Rasmus und der Landstreicher - Astrid Lindgren - E-Book

Rasmus und der Landstreicher E-Book

Astrid Lindgren

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Beschreibung

Manchmal muss man sich selber helfen! Wenn man ein Waisenkind ist und dazu noch ein Junge mit glattem Haar, den keiner haben will, kann man ebenso gut tot sein, denkt Rasmus. Aber dann hat er eine Idee: Er könnte aus dem Waisenhaus fortlaufen. Es ist doch nicht ausgeschlossen, dass es irgendwo auf der Welt jemanden gibt, der einen Jungen mit glattem Haar haben will. Und eines Nachts setzt Rasmus seine Idee in die Tat um ... Neuausgabe des mehrfach ausgezeichneten Lindgren-Klassikers.

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Über dieses Buch

Wenn man ein Waisenkind ist und dazu noch ein Junge mit glattem Haar, den keiner haben will, kann man ebenso gut tot sein, denkt Rasmus. Aber dann hat er eine Idee: Er könnte doch aus dem Waisenhaus fortlaufen. Es ist ja vielleicht nicht ausgeschlossen, dass es irgendwo auf der Welt jemanden gibt, der einen Jungen mit glattem Haar haben will. Und eines Nachts setzt Rasmus seine Idee in die Tat um …

 

Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis

 

 

 

 

 

Der Rasmus dieses Buches ist keineswegs derselbe Junge wie der in dem Buch »Kalle Blomquist, Eva-Lotta und Rasmus«. Und auch nicht derselbe wie der in »Rasmus, Pontus und der Schwertschlucker«. Sie sind nicht einmal verwandt. Dass sie den gleichen Namen haben, ist einer jener sonderbaren Zufälle, an denen das Leben so reich ist.

Die Autorin

1

Rasmus saß wie gewöhnlich in seiner Astgabel oben in der Linde und dachte über Dinge nach, die es nicht geben dürfte. Kartoffeln, das war das Erste! Doch, Kartoffeln durfte es geben, wenn sie gekocht waren und man als Sonntagsessen »Kartoffeln und Soße« bekam. Wenn sie aber mit Gottes Segen draußen auf dem Kartoffelacker wuchsen und gehäufelt werden mussten – dann dürfte es sie nicht geben. Ohne Fräulein Habicht konnte man auch gut auskommen. Sie war es nämlich, die sagte: »Morgen häufeln wir den ganzen Tag Kartoffeln.« Wir häufeln Kartoffeln, sagte sie, aber das bedeutete nicht, dass Fräulein Habicht die Absicht hatte zu helfen. O nein, Rasmus und Gunnar und der große Peter und die anderen Jungen, die mussten sich den lieben langen heißen Sommertag hindurch auf dem Kartoffelacker abrackern. Und dann zusehen, wie die Dorfkinder auf der Straße vorbeigingen zum Badeplatz unten am Bach! Hochnäsige Dorfkinder, die dürfte es übrigens auch nicht geben!

Rasmus überlegte, ob es noch was gab, was abgeschafft werden könnte. Aber da wurde er durch einen leisen Ruf von unten gestört. »Rasmus! Versteck dich! Der Habicht kommt.«

Gunnar steckte warnend seine Nase durch die Tür vom Brennholzschuppen, und Rasmus hatte es plötzlich eilig. Er rutschte schleunigst aus der Astgabel, und als Fräulein Habicht im nächsten Augenblick vorm Holzschuppen stand, war oben in den grünen Zweigen der Linde kein Rasmus zu sehen. Was bestimmt ein Glück war, denn Fräulein Habicht war nicht der Meinung, dass Jungen gleich jungen Vögeln hoch oben in den Bäumen sitzen sollten, wenn nützliche Arbeiten zu verrichten waren.

»Du nimmst doch nur vom Fichtenholz, Gunnar?«

Fräulein Habichts strenge Augen musterten forschend die Holzscheite, die Gunnar in den Korb gelegt hatte.

»Ja, Fräulein Habicht«, sagte Gunnar in dem Ton, den man immer anwenden musste, wenn man Fräulein Habicht antwortete. Es war dieser besondere Waisenhauskindton, den man anwandte, wenn die Vorsteherin mit einem sprach und wenn der Pastor zur Inspektion kam und fragte, ob es nicht Spaß mache, den Garten so fein sauber zu halten, und wenn Eltern von einem der Dorfkinder kamen und wissen wollten, warum man ihren Jungen verdroschen habe, der einem auf dem Schulhof »Waisenhausbengel« nachgeschrien hatte. Da war es notwendig, demütig und brav zu tun, denn es lag auf der Hand, dass sie das erwarteten, Fräulein Habicht und der Pastor und alle.

»Weißt du, wo Rasmus ist?«, fragte Fräulein Habicht.

Rasmus presste sich ängstlich noch enger an den Ast, an dem er hing, und betete zu Gott, Fräulein Habicht möge weggehen. Allzu lange konnte er nicht mehr so hängen, und wenn er auch nur ein ganz klein bisschen in den Armen nachgab, würde er langsam abwärtsrutschen und für Fräulein Habicht sichtbar werden. Das blau gestreifte Hemd, das er anhatte, dieses Waisenhaushemd, leuchtete ebenfalls weithin. Vögel, die auf Bäumen saßen, waren so schwer zu entdecken, weil der liebe Gott ihnen eine Schutzfarbe gegeben hatte, sagte die Lehrerin in der Schule. Aber Waisenhauskindern hatte der liebe Gott keine Schutzfarbe gegeben, und darum betete Rasmus so inbrünstig, dass er Fräulein Habicht wegschicken möge, bevor seine Arme ganz lahm waren.

Es war noch nicht lange her, da hatte Fräulein Habicht ihn ausgeschimpft, weil er sich schmutziger machte als alle anderen Kinder im ganzen Waisenhaus, das fiel ihm gerade ein. Na warte, wenn sie noch mal so was sagte, wollte er aber antworten: »Ich schaff mir gerade eine Schutzfarbe an.«

Ja, er würde es natürlich nur ganz leise in seinem Innern sagen. So was sagte man nicht, dass Fräulein Habicht es hörte, man sagte es ihr nicht ins Gesicht. Denn sie hatte so strenge Augen und ihr Mund war streng und zusammengekniffen und manchmal hatte sie auch eine strenge Falte auf der Stirn. Gunnar behauptete, selbst ihre Nase sehe streng aus. Aber das fand Rasmus nicht. Rasmus fand Fräulein Habichts Nase richtig hübsch.

Jetzt allerdings, während er hier im Baum hing und fühlte, wie seine Arme einschliefen, fiel ihm kaum etwas Gutes an ihr ein. Und Gunnar, der scheu weiter Holz in den Korb schichtete, während Fräulein Habicht daneben stand und zusah, traute sich nicht, den Blick auch nur bis zu ihrer Nase zu erheben, ganz abgesehen davon, ob sie streng war oder nicht. Er sah nichts weiter von ihr als einen Zipfel der steif gestärkten Schürze.

»Weißt du, wo Rasmus ist?«, fragte Fräulein Habicht noch einmal ziemlich ungeduldig, da sie auf ihre erste Frage keine Antwort bekommen hatte.

»Ich hab ihn vorhin drüben am Hühnerstall gesehen«, sagte Gunnar.

Das war die reinste Wahrheit. Vor einer halben Stunde hatten Gunnar und Rasmus im Brennnesselgestrüpp hinter dem Hühnerstall nach Eiern gesucht, weil die dummen Hennen manchmal heimlich dort welche legten. Also hatte Gunnar Rasmus tatsächlich vor einer Weile drüben am Hühnerstall gesehen. Wo er jetzt war, das wollte Gunnar Fräulein Habicht lieber nicht sagen.

»Wenn du ihn siehst, sag ihm, er soll einen Korb Brennnesseln rupfen«, sagte Fräulein Habicht und drehte sich auf dem Absatz um.

»Ja, Fräulein Habicht«, sagte Gunnar.

»Hast du das gehört?«, sagte er, als Rasmus von der Linde herunterkletterte. »Du sollst einen Korb Brennnesseln rupfen.«

Brennnesseln dürfte es auch nicht geben, dachte Rasmus. Den ganzen Sommer lang musste man Brennnesseln für die Hühner pflücken, denn sie bekamen täglich gekochte Brennnesselgrütze.

»Können die dummen Viecher sich nicht selber ein paar Brennnesseln pflücken, wo die doch genau vor ihrer Nase wachsen?«

»Nee, die denken nicht dran«, meinte Gunnar. »Bitte schön, vorgesetzt muss es ihnen werden.« Und er machte eine tiefe Verbeugung vor einer Henne, die leise gackernd vorüberspazierte.

Rasmus war sich nicht ganz sicher, ob Hühner abgeschafft werden müssten oder nicht, entschied aber schließlich, dass es sie geben müsste. Sonst bekäme man ja kein Sonntagsei, und ohne Sonntagsei würde man kaum merken, dass Sonntag ist. Nein, Hühner musste es geben dürfen und deshalb konnte er auch gleich hingehen und die Brennnesseln rupfen.

Rasmus war sicherlich nicht fauler als andere Neunjährige. Er hatte nur einen für sein Alter natürlichen Widerwillen gegen alles, was ihn daran hinderte, auf Bäume zu klettern oder im Bach zu baden oder mit den anderen Jungen Räuber zu spielen und hinterm Kartoffelkeller im Hinterhalt zu liegen, wenn eins der Mädchen kam und Kartoffeln holen wollte. Damit musste man sich beschäftigen, wenn man Sommerferien hatte, fand er. Fräulein Habicht konnte man nicht dazu bringen, das einzusehen, und das war auch ziemlich natürlich. Das Waisenhaus von Västerhaga war eine städtische Anstalt, lebte aber zum Teil davon, dass man Eier und Gemüse verkaufte. Die Kinder waren eine billige und unentbehrliche Arbeitskraft, und Fräulein Habicht verlangte sicher nichts Unmenschliches von ihnen, wenn Rasmus es auch seinerseits unmenschlich fand, dass er einen ganzen Tag lang Kartoffeln häufeln sollte. Da er aber ebenso wie alle übrigen elternlosen Kinder gezwungen sein würde, für sich selbst zu sorgen, sobald er dreizehn Jahre alt war, so musste er beizeiten arbeiten lernen, das wusste Fräulein Habicht genau. Sie wusste dagegen nicht so richtig, wie notwendig es auch für Waisenhauskinder war, spielen zu dürfen, aber das konnte man vielleicht nicht verlangen. Sie selbst hatte sich wahrscheinlich nie sonderlich viel aus dem Spielen gemacht.

 

Rasmus rupfte hinter dem Hühnerstall gehorsam Brennnesseln, aber er sagte unterdessen den Hühnern deutlich die Wahrheit:

»Faulpelze! Eigentlich dürfte es euch gar nicht geben! Hier wachsen Brennnesseln, dass man reinweg verzweifeln könnte. Aber sie selber pflücken, nee, das passt euch nicht. Ich muss hier schuften wie ein Sklave und für euch rupfen, bloß immer rupfen und rupfen.«

Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr kam er sich wie ein Sklave vor, und das machte eigentlich Spaß. Die Lehrerin in der Schule hatte in der letzten Unterrichtsstunde aus einem Buch über die Sklaven in Amerika vorgelesen. Es gab nichts Schöneres auf der Welt, als wenn die Lehrerin vorlas, und dies Buch von den Sklaven war das beste, was Rasmus kannte.

Er rupfte Brennnesseln und stöhnte leise. Denn jetzt war die Peitsche des Sklaventreibers über ihm und hinter dem Eiskeller lagen Bluthunde, bereit hervorzustürzen, wenn er den Korb nicht schnell genug füllen konnte. Jetzt pflückte er Baumwolle, nicht Brennnesseln. Der große Fausthandschuh, den er anhatte, damit die Brennnesseln ihn nicht brannten, passte wohl nicht unbedingt zu einem Sklaven unter der glühenden Sonne der Südstaaten, aber den konnte man nicht entbehren.

Rasmus rupfte und rupfte. Und bisweilen gibt es auch für Sklaven kleine Freuden. Drüben beim Eiskeller standen die Brennnesseln besonders hoch. Rasmus hatte seinen Korb jetzt voll, aber er ging hinüber und riss doch noch welche aus, nur um die Bluthunde zu reizen. Da sah er im Sägemehl dicht neben dem Eiskeller etwas liegen. Es war halb von Sägemehl zugedeckt und es sah einem Fünförestück ziemlich ähnlich. Rasmus bekam Herzklopfen – es konnte kein Fünfer sein, so etwas gab es nicht! Aber er zog vorsichtig den Fausthandschuh aus und streckte die Hand nach dem aus, was da im Sägemehl lag.

Und es war ein Fünfer!

Das Baumwollfeld verschwand, die Bluthunde gingen in Rauch auf, der arme Sklave stand da, ganz schwindlig vor Freude.

Denn was konnte man nicht alles für fünf Öre bekommen! Eine große Tüte Bonbons konnte man bekommen oder fünf Sahnebonbons oder eine Tafel Schokolade. Das alles gab es beim Krämer unten im Dorf. Er konnte vielleicht morgen in der Mittagspause runterlaufen. Oder er konnte es auch lassen und den Fünfer behalten und tagaus, tagein herumgehen und wissen, er war reich und konnte sich kaufen, was er wollte.

Doch, Hühner durfte es geben und Brennnesseln durfte es geben, denn ohne die Hühner und die Brennnesseln wäre das hier nicht passiert. Er bereute es, dass er eben so hart zu den armen Hühnern gesprochen hatte. Sie sahen zwar nicht gerade so aus, als machten sie sich viel daraus, wie sie da in ihrem Auslauf herumstaksten, aber sie sollten doch wenigstens wissen, dass er eigentlich nichts gegen sie hatte.

»Doch, doch, euch kann es ruhig geben«, sagte er und trat ganz an den Drahtzaun heran, der den Hühnerhof umgab. »Und ich werde jeden Tag Brennnesseln für euch rupfen …«

In dem Augenblick geschah ein neues Wunder. In dem Augenblick erspähte er ein neues Kleinod. Drinnen im Auslauf vor den Krallen einer gackernden Leghornhenne lag ein Schneckenhaus. Mitten in all dem Hühnermist lag ein wunderschönes weißes Schneckenhaus mit kleinen braunen Tupfen drauf.

»Oh«, sagte Rasmus, »oh!«

Er hakte schnell die Tür zum Hühnerhof auf, und ohne sich um das entsetzte Gegacker der Hennen zu kümmern, die in wilder Flucht nach allen Seiten auseinanderstoben, sauste er hinein und hob das Schneckenhaus auf.

Nun war sein Glück so groß, dass er es nicht für sich behalten konnte. Er musste unbedingt alles Gunnar erzählen. Armer Gunnar, er war erst vor einer Stunde mit ihm am Hühnerhof gewesen und hatte keine Schnecke und keinen Fünfer gefunden! Rasmus überlegte. Vielleicht hatte weder die Schnecke noch der Fünfer vor einer Stunde da gelegen. Vielleicht waren sie beide durch Zauberei hingekommen, als Rasmus gerade anfing, Brennnesseln zu rupfen. Vielleicht war das heute so ein ungeheuerlicher Wundertag für ihn, wo sich nur Merkwürdiges zutrug.

Es war das Beste, Gunnar zu fragen, was er meinte.

Rasmus rannte in vollem Galopp los, bremste aber schnell, als ihm der Korb mit den Brennnesseln einfiel. Er ging zum Eiskeller zurück und holte ihn, und den Korb in der einen Hand und die Schnecke und den Fünfer fest in der anderen, rannte er los, um Gunnar zu suchen.

Er fand ihn drüben am Spielplatz, wo die Kinder sich immer versammelten, wenn die Arbeit des Tages beendet war. Dort war jetzt die ganze Schar beisammen, und es war deutlich zu merken, dass unter den Kindern Unruhe herrschte. Etwas musste geschehen sein, während Rasmus fort gewesen war.

Rasmus brannte darauf, Gunnar für sich allein zu haben und ihm seine Kostbarkeiten zu zeigen. Aber Gunnar hatte an Wichtigeres zu denken.

»Wir sollen morgen nicht Kartoffeln häufeln«, sagte er. »Da kommen Leute, die wollen sich ein Kind aussuchen.«

Vor einer solchen Neuigkeit schrumpften Fünfer und Schneckenhaus zu einem Nichts zusammen. Nichts war damit zu vergleichen, dass einer aus ihrer Schar ein eigenes Zuhause bekommen sollte. Es gab nicht ein Kind auf Västerhaga, das nicht von diesem Glück träumte. Sogar die großen Jungen und Mädchen, die bald so weit waren, dass sie für sich selbst sorgen mussten, hofften noch auf ein solches Wunder. Selbst die hässlichsten und schwerfälligsten und unmöglichsten unter ihnen gaben die Hoffnung nicht auf, dass eines schönen Tages jemand kommen könnte, der aus einem unbegreiflichen Grunde gerade ihn oder sie haben wollte. Nicht als Kleinknecht oder Magd, mit denen man herumschnauzte, sondern als eigenes Kind. Eigene Eltern zu haben war das größte Glück, das sich Waisenhauskinder in dieser Welt vorstellen konnten. Viele von ihnen würden wohl ihre hoffnungslose Sehnsucht nicht offen zugeben. Aber Rasmus, der erst neun Jahre alt war, hatte noch nicht genug Verstand, um den Gleichgültigen zu spielen.

»Stellt euch vor«, sagte er eifrig, »stellt euch bloß vor, wenn sie mich nun nehmen. Oh, wie ich mir wünschte, dass sie mich nehmen.«

»Ach was, bilde dir doch das nicht ein«, sagte Gunnar. »Die nehmen immer Mädchen mit Locken.«

Rasmus’ fröhlicher Eifer verflog und ein Ausdruck tiefer Enttäuschung zeigte sich auf seinem Gesicht. Er sah Gunnar mit ernsthaften Augen flehend an.

»Glaubst du denn nicht, dass es wenigstens einmal welche gibt, die einen Jungen mit glattem Haar haben wollen?«

»Die wollen Mädchen mit Locken, hab ich doch gesagt.«

Gunnar selbst war ein ungewöhnlich hässlicher, stupsnasiger Junge mit Haaren wie ein Ziegenbart, und seine Hoffnung, einen Vater und eine Mutter zu bekommen, hielt er streng geheim. Keiner sollte es ihm anmerken, dass er sich überhaupt etwas aus dem machte, was sie morgen erwartete.

Als Rasmus eine Weile später im Schlafsaal der Jungen in seinem schmalen Bett neben Gunnars lag, fiel ihm ein, dass er ja noch nicht von dem Schneckenhaus und dem Fünfer erzählt hatte. Er beugte sich über den Bettrand und flüsterte:

»Du, Gunnar, heute ist so viel Merkwürdiges passiert.«

»Was denn Merkwürdiges?«, fragte Gunnar.

»Ich hab fünf Öre gefunden und eine wunder-wunderschöne Schnecke. Aber sag’s keinem weiter!«

»Zeig mal«, flüsterte Gunnar neugierig. »Komm, wir gehen ans Fenster, dann kann ich’s mir ansehen.«

Sie standen leise auf und stellten sich im Nachthemd drüben ans Fenster. Und im Licht des Sommerabends zeigte Rasmus seine Schätze, vorsichtig, damit keiner außer Gunnar sie zu sehen bekäme.

»Hast du aber Glück«, sagte Gunnar und strich mit dem Zeigefinger über das zarte Schneckenhaus.

»Ja, ich hab Glück, und darum glaub ich, die wollen mich vielleicht doch haben, die morgen herkommen.«

»Bilde dir bloß nichts ein!«, sagte Gunnar.

In dem Bett, das der Tür am nächsten stand, lag der große Peter. Er war der älteste unter den Jungen im Waisenhaus und selbst ernannter Anführer. Er hatte sich auf den Ellbogen gestützt und lauschte gespannt.

»Legt euch hin«, flüsterte er, »der Habicht kommt … Ich höre sie die Treppe rauftrampeln.«

Gunnar und Rasmus stürzten zu ihren Betten, sodass ihnen die Hemden um die nackten Beine flatterten. Und als der Habicht in den Saal trat, war es mucksmäuschenstill.

Die Vorsteherin machte die Abendrunde. Sie ging von einem Bett zum anderen und kontrollierte, ob alles war, wie es sein sollte. Ganz selten einmal kam es vor, dass sie einem Jungen ungeschickt und beinahe gegen ihren Willen übers Haar fuhr. Rasmus mochte den Habicht nicht. Aber Abend für Abend hoffte er, sie möge ihn streicheln. Er wusste nicht, weshalb, er sehnte sich nur danach, dass sie ihn streicheln möge.

Wenn sie mich heute Abend streichelt, dachte Rasmus, während er still dalag, dann bedeutet es, dass morgen auch ein ungeheuerlicher Wundertag für mich ist. Dann bedeutet es, dass die Leute, die morgen kommen, mich haben wollen, obwohl ich glattes Haar habe.

Fräulein Habicht war jetzt bei Gunnars Bett angelangt. Rasmus lag vor Spannung ganz steif da. Jetzt … jetzt kam sie zu ihm.

»Rasmus, wie liegst du da? Du reißt ja die Decke kaputt«, sagte Fräulein Habicht.

Dann ging sie weiter und gleich darauf schloss sie die Tür hinter sich, ruhig und bestimmt und unerschütterlich. Im Schlafsaal war es still. Aber von Rasmus’ Bett kam ein tiefer Seufzer.

2

Viel Seife ging am nächsten Morgen im Waschraum der Jungen drauf. Gründlich gewaschene Ohren und sauber geschrubbte Hände waren für Pflegeeltern das Beste, was es gab, wenn man dem Habicht glauben durfte, und heute kam es darauf an, so vorteilhaft wie möglich auszusehen. Rasmus legte einen großen Klumpen Seife in seine Waschschüssel und schrubbte drauflos, wie er es seit dem Tag vor Heiligabend nicht getan hatte. Er war ein Junge mit glattem Haar – an dieser Tatsache konnte man nichts ändern –, wenn es aber nur auf die Ohren ankam, dann sollten seine die saubersten sein, die man an diesem Tag auf ganz Västerhaga finden konnte, und Hände, so rot und so hartnäckig geschrubbt wie seine, sollte keiner vorzeigen können. Aber die Mädchen hatten auch hier einen Vorsprung, sie waren von sich aus so unnatürlich reinlich. Es hatte den Anschein, als ob der Schmutz nicht auf dieselbe Weise an ihnen haften blieb wie an den Jungen, und im Übrigen hatten sie ja ständig aufzuwaschen und zu scheuern und zu backen und so was, wodurch man ganz nebenbei noch sauber wurde.

Mitten im Waschraum stand der große Peter und hatte bis jetzt weder Seife noch Bürste zur Hand genommen. Er wurde im Herbst dreizehn, dann musste er Västerhaga verlassen, ob er wollte oder nicht. Er wusste, dass er gezwungen war, bei einem Bauern in der Gegend als Kleinknecht anzufangen, und er wusste auch, dass keine noch so rein gewaschenen Ohren daran etwas ändern konnten.

»Ich werd ’n Deubel tun und mich heute waschen«, sagte er mit lauter Stimme. Es entstand eine nachdenkliche Pause an den Waschschüsseln und die Bürsten hielten inne. Der große Peter war der Anführer, und er hatte beschlossen, sich nicht zu waschen – jetzt war es schwierig zu entscheiden, was man selber tun wollte.

»Ich werd auch ’n Deubel tun und mich heute waschen.«

Gunnar legte entschlossen die Bürste weg. Er wusste ebenfalls, dass Wasser und Seife bei ihm keine Wunder vollbringen konnten.

»Bist du verrückt!«, sagte Rasmus und wischte sich das triefnasse Haar aus den Augen. »Du weißt doch, wer heute kommt.«

»Du denkst wohl, es ist der König höchstpersönlich, was?«, sagte Gunnar. »Ich kümmer mich den Deubel drum, wer kommt. Ob’s der König selber ist oder irgendein Dorfkrämer aus Kisa, ich wasch mich trotzdem nicht.«

Tante Olga aus der Küche, die ein bisschen mitteilsamer war als Fräulein Habicht, hatte erzählt, dass ein großer Kaufmann kommen wollte, nicht irgendein kleiner Dorfkrämer, sondern ein vornehmer und reicher Kaufmann, und die Frau Gemahlin würde er auch mitbringen. Sie hatten keine eigenen Kinder, die irgendwann einmal das Geschäft erben konnten. Darum kamen sie nach Västerhaga, um sich eins zu holen, sagte Tante Olga. Ein ganzes Geschäft zu erben, das wäre was, dachte Rasmus. Ein ganzes Geschäft voller Bonbons und Kandiszucker und Lakritzenstangen – ja, Mehl und Kaffee und Seife und Heringe hatten sie natürlich auch.

»Ich wasch mich trotzdem«, sagte er fest und begann die Ellenbogen zu schrubben.

»Ja, wasch du dich nur«, sagte Gunnar. »Ich helf dir.«

Er packte Rasmus am Genick und tauchte seinen Kopf schnell in die Waschschüssel. Rasmus fuhr hoch, prustend und erbost. Aber Gunnar stand da und lachte über das ganze freundliche, stupsnasige Gesicht.

»Du bist doch nicht etwa böse?«, fragte er spottend.

Da musste Rasmus auch lachen. Auf Gunnar konnte er nie lange böse sein. Aber eine ordentliche Abreibung sollte er doch kriegen. Er nahm die Waschschüssel und ging drohend auf Gunnar zu, der genau vor der Tür zum Schlafsaal stand und seinen Angriff erwartete. Rasmus hob die Schüssel hoch: Jetzt sollte Gunnar aber eine Dusche bekommen, dass er’s spürte. Aber als Rasmus gerade bereit war, sprang sein Opfer rasch beiseite. In derselben Sekunde ging die Tür auf und wie ein heftiger tropischer Regen ergoss sich der Inhalt der Schüssel über denjenigen, der auf der Schwelle stand.

Und wer da stand, das war Fräulein Habicht. Nun ist es leider so: Wenn so was passiert, dann gibt es eigentlich nur einen einzigen Menschen, der sich das Lachen verbeißen kann, und das ist der, über den sich das Wasser ergießt. Fräulein Habicht konnte sich das Lachen sehr gut verbeißen, aber von den Jungen kam ein ersticktes Kichern. Durch das Gekicher hindurch hörte man ein kleines, gellendes, entsetztes Auflachen. Und der da lachte, das war Rasmus. Einen wahnsinnigen Augenblick lang lachte er, dann aber stand er stumm und verzweifelt da und erwartete die Katastrophe. Denn eine Katastrophe musste kommen, das war ihm klar.