Reden ist Silber, Schweigen ist Quatsch - Elisabeth Bonner - E-Book

Reden ist Silber, Schweigen ist Quatsch E-Book

Elisabeth Bonner

4,8

Beschreibung

Die heile Welt der Liz Berger, ihres Zeichens Schulleiterin einer Grundschule in einem kleinen Bundesland, gerät von einem Tag zum anderen vollständig aus den Fugen: Zuerst erfährt sie von ihrem Schulrat, dass ihre Schule geschlossen werden soll. Dann kehrt ihre Tochter Barbara plötzlich aus den USA zurück weil sie sich mit ihrem amerikanischen Verlobten zerstritten hat. Doch Liz lässt den Kopf nicht hängen: Gemeinsam mit ihren Schulkindern, Eltern und Kollegen kämpft Liz engagiert für ihre Ideen und den Erhalt ihrer Schule. Zu guter Letzt verschwindet Liz' Ehemann Bertram spurlos bei einer Flug-Mission im tiefsten Afrika.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1: Um wen handelt es sich bitte?

Kapitel 2: Die Schule, die lieben Kinder, ihre Eltern und die Nachbarschaft

Kapitel 3: Der liebe Minister ohne Stimme

Kapitel 4: Die liebe Familie

Kapitel 5: Eine liebe Überraschung

Kapitel 6: Liebe Frau Berger – Eine ganz persönliche Sicht

Kapitel 7: Eine Konferenz, die gut verläuft und ihre Folgen

Kapitel 8: Eine Katastrophe kündigt sich an

Kapitel 9: Die lieben Nickels

Kapitel 10: Die verlorene Tochter

Kapitel 11: Eine Gemeinderatssitzung der besonderen Art

Kapitel 12: Ein Brief, die liebe Familie und ein unerwarteter Besuch

Kapitel 13: Lieber Herr Doktor!

Kapitel 14: Die liebe Familie

Kapitel 15: Die Vorbereitung

Kapitel 16: Mit dem Bus in die Hauptstadt

Kapitel 17: Die Elterninitiative

Kapitel 18: Tage voller Angst und eine liebe Überraschung

Kapitel 19: Schlechte Nachrichten verbreiten sich schneller als gute

Kapitel 20: Erleichterung

Kapitel 21: Die liebe Frau Berger hat’s ganz schön schwer!

Kapitel 22: Die einen kommen, die anderen gehen

Kapitel 23: Eine Gemeinderatssitzung mit geheimer Abstimmung

Kapitel 24: Der Gemeinderats-Beschluss

Kapitel 25: Die Idee nimmt Gestalt an

Kapitel 26: Ein ganz normaler Tag

Kapitel 27: Schweigen ist Quatsch

Kapitel 28: Das Leben geht weiter

Kapitel 29: Das große Schweigen

Kapitel 30: Wie gut, dass man Familie hat!

Kapitel 31: Ein Jahr später

Nachwort

Vorwort

Eigentlich hätte ich diese Geschichte als Kriminalroman schreiben können. Das hätte mir aber keinen Spaß gemacht und so habe ich mich entschieden, das Ganze mit Humor zu nehmen.

Es ist ja auch schon fast 10 Jahre her.

Deshalb ist die Story nicht weniger wahr. Es hat sich genau so abgespielt, für die Öffentlichkeit vielleicht weniger spektakulär.

Auch die Personen sind nicht frei erfunden, jedenfalls nicht alle. Jedoch die Namen sind es. Falls sich also jemand angesprochen fühlt, dann ist das einzig und allein sein Problem. Der Name des Bundeslandes, in dem sich meine Geschichte abspielt ist nicht genannt. Der ist auch nicht wichtig, denn es könnte überall, in jedem Bundesland passiert sein.

Wenn eine Schule geschlossen wird, weil es nicht mehr genug Kinder in diesem Dorf gibt, die diese Schule besuchen könnten, dann hat niemand etwas dagegen, wenn sie geschlossen wird. Wenn in einem Bundesland plötzlich aber fast ein Drittel aller Grundschulen zugemacht werden, obwohl noch genügend Kinder in diese Schulen hineingehen würden, dann geht das nicht mit rechten Dingen zu. Es ist auch zudem unverzeihlich, wenn zu Lasten von unseren Kleinen gespart wird.

Aber es ist tatsächlich so geschehen. Die Familie Korny ist nur eine von vielen Familien, die es so erlebt haben, wie hier beschrieben. Die Frau Berger ist auch nicht frei erfunden, denn das bin ich.

Meine Familie ist die beste, die es auf der Welt gibt. Ich kann mich zurücklehnen und sagen:

Leute, so eine Familie, in der man sich so geborgen fühlt, die gibt’s kein zweites Mal. Oder vielleicht doch? In anderer Form, okay.

Jedenfalls, wenn man jederzeit zu einer Mutter hingehen und sich ausheulen kann, dann ist das von großem Vorteil. Vor Allem, wenn man einen Ehegatten hat, der nicht immer zur Verfügung ist, dann auf jeden Fall.

Wenn der Gatte natürlich da ist, dann heule ich mich bei ihm aus. Dann nimmt er mich in seine starken Arme und tröstet mich.

Sorgen hab ich in diesem Zeitabschnitt genug gehabt, um mich bei irgend jemanden auszuheulen.

Zudem habe ich noch eine Schwester, bei der ich bei Gelegenheit mein Herz ausschütte und das, obwohl sie 10 Jahre jünger ist, als ich. Sie schafft es immer, mich zu beruhigen, wenn ich Sorgen habe. Ich hab meiner kleinen Schwester in dieser Hinsicht viel zu verdanken.

Es gibt ja auch noch die beste Freundin, die sich in dieser Phase beklagt hat, dass ich mich nie, aber auch nie melde.

Sie hatte Recht, aber sie hat mich nie fallen lassen.

Danke Mary!

Manche Personen, die sind in diesem Roman frei erfunden. Welche, das verrate ich nicht, das wäre ja auch zu einfach.

Es gibt Menschen in meinem Leben, die sind nicht wegzudenken und denen habe ich Vieles zu verdanken.

Sie haben mir das Gefühl gegeben, dass ich wichtig für sie bin.

Als Schulleiterin hat man ja auch Einiges an der Backe und da braucht man ab und zu mal ein wenig Anerkennung und manchmal auch ein Lob.

Deshalb möchte ich mich ja auch bei der Frau Korny bedanken, die sich in diesem Buch bestimmt wiedererkennt.

Sie ist so eine Person, die mir das Gefühl gibt, wichtig zu sein.

Wenn der jetzige Bildungsminister jedenfalls damals unser Minister gewesen wäre, hätte es diese Geschichte gar nicht gegeben, denn der hätte es niemals zugelassen, dass man 80 Kindern die Schule vor der Nase zusperrt. DER ist jemand, der sich in Kinder hineinversetzen kann und das sollte ein Bildungsminister auch können. Ich bin froh und glücklich, dass es ihn gibt. Endlich kommt unser kleines Bundesland in der Bildung voran!

Alle, die das Buch lesen, wissen genau um welches Bundesland es sich hier handelt und deshalb brauche ich den Namen sowieso nicht zu nennen.

Eines ist sicher: Nach fast 10 Jahren tut’s nicht mehr so weh. Aber immer noch ein Bisschen.

Kapitel 1

Um wen handelt es sich bitte?

Heute ist der 14.November 2006. Ein ganz gewöhnlicher Tag.

Ein ganz gewöhnlicher Tag? Ja, bis gerade eben.

Es ist genau 15.30 Uhr und ich sitze im Sprechzimmer von unserem Schulrat, Dr. Breuer.

„Seit heute Morgen steht es fest: 40% aller Grundschulen im Kreis Bad Wendelshofen werden im nächsten Schuljahr geschlossen. Ja, und Ihre Schule ist leider dabei, Frau Berger. Das tut mir insbesondere deshalb Leid, weil gerade Sie sich mit aller Kraft für die Marienberger Waisenkinder eingesetzt haben. Und nun, da diese Kinder sich gerade in der Nickelshausener Grundschule eingelebt haben, müssen sie schon wieder die Schule wechseln.“, sagt der Herr Schulrat soeben.

Was? Ich traue meinen Ohren nicht. Was hat der Herr Dr. Breuer da gerade zu mir gesagt? Um wen handelt es sich bitte? Welche Schule? Nee, das kann nicht sein! Ich liege bestimmt noch in meinem Bett und träume und wenn ich gleich aufwache, dann ist das alles nicht wahr!

Ich zwicke mir selbst ganz leicht in meinen linken Oberschenkel, so dass es der Herr Breuer nicht sehen kann. Ich sitze ja vor seinem Schreibtisch. Es tut weh.

Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass ich nicht träume.

„Frau Berger? Können Sie mir folgen?“

Die Frau Berger, das bin ich, Liz Berger, seit vier Jahren Schulleiterin der Grundschule in Nickelshausen. Jetzt habe ich eine Mords-Wut im Bauch, so dass ich dem Herrn Schulrat noch nicht mal meine Meinung ins Gesicht schleudern kann. Wenn ich mich richtig aufrege, muss ich den Mund halten, sonst werde ich ausfällig. Deshalb verabschiede ich mich jetzt ganz schnell, murmele etwas von Unpässlichkeit und eile aus dem Sprechzimmer. Der Herr Dr.Breuer ruft mir noch nach:

„Sie können sich an eine andere Schule bewerben, Frau Berger! Frau Berger, hallo... haaloo!“

Auf dem Heimweg, im Auto schimpfe ich die ganze Zeit vor mich hin: „So eine Schweinerei! Na, denen werden wir’s zeigen. Die können nicht so einfach eine Schule schließen, nur weil die Schülerzahl unter 80 sinkt. Nee, das können die nicht einfach so!“ Diese Sätze wiederhole ich ständig. Es beruhigt mich irgendwie, wenn ich schreie und zetere. Ein Mann überquert gerade die Straße auf dem Zebrastreifen vor mir und schaut mich erstaunt an. Der hält mich sicher für verrückt, aber das ist mir im Augenblick ziemlich schnuppe.

„Sind 79 Kinder etwa nix?!“, brülle ich soeben meinem Lenkrad zu.

„Ja, dann können bald nicht mehr zwei Klassen aus einer Jahrgangsstufe gebildet werden. Der Herr Bildungsminister will, dass Parallelkolleginnen eng zusammen arbeiten können. Dann können dieselben Klassenarbeiten geschrieben werden und die Benotung wird untereinander abgesprochen.“, hat der Herr Schulrat gerade eben den hochheiligen Herrn Minister verteidigt.

„Pah, der hat doch keine Ahnung, wie man die Leistung von Kindern beurteilen kann. Der war doch nie Lehrer einer Grundschule und hat null Peilung von kollegialer Zusammenarbeit! Sparen will der, das ist alles. Dieser Futzi!“, rufe ich gerade, als ich die Haustür aufsperre.

„Hast du’s mit mir?“, ertönt es aus der Küche, aus der es übrigens verführerisch lecker duftet. Mein geliebter Mann, Bertram, kocht leidenschaftlich gern und so oft er’s einrichten kann, kocht er etwas Leckeres für mich.

Wenn ich manchmal halbtot auf allen Vieren ins Haus krieche, dann muntert mich allein der herrliche Geruch aus der Küche schon merklich auf. Wenn dann noch mein starker Bär auf mich zukommt und mich in die Arme nimmt, dann geht’s mir schon viel besser. Am besten fühle ich mich nach dem Essen. Meistens bin ich dann wieder topp-fit.

Warum ich meinen Ehemann „Bär“ nenne, ist ganz logisch: Wir haben uns in der Straßenbahn kennen gelernt. Ich war in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn in der Tram unterwegs zum deutschen Museum.

Nach der ersten Station stieg einer ein, der mir im Vorbeigehen mit aller Wucht auf den Fuß trat. Ich schrie auf und schimpfte drauf los. Eigentlich tat ich nur so wütend, damit nicht auffiel, dass ich an der ganzen Sache selbst schuld war. Ich hatte meinen linken Fuß nämlich ganz lässig im Flur abgestellt. Der große Kerl entschuldigte sich ungefähr 1000 Mal und stieg auch noch mit mir an derselben Haltestelle aus.

Er wollte natürlich auch ins Museum und so gingen wir doch einfach zusammen. Dieser bärenstarke Mann gefiel mir, interessierte er sich doch für Kunst und Geschichte, im Gegensatz zu allen anderen Männern, die ich bis Dato kennen gelernt hatte. Die interessierten sich nämlich nur für Autos, Computer und Mädels, in der Reihenfolge. Beim heiteren Berufe-Raten outete mein Begleiter sich als Fliegerarzt der deutschen Luftwaffe, der sich zurzeit beruflich im Bonner Verteidigungsministerium aufhielt. Ich selbst stand kurz vor meinem ersten Staatsexamen und schrieb gerade an meiner Examensarbeit über das Thema ‘Deutsche Kunst und Geschichte der Neuzeit‘.

Dann war es schließlich soweit, dass wir uns gegenseitig vorstellten, und er sagte, dass er ‘Bertram‘ heißt.

Ich brach in Gelächter aus. Er war richtig beleidigt.

Als ich ihm erklärte, dass ich doch gerade einen Bär in der Tram kennengelernt hatte, schaute er mich verständnislos an.

„Überleg doch mal! Tram, wie Straßenbahn. Bär-Tram – Bertram, hi hi hi“, gackerte ich. Da wollte sich Bertram verabschieden. Er fand das gar nicht lustig. Nun war’s an mir, mich 1000 Mal zu entschuldigen.

Er blieb bei mir und es blieb bei ‘Bär‘. Jetzt sind wir 23 Jahre verheiratet, sind Eltern von zwei Kindern, die bereits erwachsen sind. Und er heißt immer noch ‘Bär‘.

Und ich bin immer noch verliebt in ihn wie am ersten Tag. Der Bär mag, genau wie ich, Kinder und Tiere und er besucht noch immer gerne Museen und Theater-Aufführungen mit mir zusammen. Das verbindet.

Als unsere Kinder klein waren, gab’s im Hause Berger Hunde und Katzen gleichzeitig. Von den Kindheitstieren ist noch Zorro, unser Stubentiger übrig geblieben.

Er streicht mir jetzt freudig um die Beine, weil er genau weiß, dass Frauchen sich um ihn kümmert, sobald sie das Haus betritt. Aber heute ist alles anders. Darunter muss nun auch Zorro leiden. Selbst sein lautes Miau wird nicht erhört.

„Was ist los? War nix los im Büro, dass du schon so früh zuhause bist, Puppe?“ „So viele Fragen auf einmal“, schnappe ich. „Hey Puppe, weinst du etwa?“ „Nein“, weine ich. „Ach herrjeh, was ist passiert?“, fragt mein starker Bär und nimmt mich in den Arm. Er weiß, dass ich jetzt erst mal heule, bevor ich ihm von meinem Gespräch mit Schulrat Dr. Breuer berichten kann.

In der Nacht kann ich nicht schlafen. Meine Gedanken wandern zurück zu dem Tag, an dem ich das Schulhaus in Nickelshausen zum ersten Mal als Schulleiterin betreten habe. Ich lächele vor mich hin, als ich daran denke, dass kein einziges Kind im Schulhaus mich auch nur eines Blickes gewürdigt hatte. Meine Vorgängerin hatte mich im Rahmen ihrer Abschiedsfeier den Eltern und Kindern kurz vorgestellt. Wie ich fand, ein ganz klein wenig zu kurz.

Besagte Vorgängerin, Frau Gertrud Bauer war eine hervorragende, äußerst korrekte und gewissenhafte Schulleiterin gewesen. Sie hat alles perfekt im Griff gehabt. Während der Sommerferien war sie zu einem Engel mit Heiligenschein mutiert, glaube ich. Jedenfalls schwebte sie überall hinter, über und vor mir her und flüsterte: „Hab ich das nicht gut gemacht?“ „Ja“, sagten alle Eltern. „Frau Bauer war toll. Besser geht nicht. Und Sie, Frau Berger, schaffen das eh niemals, sooo gut zu sein, wie Frau Bauer.“, klang es aus allen Ecken und Enden. Und tatsächlich bekam ich das zu jeder Gelegenheit zu hören. Selbst der Herr Schulrat rügte mich wegen eines klitzekleinen Rechenfehlers in der Schulstatistik:

„Das wäre Ihrer Vorgängerin nicht passiert, Frau Schulleiterin Berger:“ Der sollte sich doch selbst auf den Arm nehmen, dieser...Er machte sich doch tatsächlich über mich lustig.

Die Kinder, ja die Kinder waren in dieser Beziehung ganz anders. Nachdem ich die Begrüßungsrituale mit ihnen abgeklärt hatte, (Jeden Morgen: Guten Morgen Frau Berger und jeden Mittag: Auf Wiedersehn, Frau Berger) war ich für sie eine vollständig akzeptable Bezugsperson. Schon nach wenigen Wochen war Frau Bauer für sie vergessen. Tut mir Leid, Frau Bauer, aber so sind Kinder eben. Sie können sich schnell an neue Pädagogen gewöhnen.

Die Eltern nun wieder: „Also liebe Frau Berger, Frau Bauer hat viel mehr Hausaufgaben aufgegeben. Wie stellen Sie sich das vor? Mein Kind wird auf dem Gymnasium in ein tiefes Loch fallen.“ „Was für ein Loch?“, frage ich. Darauf konnte mir niemand wirklich antworten. Ich weiß, dass ich allein auf weiter Flur stehe mit meiner Meinung über Hausaufgaben. Meine Meinung ist: Hausaufgaben verderben jegliches Lernen.

Sie sind zum Erbrechen (vornehmes Wort für ‘Kotzen‘) Punkt! Und bei dieser Meinung bleibe ich, solange ich lebe. Zur Begründung könnte ich jetzt mindestens 86 Seiten vollschreiben, aber dazu habe ich keine Lust. Ich bin es leid, mich wegen meiner ‘modernen pädagogischen Ansichten‘ unentwegt zu rechtfertigen.

Bei den Eltern musste ich es jedoch tun und das tu ich auch bis zum heutigen Tag. Sie sahen und sehen es ein, immer wieder...bis zum nächsten Elternabend, wenn das leidige Thema wieder auf der Tagesordnung steht.

Am besten sag ich jetzt nichts mehr, sonst kommt wieder die Wut in mir hoch.

Lieber Erzengel Bauer! Warum hast du so viele Hausaufgaben aufgegeben??? Ach ja, wegen dem Loch, in das die Kinder später nicht reinfallen dürfen. Das Loch, von dem keiner wusste, wie es aussieht, nur dass es tief ist, das wusste jeder. Komisch, die Kinder hatten mit diesem Thema überhaupt kein Problem. Wieso bloß? Aber es gab auch Eltern, die herzensfroh waren.

Zum Beispiel die Frau Korny: „Liebe Frau Berger, endlich kann ich mit meine Kinnern mal was Privates unternemme, gell. (Was immer sie unter ,Privates‘ verstand.) Endlich sitzt mei Mizzi nit stunnelang da und guckt Löcher in die Deck. Die is gradzu unternehmungslustig und mal widder kreativ geworde.

Jetzt malt und bastelt se nachmittags widder stunnelang, gell. So war se vor ihrer Schulzeit. Se is widder fröhlich, mei Mizzi. Das gefällt mir.“

Es gefällt auch mir, so etwas Vernünftiges aus dem Mund einer Erziehungsberechtigten zu hören. Leider, leider gibt es viel zu wenige Eltern, die wissen, dass eine gute Schulbildung nichts mit Hausaufgaben zu tun hat. Und eine Lehrerin, die viele Hausaufgaben aufgibt ist nicht zwingend eine gute Lehrerin. Aber jetzt schlüpfe ich ja schon wieder in die Verteidigungsrolle.

Ach herrjeh! Falls das Wort wieder gebraucht wird, sage ich ‘HA‘ statt ‘Hausaufgaben‘. Dann muss ich dieses Unwort nie mehr erwähnen. Liebe Frau Berger, man soll nie „nie“ sagen!

Die Kinder der Klasse 2a (2a, obwohl‘s seit zwei Jahren schon keine 2b mehr gibt) kommen sehr gerne zur Schule Die brauchen ja morgens nicht zu lügen und Ausreden zu erfinden, warum sie dies oder jenes nicht machen konnten. „Meine Mama hat vergessen, mir die HA in den Ranzen zu tun, weil sie heut Morgen erkältet war.“, oder „Wir waren gestern bei der Oma in Berlin und da hab ich meine HA liegen lassen.“ Ach du je, da seid ihr aber heut Nacht weit gefahren!

Nein, die Kinder brauchen keine Ausreden zu erfinden und wir können gleich mit der Arbeit beginnen und müssen nicht zwei Stunden mit HA-Nachgucken verbringen.

Was manchen Eltern auch nicht passt: Wir versammeln uns jeden Morgen im Kreis und besprechen gemeinsam, was wir an diesem Schultag machen wollen.

Manchmal wird was vorgelesen, manchmal ein Problem besprochen, oder es werden auch freiwillig gemachte HA gezeigt. Ich schaue zu, dass jeder zu Wort kommt.

Schon kurze Zeit nach meinem Start in Nickelshausen können die Kinder sich fabelhaft ausdrücken, ohne dass ich sie beim Sprechen verbessern muss.

„Liebe Frau Berger, Sie verschwenden viel zu viel Zeit mit dem Reden. Die Kinder kommen ja viel zu wenig zum Arbeiten!“ Was verstehen Eltern eigentlich unter ‘Arbeiten‘? HA zeigen? Nee, jetzt bin ich ja schon wieder beim Thema!

„Frau Berger, sie gehen zu oft mit den Kindern raus aus dem Schulhaus. Die lernen ja gar nix. Die sollten besser was arbeiten.“

Muss ich dazu was sagen? Darüber könnte ich ein eigenes Buch schreiben. Will ich aber nicht. Hab ich schon. Ich drücke den Eltern mein Buch in die Hand und schicke sie damit nach Hause. Manche haben es auch gekauft. Daraus entstand gleich das nächste Problem: In meinem Buch habe ich mich in ‘ketzerischer Weise‘ über das Schreiben von Diktaten geäußert. Ich halte das Schreiben und vor Allem das Benoten von Diktaten für kontraproduktiv. Die Kinder sollen doch schließlich die Rechtschreibung erlernen und nicht das Auswendiglernen von Texten zur Vermeidung von Frustration, sprich schlechten Noten. Die Kinder sollen Rechtschreibstrategien erlernen, damit sie nachhaltig rechtschreiben können. Warum versteht das denn eigentlich keiner?

Ich wurde zum Herrn Schulrat zitiert. „Liebe Frau Schulleiterin Berger, mir kommt zu Ohren, dass Sie keinen Wert auf Rechtschreibung legen. Sie hätten das sogar in Ihrem Buch schriftlich dargelegt, sagt man. Ist das wahr?“

Ich blieb eine Weile stumm, sonst wäre ich geplatzt.

Nach einer ziemlich langen Weile antwortete ich: „Lieber Herr Dr. Breuer, zeigen Sie mir bitte die Stelle in meinem Buch, wo ich mich derart geäußert habe!“

Schach matt! Erstens hatte ich ihm nämlich vor geraumer Zeit mein Buch geschenkt. Und obwohl er sich doch sooo dafür interessiert hat, war es ihm zweitens viel zu viel gewesen, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen. Es handelt übrigens von der Lesekompetenz deutscher Schüler. Ha ha ha! Pisa lässt grüßen.

Nun gab es ja nur noch eine einzige klitzekleine Sache, die die Eltern störte: Die Freiarbeit. „Liebe Frau Berger, da dürfen die Kinder ja tun was sie wollen.“ In der Tat, erledigen die Kinder in der Freiarbeit Arbeiten, die sie sich selbst gewählt haben. Das entbindet sie nicht von der Erledigung dieser Arbeit. Ich drückte den Eltern wieder mein Buch in die Hand und hatte bald keine Bücher mehr. Dann lud ich die Eltern zur Freiarbeit ein und sie ließen sich überzeugen. Sie erfüllten an diesem Abend ihre selbstgewählten Arbeitsaufträge mit heller Freude. Die Mehrzahl der Eltern wählten sich sogar mathematische Aufgaben und waren erstaunt, wie schnell die Zeit vergangen war. Plötzlich war es 22 Uhr.

Jeder Einzelne äußerte sich dann noch, wie es ihm während der Arbeit gegangen ist und trug seine Arbeitsergebnisse vor. Manche haben in der Gruppe gearbeitet, manche auch zu zweit oder allein. Alle waren jedoch sehr zufrieden und sagten, dass die Freiarbeit ihnen großen Spaß gemacht hat.

Wer ganz allein hatte jedoch große Bedenken, dass diese Art von Unterricht nicht funktioniert? Der ständig zweifelnde Großpapa, Herr Böck!

Tills Großvater, der Herr Oberlehrer in Mathematik blieb standhaft davon überzeugt, dass sein Enkelsohn Till nichts lernt bei dieser Frau Berger. Herr Böck kam auch bis dato nicht in die Schule, um sich davon zu überzeugen, dass Till doch, und begeistert und gut lernt. Nein, er stänkerte von Anfang an in der Gegend herum und machte ganz Nickelshausen verrückt.

Wieder wurde ich zum Herrn Schulrat zitiert, denn der Herr Ober-Mathe-Lehrer hat einen besonderen Draht zu unserem guten Herrn Dr. Breuer. „Liebe Frau Berger, erklären Sie mir mal bitte, was das Wort ‘Freiarbeit‘ bedeutet!“

Ich kochte. Es kostete mich mehrere Augenblicke, bis ich ihm antworten konnte, ohne ausfällig zu werden. Da ich schon wusste weshalb ich diesmal zitiert wurde.

(Frau Korny hatte es mir vor einigen Tagen geflüstert: „Liebe Frau Berger, da is was im Gang. Der Opa vom Till, sie wisse doch: der Mathe-Lehrer, der erzählt überall im Dorf, dass er beim Schulrat war, wege Ihne.

Ich hab nix gesagt, gell? Ach ja, und übrigens: Meine Mizzi, die is begeistert von de Freiarbeit un von Ihne.

Das wollt ich Ihne schon lang mal gesacht hawwe.“) Ich zückte die Unterrichtsstunden-Beurteilung zu meiner Schulleiterprüfung, die Herr Dr. Breuer selbst angefertigt und mit ‘Sehr gut‘ beurteilt hatte. Sollte der liebe Herr Schulrat bei der Notengebung für diese Unterrichtsstunde geistig umnachtet gewesen sein? Es war dies eine Freiarbeitsstunde, die er daselbst gesehen hatte und ganz begeistert davon gewesen war. Noch immer stumm, legte ich ihm seine Beurteilung auf den Tisch, wo er nachlesen konnte, was er über Freiarbeit geschrieben hatte. Wieder Schach Matt, Herr Schulrat.

Da sagen Sie nix mehr, gell! Er sagte auch dann nicht mehr viel an diesem Tag, außer: „Liebe Frau Berger, das ist sicher ein Missverständnis. Bitten Sie doch einfach einmal alle Eltern in die Schule und erklären Sie ihnen, was Sie unter Freiarbeit verstehen.“

„Lieber Herr Dr. Breuer, das ist bereits geschehen.

Vielleicht ist es nur so, dass ein gewisser Herr Oberlehrer Böck das nicht verstehen will“, konterte ich.

Das hat gesessen.

„Ach, Sie wissen…?“ „Ja, ich weiß“, fiel ich ihm ins Wort. „In Nickelshausen haben sogar die Wände Ohren.“ Nun war unsere kleine Unterhaltung bald schon beendet. Es war dem Herrn Schulrat sichtlich peinlich, dass ich seine Informanten kannte. Ich glaube, er hat sich dann doch noch die Mühe gemacht und mein Buch gelesen, das er ja bereits seit meiner Ernennung zur Schulleiterin in Händen hielt.

„Liebe Frau Berger, mir ist zu Ohren gekommen (Ihm kam immer zuerst alles ‘zu Ohren‘, bevor er es sehen konnte), dass Sie ja eine echte Autorin sind.“, hatte er bei meiner Ernennung versucht zu loben. Gibt’s auch unechte? Nein, das habe ich nicht geantwortet, nur gedacht. Daraufhin hatte er sich sehr interessiert gezeigt, so als wollte er mein Buch lesen. Tja, lieber Herr Schulrat, Pech gehabt. Dann nämlich wurde das Buch (Titel möchte ich an anderer Stelle nennen) ihm großzügig bei nächstbester Gelegenheit geschenkt…und in die Ecke gelegt. Als ich nach diesem letzten ‘zu Ohren gekommen-Gespräch‘ das Büro des Herrn Schulrat verließ, konnte ich nicht umhin, ein wenig Schadenfreude zu empfinden. Das leichte Grinsen auf meinem Gesicht konnte der Herr Schulrat gottseidank nicht mehr sehen. Es verließ mich nicht, bis ich auf meinem Heimweg durch Nickelshausen fuhr, nein, da wurde es noch breiter, das Grinsen. Ach, was für ein schöner Tag! Ich lud abends meinen Bär zum Essen ein.

Wir feierten danach noch ein wenig. Gerne denke ich an diesen Tag zurück. Bei diesem Gedanken dämmere ich auch endlich ein.

Kapitel 2

Die Schule, die lieben Kinder, ihre Eltern und die Nachbarschaft

Ein unheimliches und lautes Brummen reißt mich aus dem Schlaf. „Was ist das?“ Ängstlich hebe ich meinen schweren Kopf und schlage um mich, um dieses nervige Geräusch zu stoppen.

„Es ist der Wecker, Puppe. Du hast heut Nacht kaum geschlafen.“, kommt’s von nebenan. „Als ob ich das nicht auch wüsste.“, brumme ich. Das Aufstehen fällt mir heute Morgen unendlich schwer. Ich habe das Gefühl als hätte ich überhaupt nicht geschlafen. Der Bär wollte aufstehen und für mich Frühstück machen, aber das habe ich ihm untersagt. Ich will ihm ja das Frühstück nicht mit meiner schlechten Laune danken.

Es ist auch sehr kurz ausgefallen, das Frühstück. Eine Tasse Kaffee und eine Banane.

Wenn das die Kinder wüssten! „Gehe niemals ohne Frühstück aus dem Haus, sonst kann dein Gehirn keine Leistung erbringen. Ohne Frühstück zur Schule, das ist wie Joggen gehen und sich vorher mit einem Hammer ins Knie schlagen.“ So was Deftiges verstehen die Kinder gut und merken es sich auch.

„Liebe Frau Schulleiterin, wo bleibt das Vorbild für die Kinder?“, höre ich unseren lieben Herrn Schulrat hinter mir, während ich Banane essend ins Auto hechte.

„Frau Berger, Frau Berger, die wollen unsere Schule zumachen!“ Die Kinder kommen mir schon beim Aussteigen aus meinem PKW entgegen. Sie sind völlig aus dem Häuschen.

„Heut Morgen haben sie’s im Radio gebracht“, meinte die Mizzi. „Die Mama hat sich fürchterlich aufgeregt.“

„Kinder, wir sprechen gleich darüber.“, antworte ich der aufgeregten Kinderschar, die mich bis zu meinem Büro begleitet.

Im Lehrerzimmer herrscht ebenfalls eine große Aufregung. Alle reden durcheinander. Naja “alle“, das ist ein wenig übertrieben. Hört sich nur im Augenblick so an, als wären es viele. Unser Team besteht ja nur noch aus fünf Lehrpersonen. Aber die können ganz schön aufdrehen, wenn’s drauf ankommt. „Da mach ich gar nix mehr“, höre ich gerade Hans Großmann rufen. Der liebe Herr Großmann ist mal wieder ganz groß(mann) im Rebellieren. Ansonsten ist er von Statur ziemlich klein, eher ein Hänschen Kleinmann und macht seinem Namen wenig Ehre. Nun hat er wieder einen Grund, die Arbeit zu verweigern um gegen das Ministerium zu protestieren.

„Ach ja, und das Schulfest fällt deshalb leider für mich aus. Ich tue nur noch meine Pflicht und nichts darüber hinaus!“, schimpft er weiter. Dass er damit hauptsächlich die Kinder bestraft und nicht das Ministerium fällt ihm gar nicht auf. Ist ja auch egal, Hauptsache protestieren, Klein-Hänschen, gell?

„Nun bleib mal auf dem Teppich!“, beschwichtigt ihn gerade der Kollege Vogler, als ich reinkomme. „So von einem Tag auf den anderen geht das sowieso nicht. Und bis die das durchgesetzt haben, sind wir alle längst in Pension.“ Alle drehen sich nach mir um und begrüßen mich. „Hast du schon gehört: Alle Grundschulen, die weniger als 8 Klassen bilden können, sollen geschlossen werden?“, fragt mein Kollege Egon.

„Ich war gestern beim Schulrat. Der hat’s mir gesagt, ja.“, brumme ich müde. „Aber ich denke genau so wie du, dass alles nicht so heiß gegessen wird, wie’s gekocht wurde.“

Egon Vogler ist mein Lieblings-Kollege, wenn man so was überhaupt sagen darf. Ich kenne ihn schon von Kindesbeinen an, und ich habe mich sehr gefreut, als ich hörte dass er auch in Nickelshausen unterrichtet.

„Warum bist du nicht Schulleiter geworden?“, habe ich ihn gleich an meinem ersten Schultag in Nickelshausen gefragt. „Du wirst die Antwort bald selbst wissen.“,

meinte er geheimnisvoll. Ja, ich wusste es auch nur zu bald, warum er erst gar nicht in Erwägung gezogen hatte, sich für die Schulleiterstelle zu bewerben. Nach und nach dämmerte es mir gewaltig.

Außer Hans Großmann und Egon Vogler gibt es in unserem Team noch zwei weitere Damen: Frau Hermine Blau, die genau wie Egon kurz vor der Pensionierung steht, und Frau Silke Schnee, die erst am Anfang ihrer ‘Karriere‘ steht. Mit beiden verstehe ich mich gut. Hermine nenne ich Herrchen, weil sie als Alleinstehende das Herrchen von drei Hunden ist. Die Tiere sind ihr Lebensinhalt. Ich weiß alles über sie.

Wirklich alles. Es ist eine meiner besten Eigenschaften, dass ich zuhören kann.

„Lasst uns zu den Kindern gehen und dann später in der Pause darüber reden!“, beende ich das Gespräch.

Es ist schon acht Uhr und die Kinder warten. „Ja, was sollen wir den Kindern denn sagen?“, ruft Hänschen (so nenne ich ihn heimlich) mir nach als er gerade den Kopierraum betritt und nicht seinen Klassenraum. Er ist ja noch überhaupt nicht dazu gekommen, seine Kopien für den heutigen Tag zu machen, der Arme! Aber diesmal kann er mich nicht aufhalten. Ich tue so, als ob ich nichts gehört hätte und verschwinde in meinem Klassenzimmer. Kaum bin ich drin, geht der Tumult im Klassenzimmer weiter.

„Frau Berger, Frau Berger…“ Ach, hättest du doch bloß auf Bär gehört und wärst einen Rotwein früher ins Bett gegangen! Aber nun muss dir was einfallen, liebe Frau Berger. Ja, Herr Dr. Breuer, ja Erzengel Bauer, was hättet ihr denn jetzt gesagt, hä?

Ich klatsche in die Hände, was das Zeichen zum Zusammenkommen im Stuhlkreis ist. Ganz leise packt jedes Kind seinen Stuhl und kommt damit in den ‘Kreis‘. Ganz leise? Ja, normalerweise. (Reimt sich) Aber heute ist nicht ‘normalerweise‘: Alle kreischen durcheinander, stupsen, rempeln und brüllen sich an, sehr zu meiner Freude. Ich werde jetzt ganz ruhig, setze mich auf meinen Platz und atme drei Mal laut und tief ein. Dann mache ich die Augen zu und warte geduldig bis es ruhig wird. Die Kinder kennen dieses Verhalten meinerseits und werden ihrerseits dann irgendwie auch leise. Sie sind jedes Mal irritiert, wenn ich mich so verhalte. Von anderen Lehrpersonen kennen sie das nicht.

Endlich wird es still. Den Erzählstein habe ich schon in der Hand, was bedeutet, dass jedes einzelne Kind dazu aufgefordert wird, sich zu einem bestimmten Thema zu äußern. Heute braucht niemand das Thema anzugeben oder vorzuschlagen. Es geht darum, dass jemand unsere Schule schließen will. Till sitzt neben mir und ist deshalb als Erster dran:

„Also ich weiß gar nix. Keiner hat daheim was gesagt. Nur der Max hat’s heut Morgen überall rumerzählt. Wenn die unsere Schule zumachen, dann geh ich in gar keine mehr, fertig.“

Der Max kommt gleich als Nächster dran. Er streichelt, wie immer, wenn er an der Reihe ist, den glatten herzförmigen Erzählstein und beginnt eine Rede zu schwingen:

„Leute, das sag ich euch…“,

„Max, denk dran, die anderen ‘Leute‘ wollen auch noch was zu dem Thema sagen!“, unterbricht ihn die Mizzi.

„Ja ja Mizzi, DU fasst dich ja auch immer gaaanz kurz, ne? Also, Leute, ich meine, wenn sich rausstellt, dass das stimmt, dann müssen wir uns wehren. Meine Mama sagt immer: Wehr dich! Ich schlag vor, wenn die kommen und abschließen wollen, dann hauen wir denen eins über. Dann gehen die von selbst wieder weg.“

Gelächter erfüllt den Klassenraum. Alle freuen sich über diese gute Idee und stellen sich das Ganze schon lebhaft vor. Ich seh’s an ihren Gesichtern. Sie glauben wirklich, dass die Idee von Max (der sich übrigens zu jeder Gelegenheit tatkräftig wehrt) durchzuführen ist. Die Kathi meldet sich zu Wort:

„Ja ja Maxi, du meinst immer, mit Gewalt regelt sich alles.“, worauf sie gleich von Max einen Knuff in die linke Seite abkriegt. Kathi hat sicher bei der ‘Anti-Gewalt-AG‘ gut aufgepasst und gelernt, dass man mit Gewalt nur Gegengewalt erzeugt. Das gibt sie nämlich jetzt zum Besten: „Die sind bestimmt stärker als wir und schlagen uns voll zusammen.“

„Du hast Recht.“, ruft Anton, unser Klassensprecher.

„Die sind doch erwachsen, die sind auf jeden Fall stärker als wir. Da müssen unsere Lehrer uns helfen, gell Frau Berger, ihr helft uns!?“

„Du bist noch nicht an der Reihe, Anton.“, wird er von der Mizzi gerügt.

„Du aber auch nicht, Mizzi.“, ist die schlagfertige Antwort.

Nun kann ich mich doch nicht, wie heimlich geplant, aus der ganzen Sache raushalten und mir erst mal die Meinungen der Kinder anhören. Die haben nämlich manchmal gute Ideen, wenn man ihnen die Gelegenheit zum Nachdenken gibt. Wie gesagt, einer meiner Leitsätze lautet: Zuhören! Das brachte mich im Leben oft schon ein gutes Stück weiter. Meistens. Manchmal habe ich es auch schon bereut und bin mittlerweile vorsichtig, WEM ich Fragen stelle und wem nicht.

Unser Herr Schulrat ist ja ein umgänglicher und freundlicher Mensch, aber stell ihm keine Frage! Du könntest es bereuen. Der Gute verwechselt nicht selten eine Fragestellung mit der Aufforderung, eine lange Rede zu halten. Dabei dreht er sich munter im Kreise und wiederholt gerne Sätze, die er für wichtig erachtet, immer und immer wieder. Die einzige Möglichkeit, ihn in seinem nicht endenden Redefluss zu unterbrechen, ist eine Panikattacke oder ein Schwindelanfall.

Da ich in der Schauspielerei nicht sehr geübt bin, bleibt mir nur übrig ihm niemals, nie nie mehr (!) eine Frage zu stellen. Darin bin ich mittlerweile geübt. Tja, Fehler sind eben Gelegenheiten zum Lernen. Das sage ich auch immer den Kindern, wenn sie sich über Fehler ärgern.

„Frau Berger, Sie sind an der Reihe!“, höre ich jetzt Anton sagen.

„Und wo ist der Erzählstein?“, kontere ich. Oft genug bin ich von den Kindern gerügt worden, dass ich ohne Erzählstein losplappere. Diesmal nicht. Ich spüre bewundernde Blicke auf mir ruhen.

„Ich habe eine Idee:“, beginne ich. „Wir schreiben einen Brief an die Regierung und bitten darin den Herrn Minister, dass er unsere Schule nicht schließen soll. Was meint ihr?“ Ich schaue mich in der Runde um.

Enttäuschte Gesichter. Der Anton meldet sich als Erster:

„Ich bin dafür, dass jeder erst mal was dazu sagt und dann können wir immer noch überlegen, ob das mit dem Brief ‘ne gute Idee ist.“

Das klingt vernünftig und alle sind einverstanden. Die meisten Kinder sprechen sich dafür aus, dass wir abwarten und nichts überstürzen sollten (auch nicht das mit dem Briefe-Schreiben). Die Mathematik-Stunde kann jetzt beginnen.

In der Pause finde ich unter den zahlreichen Briefen, die auf meinem Schreibtisch liegen, eine Einladung vom Herrn Minister persönlich. Darin steht, dass alle Schulleiter zu einer Besprechung ins Ministerium kommen müssen.

Der Herr Minister hat uns was anzukündigen. Was das wohl ist?? Und wie früh er damit dran ist! Normalerweise sollten doch zuerst einmal die aufgeklärt werden, die am Ehesten betroffen sind, oder sehe ich das falsch?

Im Lehrerzimmer erwartet mich das Team geschlossen.

„Und wer macht die Aufsicht?“, mache ich mich wieder bei Hänschen unbeliebt. Unwillig steht er auf mit der Bemerkung: „Immer wenn so was is, hab ich die Aufsicht. Kann einer mitschreiben?“ Weg ist er.

„Ich hab hier soeben eine nette Einladung auf meinem Schreibtisch gefunden. Schon am Mittwoch sollen alle Schulleiter und Schulleiterinnen ins Ministerium kommen um sich die Hiobsbotschaft vom Herrn Minister persönlich anzuhören.“ Ich lese zur Sicherheit den Brief noch einmal vor.

„Das geht ja ziemlich schnell, das Ganze. Ich befürchte, wir erleben die Schulschließung doch noch vor unserer Pensionierung.“

Egon ist jetzt gar nicht mehr so zuversichtlich, wie er es heute Morgen vor dem Unterricht war. Hermine ist kurz vor einem Nervenzusammenbruch:

„Das überlebe ich nicht! Man kann doch von mir nicht verlangen, dass ich nach so langer Dienstzeit in Nickelshausen, nochmal woanders hingehen soll!“

(Typisch! Denkt immer zuerst an sich selbst, die Gute!)

Die wird nicht woanders hin wechseln, wetten? Eher geht sie in den vorgezogenen Ruhestand.

„Liebe Frau Berger, das sind aber hinterhältige Gedanken!“, höre ich Erzengel Bauer über mir schwebend. Ich zische zurück: „Wetten?“

„Wetten, was?“, fragt Herrchen erstaunt. „Äh, dass du nicht woanders hingehst.“ Schlagfertig, wie immer, Frau Berger!

Silke hat meistens keine Meinung dazu, denn die Meinung von Hans Großmann ist ihr überaus wichtig und ohne ihn äußert sie sich ungern. Warum das so ist, bleibt mir nach wie vor schleierhaft. Ob er sie unter Druck setzt? Aber Frau Berger, was sind das denn schon wieder für Gedanken! Ich schaue auf die Uhr. Die sagt uns, dass die Pause in zwei Minuten vorbei ist. Das Geschrei der Kinder im Flur sagt uns, die Pause ist jetzt schon um, und gleichzeitig erscheint das vertraute Gesicht von Hänschen Kopierkönig in der Lehrerzimmer-Tür. Aber weiter kommt er nicht. Ich schiebe mich dazwischen und entwische ihm wieder. Die anderen sind auch schon aufgestanden, machen aber noch keine Anstalten, das Lehrerzimmer zu verlassen.

„Liebe Frau Berger, die Kinder sitzen oft nach der Pause ziemlich lange alleine im Klassenraum. Die Lehrer kommen nicht pünktlich aus dem Lehrerzimmer.“, klagte die Schulelternsprecherin, Frau Ursula Harz schon am zweiten Tag nach meinem Dienstantritt in Nickelshausen. „Bitte, tun Sie was!“ Ja, sollte die ach so perfekte Frau Bauer da doch etwas versäumt haben??

Gleich bei unserer ersten Dienstbesprechung ging ich das Thema an. Da erfuhr ich, dass nicht nur die Wände in Nickelshausen Ohren haben, nein, auch die Fenster haben Gucklöcher! Aus einem dieser Gucklöcher überwacht Frau Kunz, die Nachbarin, die gegenüber von unserer Schule wohnt, die Ankunft sämtlicher Lehrpersonen am Morgen. Ob die Früh-Aufsicht angetreten wurde und ob die Schulleiterin Frau Berger morgens auch pünktlich angekommen ist.

Die Frau Kunz kann durch ihr Guckloch auch in die Klassenzimmer hineinsehen. Sie besitzt eine überdimensional große Küchenuhr, die sie von ihrem Guckloch aus gut sehen kann. Zu jeder Gelegenheit erzählt die Frau Kunz dann bereitwillig in ganz Nickelshausen, dass die Lehrer nicht ihren Erwartungen entsprechen. Dass die liebe Frau Kunz sich eines schwarzen, ziemlich schweren Hilfsmittmittels bediente, um in solchen Dimensionen sehen zu können hätte man sich fast denken können. Ich sollte es sehr bald erfahren. „Vielleicht sollte ich die arme Frau Kunz mal besuchen? So als Nachbarin, oder was meint ihr?“,

fragte ich das Team. Das fanden alle nicht so eine gute Idee und ich setzte sie gleich am selben Tag in die Tat um.

Frau Kunz hat an diesem Tag ihr Opfer in mir gefunden. Ich hörte zu. Zwei Stunden lang. Dieses böse Lehrerkollegium! Kommen zu spät, gehen nach den Pausen nicht in ihre Klassen, wie sich das gehört.

„Grüßen können die auch nicht. Die Kinder ja schon gar nicht mehr! Unmöglich! Unverschämt!“ Es stellte sich während dieses interessanten (einseitigen) Gesprächs heraus, dass die Frau Kunz mit mir verwandt ist. Sie ist eine Kusine meiner Oma. Oh Gott, wie peinlich! Und das Fernrohr, das sie beim Beobachten benutzt, zeigte sie mir jetzt auch noch ganz offen, so als wäre ich ihre Komplizin. Was ich übrigens auch meinem Kollegium gegenüber bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erwähnt habe: Ich bin eine halbe Nickelshausenerin. Meine Mama ist in Nickelshausen geboren und aufgewachsen.

Die Nickelshausener wissen das und reiten bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf herum:

„Liebe Frau Berger, da Sie ja eine halbe Nickelshausenerin sind, müssen Sie doch wissen, dass…..“, bekomme ich meistens zu hören, wenn irgendwas schiefgelaufen ist. Sogar der Herr Dr. Breuer wusste Bescheid. Es ist ihm auch zu Ohren gekommen.

Sympathisch fand er das. Ich persönlich finde das nicht sehr vorteilhaft, obwohl meine Mama einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben ist. Meistens wird mir die Tatsache, dass ich zur Hälfte Nickelshausenerin bin, zum Nachteil ausgelegt. Das findet auch meine Mama. „Mach dir nix draus!“, pflegt sie zu sagen „Das geht jedem so, der in Nickelshausen noch nicht anerkannt ist. Das wird sich ändern, Kind, sobald sie dich besser kennen.“ Ob sie Recht behält mit ihrer Gutgläubigkeit? Meine Mama nimmt von jedem Menschen immer das Beste an. „Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus, Kind.“, hat sie schon in meinen Kindheitsjahren immer zu mir gesagt.

„Sei freundlich, dann sind’s die anderen Leute auch zu dir.“ Konnte ich nicht immer und in jeder Situation nachvollziehen. Da ist mir Papa’s Spruch schon etwas plausibler: „Umarme deinen Feind, vielleicht kannst du ihn bei dieser Gelegenheit erdrücken.“

Leider schaffe ich es irgendwie trotzdem nicht, meine Leute zur Pünktlichkeit zu erziehen. Ich bemühe mich, ein gutes Vorbild zu sein. Frau Kunz ist mir gegenüber gnädig. Sie verrät bis jetzt noch nicht, dass ich manchmal auf den letzten Drücker ins Schulhaus haste, wie zum Beispiel heute Morgen. Ob sie auch verschlafen hat?

Dieser Schultag nimmt kein Ende! Nach dem Unterricht erwartet mich Ursula Harz, die Schulsprecherin vor meinem Büro. Oje, das kann dauern! Unsere (einseitigen) Gespräche sind nie kürzer als zwei Stunden. „Liebe Frau Berger, haben Sie einen Moment Zeit?“ „Aber selbstverständlich, Frau Harz, für Sie - immer. Kommen Sie herein!“ Ich bin ja gut erzogen.

„Ich bin außer mir!“, beginnt Sie: „Ich kann es nicht fassen. Ich gehe davon aus, dass Sie Bescheid wissen.“

(Ich, ich…) Ich nicke. Ab und zu darf ich auch etwas sagen, z.B., dass ich gestern beim Herrn Schulrat war und mir mitgeteilt wurde, dass unsere Grund-schule von der Schließung betroffen ist und von meiner Einladung ins Ministerium hab ich ihr auch erzählt.

Ganz Nickelshausen sei besorgt, jammert Frau Harz und alle Mitbürger wollen sich beschweren. Man habe die Idee, Unterschriften zu sammeln und Demonstrationen anzu-zetteln.

Na sieh mal an, die haben ja Phantasie und sogar Organisationstalent, die Nickelshausener! Hätte ich ihnen gar nicht zugetraut.

„Sie sind renitent und nie zufrieden, aber wenn’s drauf ankommt, können die zusammenhalten wie Pech und Schwefel.“, hatte mir der Herr Pfarrer vor meinem Amtsantritt hinter vorge-haltener Hand und im Geheimen anvertraut. Unser Pfarrer ist für drei Gemeinden zuständig, von denen die Gemeinde Nickelshausen seine absolute ‘Lieblingsgemeinde‘ ist.

Deshalb schickt er Sonntags gerne den Herrn Kaplan nach Nickelshausen, um dort die heilige Messe zu halten. „Sich mit den ‘Nickeln‘ anzulegen ist zwecklos“, hat er mir ferner anvertraut „versuchen Sie’s erst gar nicht!“ Der Herr Pfarrer hat wohl großen Respekt vor denen, dachte ich damals. Heute denke ich: Leg dich bloß nicht mit den Nickeln an. Versuchs erst gar nicht…. Danke Herr Pfarrer!

Stunden später, die Kirchturmuhr schlägt gerade 16 mal, sind wir übereingekommen, dass die Nickelshausener Unterschriften sammeln, eine Demonstration organisieren werden und ferner den Herrn Ortvorsteher Franz Becker informieren, damit der sie, bei alledem was sie vorhaben, unterstützt.

Ein lautes Brummen unterbricht unsere kurze Unterhaltung. Das ist mein Magen und es ist mir gegenüber Frau Ursula unheimlich peinlich. Gerade hat sie mir das ‘DU‘ angeboten und jetzt das! Was soll ich machen, ich hab eingewilligt. Ist doch gar nicht so schlimm! Geht doch (!), ermuntere ich mich im Geiste. Es dauert ja auch nicht mehr lang mit der Wahlperiode der Frau Ursula. Ihr ‘Kurtchen‘ ist ja schon im vierten Schuljahr (und Gottseidank nicht bei mir in der Klasse). Das schadet Hänschen nichts, denke ich oft, wenn ich Wut auf ihn habe. Er muss sich nämlich öfter einmal ‘kurz Zeit nehmen‘ um mit Ursula über Kurtchen zu sprechen. Ha ha! Mama Harz nimmt sich nämlich für ihr Kurtchen unendlich viel Zeit. An diesen Tagen kann Hänschen nicht flugs aus dem Schulhaus rennen, während es noch klingelt. Seine Kinder haben selbstverständlich das Klassenzimmer bereits vor ihm verlassen, damit er absperren kann. „Die müssen doch zum Bus!“, bekomme ich zur Antwort, als ich ihn einmal vorsichtig frage, warum ich die Kinder der Klasse 4 immer so frühzeitig aus dem Schulhaus rennen sehe.

„Aber das sind doch nur zwei, die zum Bus müssen.“,

entschlüpft es mir. Tja, der Herr Großmann ist eben ein umsichtiger und rücksichtsvoller Mensch. Er möchte die beiden Fahrschüler nicht allein gehen lassen. Die dürfen doch nicht aus der Klassengemeinschaft ausgeschlossen werden! Eben deshalb müssen alle mit.

Punkt.

Wenn das Trampeln im Treppenhaus dann jeden Tag um zwei vor halb eins losgeht und die Viertklässler aus dem Schulhaus stürzen, schauen die Kinder der zweiten Klasse aus dem Klassenfenster und nicht selten höre ich: „Haben die’s aber eilig!“ Nein, keine Beschwerden.

Feststellungen. Ab und zu, wenn der Herr Großmann dann den Viertklässlern gemächlichen Schrittes hinterher schreitet, (er muss sich dabei sehr beherrschen, um nicht in Gleichschritt mit den Kindern zu verfallen), höre ich die liebliche Stimme von Frau Ursula Harz: „Ach, lieber Herr Großmann, schön, dass ich Sie noch erwische! Hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?“ Ha ha, ‘erwischt‘, im wahrsten Sinne des Wortes! „Liebe Frau Berger, höre ich da Schadenfreude heraus?“, zischelt Erzengel Bauer.

„Gut, liebe Frau Berger, ach nein - Liz, dann machen wir das so.“, reißt Ursula mich aus meinen Gedanken.

Und damit bin ich gnädigst entlassen. Sollte das nicht umgekehrt sein? Mein Magen lässt mir keinen Spielraum mehr. Er kann sehr hartnäckig auf sein Recht bestehen. Heute konnte er sogar Ursula Harz überzeugen. Sie gab schließlich nach. Auf dem Heimweg lasse ich diesen Schultag noch einmal Revue passieren. So schlecht war er gar nicht. Die Nickelhausener scheinen mich allmählich (nach drei Jahren Dienst an diesem gastfreundlichen Ort) anzuerkennen.