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Tony Braun härtester Fall! Eine junge Mutter wird grausam zugerichtet auf einer Parkbank gefunden, neben sich ihr quicklebendiges Baby - und ein Rattenschädel. Das ist nicht der einzige geheimnisvolle Hinweis, den Chefinspektor Tony Braun erhält: Ausgerechnet Viktor Maly, ein Insasse der Psychiatrie, scheint mehr über den Fall zu wissen. Doch er hat seit über einem Jahr keinen Kontakt mehr zur Außenwelt. Wurde die Frau Opfer eines lange geplanten Komplotts? Da geschieht eine weitere Bluttat. Und es gibt nur einen Zeugen: Viktor Maly ... Wer seine Ermittler unkonventionell mag, seine Morde blutig und die Dunkelheit der Seelen ganz, ganz tief, der kann sich mit den Thrillern um Chefinspektor Tony Braun auf ein besonderes Lesevergnügen freuen. Alle Thriller sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. Die Tony-Braun-Thriller-Reihe: "Totes Sommermädchen" - wie alles begann - der erste Tony Braun Thriller "Töten ist ganz einfach" - der zweite Fall "Freunde müssen töten" - der dritte Fall "Alle müssen sterben" - der vierte Fall "Der stille Duft des Todes" - der fünfte Fall "Rattenkinder" - der sechste Fall "Rabenschwester" - der siebte Fall „Stiller Beobachter“ - der achte Fall „Strandmädchentod“ – der neunte Fall "Stilles Grabeskind" - der zehnte Fall
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Impressum
Anmerkung
Über die Autoren B.C. Schiller
Bücher von B.C. Schiller
Bücher von B.C. Schiller
Bücher von B.C. Schiller
Bücher von B.C. Schiller
Bücher von B.C. Schiller
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Danksagung
Sämtliche Figuren und Ereignisse dieses Romans sind der Fantasie entsprungen. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist zufällig und von den Autoren nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung der Blue Velvet Management e.U. urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
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Hintergrund: Authors own
Wir haben uns erlaubt, einige Namen und Örtlichkeiten aus Spannungsgründen neu zu erfinden, anders zu benennen und auch zu verlegen. Sie als LeserInnen werden uns diese Freiheiten sicher nachsehen.
Barbara und Christian Schiller leben und arbeiten in Wien und auf Mallorca mit ihren beiden Ridgebacks Calisto & Emilio.
Gemeinsam waren sie über 20 Jahren in der Marketing- und
Werbebranche tätig und haben ein totales Faible für spannende Krimis und packende Thriller.
B.C. Schiller gehören zu den erfolgreichsten Spannungs-Autoren im deutschsprachigen Raum. Bisher haben sie mit ihren Krimis über 3.000.000 Leser begeistert.
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TONY-BRAUN-THRILLER:
TOTES SOMMERMÄDCHEN – der erste Tony-Braun–Thriller –
»Wie alles begann«
TÖTEN IST GANZ EINFACH – der zweite Tony-Braun-Thriller
FREUNDE MÜSSEN TÖTEN – der dritte Tony-Braun-Thriller
ALLE MÜSSEN STERBEN – der vierte Tony-Braun-Thriller
DER STILLE DUFT DES TODES – der fünfte Tony-Braun-Thriller
RATTENKINDER – der sechste Tony-Braun-Thriller
RABENSCHWESTER – der siebte Tony-Braun-Thriller
STILLER BEOBACHTER – der achte Tony-Braun-Thriller
STRANDMÄDCHENTOD – der neunte Tony-Braun-Thriller
STILLES GRABESKIND – der zehnte Tony-Braun-Thriller
Alle Tony-Braun-Thriller waren monatelang Bestseller in den Charts. Die Thriller sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
GRETCHEN LARSSEN UND DAS OSTSEEMÄDCHEN: der erste Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DAS DÜNENOPFER: der zweite Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DER OSTSEEZORN: der dritte Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DIE OSTSEESCHULD: der vierte Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DER KÜSTENMÖRDER: der fünfte Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DER OSTSEEMORD: der sechste Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DIE OSTSEETRÄNEN: der siebte Band mit Gretchen Larssen
MALLORCA-INSELKRIMI:
MÄDCHENSCHULD – ist der erste Band der neuen spannenden Mallorca-Inselkrimi-Reihe mit der Inspectora Ana Ortega und dem Europol-Ermittler Lars Brückner. Die Krimis sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
SCHÖNE TOTE – der zweite Band mit Ana Ortega und Lars Brückner.
FAMILIENBLUT – der dritte Band mit Ana Ortega und Lars Brückner.
NORDTOD - KÜSTENTHRILLER:
NORDTOD - DIE KOLIBRIMÄDCHEN: der erste spannende Cold-Case-Fall mit der schwedischen Ermittlerin Signe Nord.
DUNKELSTEIG – Trilogie:
DUNKELSTEIG: der erste Band mit Felicitas Laudon
DUNKELSTEIG – SCHULD –der zweite Band mit Felicitas Laudon
DUNKELSTEIG – BÖSE: der dritte und letzte Band mit Felicitas Laudon
Psychothriller:
DIE FOTOGRAFIN
DIE SCHWESTER
DIE EINSAME BRAUT
Die TARGA-HENDRICKS-Thriller:
DER MOMENT, BEVOR DU STIRBST – der erste Fall mit Targa Hendricks
IMMER WENN DU TÖTEST – der zweite Fall mit Targa Hendricks
DUNKELTOT, WIE DEINE SEELE – der dritte Fall mit Targa Hendricks
Die DAVID-STEIN-Thriller:
DER HUNDEFLÜSTERER – David Steins erster Auftrag
SCHWARZER SKOPRION – David Steins zweiter Auftrag
ROTE WÜSTENBLUME – David Steins dritter Auftrag
RUSSISCHES MÄDCHEN – David Steins vierter Auftrag
FREMDE GELIEBTE – David Steins fünfter Auftrag
EISIGE GEDANKEN – David Steins sechster Auftrag
TODESFALTER – David Steins siebter Auftrag
LEVI-KANT-Cold Case-Krimi:
BÖSES GEHEIMNIS – der erste Cold Case
BÖSE TRÄNEN – der zweite Cold Case
BÖSES SCHWEIGEN – der dritte Cold Case
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In einer stürmischen Regennacht schaufelten sie mein Grab.
Der Himmel erstrahlt im hellen Schein der Blitze, als wäre zu Ehren meines Todes ein Feuerwerk entzündet worden. In diesem Licht wirken die Silhouetten der Wohntürme wie schwarze Kreuze. Auf den Plänen hatten die Türme beeindruckend ausgesehen, und alle waren stolz darauf gewesen. Sie schienen Symbole für eine neue Zeit zu sein, in der Aufbruchsstimmung herrschte und die Menschen plötzlich ihre Chancen witterten. Damals wurde auch ich von dieser Euphorie erfasst und begann, meine Ideen zu verwirklichen. Ich wollte beweisen, dass es möglich ist, seine Herkunft hinter sich zu lassen und endlich akzeptiert zu werden. Als Fremder war ich aus Rumänien gekommen, hatte nur kurz in einem der Türme wohnen wollen – mein eigentliches Ziel jedoch war Österreich. Damals ahnte ich noch nicht, dass mich die einflussreichen Freunde, die ich dort fand, direkt wieder hierher schicken würden, um meiner Bestimmung nachzukommen. Jeder weiß, was ich in den vergangenen Jahren getan habe, doch keiner hat es gewagt, mich aufzuhalten.
Bis jetzt.
Der Weg zu meinem Grab auf dem Hügel ist durch den Regen aufgeweicht, und meine Schuhe sind von Nässe und Schmutz durchdrungen. Als Kind hatte ich nie Schuhe, sondern lief immer barfuß. Deshalb kaufte ich mir von meinem ersten Geld ein vernünftiges Paar, gemacht für die Ewigkeit, wie ich dachte. Dass diese Ewigkeit so schnell kommen würde, konnte ich damals nicht ahnen. Das Ironische an der Sache ist, dass sie mich natürlich ohne die Schuhe begraben werden. Sie werden sie verbrennen – später, an einem geheimen Ort. Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich vor der rechteckigen schwarzen Grube stehe, die sie bereits gestern zur Hälfte ausgehoben und mit Flüchen belegt haben.
Wieder erhellt ein greller Blitz den Nachthimmel, und neben meinem Grab sehe ich die vielen bleichen Rattenschädel liegen, die sie mir auf meine letzte Reise mitgeben werden. Ich mache mir nicht die Mühe, sie zu zählen, aber ich bin stolz, dass es so viele sind. Denn jeder Rattenkopf hat eine Bedeutung, hinter jedem dieser Schädel steckt eine Tragödie oder ein Glücksmoment – je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet.
Langsam hebe ich den Kopf, lasse den Regen über mein Gesicht rinnen, wünsche mir, er würde alle Schuld von mir waschen. Aber das ist eine Illusion, wie so vieles in meinem Leben. Mein schwarzer Anzug ist bereits völlig durchnässt, und ich spüre die Feuchtigkeit unangenehm kühl auf der Haut. Ich schaue zu den Wohntürmen hinüber. Die Lichter vieler Taschenlampen und Laternen bringen die geschwärzten Häuserfassaden zum Leuchten. Wahrscheinlich haben sich alle Bewohner auf den Weg gemacht, um meiner Beerdigung beizuwohnen. Es müssen Hunderte von Familien sein, wenn nicht gar Tausende. Die Stimmung wird sich wütend hochschaukeln, schließlich haben in den letzten Jahren viele von ihnen einen meiner Rattenschädel erhalten.
Die vier Totengräber stehen bis zu den Hüften in dem dunklen Loch zu meinen Füßen und führen die letzten Handgriffe aus, ohne auch nur einmal zur mir hinaufzuschauen. Die beiden Männer links und rechts von mir haben die Krägen ihrer Sakkos aufgestellt, von den Krempen ihrer breiten Hüte tropft der Regen. Sie tragen Handschuhe, um sich vor der eisigen Kälte und dem zu schützen.
Immer wieder muss ich in Richtung der Wohntürme blicken. Die Lichterkette, die wie eine leuchtende Schlange langsam den Hügel hinaufkriecht, hat etwas seltsam Faszinierendes an sich. Als Erstes werden jene Frauen den Hügel erreichen, die in der Vergangenheit einen Rattenschädel vor ihrer Haustür gefunden haben. Sie werden sich im Halbkreis aufstellen und mich zuerst leise, dann immer lauter verfluchen. Die sorgfältig gebleichten Rattenknochen werfen sie auf mich, bevor sich schließlich auch die anderen Weiber beteiligen – die, die verschont wurden. Dreck und Knochen und Erdklumpen werden auf mich niederprasseln … Aber ich werde keine Miene verziehen. Diesen Gefallen tue ich ihnen nicht, das verspreche ich mir.
Als die Frauen nun tatsächlich anfangen, mit Knochen und Steinen nach mir zu werfen, spüre ich plötzlich die Panik, die sich in meinen Eingeweiden breitmacht und mich daran hindern will, meinem Ende aufrecht wie ein Mann entgegenzusehen. Wie schwer es ist, in Würde zu sterben, geht es mir durch den Kopf. Aber ich schiebe diesen Gedanken beiseite, verbanne ihn in die hinterste Ecke meines Verstandes. Lieber will ich an jene Menschen denken, die ich glücklich gemacht habe. Und das sind viele. Es gibt also keinen Grund, jetzt Schwäche zu zeigen.
Endlich sind die vier Männer mit ihrer Arbeit fertig und klettern aus der Grube. Der Halbkreis hinter mir schließt sich immer enger, ich spüre den Atem einer Frau in meinem Nacken und höre zwischen zwei Donnerschlägen ihre geflüsterten Worte: „Du findest niemals Ruhe. Es wird immer weitergehen!“
In ihrer Wut werfen die Weiber mit allem nach mir, was sie zwischen die Finger bekommen. Auf einmal nehme ich hinter mir einen Schatten wahr, drehe den Kopf und erkenne einen kleinen Jungen, der dort steht, in der Hand einen großen gezackten Stein. Er holt aus, und ich fühle, wie er seine ganze Kraft in diesen einen Wurf legt. Der Stein trifft mich am Hinterkopf, und die Wucht des Schlags lässt mich nach vorn taumeln, auf das Grab zu. Ich spüre, wie mir warmes Blut in den Nacken läuft. Beifälliges Gemurmel ertönt, das in den rituellen Gesang übergeht, der unser Volk schon seit Jahrhunderten auf seiner Wanderschaft begleitet.
Ich weiß, mein Sterben wird lange dauern, und mein Tod wird grausam sein. Einer der Männer wird mir zu guter Letzt das Herz aus der Brust schneiden – ich kann mir schon denken, wer das ist. Er wird das blutige Organ wie eine Trophäe in die Höhe halten, um es dann zusammen mit meinen Schuhen und einem der Rattenschädel zu verbrennen.
Doch das kann mir egal sein, denn wenn es so weit ist, bin ich bereits tot und liege in meinem kalten Grab.
In einer Minute und fünfzehn Sekunden werde ich mein Schweigen brechen. Dann habe ich genau ein Jahr lang kein Wort gesprochen. Ich werde meine Psychiaterin zu mir rufen und sie bitten, die Polizei zu alarmieren. Sie wird überrascht und verwirrt sein, aber sie wird meinen Wunsch erfüllen.
Zu meiner eigenen Sicherheit verstecke ich die Schere, die ich vorhin dem Assistenten gestohlen habe, in meinem rechten Ärmel. Denn mein poröser Verstand sagt mir, dass ich auf Übergriffe vorbereitet sein muss.
Dann drücke ich auf den Alarmknopf, höre die Sirene und weiß, dass draußen im Korridor eine rote Signallampe aufleuchtet. In exakt vierzig Sekunden stürzen die Pfleger herein, und ich werde schreien. Jawohl, ich werde schreien, und ich werde mich erinnern.
Zehn Minuten, bevor Viktor Maly mit der Schere zustechen würde, saß er schweigend mit dem Chefinspektor der Mordkommission Linz an einem Tisch.
Tony Braun war von Dr. Karen Jansen am frühen Morgen aus dem Bett geklingelt worden. Mit hektischer Stimme hatte sie ihm mitgeteilt, es gehe um Leben und Tod. Ihr Patient Viktor Maly habe zum ersten Mal seit einem Jahr wieder gesprochen. Und er verfüge über eine Nachricht von größter Wichtigkeit für die Polizei und möglicherweise könne diese Information ein Verbrechen verhindern.
Doch seit Braun an diesem Dezembermorgen todmüde in der psychiatrischen Klinik von Linz eingetroffen war, hatte Maly keinen Ton mehr von sich gegeben. In dem karg eingerichteten Zimmer wirkte sein Schweigen genauso düster und bedrückend wie die Wolken, die tief über der Stadt hingen und Schnee ankündigten.
Die Zeit verging, und Braun wurde immer unruhiger. Der Raum war überheizt, und er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Er fuhr sich durch die halblangen dunklen Haare, strich sich über den angegrauten Dreitagebart und tippte ungeduldig mit den Springerstiefeln auf den Boden. Hierherzukommen war vielleicht doch keine so gute Idee gewesen. Welche Information konnte Karens Patient schon für ihn haben?
Sie hatte ihm am Telefon zwar versichert, dass Maly aus psychiatrischer Sicht gesund und darüber hinaus äußerst intelligent sei, doch davon war in diesem Moment nicht viel zu bemerken. Je länger Braun über die ganze Situation nachdachte, desto absurder erschien sie ihm. Natürlich hatte er sich gefreut, Karens Stimme unerwartet und nach all der Zeit wieder zu hören. Und er war neugierig auf die Informationen gewesen, die angeblich von so großer Wichtigkeit für die Polizei waren. Aber vor allem hatte er Karen die Bitte nicht abschlagen können, denn vor ein paar Jahren hatte sie seinem Sohn Jimmy sehr geholfen.
Nach zwanzig Minuten des Wartens war Braun nun aber so weit, dass ihn Karens Patient nur noch nervte. Mit den tiefliegenden dunklen Augen, die wach umherblickten, und den Falten auf der Stirn, die sich wahrscheinlich durch angestrengtes Grübeln über irgendwelche verrückten Botschaften tief in die Haut gegraben hatten, wirkte Maly nicht wie ein typischer Insasse der Psychiatrie. Aber Braun war nicht hier, um über den Wahnsinn des Mannes zu urteilen.
„Danke … dass Sie … gekommen sind.“
Die Stimme von Maly, die urplötzlich erklang, fraß sich kalt und schneidend durch die Stille. In Brauns Ohren mangelte es ihr an jeglicher Menschlichkeit. Es war die Stimme eines Mannes, der von schreckliche Bildern in seinem Kopf gequält wurde, von Bildern, die nach draußen wollten – doch sobald er den Mund öffnete, hatte er sie bereits wieder vergessen. Denn Maly litt an einer retrograden Amnesie und kannte nur seinen Namen, wie Karen Braun bei dessen Ankunft erklärt hatte.
Braun seufzte. „Weshalb wollen Sie mich sprechen?“
„Ich habe … eine Information … für Sie.“ Maly beugte sich vor und schob langsam den rechten Arm über den Tisch, auf Braun zu.
„Was ist das für eine Information?“
„Geduld.“
Maly machte lange Pausen zwischen seinen Worten und Sätzen. Er wirkte wie ein Umherirrender in einer schwarzen Welt, in der nur vereinzelte Lichtpunkte ihm die Richtung wiesen. Braun hatte das Gefühl, als würde sein Gegenüber krampfhaft versuchen, sich an die richtigen Wörter zu erinnern, so als hätte er in dem Jahr seines Schweigens das Sprechen verlernt.
„Sind … wir uns … schon einmal … begegnet?“, fragte Maly.
„Nicht, dass ich wüsste.“ Dieser Mann war Braun gänzlich unbekannt.
„Braun … Der Name … sagt mir etwas. Aber vielleicht … bilde ich mir das auch nur … ein.“
Wieder verfiel Maly in ein dumpfes Schweigen. Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer, während er die Lippen zu einem dünnen Strich zusammenpresste und die Augen zukniff, als wollte er einen winzigen lichten Streifen seiner Erinnerung hinter den Lidern festhalten.
„Wer will Kaffee? Ich hole uns welchen“, versuchte Karen die Atmosphäre ein wenig aufzulockern.
An ihrer Tonlage erkannte Braun, dass ihr die Situation unangenehm war. Am Telefon hatte sie geklungen, als wäre Maly im Besitz brisanter Informationen, jetzt aber erkannte sie wohl selbst, wie wenig glaubhaft das war.
„Kaffee?“, fragte sie erneut und lächelte gequält.
„Ja, warum nicht.“
Braun wandte sich ihr zu und nickte. Seit ihrem letzten Treffen vor vier Jahren hatte sie sich kaum verändert. Noch immer trug sie das braune Haar offen, und ihr leichter Silberblick irritierte ihn wie eh und je.
„Ich mach das!“ Karens Assistent Thomas Just sprang auf und war bereits aus der Tür, noch ehe jemand reagieren konnte.
Maly drehte den Kopf hin und her, als wäre ihm der Kragen seiner weißen Jacke mit einem Mal zu eng. Braun lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er beobachtete den Mann, der noch immer den Kopf von links nach rechts bewegte und dabei die Zähne bleckte, als stünde er kurz vor einem Anfall.
„Die Information hat mich selbst überrascht“, flüsterte Maly und legte dann seine Wange auf die Tischplatte, als würde ihm die weiße Plastikoberfläche die richtigen Worte ins Ohr flüstern. „Plötzlich war diese Botschaft in meinem Kopf. Es klang fast wie ein Befehl.“
„Hm.“ Nur mühsam unterdrückte Braun ein Gähnen. Er fühlte sich schlapp – und auch deprimiert durch die lähmende Atmosphäre in diesem Raum. Die seltsame Euphorie, die ihn auf der Fahrt durch die menschenleeren Straßen von Linz erfasst hatte, war verschwunden. Die Wände des Zimmers schienen zunehmend näher zu rücken und raubten ihm die Kraft zum klaren Denken. Maly hing jetzt beinahe ganz auf dem Tisch und machte den Mund auf und zu, wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Kein Wunder, dass der Typ durchdreht, dachte Braun. In dieser trostlosen Umgebung muss man ja verrückt werden.
„Sie glauben mir nicht“, murmelte Maly. „Sie denken, ich will nur Ihre Zeit stehlen. Aber das ist nicht wahr.“ Er drehte den Kopf, starrte Braun an und schrie auf einmal laut: „Ich beweise es Ihnen!“
In Brauns Kopf klappten die Wände des Zimmers auf wie ein Geschenkkarton, und das Adrenalin durchflutete seinen Körper. Einen Wimpernschlag später war er auf den Beinen, sein Stuhl fiel hinter ihm krachend zu Boden. Doch Maly war eine Spur schneller. Wie ein geübter Taschenspieler ließ er eine Schere aus seinem rechten Ärmel gleiten und stach sich damit völlig unvermittelt in die Spitze des linken Zeigefingers. Obwohl die Wunde tief war, drang kein Laut über Malys Lippen. Blut spritzte auf die weiße Tischplatte, verteilte sich dort und bildete ein abstraktes Muster.
Aus dem Augenwinkel nahm Braun wahr, dass Karen auf den roten Alarmknopf neben der Tür drückte und ihm etwas zurief. Doch ihre Stimme ging in dem schrillen Ton der ausgelösten Sirene unter, die sich wie eine Schraube in Brauns Gehörgang fräste. Er packte Maly am Arm und riss ihm die Schere aus der Hand.
Just, der in dem Moment zur Tür hereinkam, ließ vor Schreck das Tablett mit den Tassen darauf fallen. Wie in Zeitlupe schwappte der pechschwarze Kaffee über den weißen Boden und suchte sich mit langen Fingern zwischen den umgestürzten Stühlen seinen Weg zu Maly, der wimmernd vor der Wand hockte, den blutigen Finger in den Mund gesteckt. Zwei Pfleger stürzten herein, rannten auf Maly zu und packten ihn an den Armen.
„Er will mich umbringen“, jammerte Maly, riss den linken Arm aus dem Klammergriff und fuhr sich mit dem blutigen Finger in Kreisen über das Gesicht. Es sah aus wie ein Clownsmund mit ausgefransten Enden. „Er will mich umbringen“, wiederholte er und deutete mit dem ausgestreckten Finger auf Braun.
„Was wollen Sie damit sagen? Dass Sie sich durch mich bedroht fühlen?“, fragte Braun mit hochgezogenen Augenbrauen. Er hatte den Mann nicht einmal berührt.
„Woher wissen Sie das?“, fragte Maly verwirrt. „Sie … Sie kennen mich also doch …“
„Genug jetzt!“ Karen stieß sich von der Wand neben der Tür ab. Ihr Gesicht zeigte plötzlich einen harten Zug, den Braun gar nicht an ihr kannte.
„Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Braun. Tut mir leid, dass ich dich hierherbestellt habe“, sagte sie resigniert und stellte sich dann vor Maly. „Viktor, was soll das? Reißen Sie sich zusammen!“
„Eine allumfassende Dunkelheit umgibt mich“, brabbelte der vor sich hin. „Ständig muss ich aufpassen, darf niemals die Kontrolle verlieren … Das ist sehr anstrengend.“ Maly versuchte sich erneut aus dem Griff der Pfleger zu winden, doch es gelang ihm nicht.
„Lasst ihn los“, wies Karen die Pfleger an und wandte sich dann an ihren Assistenten. „Gib Viktor bitte eine Spritze, damit er sich beruhigt.“
„Aber natürlich.“ Just öffnete den weißen Metallkoffer, den die Pfleger mitgebracht hatten, und nahm eine Spritze heraus.
„Wie geht es Ihrem Finger?“, fragte Karen, ging neben Maly in die Hocke und trug ein blutstillendes Mittel auf die Wunde auf. „Sie müssen sich jetzt ausruhen. Die Verletzung muss aber nicht genäht werden. Wie sind Sie überhaupt an die Schere gekommen?“
Maly schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“
Karen schickte die Pfleger mit einer ungeduldigen Geste aus dem Raum und begann damit, einen Verband um Malys Fingerkuppe zu wickeln. „Braun, ich hab doch gesagt, du sollst verschwinden.“
„Halt! Er muss bleiben“, stammelte Maly und schüttelte ihre Hand ab. Langsam rappelte er sich hoch. „Ich muss die Information weitergeben.“
„Ich kann das nicht zulassen.“ Karen erhob sich und stellte sich vor ihren Patienten.
„Auf … auf meine Verantwortung.“ Maly klang erschöpft. Wie in Zeitlupe schob er sich die weiße Tapete entlang, verschmolz mit ihr, wirkte mit seiner hellen Kleidung und dem bleichen Gesicht beinahe wie eine geisterhafte Erscheinung. „Sie wollen mich schlagen“, flüsterte er beinahe unhörbar und blickte Braun dabei unverwandt an.
Der trat ganz nahe an Maly heran, atmete dessen Geruch ein und fühlte sich sofort verseucht, vergiftet. „Was haben Sie gesagt?“
„Sie wollen mich schlagen! Sie haben Ihre Aggressionen nicht im Griff.“ Maly drehte sich zu Just um, der gerade in Richtung des Patienten gehen wollte, um ihm die Injektion zu verpassen.
„Moment, warten Sie mit der Spritze!“, rief Braun.
Gespannt blickte er in Malys Gesicht, aber dessen Miene war schon wieder undurchdringlich. Braun seufzte. Er hatte in seiner Karriere schon einige irre Typen kennengelernt. Oft gaben sie sich kühl und souverän, aber in ihrem Inneren brodelte es. Und irgendwann explodierte dann das Ganze und endete in einer Katastrophe. Maly war eine tickende Zeitbombe.
„Als verantwortliche Psychiaterin muss ich dieses Gespräch jetzt abbrechen“, meldete sich Karen zu Wort.
Maly hob den Kopf und blähte die Nasenflügel, beinahe so, als wollte er die Worte seiner behandelnden Ärztin inhalieren. Dann räusperte er sich, packte plötzlich Brauns Arm und drückte ihm ein zusammengeknülltes Stück Papier in die Hand.
„Loslassen!“, zischte Braun überrascht und stieß Maly zurück.
„Braun, raus jetzt!“ Karen ging dazwischen und winkte Just zu sich.
„Nein. Nein! Das ist doch die Botschaft.“ Maly wich zurück, bis er gegen sein Bett stieß. Kraftlos ließ er sich auf die Matratze fallen. „Das ist Ihre Information“, flüsterte er.
Braun faltete den Zettel auseinander und drehte sich ratlos zu Karen um. Doch sie erwiderte seinen Blick nicht.
„Geh jetzt endlich“, sagte sie stattdessen gereizt.
„Was ist das für ein Fleck auf dem Papier?“, fragte Braun Maly. „Ist das Ihr Blut?“
„Alles, was ich sehe, ist ein schwarzer Abgrund, an dessen Rand ich mich entlangtaste.“ Der weiße Verband über Malys linkem Zeigefinger färbte sich bereits wieder blutig rot. „Ich kann mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen bin, oder sehen, wie ich dieses Dunkel jemals wieder hinter mir lasse.“
„Was sind das für Zahlen auf dem Zettel, und von wem stammt das Blut?“, wiederholte Braun, und diesmal klang er noch ungehaltener.
Maly hielt die Augen geschlossen, als würde er schlafen, doch Braun war sich sicher, dass er jedes Wort genau verstanden hatte. Er sollte recht behalten.
Der durchgeknallte Kerl drehte den Kopf, ohne seine Augen zu öffnen, und sprach wieder genauso stockend wie zu Beginn: „Das … sind Fragen, die wir … uns für später … aufheben sollten.“
Braun hatte eine böse Vorahnung, als er im Park ankam. Malys bizarres Verhalten hatte ihn zwar ziemlich befremdet und, wenn er ehrlich zu sich selbst war, auch genervt. Trotzdem riet ihm sein Bauchgefühl, Malys Andeutungen und den mysteriösen Zettel ernst zu nehmen und nicht als bloßen Irrsinn eines Durchgeknallten abzutun.
Er fischte sein Handy aus der Hosentasche und betrachtete erneut das Bild des Zettels: links ein Blutstropfen, rechts eine Zeichnung und daneben eine achtstellige Ziffernreihe. Noch in der psychiatrischen Klinik hatte Braun das Papier fotografiert und an seinen IT-Spezialisten Jan Faber gemailt.
Jan war ein Ex-Häftling im Rollstuhl, der freiberuflich als Berater für Brauns Abteilung arbeitete. Mit seiner unkonventionellen Vorgangsweise hatte er ihnen schon öfter gute Dienste geleistet – das hatten Brauns Vorgesetzte bereits mehr als einmal widerwillig zugeben müssen. Jan hatte natürlich nicht lange gebraucht, um die Zahlenfolge zu entschlüsseln.
„Es sind Koordinaten“, antwortete er Braun nur Minuten, nachdem dieser die Mail losgeschickt hatte.
„Koordinaten?“
„Richtig, Sherlock“, lachte Jan. „Das sind Zahlen von null bis neun, die dazu dienen, einen bestimmten Punkt auf der Erdoberfläche zu lokalisieren. Alles klar?“
Braun grunzte zustimmend und unterbrach Jan nicht weiter.
„Die Zeichnung auf dem Zettel passt übrigens genau zu dem Ort, den die Koordinaten beschreiben. Es soll wohl eine Parkbank sein.“
„Was du alles weißt“, brummte Braun.
Jan lachte wieder. „Wenn du das nächste Mal bei mir bist, alter Mann, erkläre ich dir, was Google Streetview ist, okay? Dein Viktor Maly hat mich übrigens ziemlich neugierig gemacht, ich sehe zu, ob ich etwas über ihn im Netz finden kann.“
Jan hatte recht gehabt. Die Koordinaten hatten Braun in den weitläufigen Park direkt an der Donau geführt. Dichter Nebel lag noch über der Stadt, nur manchmal durchbrach eines der vorbeifahrenden Flussschiffe die undurchsichtige Welt, während es langsam auf dem Wasser dahinglitt. Auch der Park selbst wirkte düster und abweisend. Obwohl es noch nicht einmal acht Uhr morgens war, herrschte rege Betriebsamkeit auf den Straßen, und auf der Nibelungenbrücke gleich neben dem Park stauten sich schon jetzt die Autos. Wie graue Wesen aus einer Zwischenwelt hasteten die Passanten auf ihrem Weg zur Arbeit an Braun vorbei. Alle schienen unter Zeitdruck zu stehen, die Hektik war geradezu greifbar.
Braun blieb am vorderen Eingang des Parks stehen und sah sich um. Bänke gab es jede Menge. Sie standen zu beiden Seiten eines gekiesten Gehwegs, der wie eine große liegende Acht den schmutzig braunen Rasen zerteilte und zur Donau hin steil abfiel. In einiger Entfernung, auf einer Bank direkt an der Böschung, saß eine junge Frau, neben sich einen Kinderwagen. Schräg gegenüber, auf der anderen Seite eines froststarren Blumenbeets, sah Braun einen Mann und eine Frau sitzen. Wahrscheinlich ein altes Ehepaar, denn sie trugen die gleichen Windjacken und wirkten sehr vertraut miteinander. Sie unterhielten sich angeregt und blickten dabei ständig zu der jungen Mutter mit dem Kinderwagen.
Braun ließ den Blick schweifen. Unter einer Parkbank am anderen Ende des Kieswegs wickelte sich gerade ein Obdachloser aus einer alten Abdeckplane und sah sich mehrmals nach allen Seiten um. Er trug einen dicken verschlissenen Wintermantel und hatte einen verbeulten Einkaufswagen neben sich stehen, der bis oben hin mit seinen Habseligkeiten gefüllt war. Unvermittelt ließ er sich von der Sitzfläche gleiten, kroch auf allen vieren hinter die Parkbank und schien fieberhaft den Boden nach etwas abzusuchen.
Braun konnte nicht erkennen, was es war, aber es genügte ihm, den Obdachlosen näher in Augenschein zu nehmen. Er beobachtete, wie sich der Mann wieder aufrichtete und irgendeinen Gegenstand sorgfältig in seine Manteltasche steckte. Was hat er dort hinten aus der Erde gebuddelt?, dachte Braun. Plötzlich schien es der Obdachlose ziemlich eilig zu haben – wahrscheinlich hatte er mitbekommen, dass Braun ihn observierte.
„Warten Sie einen Augenblick!“, rief Braun und lief über die steinhart gefrorene Wiese auf ihn zu. Der Nebel legte sich wie ein feuchtes Tuch über sein Gesicht, während er das Tempo anzog.
Der Obdachlose begann, mit seinem Einkaufswagen loszurennen, aber die kleinen Räder verkeilten sich zwischen den Kieselsteinen des Gehwegs, der Wagen machte durch den Schwung eine halbe Drehung und kippte dann vornüber, was auch den Mann zu Fall brachte. Braun konnte nur noch seine Umrisse erkennen, hörte aber plötzlich ein markerschütterndes Geheul, das langsam in ein schrilles Kreischen überging. Kam es von vorn, von dem Penner? Es war fast so, als würde der Nebel nicht nur die Menschen verschlucken, sondern auch all ihre Laute und Äußerungen zu einem undefinierbaren akustischen Brei verwandeln.
Als Braun den Obdachlosen erreicht hatte, sah er, wie dieser inmitten seiner Habseligkeiten lag und wild mit den Armen durch die Luft ruderte. Er bückte sich zu dem Mann hinunter und klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Ich will doch nur mit Ihnen reden“, sagte er, aber der Mann schien ihn nicht zu hören, sondern schlug weiter um sich.
„Stehen Sie endlich auf!“ Braun atmete tief durch und zerrte den Obdachlosen an seinem Mantelkragen hoch. Der Mann verströmte einen abstoßenden Gestank nach Schnaps und ungewaschenen Klamotten, die nur durch den intensiven Marihuana-Geruch abgemildert wurde, der von ihm ausging. Im krassen Gegensatz zu der abgerissenen Kleidung und den widerlichen Ausdünstungen war das Gesicht des Obdachlosen glatt rasiert, und er sah auch relativ jung aus. Auf Braun wirkte der Obdachlose wie jemand, der mit dieser Turbo-Gesellschaft nicht klar gekommen und deshalb unter die Räder geraten war.
„Machen Sie jetzt kein Theater! Ich will nur wissen, was Sie da haben“, versuchte Braun die ganze Angelegenheit abzukürzen, denn der Mann tat ihm insgeheim leid.
Doch der Obdachlose steigerte sich immer weiter in seine Panik hinein, die in einem lang gezogenen, verzweifelten Schrei gipfelte, bei dem Braun das Blut in den Adern gefror.
Durch den Lärm, den der Penner mit seiner Brüllerei veranstaltete, war das Baby im Kinderwagen aufgewacht und begann nun ebenfalls herzzerreißend zu schreien. Warum kümmert sich die Mutter nicht um ihr Kind?, fragte sich Braun. Den Krach hielt ja kein Mensch aus.
Er ließ den Obdachlosen los und tat ein paar Schritte zurück, um zu erkennen, was oben auf der Böschung los war. Undeutlich sah er, dass der Kinderwagen durch das strampelnde und wimmernde Baby bedenklich zu wippen begonnen hatte und langsam die Böschung hinunter zur Donau rollte.
Wieso reagierte die Mutter nicht?
„Halt endlich die Klappe!“, herrschte er den Obdachlosen an, der jetzt völlig weggetreten war, laut eine Melodie summte und sich mit den Fäusten auf die Brust schlug.
Der Kinderwagen hatte inzwischen Fahrt aufgenommen. Er war ein Modell mit dicken Reifen, das man sogar beim Joggen mitführen konnte. Das Baby brüllte und strampelte, sodass der Kinderwagen noch schneller den Abhang hinunterrollte – direkt auf den breiten Fluss zu. Gierig leckten die schwarzen Wellen am Ufer, schienen nur darauf zu warten, den Kinderwagen mitsamt dem Baby zu verschlingen.
„Stoppt den Kinderwagen!“, rief Braun einigen vereinzelten Passanten auf dem Uferweg zu, die dick vermummt vorbeieilten, während er lossprintete. Aber in dieser nebeligen Parallelwelt hörte ihn niemand, und niemand reagierte.
Er hastete über die Wiese auf die Böschung zu, konnte nur knapp einem Radfahrer ausweichen und rannte den Weg hinunter, der direkt am Kunstmuseum vorbei zu einem Anleger für Ausflugsschiffe führte. Der Kinderwagen holperte bereits über den rissigen Beton des Anlegers und prallte gegen einen Poller, der die Fahrt etwas abbremste. Doch er begann bedenklich zu schlingern und drohte mit dem schreienden Baby umzukippen, aber Braun sprang rechtzeitig nach vorne und hielt den Wagen auf, bevor er ins Wasser stürzen konnte.
„Alles in Ordnung, mein Kleines.“ Mit einer Hand strich er sanft über die pfirsichzarte Wange, aber das Baby brüllte umso heftiger. Wahrscheinlich hatten es die eiskalten Finger von Braun erschreckt. Deshalb schob er den Kinderwagen schnell die Böschung hinauf und bemerkte im selben Augenblick, in dem er oben ankam, dass der Obdachlose dabei war abzuhauen. Er hatte all seine Habseligkeiten wieder eingesammelt und in den Einkaufswagen gestopft.
„Mann, du nervst“, seufzte Braun.
Aber im Moment war das Baby wichtiger. Langsam schälte sich die Parkbank aus dem Nebel, als Braun, den Kinderwagen vor sich herschiebend, darauf zusteuerte.
„Sind Sie die Mutter?“, fragte er, aber die Frau auf der Bank schien ihn nicht zu hören. „Hallo? Warum kümmern Sie sich nicht um Ihr Baby?“ Verständnislos stand Braun vor der Mutter, die ihn immer noch ignorierte. Im grauen Licht des Morgens wirkte ihr zusammengesunkener Körper merkwürdig konturenlos.
„Uns ist auch schon aufgefallen, dass sich die Frau gar nicht mit ihrem Baby beschäftigt“, hörte Braun eine dünne Stimme hinter sich.