen auf.
„Ahhh … also nur ein Urlauber, der schauen will, ob er noch Geld aus diesem Ort schlagen kann?“
Er geht einen Schritt auf mich zu, sieht sich in der Küche um und seine Aussage verärgert mich. Eigentlich würde ich ihn am liebsten mit dieser arroganten Art hinausschmeißen, möchte es mir aber nicht mit meinen einzigen Nachbarn verscherzen.
„Entschuldige bitte, ich wusste ja nicht mal, dass ich dieses Haus hier besitze und weiß bisher nicht, was hiermit passieren soll. Wir kennen uns ja nicht mal und das geht......“
Das laute Krähen der Raben lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich und ich blicke raus in den Baum, wo einige sitzen, vielleicht besser so bevor ich mich noch um Kopf und Kragen rede.
Er kommt noch einen Schritt auf mich zu und sieht auch in den Baum.
„