Rauch über Schloss Hartheim - Katharina Kutil - E-Book

Rauch über Schloss Hartheim E-Book

Katharina Kutil

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Beschreibung

Katharina Kutil ist Schriftstellerin, freischaffende Regisseurin und Schauspielerin in Österreich und Deutschland. 1970 in Wien geboren, wo sie auch heute lebt. Ihren Berufen gilt ihre ganze Leidenschaft. Privat liest sie viel und gerne, liebt Tiere und die Natur. Sie erhielt einen/den Preis des Literaturwettbewerbs vom Lions Club Hamburg Moorweide 2017. Außerdem wurde sie Preisträgerin im DramatikerInnen Wettbewerb - Text in Szene - 2015 mit - Nicht gesellschaftsfähig -. Sie publizierte zahlreiche Bücher u.a. in der Rosa Blau-Krimireihe im Brighton Verlag.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel

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1.

Das satte Grün der Wiesen und Felder zog an ihm vorbei. Der Himmel war strahlend blau, die Sonne spielte in den Blättern der Bäume und warf seltsame Schatten auf den Boden, so als ob ein Maler zu seinem Zeitvertreib den Pinsel machen ließ, was er wollte. Die Natur gab ein kräftiges Lebenszeichen von sich, einladend, sanft, wohltuend nach dem langen, kahlen Winter, der mit seiner Eintönigkeit alle Lebensgeister erlahmen ließ. Der Autobus, der eigens für die Klassenfahrt angemietet worden war, hielt vor dem schön restaurierten Schloss, Frau Professor Schubert erhob sich und nahm das Mikrophon des Busfahrers zur Hand: „Bleibt bitte noch sitzen, denn bevor wir das Schloss besichtigen, möchte ich Euch noch einige Details über Hartheim erzählen. Im Jahr 1898 überschrieb der damalige Besitzer Camillo Heinrich Fürst Starhemberg das Schlossgebäude, die Nebengebäude und einigen Grund dem Oberösterreichischen Landeswohltätigkeitsverein. Durch weitere Spenden war man in der Lage, eine seiner Zielsetzung entsprechende – wie man es damals nannte – „Idioten-Anstalt“ zu errichten. Daraufhin wurden zwischen 1900 und 1910 umfangreiche Restaurationen und Anpassungen vorgenommen, um das Gebäude als Pflegeanstalt für geistig behinderte Menschen nutzen zu können.

Im Frühjahr 1939, also nach der Machtübernahme Adolf Hitlers, wurde der Landeswohltätigkeitsverein aufgelöst. Der Pflegebetrieb wurde aber vorerst weiter aufrechterhalten. Erst im März 1940 wurden die Pfleglinge und das Personal verlegt, um das Heim zu einer Euthanasie-Anstalt umzubauen. Das äußere Erscheinungsbild des Schlosses blieb davon unberührt. Im Erdgeschoss des Ostteils wurden eine Gaskammer, der Leichenraum und ein Verbrennungsofen errichtet. Als man damit fertig war, begann eines der grauenvollsten Kapitel des Dritten Reiches. In Schloss Hartheim wurden im Rahmen der Aktion T4 im Schnitt 20 bis 60 Menschen pro Tag getötet und verbrannt, nach sechzehn Monaten belief sich die Zahl der Opfer auf 18.269 Personen. In der Euthanasieanstalt arbeiteten während der Zeit der Aktion T4 ungefähr 70 Personen, die meisten von ihnen wohnten auch im Schloss. Die Tötung fiel in die Zuständigkeit der Mediziner, der Gashahn der Gaskammer musste laut Vorschrift von einem Arzt bedient werden. Das war aber nicht immer der Fall. War keiner der Ärzte anwesend, so kam es nicht selten vor, dass auch das Pflegepersonal oder einer der Heizer den Gashahn aufdrehte. Nun stehen wir wieder vor der Frage, die wir uns schon beim Thema Konzentrationslager gestellt haben: Wie konnten Menschen in solchen Anstalten – und Hartheim war nur eine von vielen – einer solchen „Arbeit“ nachgehen, wie konnten sie es vor sich selbst verantworten, was sie tagtäglich an Verbrechen begingen, dass sie Unschuldige bewusst töteten, weil man diese als sogenanntes „Unwertes Leben“ bezeichnete? Bis heute forscht man in dieser Richtung, aber es wird immer schwieriger, konkrete Antworten zu finden, denn es leben kaum noch Zeitzeugen und wenn sie an solchen Gräueltaten beteiligt waren, wollen einige dies nicht zugeben und behaupten, es sei alles ganz anders gewesen oder sie könnten sich nicht erinnern. Und das obwohl es genügend Beweise für diese schrecklichen Taten gibt. Natürlich tat die NS-Führung einiges, um den Angestellten das Wegsehen zu erleichtern. Alkohol wurde reichlich ausgeschenkt, es gab gemeinsame Kinoabende und Ausflüge – in denselben Bussen, in denen die Opfer in die Tötungsanstalt gebracht wurden. Die gute Bezahlung mag verlockend gewesen sein. Der Frauenanteil der Belegschaft war groß – es gab auch Pärchen in der Belegschaft, sogar Ehen wurden geschlossen. Rekrutiert wurde das Pflegepersonal meist über das Arbeitsamt.

Die Professorin sprach noch weiter – über die Gedenkausstellung „Wert des Lebens“, doch Pascal hatte seine Ohren auf Durchzug gestellt. Er ertrug diese Einzelheiten nur schwer und bei dem Gedanken, die Gedenkstätte Hartheim zu besuchen wurde ihm übel. Er hatte Angst davor. Und er verstand nicht. Wie konnten Menschen so grausam anderen gegenüber sein? Es überstieg alles Fassbare, Pascals Fantasie reichte nicht aus, um Erklärungen zu finden. Gab es überhaupt Argumente, die diese Gräueltaten logisch verständlich machten? Diese Verrohung der Menschen war etwas, das Pascal zutiefst ängstigte und eines war ihm klar – es konnte wieder geschehen. Was heißt „konnte“? Es geschah doch schon wieder, dass Menschen weggesperrt und gefoltert, auch ermordet wurden, weil sie anderer Gesinnung waren, weil sie ihre Meinung gegen eine diktatorische Regierung laut ausgesprochen hatten. Auch wenn er in seinem Geschichtsbuch zurückblätterte gab es keine Anzeichen, dass der Mensch jemals im Stande war, andere einfach sein zu lassen. Wenn jemand gegen den Strom schwamm, sich nicht der Masse anschloss, war er verdächtig. Eigentlich hatte die Menschheit nichts aus der Geschichte gelernt. Nachdenklich betrachtete er den leeren Platz neben sich. Diese Welt war so laut, so schnell und sehr oft auch zu aggressiv. Manchmal ertrug Pascal es nicht mehr und musste sich für einige Tage ganz zurückziehen, nur für sich sein, weil ihm diese Welt zu viel wurde. Wenn er so nachdachte … es sah nicht so aus, als hätte es die so oft erwähnte „gute alte Zeit“ wirklich gegeben. Die Wahrheit sah doch so aus, dass man heute alles mitbekam, was geschah – ob man wollte oder nicht. Alle Medien – Radio, Fernsehen, Internet – beschallten die Menschen, es gab kein Entkommen. Früher, da las man in der Zeitung, wenn man wollte, man konnte wählen, was man wissen wollte und was nicht – dadurch kam einem die Welt wohl besser vor als sie war, weil man nicht alles wusste. Pascal rieb sich nervös die Hände, er fühlte sich sehr unbehaglich, fast so als würde er eine Grippe bekommen. Um der heutigen Klassenfahrt zu entgehen, hatte er seine Eltern sogar gebeten, ihm eine Entschuldigung zu schreiben. Magen-Darm-Grippe hatte er vorgeschlagen, das war etwas, das man einfach so bekommen konnte und das schnell wieder verschwand, also eine gute Ausrede für ein kurzes Fernbleiben vom Unterricht. Er hatte versucht seinen Eltern klar zu machen, dass ihm die Aussicht, an einen Ort zu fahren und da herumzugehen wie ein Tourist, an dem tausende Menschen qualvoll umkamen einfach zu viel war. Er spürte die Ablehnung körperlich. Leider waren seine Eltern nicht zu überzeugen, ja, sie konnten nicht begreifen, was Pascal so fürchtet, dass ihm schlecht wurde. „Pascal“, hatte sein Vater gesagt und war ihm dabei mit der Hand durch sein dichtes, schwarzes Haar gefahren, „es ist wichtig, sich dieser Vergangenheit zu stellen und sie niemals zu vergessen. Nur so können wir verhindern, dass Derartiges wieder geschieht.“ Pascal verdrehte innerlich die Augen. Wie oft hatte er das schon gehört und gelesen? Man musste sich doch nur in der Welt umsehen um zu wissen, dass alles Mahnen, jedwede Aufarbeitung, die Erinnerungen der Opfer der Nazigrausamkeiten zu nichts anderem geführt hatten, dass die Menschen einfach weitermachten, als ob nichts geschehen wäre. Es gab noch immer oder schon wieder Antisemitismus, Rassismus – das Morden nahm kein Ende. Wie konnte sein Vater davor die Augen verschließen?

„Aber es geschieht doch schon längst wieder, dass Menschen in Lager gesperrt werden.“

„Ich weiß. Umso wichtiger ist es, dass man die Jugend aufklärt. All dieses Leiden und Morden darf sich nicht wiederholen. Und darum möchte ich, dass du mitfährst.“

Widerwillig hatte der achzehnjährige Pascal seinen Rucksack genommen und trottete in Richtung Schule. Er könnte immer noch schwänzen – und dann sagen, er hätte den Bus verpasst. Irgendetwas würde ihm schon einfallen. Er kam aus einer Familie, in der es keine Nazis gegeben hatte. Eine Großtante, die Pascal aber nicht mehr kennenlernte, versteckte sogar eine jüdische Familie während der NS-Zeit. Nein, er musste sich seiner Vorfahren nicht schämen, sie hatten sich im Kleinen widersetzt, hatten getan, was möglich war, ohne selbst verhaftet oder womöglich hingerichtet zu werden. Manchmal fragte sich Pascal, wie er damals wohl entschieden, gehandelt hätte? Mit dem Wissen im Nachhinein … selbst damit konnte er sich nicht sicher sein. Wenn alle um einen herum … wenn ein ganzes System im gleichen Schritt marschierte … Hätte er den Mut gehabt: „Nein!“ zu rufen? Mit Schaudern musste er an die Geschwister Scholl denken. So jung, so mutig und bereit, ihr Leben zu geben. Mit Flugblättern kämpften sie im Deutschland der 1940er Jahre gegen das Nazi-Regime und die Politik Hitlers – dafür wurden sie 1943 zum Tode verurteilt. Stimmen, die nie hätten verstummen dürfen und gerade in der heutigen Zeit sollten sie wieder gehört und auf keinen Fall vergessen sein. Wieviel Mut es dazu brauchte, sich in Hitlers totalitärem und tödlichen System gegen eben dieses zu stellen, konnte Pascal nicht ermessen, es überstieg bei weitem seine Vorstellungskraft. Er blickte wieder auf den leeren Sitzplatz neben sich. Sie fehlte ihm. Wäre sie hier, mit ihr hätte er darüber sprechen können und vermutlich hätte sie ihm mit einer Ausrede geholfen, die so gut durchdacht war, niemand hätte etwas dagegen sagen können. Doch sie war nicht hier, eine Tatsache an die Pascal sich schwer gewöhnen konnte. Seine engste Vertraute … einfach fort.

„Pascal!“, hörte er die Stimme seiner Professorin und musste feststellen, dass er so in Gedanken versunken war, dass er nicht bemerkt hatte, dass seine Klassenkameraden schon ausgestiegen waren und er alleine im Bus saß. Er eilte den anderen hinterher, einen Kloß im Hals vor lauter Unbehagen, was er nun wohl zu sehen bekommen würde. Zu Pascals Erleichterung begannen sie nicht gleich mit der Führung, so hatte er ein wenig Zeit, sich an die beklemmende Atmosphäre, die immer noch im Schloss herrschte zu gewöhnen. Ein älterer Herr führte die Schüler in einen Raum, in dem Stühle und ein Fernseher standen und meinte, als Einleitung wäre es immer gut, sich die 30minütige Dokumentation „Hartheim – behindert, ausgegrenzt, getötet“ anzusehen. Und damit startete er den Film. Die Klasse hörte aufmerksam zu – bis auf die üblichen Störenfriede, die einfach nicht ihren Mund halten konnten und Scherze machten. Frau Professor Schubert wies sie scharf zurecht – dann war es still. Die Dokumentation über die Tötungsanstalt Hartheim war sachlich, aber eindringlich und Pascal folgte ihr gespannt. Eigentlich lag ihm das Thema Euthanasie nicht, es bereitete ihm Übelkeit, schreckte ihn ab. Er fand es zu entsetzlich, um sich damit auseinanderzusetzen. Selbst besagte Tante erzählte erst nach dem Krieg ihrer Familie von den versteckten Juden – davor wäre es zu gefährlich gewesen, ein falsches Wort und alles hätte auffliegen können – doch wenn man nichts davon wusste … Hundertprozent glaubwürdiges Dementi. Wie schlimm musste es sein, wenn man wusste, dass man jemanden in der Familie gehabt hatte, der zum Beispiel bei der SS war? Doch er schweifte ab, konzentrierte sich wieder auf die Dokumentation und es lief ihm kalt über den Rücken: Wenn die Opfer in Schloss Hartheim angekommen waren, mussten sie sich ausziehen und an einem Arzt vorbeimarschieren. Dieser sah ihnen in den Mund und wenn sie Goldzähne hatten, markierte er sie und dann schrieb er bereits irgendeine Todesursache auf einen Meldebogen. Diese angebliche Todesursache wurde dann den Verwandten schriftlich mitgeteilt. Die entsetzliche Wahrheit aber war, dass diese armen Menschen, sobald der Arzt mit ihnen fertig war, sofort vergast wurden. Pascal biss sich auf die Lippen. Das war noch schlimmer als er erwartet hatte. Nicht umsonst hatte er sich gegen diese Exkursion gesträubt und hatte nicht mitfahren wollen – seine Augen brannten, er schloss sie für einige Augenblicke. Eine kleine Insel in seinem Inneren gab ihm dann doch die Kraft sie wieder zu öffnen.

Als der Film zu der Stelle kam, an der ein Foto des Anstaltspersonals vor einem der Transportbusse gezeigte wurde – da stockte Pascal das Blut in den Adern. Er spürte, wie ihm schwindlig wurde, sein Atem setzte aus, alles drehte sich um ihn. Das Nächste, an das er sich erinnern konnte war, dass er auf dem Boden lag, seine Klassenlehrerin und einige Schüler hatten sich über ihn gebeugt.

„Pascal, was ist los?“, fragte Frau Professor Schubert besorgt. Doch er war unfähig zu antworten, wollte nur aufstehen und diesen Raum, dieses Schloss verlassen! Man half ihm hoch, wacklig stand er für einige Sekunden auf seinen Beinen – dann rannte er weg. Hinaus! Nur hinaus! Er hört die Stimme von Klaus, der seinen Namen rief, doch die Stimme war so weit entfernt und er konnte nicht zurück, unmöglich. Pascal rannte und rannte, fand den Ausgang, lief weiter, sah in der Ferne einen Wald, dorthin wollte er! Völlig außer Atem erreichte er den Waldrand, ließ sich auf den Boden fallen, vergrub sein Gesicht in dem tröstlich weichen Moos und weinte hemmungslos. Die Minuten vergingen, er konnte sich nicht beruhigen. Irgendwann hörte er, dass in der Ferne sein Name gerufen wurde, aber er reagierte nicht. Niemals und niemandem konnte er erzählen was ihm so den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Und er wusste, er würde diesen Anblick nie vergessen: Einer der Männer auf dem Foto – war sein Großvater.

Es gab nicht den geringsten Zweifel. Pascal kannte die alten Familienaufnahmen ganz genau, denn er hatte sie wieder und wieder angesehen. Die Kindheitsbilder seiner Eltern und die Jugendfotos seiner Großeltern. Und darum wusste er mit absoluter Gewissheit, dass es sich um keinen Irrtum handeln konnte. Sein ganzes Weltbild war von einer Sekunde auf die andere durcheinandergeraten. Alles, woran er glaubte, geglaubt hatte, stand in Frage. Sein Großvater, dieser sanfte und freundliche Mann, war ein Mittäter! Er hatte dazu beigetragen, dass tausende Menschen ermordet worden waren. Menschen, die niemandem etwas getan hatten, auf Hilfe und Mitgefühl angewiesen waren und die in blindem Vertrauen, dass man es gut mit ihnen meinte, in die Gaskammer gingen und dort einen schlimmen, leisen Tod erlitten. Und niemals, nicht ein einziges Mal, hatte er ein Wort darüber verloren! Keine Andeutung, kein Kommentar. Von der NS-Zeit hatte er immer nur als „böse Zeit“ gesprochen und wie schwer es gewesen war, sich diesem totalitären System wenigstens einigermaßen zu entziehen. Alles Lüge! Lüge, Lüge, Lüge!!! Sein geliebter Großvater war schuldig! Geliebter Großvater? Pascal schluchzte erneut auf. Wie konnte er diesen Mann noch lieben? Dieses … Monster! Er erschrak vor seinen eigenen Gedanken.

Sein Opa, der ihm Märchen vorgelesen, stundenlang mit ihm gespielt hatte. Wie war das möglich? Stets wirkte er so ruhig, ausgeglichen und fröhlich – und das mit dieser Vergangenheit im Hintergrund. Unvorstellbar! Hatte die Großmutter davon gewusst? Und Pascals Vater? Hatte der eine Ahnung davon, was sein Vater getan hatte? War Pascal von allen angelogen worden oder hatte der Großvater alle angelogen? Und noch eine Frage tauchte aus der Tiefe seiner Seele auf: Wenn jemand an diesen Verbrechen beteiligt war … wie konnte dieser Mensch mit solch einer Schuld leben? Pascal wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, doch irgendwann fühlte er sich wieder dazu im Stande zurückzugehen. Aber nicht in das Schloss. Nie wieder wollte er Schloss Hartheim betreten. Er kehrte zum Autobus zurück und fand ihn verschlossen vor. Vermutlich war der Fahrer in eines der Gasthäuser gegangen. Pascal war das nur recht. Er wollte nicht reden. So setzte er sich ins Gras, hing seinen Gedanken nach und versuchte zu verdauen, was er gesehen hatte. Wenn sie jetzt da wäre … sie, die einzige Person, die er jetzt sehen, mit der er sprechen wollte. Er betete, dass ihn die anderen, wenn sie zurückkamen, nicht mit Fragen löcherten, ihn in Ruhe ließen – es war ihm unmöglich über diesen Vorfall mit anderen zu sprechen. Musste Pascal aber, als seine Klasse wiederkam. Frau Professor Schubert zog ihn beiseite, seine Mitschüler musterten ihn und tuschelten.

„Was war denn da drinnen los, Pascal?“

Was sollte er sagen? Dass sein Großvater ein Nazi und Verbrecher war? Nein. Dieses schreckliche Geheimnis musste er für sich behalten.

„Es war nur mein Kreislauf, Frau Professor.“

„Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Warum bist du nicht zurückgekommen?“

„An der frischen Luft ging es besser“, log Pascal. Seine Professorin gab sich damit zufrieden, sie bestiegen alle den Bus und traten die Heimfahrt an. Pascal war außerstande, sich an den Unterhaltungen seiner Klassenkameraden zu beteiligen. Schon gar nicht wollte er hören, was sie über Schloss Hartheim erzählten. Er holte seine Kopfhörer aus dem Rucksack und hörte Musik. Wobei er gar nicht richtig hinhörte. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu diesem Foto und zu seinem Opa zurück.

Wieder fiel sein Blick auf den leeren Sitzplatz, der ihm nun noch verlassener vorkam als bei der Hinfahrt. Sie würde ihn verstehen, so wie sie einander immer verstanden hatten. In diesem Augenblick fehlte sie ihm so sehr, dass es körperlich weh tat. Ihm wurde erneut schlecht und er betete, dass er sich nicht übergeben musste. Zum Glück hielt er bis zu Hause durch.

Wortlos betrat er das elterliche Wohnhaus und schlich in sein Zimmer, hoffentlich wollten die Eltern nicht wissen, wie die Exkursion war. Was sollte er denn sagen? Lügen. Warum? Um sich selbst zu schützen? Nein. Um seinen Großvater zu schützen. Aber hatte seine Familie nicht die Wahrheit verdient? Und was war die Wahrheit? Nur einer kannte sie – und er hatte sie sein ganzes Leben lang verheimlicht.

Beim Abendessen war Pascal sehr schweigsam, wich den Fragen der Eltern aus und versuchte krampfhaft seine Nervösität und Angst zu unterdrücken. Trotzdem wippten seine Beine unter dem Tisch rasend schnell auf und ab, seine Finger umklammerten das Besteck so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. Sobald es möglich war, zog Pascal sich bald auf sein Zimmer zurück. Er setzte sich auf sein Bett und starrte auf den Fußboden, folgte mit den Augen der Maserung des Holzes, als wäre sie eine geheime Schrift, in der er die Antwort auf seine Fragen finden würde. Schließlich stand er auf und zog seinen Pyjama an, öffnete weit das Fenster und sog gierig die kühle Nachtluft ein. Dann legte er sich hin, schloss die Augen und hoffte auf die Pause für sein gequältes Bewusstsein durch den gnädigen Schleier des Schlafes, der sich über ihn legen würde. Während so lag und in sich hineinhörte, merkte er, dass sein Herz schneller und schneller schlug. Pascal wälzte sich von einer Seite auf die andere – allein, der Schlaf wollte nicht kommen und ihn erlösen. In seinem Kopf hämmerten dieselben Fragen, die ihn schon den ganzen Tag über verfolgt hatten. Vielleicht war es am besten nicht mehr daran zu denken, es wegzuschieben. Wütend schlug er mit der Faust auf sein Kopfpolster. Was für ein Unsinn! Er konnte doch nicht so tun, als wäre nichts gewesen. Er hatte Fragen, dringende Fragen und er wollte Antworten. Aber würde er den Mut aufbringen, seinen Opa zur Rede zu stellen? Allein die Vorstellung vor ihm zu stehen und mit seinem Wissen herauszuplatzen, kam ihm surreal vor. Es war unmöglich, es war unaussprechbar und unfassbar. Schließlich sah er ein, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde. Bewegung half immer, wenn er sich schlecht fühlte, so stand er auf und schlich sich aus dem Haus in den Garten, dann hinaus auf die Straße.

Nach zwei Stunden kam er wieder zurück, unsagbar müde und erschöpft. Wieder legte er sich ins Bett, schloss die Augen. Er konnte nur warten, dass es Tag wurde und er aus der Dunkelheit ins Sonnenlicht steigen konnte. Wenn es hell war, kam ihm die Welt immer besser vor. Diese Nacht und sein Wissen lagen wie ein tonnenschwerer Fels auf seiner Brust.

Die nächsten drei Tage fühlte Pascal sich einfach nur krank und elend. Er war so in sich versunken, dass er seine Umwelt kaum wahrnahm.

Er dachte stundenlang nach – über das Vergessen zum Beispiel. Das war ein interessanter Gedanke, warf aber neue Fragen auf. Konnte man seine Vergangenheit vergessen? Oder war das eine Verdrängung? Aber man wusste doch über sich selbst Bescheid. Wusste, was man getan, was unterlassen hatte. Es gab Begriffe wie Anstand und Moral. Ethik, Respekt und Würde. War es möglich, all das über Bord zu werfen? Oder legte sich mit dem Alter ein gnädiger Schleier des Vergessens über die eigenen Untaten? Durfte man das zulassen? War es nicht des Menschen Aufgabe der Wahrheit auf den Grund zu gehen? Jetzt, wo sein Weltbild so durcheinandergeraten, alles in Frage gestellt war, musste Pascal wieder Boden unter die Füße bekommen. Es war nun eine Tatsache, dass sein Großvater ihm Werte mit auf den Lebensweg gegeben hatte, die auf Lug und Trug aufbauten. Was war in seinem Opa vorgegangen, dass er zum Mittäter geworden war? Eine einzelne, persönliche Entscheidung? Gruppenzwang? Unwissenheit? Aber als er dann wusste, was in Hartheim geschah – hätte er da nicht reagieren, handeln müssen? Oder hatte der Großvater Angst um sein eigenes Leben gehabt?

Pascal dachte wieder an die Geschwister Scholl. Es war gefährlich anderer Meinung zu sein, überhaupt eine Meinung zu haben. Am besten war doch, mit der Masse mitzulaufen und nicht aufzufallen – in dem Wissen, dass einem Schlimmes drohte, wenn man zu individuell war. Angst ist oft der Ratgeber, auf den man am ehesten hört – obwohl sie ein schlechter Ratgeber ist. Hatte sein Opa Angst gehabt? So hatte er auf dem Foto aber nicht ausgesehen. Er hatte gelacht und der Sprecher sagte, dass die Angestellten von Hartheim gemeinsam mit den AufsehernInnen des KZ Mauthausen in den Bussen, in denen sonst die Opfer transportiert worden waren, Ausflüge gemacht hatten. Die mussten doch gewusst haben, wer sonst in diesen Autobussen saß und was dann mit diesen Leuten passiert war! Und da konnte man feiern und Spaß haben? Was waren das für Menschen? Das fragte Pascal sich wieder und wieder. Konnte man sie noch als Menschen bezeichnen? Hatten alle Leute solche Schattenseiten in sich? Er selbst vielleicht auch? Das mochte er nicht glauben. Und doch war es einfach und sehr verlockend aus dieser Distanz andere zu verurteilen und zu meinen, dass man selbst das Richtige getan hätte. Das Richtige … was war richtig und falsch.

Manchmal tat auch Pascal Dinge, von denen er überzeugt war, dass sie gut und richtig waren. Und danach das große Staunen, wenn sich jemand über sein Verhalten beschwerte. Eigen- und Fremdbild … keine leichte Sache und sie überlappten selten diese beiden Pole.

Nach der Trauer und der Fassungslosigkeit kam die Wut. Eine derart mächtige, brennende, tobende Wut, dass Pascal es schließlich nicht mehr aushielt. Er war angelogen worden und nun wollte er reinen Tisch machen. Sein Großvater war ein sehr alter Mann, wer weiß, wie lange Pascal noch die Möglichkeit hatte, diese Geschichte mit ihm gemeinsam zu besprechen? Gleichzeitig hatte er wieder Angst vor dieser Konfrontation. Nichtsdestotrotz war er sich zu hundert Prozent sicher, dass der Mann auf dem Foto sein Opa war, da gab es keinen Zweifel. Sollte er seine Eltern ins Vertrauen ziehen? Aber wer weiß, was für eine Familienkrise er damit auslösen würde? Oder mit Klaus sprechen? Der würde ihm sicher auch zuhören, doch Pascal wollte nicht, dass jemand davon erfuhr. Nur der einen hätte er sich anvertraut. Der einen, die nicht hier war und die seit Monaten kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte. Nein. Es herrschte Schweigen zwischen ihnen, ein Schweigen, das ihm im Herzen weh tat und von dem er nicht wusste, was es ausgelöst hatte. Doch selbst wenn sie hier wäre … diesen schweren Gang musste er alleine gehen. Es war eine Sache von Mann zu Mann.

Pascal und sein Großvater. Sie hatten diesen Kampf um eine verlogene Vergangenheit auszufechten. Das Wann und das Wie galt es noch zu klären. Doch dieser Entscheidung wurde Pascal enthoben, denn eines nachmittags drückte ihm seine Mutter ein Paket mit drei neuen Hemden in die Hände und bat ihn, sie dem Großvater vorbeizubringen. Sofort zog sich Pascals Magen zusammen. Ja, er wollte die Konfrontation und die Wahrheit, wusste aber eben immer noch nicht, wie er vorgehen sollte. Und so tun, als wäre nichts gewesen, das würde ihm nicht gelingen. Also den Stier bei den Hörnern packen. Er schwang sich auf sein Fahrrad und keine fünfzehn Minuten später stieg er vor Großvaters Haus wieder ab – da öffnete sich bereits die Haustüre und der kleine, alte Mann trat strahlend heraus: „Pascal, Bub, du hast dich ja schon so lange nicht anschauen lassen. Komm herein, ich mache uns einen Kaffee.“

Aber Pascal war nicht in der Lage, auch nur einen Schritt vorwärts zu machen.

„Was ist los mein Junge, du bist so ernst?“

„Ich habe eine Frage an dich.“

„Ja, bitte, du weißt doch, dass du mich alles fragen kannst.“

Jetzt musste Pascal allen Mut zusammennehmen.

„Ich habe ein Foto von dir gesehen.“

„Ja und? Es gibt viele Fotos von mir. Welches meinst du?“

Pascal holte tief Luft – jetzt war es soweit.

„Ich meine das vor Schloss Hartheim.“

„Schloss Hartheim? Sagt mir nichts. Wo soll das sein?“

Wut kam in seinem Enkelsohn auf: „Du weißt ganz genau, wo das ist. Du hast dort gearbeitet. Oder lass es mich genauer sagen. Du hast mitgeholfen sogenanntes „unwertes Leben“ zu vergasen.“

Der alte Mann sah ihn verwundert an: „Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Es gibt dieses Foto und man sieht es in einer Fernsehdokumentation von 1990. Ich habe dich sofort erkannt. Warum hast du nie darüber gesprochen, dass du in einer Tötungsanstalt gearbeitet hast?“

Pascal sah, dass sein Großvater blass im Gesicht wurde und sich an der Hausmauer abstützte.

„Ach, Schloss Hartheim, da bin ich nur ganz kurz gewesen. Das hatte ich schon wieder vergessen.“

„Das glaube ich dir nicht! Wie kann man vergessen, dass man an dieser Vernichtungsmaschinerie beteiligt war? Du hast uns alle angelogen!“

„Mäßige deine Zunge, junger Mann! Ich habe ein anständiges Leben geführt und nichts getan, wofür ich mich schämen müsste.“

„Wie kannst du mit dieser Schuld leben und auch noch so tun, als wüsstest du von nichts?“

„Mein Gott ja, ich habe ein-, zweimal den Bus von denen gefahren, weil ein Chauffeur ausgefallen war. Da ist doch nichts dabei.“

Pascal konnte nicht glauben, was er da hörte. Belog der Mann sich selbst oder nur ihn, seinen Enkel?

„Opa, sag mir die Wahrheit. Was hast du damals getan? Wie lange hast du in Schloss Hartheim gearbeitet? Soweit man so etwas Arbeit nennen kann.“

„Wie meinst du das?“

„Opa, in Schloss Hartheim wurden behinderte Menschen, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge vergast! Und du willst davon nichts wissen?“

„Das ist ein böses Gerücht! Man hat sich in Schloss Hartheim um die Leute gekümmert. Von Vergasungen weiß ich nichts.“

„Das gibt es doch nicht. Zeitzeugen haben in dieser Doku erzählt, dass man es im ganzen Ort gerochen hat, wenn wieder Leichen verbrannt worden sind. Und dass sich alle gewundert haben, dass immer neue Menschen eingeliefert wurden, aber niemals sah man, dass auch jemand wieder entlassen worden war.“

„Alte Lumpen sind verbrannt worden, weiter nichts. Die Leute lügen.“

„Ich glaube, dass du lügst! Du hast uns alle belogen, deine ganze Familie. Und du belügst dich selbst!“

„Pascal, so etwas Schreckliches würde ich nie tun und habe ich auch nie getan. Es gibt nichts, wofür ich mich schämen müsste und ich habe auch noch nie gelogen. Von diesen Verbrechen weiß ich nichts und mir ist nie etwas Verdächtiges aufgefallen. Ja, vielleicht fielen manchmal harte Worte – es war aber auch eine harte Zeit. Doch ich erinnere mich kaum mehr daran.“

„Denkst du denn nie an diese Zeit zurück? Jetzt, wo man die Wahrheit über diese Tötungsanstalten weiß?“

Der Großvater schwieg eine Weile. Dann sagte er leise: „Manchmal kann ich nachts nicht schlafen. Dann liege ich wach und erinnere mich und sage mir genau das, was ich dir eben erzählt habe. Warum bist du hergekommen? Um einem alten Mann ein schlechtes Gewissen zu machen?“

„Für dein Gewissen bist du selbst verantwortlich. Ich bin gekommen, weil Mama dir neue Hemden schickt.“

„Leg sie auf die Bank und dann geh.“ Damit drehte der alte Mann sich um und verschwand in seinem Haus. Pascal tat wie ihm geheißen. Dann radelte er langsam nach Hause. Gedankenverloren. Was sollte er glauben? Immer noch am meisten seinen eigenen Augen, die ihm einen lachenden und zufrieden dreinblickenden jungen Mann auf einem eindeutigen Foto gezeigt hatten.

Pascal kannte sich nicht aus und verstand seine kleine Welt nicht mehr. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sein Opa vergessen hatte, was damals geschehen war. Verdrängt, ja. Aber nicht vergessen. Und wenn er sich nachts seine eigenen Lügen vorsagen musste, so sprach das doch Bände. Wie sollte er nun damit umgehen? Pascal hatte nicht den Eindruck, dass ein weiteres Gespräch mit seinem Großvater zum jetzigen Zeitpunkt irgendeinen Sinn machte. Er ging in den Garten und setzte sich unter den Pfirsichbaum, da wo er so oft mit ihr gesessen und geredet hatte. Sein Kopf wollte schier zerbersten vor lauter quälenden Fragen. Sie hätte ihm geholfen zu verstehen oder nach einer Antwort zu suchen. Pascal legte sich auf den Rücken in das weiche Gras und sah ein paar harmlosen Schäfchenwolken zu, die sich am Himmel zeigten.

Was geschah mit den Dingen, die jemand verdrängte? Sie verschwanden doch nicht einfach, lösten sich nicht in Nichts auf. Was auch immer sein Opa getan hatte, es war in ihm und er lebte seit Jahrzehnten damit. Wie ging das? Vor Pascal tat sich eine Welt von Fragen auf, die ihn verwirrte und durcheinanderbrachte. Er wollte Antworten finden und ihm war klar, dass er das alleine tun musste. Von einem war er felsenfest überzeugt: Nicht verdrängen, nicht vergessen. Erinnerung sollte bewahrt werden. Hinsehen, nicht wegschauen. Da fiel ihm plötzlich ein Gedicht ein, dass ihn, seit er es zum ersten Mal in der Schule gelesen hatte, gepackt und nicht mehr losgelassen hatte. Wie ging es doch gleich? Von dieser Frage getrieben, lief er ins Haus, auf sein Zimmer und blätterte in seinem Deutschbuch. Und da stand es. Der Titel lautete „Gegen Vergessen“, der Dichter war Erich Fried. Immer schon hatten die Gedichte Frieds Pascal begeistert – diese Sprache, die sich in seine Seele brannte, sich mit ihr verwob, diese Worte, die nicht mehr aus seinem Geist entschwinden wollten. Was für ein genialer Mann war das gewesen! Und dieses Gedicht war sein bestes.

Und nicht nur das – in dem Augenblick als er es erneut gelesen hatte, wurde es zu Pascals Antriebsmotor, seiner Triebfeder. Er würde viel lernen und verstehen, tief schürfen müssen. Doch er war bereit dazu. Erinnern und gedenken – ja. Verdrängen – nein! Laut sagte er: „Ich werde mich der Herausforderung stellen.“

Zuerst musste er mehr über die Geschichte von Schloss Hartheim erfahren. Dann über den psychologischen Aspekt von Verdrängen, Vergessen und von Abwehrmechanismen.

Pascal war bereit, in die Abgründe der Seele zu steigen und verstehen zu lernen. Aber war er auch bereit, dem was er als „das Böse“ bezeichnete ins Gesicht zu sehen? Mit einem Wort: das wahre Antlitz seines Großvaters kennenzulernen? Lange dachte er darüber nach, aber ihm wurde immer mehr bewusst, dass er sein nunmehriges Wissen nicht einfach so beiseiteschieben konnte. Jedes Mal, wenn er seinen Opa künftig treffen, ja wenn auch nur die Sprache auf ihn kommen würde, hätte er jenes Wissen und diese entsetzlichen Bilder vor seinen Augen.

Er verstand auch nicht, dass ihm der alte Mann einfach ins Gesicht lügen konnte. Ja, da war jener kurze Anflug von Blässe und das Festhalten an der Hausmauer gewesen. Konnte man das als Schuldeingeständnis werten? Oder war es nur der Schock, dass sein Enkel ihn solcher Taten verdächtigte? Aber das Foto stand als Beweis zwischen ihnen. Und der Großvater hatte auf diesem Bild alles andere als ahnungslos und unbeteiligt ausgesehen. Es war eine Gruppenaufnahme gutgelaunter Menschen. Das war ein Faktum, das nicht von der Hand zu weisen war. Pascal setzte sich an seinen Computer und forschte im Internet nach, was es an Literatur über Schloss Hartheim und Euthanasie allgemein gab. Viele Menschen hatten sich schon damit beschäftigt. Aber waren sie auch Betroffene, so wie Pascal? Er überlegte, ob er sich ein Buch bestellen sollte. Doch schon bei der Vorstellung noch mehr Fakten zu kennen, wurde ihm wieder übel. Andererseits musste er Genaueres wissen, sich damit auseinandersetzen. Es war ihm nicht wohl dabei, aber er bestellte eines der Bücher. Und wenn er schon einmal am PC saß, konnte er doch gleich weitersuchen – er gab das Wort „Verdrängung“ ein. Bei Wikipedia fand er folgenden Eintrag: „Als Verdrängung wird in der Psychoanalyse ein angenommener psychologischer Abwehrmechanismus bezeichnet, durch den tabuierte oder bedrohliche Sachverhalte oder Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung ausgeschlossen würden. Verdrängung wird hier als gewöhnlicher, bei allen Menschen auftretender, Vorgang aufgefasst. Das Konzept der Verdrängung geht auf Sigmund Freud zurück und gilt als zentraler Bestandteil der psychoanalytischen Theorie.“

Von der Psychoanalyse und Sigmund Freud hatte er im Psychologieunterricht gehört. Kein einfacher Stoff, das wusste er noch. Sie hatten die „Wiener Schule“ durchgenommen, was die Bezeichnung für unterschiedliche Richtungen der Tiefenpsychologie war. Die erste Schule war die Psychoanalyse nach Sigmund Freud. Die zweite die Individualpsychologie nach Alfred Adler und die dritte die Existenzanalyse von Viktor E. Frankl.

Adler beschäftigte die Frage, was der Mensch aus seinen Erfahrungen macht. Ja, im Fall von Pascals Großvater war das eine berechtigte, aber irgendwie auch sinnlose Frage. Denn er schien nichts daraus gemacht zu haben. Nun, so überlegte Pascal, könnte man auf die Idee kommen, dass sein Opa deshalb so ein netter und liebevoller Familienmensch war, weil er so Schreckliches mitangesehen hatte und deshalb der Wert und der Zusammenhalt der Familie ihm sehr am Herzen lagen. Möglich wäre es. Blieb aber immer noch die Tatsache, dass er sich bezüglich seiner Vergangenheit in Schweigen gehüllt hatte und auch jetzt noch nicht dazu stand.

Frankls existenzanalytische Psychotherapie sollte dem Menschen helfen mit innerer Zustimmung zum eigenen Handeln und Dasein leben zu können. Hatte der Großvater diesen Weg gewählt? Hatte er reflektiert und seinem Handeln zugestimmt – vielleicht weil er in der damaligen Situation keinen anderen Ausweg sah, als diese Arbeit anzunehmen? Eine Weigerung hätte ihn eventuell in Gefahr gebracht. Aber da blieb dieses Lachen auf dem Foto und das ging Pascal nicht aus dem Sinn. Lachen bedeutet doch, dass man etwas gut und schön findet, sich freut. Es ist etwas Positives, Zustimmendes. Wenn er dienstverpflichtet worden war, hätte er auch „einfach“ seiner Arbeit nachgehen können, obwohl er sie für verwerflich erachtete. Dann hätte er aber wohl auch darüber gesprochen und nicht so ein Geheimnis daraus gemacht. Seine Großeltern hatten sich erst nach dem Ende des Krieges kennengelernt und geheiratet. Die Chance bestand also, dass Oma auch nie etwas davon erfahren hatte.

Die Existenzanalyse kümmerte sich neben der Reflexion der Sinnfindung vermehrt um die Aktivierung der psychischen und personalen Prozesse wie Wahrnehmung, Verarbeitung und Haltung, dem Selbstbezug, der Emotionalität, der Begegnung, dem Dialog und der Person. Ja und der Motivation. Was hatte den alten Mann dazu motiviert mitzumachen? Waren es wirklich Zwang und Angst oder war Pascals Großvater tatsächlich der inneren Überzeugung, dass es so etwas wie ein „unwertes Leben“ gab, welches vernichtet werden musste? Könnte ein reflektierter Mensch mit solch einer Schuld einfach munter in den Tag hineinleben und so tun, als wäre nichts gewesen? Zu viele Fragen und keine Antworten. Pascal hatte sich zwar für diese Themen sehr interessiert, erinnerte sich aber noch gut daran, dass es ihm sehr schwergefallen war, die Auszüge aus Freuds Schriften, die sie damals gemeinsam im Unterricht besprochen hatten, zu verstehen. Trotzdem sagte ihm sein Bauchgefühl, dass er sich diesen Stoff noch einmal näher betrachten sollte. Da war doch, wie hieß es doch gleich, was sie gelesen hatten … „Das Ich und das Es“, genau. Und Anna Freud hatte etwas über Abwehrmechanismen geschrieben. Er stand auf, und durchsuchte seine Unterlagen, fand schließlich die Liste, die