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Ein beklemmend-rasanter Thriller von Bestseller-Autor Markus Heitz - Exklusiv als E-Book! »Abfangen des Pakets muss gelingen, sonst keine Bezahlung. Wird das Paket zugestellt, haben SIE ein Problem!« Eine SMS, reflektiert in der Scheibe im ICE. Als Charles Mischke im Zug von Köln nach Frankfurt die Kurznachricht einer geheimnisvollen Frau mitliest, wird er selbst zur Zielscheibe eines skrupellosen Auftragskillers. Was zu Beginn noch wie ein schlechter Scherz wirkt, wird schnell brutale Realität. Selbst Charles' Freundin Annika gerät ins Visier der Killer - und er handelt gegen jegliche Vernunft. Mit Charles' Entscheidung, das Rätsel der SMS zu lösen, eskaliert die Situation vollends ... »Reflexion« von Markus Heitz ist ein eBook von Topkrimi – exciting eBooks. Das Zuhause für spannende, aufregende, nervenzerreißende Krimis und Thriller. Mehr eBooks findest du auf Facebook. Werde Teil unserer Community und entdecke jede Woche neue Fälle, Crime und Nervenkitzel zum Top-Preis!
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Seitenzahl: 273
Markus Heitz
Reflexion
Thriller
Knaur e-books
Ein beklemmend-rasanter Thriller von Bestseller-Autor Markus Heitz
»Abfangen des Pakets muss gelingen, sonst keine Bezahlung. Wird das Paket zugestellt, haben SIE ein Problem!«
Eine SMS, reflektiert in der Scheibe im ICE. Als Charles Mischke im Zug von Köln nach Frankfurt die Kurznachricht einer geheimnisvollen Frau mitliest, wird er selbst zur Zielscheibe eines skrupellosen Auftragskillers. Was zu Beginn noch wie ein schlechter Scherz wirkt, wird schnell brutale Realität. Selbst Charles’ Freundin Annika gerät ins Visier der Killer - und er handelt gegen jegliche Vernunft. Mit Charles' Entscheidung, das Rätsel der SMS zu lösen, eskaliert die Situation vollends ... Exklusiv als eBook!
Sämtliche im Roman geschilderten Begebenheiten entspringen Erfundenem und Erdachtem.
Ähnlichkeiten zu lebenden, toten und erfundenen Personen, Institutionen, Einrichtungen, Organisationen et cetera sind rein zufällig – abgesehen von den im Roman erwähnten historischen Fakten, die jedoch wiederum mit Fiktion verknüpft wurden. Welch Durcheinander – aber so ist das Leben.
»An öffentlichen Orten sind Geheimnisse nicht lange geheim, wenn man nicht achtgibt.
Man muss nicht einmal über ein Geheimnis reden, um es zu offenbaren.
Es gibt falsche Hotspots für WLANs, die jede Mail abfangen, oder Apps, die soziale Netzwerke ganz leicht hacken, sofern der User nicht aufpasst.
Aber so kompliziert braucht es gar nicht zu sein.
Öffentliche Orte, an denen man dicht an dicht sitzt, eignen sich perfekt für versehentliche Indiskretion.
Wo die Menschen im Fahrstuhl noch schweigen, plaudern sie in Kneipen munter drauflos, als wären der Kellner und die Fremden am Nachbartisch gehörlose Möbelstücke.
Oder nehmen wir den Zug.
Ein Paradebeispiel. Da wird so laut telefoniert, dass das ganze Abteil zuhören kann, welche Aktien verkauft werden oder wer wen wie gevögelt hat.
Und der Hintermann kann ganz bequem auf den Bildschirm des Laptops und des Tablets des Vordermanns sehen.
Aber kennen Sie den größten Feind der Diskretion?
Es ist sehr, sehr alt und kommt ganz ohne Technik aus.
Nein, nicht das Gerücht.
Es ist das Glas. Das Glas und die Reflexion darauf.«
aus:
Schöll-Decarneau, Maik: Die Indiskretionen des realen Lebens, Not-Yet-Printhouse, Homburg/Saar 2016, S. 23.
Reisen ist,
in jedem Augenblick geboren werden und sterben.
Victor Hugo (1802–1885)
Köln, Hauptbahnhof
Charles Egon Mischke hetzte mit dem Aktenkoffer in der Rechten den Bahnsteig entlang, der immer länger zu werden schien; Kaffee schwappte im Takt seiner Schritte aus dem Pappbecher über den Rand auf seine linke Hand. Loslassen war keine Option.
Er hatte den Fehler begangen, den Deckel selbst draufdrücken zu wollen, aber trotz aller Normgröße passte das runde Plastik nicht richtig. Es musste anscheinend vom Verkaufspersonal aufgesetzt werden als eine Art Rückversicherung für das Trinkgeld.
»Scheiße«, stieß er keuchend hervor und wich einer Rucksacktouristin aus, die ihm den Weg zur ersten Klasse versperrte.
Aufgrund der spontanen umgekehrten Wagenreihung, einer Spezialität der Bahn, musste er rennen. Es war schwülwarm, der Schweiß perlte unter dem weißen Hemd des Mittdreißigers den Rücken hinab, die gemusterte Krawatte würgte ihn; das Sakko schien seine interne Temperatur auf achtzig Grad steigen zu lassen.
Die Durchsage machte klar, dass der ICE nach Frankfurt gleich startete.
»Nein, nein, nein …«
Die Tür schloss sich piepsend vor seiner Nase und rastete mit einem satten Klack ein.
»Fuck!«
In nochmals gefühlt hundert Metern stand ein Schaffner und winkte ihn heran.
Fluchend machte sich Charles auf den Weg, rennend und Kaffee verschwappend.
»Danke«, keuchte er den ungehalten nickenden Schaffner an und stolperte schwer atmend ins Abteil.
Noch ein Doppelsitz war frei, der deswegen gemieden worden war, weil sich Müll und zerknüllte Zeitungen darauf türmten. Die erste Klasse schützte nicht vor Reisewildschweinen, wie er sie nannte. Sie schafften es, Sitzplätze zwischen zwei Stationen in ein Chaos zu verwandeln und danach spurlos zu verschwinden, wie es echte Wildschweine mit perfekt gewachsenen Maisfeldern taten.
Charles stellte den Koffer auf den Teppichboden und den Kaffeebecher darauf, fegte die Krümel vom Ledersessel am Fenster, verstaute den Papiermüll in der Ablage. Erst dann zog er sein Sakko aus und warf sich auf den Platz, um den Aktenkoffer neben sich zu bergen.
Mit einem langen Durchatmen senkte er den Klapptisch herab und stellte den Kaffee darauf, wischte sich die Finger mit einem Taschentuch ab, das er aus der Hosentasche zog.
Der ICE rollte mit ihm aus dem Bahnhof und rumpelte über die Rheinbrücke, vorbei an den mit Liebesschlössern versehenen Gitterelementen. Schwüre, Eide, Beteuerungen – mit Stahl gesichert, als könnte man Gefühle für die menschliche Ewigkeit anketten.
Charles nahm den Pappbecher und stopfte den losen Deckel in den kleinen Müllbehälter unter dem Vordersitz, nippte am warmen Getränk und sah den Lastkähnen zu, die unter ihm vorbeizogen. Der süß-kräftige Geschmack in seinem Mund beruhigte ihn.
Er gönnte sich ein Grinsen, trotz Schweißperlen, nassem Hemd und Latte-macchiato-versautem Sakko.
Heute ist ein guter Tag. Charles drückte sich tiefer ins Polster und sah auf den Aktenkoffer. Die Reise hat sich gelohnt.
In aller Satansfrühe war er aus den Federn gefallen, mit der Bahn nach Köln gerast, die Präsentation besser gerockt als ein Heavy-Metal-Gitarrist und danach den Vertrag klargemacht, um sich die Provision zu sichern.
Ja, so musste es laufen.
Vierundzwanzigtausend. Charles lehnte die angebotene Zeitung der Bahn-Service-Fee ab und lockerte die Krawatte. Plus Mehrwertsteuer.
Er verdiente sein Geld bei einer Firma, die sich darauf spezialisiert hatte, aus alten historischen Häusern in den Zentren deutscher Großstädte wundervolle High-Class-Wohnungen zu machen. Diese denkmalschutzgerechte Sanierung kostete sehr viel Geld, brachte aber noch mehr ein. Charles kümmerte sich um einige der Projekte und hatte gerade eine Stadtwohnung für etwa sechshunderttausend Euro an ein Ehepaar verkauft. Blieben noch zehn weitere Unterkünfte in dem Komplex samt zweihunderttausend Euro Beteiligung.
Der ICE fuhr behäbig durch die Außenbezirke von Köln und nahm langsam Fahrt auf. Porz, Köln-Bonn Flughafen, es ging weiter und weiter.
Charles blickte auf seine teure Uhr. In knappen sechzig Minuten würde er in Frankfurt ankommen, umsteigen und später in Leipzig direkt in den Feierabend entschwinden. Ohne seine Flugangst wäre alles wesentlich rascher zu erledigen, aber die Bahn brauchte ja auch Kunden.
Ich gehe essen. Zu irgendeinem Nobelkoch, und Annika begleitet mich. Sie darf das Restaurant aussuchen. Rasch schrieb er seiner Freundin eine Nachricht auf seinem Alleskönnerangebersmartphone, die via App zugestellt wurde.
Charles trank einen weiteren Schluck Kaffee und sah Köln verschwinden. Der ICE hielt demnächst in Siegburg und würde dann auf die Hochgeschwindigkeitsstrecke schwenken, wo es mit durchschnittlich zweihundertfünfundneunzig Stundenkilometern über Brücken und durch Tunnel ginge.
Trotz angeblich belebender Wirkung des Getränks wurde er müde. Die Aufregung ließ nach, das Adrenalin baute sich ab.
Er legte eine Hand auf den Koffer und stellte den Sitz zurück, schloss gähnend die Augen und ging in jenen Dämmerzustand über, der wundervolle und mitunter skurrile Bilder für den menschlichen Verstand auf Lager hatte. Er träumte von Sex mit Annika.
Das Pfeifen, mit dem der ICE in den Tunnel jagte, beendete das Dösen.
Charles öffnete blinzelnd die blauen Augen, das Licht im Großraumabteil war hässlich hell und steril; noch dazu leuchtete ihm die Leseleuchte direkt ins Gesicht. Sein Vorgänger, das Reisewildschwein, musste sie angemacht haben.
Er schaltete sie aus und nahm den Kaffeebecher zur Hand, neben dem eine Probepackung Kekse lag. Die Bahn verteilte gerne Aufmerksamkeiten, mal Gummibärchen, mal Pralinen, und nun Gebäck. Passt ja.
Charles verzichtete vorerst auf das Essen und sah auf sein Smartphone, das blinkend eine Nachricht vermeldete: Annika hat einen Thai mit einem unaussprechlichen Namen gewählt.
Solange es dort gut schmeckt, kann er auch Fhak Ju heißen. Er antwortete ihr mit einem Smiley und Toll! und wollte noch ein paar Anzüglichkeiten hinterherschicken, als sein Blick auf die Scheibe fiel.
Wegen der Fahrt durch den dunkleren Tunnel reflektierte das Glas zum Teil die Person, die im Sitz vor ihm saß.
Es war eine Frau, die in Siegburg ohne sein Bemerken zugestiegen war. Charles sah schmale behandschuhte Finger eine SMS tippen, die auf dem Display deutlich leuchtete. Ihr Parfum roch gut, aber sehr ausgefallen.
Meine Güte, wie alt ist dieses Handy? So was nutzt doch kein Mensch mehr. Charles lehnte sich nach vorne, um die Spiegelung besser sehen zu können. Vielleicht schreibt sie Schweinkram?
Abfangen des Pakets muss gelingen, sonst keine Bezahlung. Wird das Paket zugestellt, haben SIE ein Problem!
Charles stutzte. Das klang nicht nach Schweinkram.
Er versuchte, keine Geräusche zu fabrizieren, damit die Frau die Position des Handys nicht veränderte, und las weiter mit. Es war nicht ganz leicht, weil die reflektierte Schrift leicht verdreht daherkam.
Weitere zeitliche Parameter: spätestens um 24 Uhr.
Der ICE schoss aus der Röhre ins Sonnenlicht, und die Scheibe verlor den Spiegeleffekt.
Ertappt zog Charles den Kopf zurück und stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, dass sein Herz schneller klopfte.
Sicherlich, es konnte sich dabei um ein ganz normales Paket handeln, das irrtümlich auf die Reise gesandt wurde und das die Dame zurückpfeifen wollte. Da sich der Zusteller unkooperativ zeigte, versuchte sie es anscheinend illegal.
Das wäre die amüsante Variante.
Annika las sehr viele Thriller und schaute sich mit ihm zusammen jeden Krimi an, den es im Fernsehen und im Pay-TV gab.
Und so ersetzte sein Hirn automatisch die harmlos-unverbindliche Paket-Formulierung in die Sprache der Spione und Auftragskiller.
Bin ich gerade Zeuge, wie ein Mord in Auftrag gegeben wird? Es kam Charles sehr, sehr surreal vor.
Doch sein Herz wollte sich nicht beruhigen.
Der Intercity-Express jagte in die nächste Röhre und sorgte dafür, dass Charles’ Ohren einen Moment lang mit dem Druckunterschied zu kämpfen hatten, bevor er das dumpfe Hörgefühl mit einem schnellen Schlucken beseitigte.
Mit der zurückkehrenden Dunkelheit wurde das altmodische Display wieder in der Scheibe sichtbar.
Charles konnte sich gegen die magische Anziehungskraft des Hellgrüns und der flackernden Buchstaben nicht wehren, er richtete seinen Blick darauf.
Paketstelle wurde geändert. Neuer Anlaufpunkt
Schon ging es erneut raus aus dem Tunnel, das Tageslicht raubte die Informationen.
Die ausgebaute Strecke verfügte über viele, schnelle Wechsel zwischen Innen und Außen. Das war Charles früher niemals so aufgefallen, aber jetzt, wo es spannend wurde, machte sich der ICE einen Spaß mit ihm und steigerte die Spannung ins schier Unerträgliche.
Apropos Spaß. Er sah sich um. Ist das vielleicht so ein Verarsche-Format?
Man kannte das gute alte Verstehen Sie Spaß?, das inzwischen von einigen Sendern imitiert wurde. Es kam dabei vor, dass die Scherze hart an der Geschmacksgrenze vorbeischrammten.
Einen Mordauftrag oder eine Drogenlieferung vor einem zufälligen Zeugen zu inszenieren, passte hervorragend in dieses Konzept.
Charles sah kaum weitere Reisende um sich herum – das Abteil war erschreckend leer. Nur vorne, in den Pferdeboxen, wie er sie nannte, vernahm er leise Stimmen. Aus irgendeinem Grund wollten alle in Siegburg zum Flughafen und nicht nach Frankfurt.
Vor ihm klapperte es, als wäre das Handy auf den Tisch gelegt worden.
»Ja, ich bin noch im Zug. Ankunft? Wir sind pünktlich, also … in einer knappen halben Stunde«, vernahm er zum ersten Mal die Stimme der Frau, die zart und kalt klang. Es war unmöglich, daraus auf ihr Alter zu schließen. »Ich regele die Sache wie versprochen. Danach ist Ruhe, und nun beruhige dich.« Sie schwieg eine Weile. »Ja, das habe ich bedacht. Holst du mich am Hauptbahnhof ab? Gleis 18. Dann können wir besser reden. Es ist zwar nicht viel los im Zug, aber dennoch. Bis denn.«
Wieder wechselte es von Hell zu Dunkel.
Die schwarzen Lederhandschuhfinger griffen nach dem Handy, dafür wurde ein Smartphone auf dem Tischchen mit dem Display nach unten abgelegt; das Gesicht der Frau blieb unerkannt bis auf eine schwache Reflexion der Silhouette.
Charles schaute zu, was sie als Nächstes schrieb, und betete, dass der Name einer Packstation auftauchte oder ein Hinweis, der auf ein echtes Paket hindeutete.
Neuer Anlaufpunkt: Queck, -2 Wintergartenstraße 2
Die schwarzen Finger beendeten die Eingabe und sendeten die Nachricht.
Danach zerlegte die Unbekannte das Handy, entnahm Akku und SIM-Karte, wickelte das Gehäuse in einen Fetzen Zeitung und warf es zusammen mit den Einzelteilen in den eingebauten Tischmülleimer.
Das ist keine herkömmliche Vorgehensweise nach dem Absenden einer SMS.
Die schlanke Hand griff nach dem Smartphone, das Tischchen wurde in die Höhe geklappt und rastete ein.
Sie steht auf. Charles lehnte sich rasch in den Sitz und schloss die Augen. Er wollte nicht riskieren, dass sie auf die Idee kam, er könnte ihre SMS mitgelesen haben.
Stoff raschelte, Reißverschlüsse wurden betätigt, und dann entfernten sich Damenschuhe mit gedämpftem Klappern über den Teppich.
Charles öffnete die Augen leicht und sah der Unbekannten hinterher: lange schwarze Haare, eine kurze rote Lederjacke, die oberhalb des Steißbeins endete, und ein grauer Rock, der sich über einen knackigen Hintern spannte. Ihr Parfum wirbelte aus der Entfernung wie ein letzter Gruß auf ihn zu.
Sie verharrte kurz, bis der Bewegungsmelder der Tür sie registrierte und den Durchgang öffnete, dann verließ sie das Großraumabteil.
Queck. Wintergartenstraße 2.
Es konnte die Adresse des Paketzustellers sein, dem der Empfänger der SMS einen Besuch abstattete, um ihn zu bestechen, die Ware freizugeben und nicht zuzustellen. Dort konnte ein Informant sein, der Zugriff auf die Daten des Pakets hatte.
Es konnte aber auch die Adresse des Menschen sein, der von einem Killer umgebracht werden sollte. So jedenfalls wäre es in einem von Annikas Krimis. Doch wer sagte, dass die Adresse in Frankfurt war? Als ehemaliger Berliner dachte Charles sofort an das Wintergarten-Varieté, und das lag – natürlich – in der Bundeshauptstadt.
Mord im Varieté – das war zwar eine klangvolle Schlagzeile, aber nicht das, was man in der Realität hören wollte, sodass man indirekt zum Mitwisser wurde.
Charles leerte seinen Rest Kaffee. Ich will das alles gar nicht. Ich muss das vergessen.
Er atmete tief ein und aus.
Das demontierte Handy mit Akku und SIM-Karte lag keine zwei Meter von ihm entfernt im Mülleimer. Es wäre ein Leichtes, es herauszufischen, zusammenzusetzen und … Warum entsorgte sie das Beweismittel so fahrlässig? Es könnte eine PIN verlangen. Charles sah zur Glastür, die auf den Gang zu den kleinen Sechser-Abteilen führte. Und wenn die Frau zurückkommt? Kann sein, dass sie nur aufs Klo musste. Sie wird sofort wissen, dass ich ihre SMS gesehen habe, und …
»Haben Sie einen Wunsch aus dem Bordrestaurant?«
Charles schreckte mit einem Aufschrei zusammen, und die gute Getränke-Bahn-Fee zuckte, als hätte sie der Schlag getroffen.
»Scheiße«, ächzte er.
»Oh, entschuldigen Sie«, haspelte die Frau in der typischen Zugbegleiterin-Uniform. »Ich hatte nicht mitbekommen, dass Sie in Gedanken sind. Das wollte ich nicht.«
»Schon gut.« Charles sah auf die Uhr. Was zu trinken wäre wirklich nicht schlecht. »Ein Bier«, hörte er sich selbst sagen. Die Wirkung von leichtem Alkohol konnte ihm unter Umständen bessere Gedanken verschaffen. Oder das Vergessen ermöglichen.
»Kommt sofort.« Sie nickte und eilte davon.
Sein Herz wollte durch die Rippen springen und auf dem Tischchen Samba tanzen, so fühlte es sich an. Als ihm die Servicefee das Pils brachte, zog er es beinahe auf ex weg und starrte aus dem Fenster.
Es kamen nun keine Tunnel mehr, als hätten die Röhren ihre Schuldigkeit getan, indem sie sein Leben verkomplizierten. Hätte er doch bloß weitergedöst und von Annika und ihren runden Brüsten geträumt.
Aber nein, er musste sich für die SMS fremder Leute interessieren anstatt für den Sex mit seiner Freundin.
Charles seufzte, dann nahm er sein Smartphone und rief seinen Kumpel Ben an.
Ben war im Marketing seiner Firma und wusste immer, was zu tun war. Vermutlich hätte er die Unbekannte überwältigt, die Wahrheit aus ihr gepresst und sie anschließend wie Bond im Abteil vernascht. Leben gerettet, Spaß gehabt, Check.
»Jau, Charles!«, tönte es aus dem Lautsprecher. »Annika hat mir schon gesagt, dass du …«
»Vergiss den Abschluss«, zischte er seinen Freund an. »Ich bin in einer misslichen Lage und brauche deinen Rat.« Er sah zwischendurch auf den kleinen Mülleimer, wo das Handy darauf wartete, geborgen zu werden. Schnell schilderte er, was er beobachtet hatte. »Was soll ich tun? Dem Schaffner Bescheid sagen, damit er sich drum kümmert?«
Ben schwieg. »Willst du mich verarschen?«
»Nein!« Charles war entsetzt. »Nein, das stimmt, was ich dir erzählt habe.«
»Okay, dann schau dich um: Ist ein Kamerateam in deiner Nähe?«
»Nein. Daran habe ich auch zuerst gedacht.« Dennoch blickte er sich nochmals sehr genau um. »Keine Spur.«
»Und das war ein altes Handy? Keine App-Scheiße mit einem Killer-Game oder so?«
Charles lachte auf. »Das kann gar nix. Sah aus wie ein prähistorisches Alcatel oder so.«
»Hast du Fotos von den Spiegelungen gemacht?« Ben schien einen Fragekatalog abzuspulen, als habe er ihn für solche Fälle in der Schublade.
»Mein Phone klickt so komisch. Die hätte das sofort gemerkt.«
»Also gibt es nichts als diese SMS, deine Aussage und dieses kurze Telefonat der sexy Unbekannten?«
»Ich weiß nicht, ob sie sexy war.«
»In meiner Fantasie ist sie das. Hatte sie große Titten?«
Charles verdrehte die Augen. »Ich sah sie nur von hinten.«
»Wie war ihr Arsch?«
»Kann es sein, dass du mich gerade nicht ernst nimmst?« Ben überlegte, ob er besser gleich die Polizei rief.
Ben lachte. »Sorry, aber du als Freizeit-Bond? Du machst nicht mal Kampfsport.« Er räusperte den Schalk aus seiner Stimme. »Ernsthaft: Sobald du etwas unternimmst, hängst du mit drin, egal ob du die Hauptarbeit dem Schaffner überlässt oder nicht. Du kannst – sofern man dich nicht gerade mächtig veräppelt – in eine Straftat reingezogen werden. Als Zeuge. So oder so werden die Bullen mit dir reden wollen. Willst du das?«
»Als hätte ich was zu verbergen.«
»Hast du wohl wirklich nicht. Aber es kann eine lange Sache draus werden«, gab Ben zu bedenken. »Wenn wir gleich auflegen und du einfach aus dem Zug steigst, bist du raus. Du wirst das alles vergessen und heute Abend zum Thai gehen und Annika nehmen. Zu Hause, nicht beim Thai.«
»Du rätst mir gerade ab, richtig?«
»Ich rate dir, das gut zu bedenken«, verbesserte Ben.
»Was würdest du tun?«
Sein Kumpel schwieg.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er dann schleppend.
»Aber du rätst mir, mich rauszuhalten.«
»Sehr geehrte Reisende, unser nächster Halt ist in wenigen Minuten Frankfurt Flughafen Fernbahnhof. Alle vorgesehenen Züge werden erreicht. Sie haben dort folgende Anschlussmöglichkeiten …«, dröhnte die knisternd knackende Durchsage aus den Bordlautsprechern.
»Nein, es zu überdenken.« Ben goss sich hörbar etwas zu trinken ein.
Charles hielt sich ein Ohr zu, um sich besser auf die Unterhaltung zu konzentrieren. »Wenn es um einen Mord geht? Dann habe ich zugelassen, dass ein Mensch stirbt.«
»Eventuell stirbt«, gab Ben zu bedenken. »Du kennst diesen Menschen nicht. Vielleicht hat er den Tod verdient? Und was, wenn durch dich Ermittlungen in Gang kommen und diese Lady dann dich jagen lässt, weil du der einzige Zeuge bist?« Sein Kumpel schien es ein wenig zu genießen, sowohl Gewissensentlastung als auch düsterste Zukunftsbilder zu zeichnen.
»Du bist keine Hilfe.« Charles versuchte, den tönenden Anschlusszugmonolog zu ignorieren.
»Ich zeige dir Optionen. Und ich kann dir echt nur sagen: Denk gut drüber nach.«
Charles blickte hinaus und sah die gigantische weiße Halle, in welche der ICE einfuhr. Von außen wirkte der Fernbahnhof wie ein titanenhaftes Kreuzfahrtschiff, das bei Ebbe aufgelaufen war und sich fortan nicht mehr wegbewegen konnte. »Alles klar«, murmelte er. »Danke.« Er legte auf.
»… thank you for choosing Deutsche Bahn and goodbye.«
Der Zug verlangsamte seine Fahrt spürbar und kam mit dem Ende der Durchsage zum Stehen.
Zischend öffnete sich die Tür schräg hinter Charles.
Schwer bepackte Reisende, die eben aus ihren Urlauben zurückkehrten, enterten in kurzen Hosen, braun gebrannt, mit albernen Hütchen und sogar einem Blütenkranz um den Hals das Großraumabteil. Manche zerrten die Koffer hinter sich her und eilten murrend weiter, weil sie sich in der Klasse vertan hatten, andere fielen erleichtert in die Sitze und warfen sich Stichworte an den Kopf wie »Weißt du noch …?« oder »Und dann sagt der zu uns …«, als wäre ihr Aufenthalt bereits Jahre her.
Ob die Schwarzhaarige auch aussteigt?
Gemurmel und Rumpeln erfüllte die Luft im Wagen, der sich zusehends füllte.
Aber wie von einer höheren Macht gesteuert setzte sich niemand auf den freien Platz vor Charles.
Er begriff es als Zeichen.
Schnell stand er auf, schnappte sich das Sakko und den Koffer und ließ sich da nieder, wo bis vor Kurzem noch die Unbekannte gesessen hatte.
Charles schluckte. Ich ziehe das durch.
Der Mülleimer befand sich unmittelbar neben ihm.
Mit Handy, SIM und Akku.
Er zog ein Taschentuch hervor und knüllte es, um es scheinbar wegzuwerfen, öffnete die zerkratzte graumetallische Abdeckung.
Die SIM-Karte leuchtete schwach golden am Boden, der Akku lag schräg darüber, und das eingewickelte Gehäuse hatte sich neben eine Prosecco-Dose geschoben.
»Jetzt war ich kaum weg, und Sie sitzen auf meinem Platz«, hörte er eine unfreundliche Frauenstimme neben sich sagen.
Charles erstarrte in der Bewegung. Bitte, Schicksal, lass mich in eine Fernsehsendung geraten sein!
»Suchen Sie was da drin?«
Als sich Charles umdrehte, sah er eine blonde Touristin, die ein geschmackloses weiß-rotes Hawaiihemd trug, das selbst Privatdetektiv Magnum rituell verbrannt hätte, dazu Bluejeans-Shorts und Espadrilles. Nicht die Schwarzhaarige. Die Verwunderung verschloss ihm den Mund.
»Ehrlich, da wollte ich hin. Sie saßen doch eben noch eine Reihe dahinter.« Sie bugsierte ihren quietschgelben Koffer mit einem Tritt in die Lücke zwischen den Sitzplätzen.
»Äh«, machte er und schloss die Klappe des Müllbehälters langsam, weil er fürchtete, sie könnte das zerlegte Handy bemerken. »Schon, aber … hier ist ein Tisch.«
Sie setzte sich ihm gegenüber. »Aha.« Sie sah auf den Aktenkoffer. »Können wir tauschen?«
»Wie, tauschen?«
»Fahrtrichtung.« Sie deutete geradeaus. »Sonst wird mir schlecht.«
Charles fluchte unflätig, wenn auch nur innerlich. »Klar.«
Er und die unvermutete Touristin wechselten ein wenig umständlich die Sitze.
Damit sah er nicht mehr zur Durchgangstür und würde nicht mitbekommen, ob die Schwarzhaarige zurückkehrte. Zwar glaubte Charles nicht daran, aber es gewannen auch Leute im Lotto, und die Chance war eins zu einhundertvierzig Millionen. Wie hoch war wohl die Wahrscheinlichkeit, in eine solche Lage zu geraten?
»Sie kommen nicht aus dem Urlaub, was?«
Das fehlte ihm noch: Die aufdringliche Touristin wollte zum Dank für sein Entgegenkommen Konversation betreiben.
»Nein«, erwiderte er abweisend und räusperte sich.
»Komme aus Dubai. Toll dort. Aber so viele Frauen, die in diesem Duschvorhang herumlaufen.«
»Burka?«
»Genau.« Sie stützte die Arme auf und lehnte sich nach vorne, als würde sie am Tresen ein Bier beim Wirt bestellen wollen. »Und die Frauen dürfen da jetzt erst alleine Auto fahren. Hammer, oder?«
Charles öffnete aus Verzweiflung seinen Aktenkoffer und kramte Akten heraus, um Arbeit vorzutäuschen. »Jaja.« Er breitete die Blätter aus und zückte einen Stift. »Entschuldigen Sie, aber ich muss das durchlesen.«
Sie lehnte sich in den Sitz und zog das Bahnmagazin heraus, um sich die Bilder darin zu betrachten. Sie schlug die Seiten viel zu schnell rum, um den Inhalt zu erfassen.
Charles kümmerte sich ebenso wenig um die Akten.
Er überlegte, wie er die Einzelteile in die Finger bekam, ohne dass die Touristin es bemerkte.
Sie gehörte zu dem Schlag Menschen, die sich immer ungefragt und laut und unnötig einmischten und Situationen verkomplizierten, die völlig harmlos begannen. Wie den schwarzen Mitarbeiter des Pannendienstes mit »Yo, mein Nigger! Was geht?« beim Eintreffen zu begrüßen und sichzu wundern, warum er das liegen gebliebene Auto in Brand steckte, anstatt es zu reparieren. Oder den Kellner erst beleidigten und danach etwas zu essen bestellten.
Charles lauschte mit einem Ohr auf die Schritte der Schwarzhaarigen. Die Situation überforderte ihn latent. Er steckte in der Verantwortungsfalle, befürchtete ein Auffliegen und konnte nicht einfach aufstehen und gehen. Sämtliche Entscheidungen mussten von ihm ohne Vorbereitung getroffen werden. Bauchgefühl – nicht seine Stärke.
Charles schielte zum Mülleimerchen. Wenn ich Glück habe, geht sie irgendwann aufs Klo.
Die Zeit verging. Der ICE schoss über die Schienen und jagte durch die Vororte der hessischen Großstadt.
Die Touristin nahm eine Tüte mit Pistazien aus der Tasche und brach sie auf, stopfte sich die grün-rötlichen Kerne in den Mund und schichtete ein Häufchen Schalen neben sich auf. Als es eine gewisse Höhe erreichte, klappte sie die Abdeckung hoch und schob die Hälften in das Abfallbehältnis, ohne hinzuschauen, was sich noch darin befand. Ihre Neugier von vorhin schien erloschen.
Klingelnd und raschelnd fielen die Schalen hinein und verteilten sich.
Charles seufzte und hoffte, dass die SIM-Karte es überstand.
»Sehr geehrte Reisende, wir erreichen in wenigen Minuten pünktlich unseren Ziel- und Endbahnhof Frankfurt Hautbahnhof. Sie haben dort folgende Anschlussmöglichkeiten …«, schallte die scheppernde Durchsage durch das Großraumabteil.
Wie immer sorgte die Ankündigung für Unruhe, als würde der Zug nur Sekunden auf dem Gleis verweilen. Innerhalb weniger Minuten drängten sich die Passagiere vor der Tür und im Gang.
Wie beim Fallschirmabsprung im Flugzeug. Charles sah aus dem Fenster, wo ein Bahnsteig und das Schild Frankfurt-Süd vorbeihuschten Es würde noch dauern, bis sie am Flughafen ankamen.
Glücklicherweise gehörte auch die Hawaiihemd-Touristin zu den Ungeduldigen. Sie erhob sich und drängte sich durch die Schlange zu ihrem Koffer.
Charles nutzte die Gunst.
Er öffnete die Abdeckung, wühlte sich durch die Pistazienschalen und bekam den Akku sowie die SIM-Karte zu fassen.
Das Gehäuse hatte sich allerdings verklemmt, und so musste er lautstark an der Proseccodose ruckeln, bis er auch das eingewickelte Handy geborgen hatte.
Er ignorierte die Blicke der verwundert-neugierigen Reisenden und begann im Schutz des aufgeklappten Koffers mit der Montage.
Der ICE fuhr über die Main-Brücke, der Bahnhof war gleich erreicht.
Charles wischte die Schalen- und Salzreste von der Karte, setzte sie ein, ließ den Akku folgen und startete das Alcatel.
Er erinnerte sich, auch mal eines besessen zu haben. Die Sendeleistung war gut, und die kurze Stummelantenne strahlte so heftig ab, dass man glaubte, die Stelle am Kopf auf gleicher Höhe würde sich erwärmen.
Natürlich kam eine PIN-Abfrage.
»Der Ausstieg in Frankfurt ist in Fahrtrichtung links«, verkündete der Lautsprecher. Der Zug schwang sich langsam in eine sanfte Kurve und fuhr abrupt tänzelnd und schlängelnd über die Weichen in den Bahnhof ein.
Charles drückte 0000 der Werkseinstellung. Das klappt garantiert nicht, aber einen Versuch …
Die Programmierung hob die Sperre auf.
Charles klickte sich sofort ins Menü für die SMS. Vielleicht gab es einen konkreten Anhaltspunkt auf das, was sich abspielte.
Inzwischen glaubte er nicht mehr an Verstehen Sie Spaß?, und doch hoffte er, dass er nicht in einen Auftragsmord verstrickt wurde.
Der ICE bremste weiter ab, der Bahnsteig glitt am Fenster vorbei. Unscharfe Gesichter, eine blinkende gelbe Lampe vom Servicewagen, Gepäckstücke, alles verwandelte sich in ein buntes Sammelsurium, das nicht parallel zum Zug schwebte.
Charles las die SMS. Es gab keine, die er nicht kannte, ergo nichts Neues – abgesehen von der Telefonnummer, an welche die Nachricht gegangen war. Immerhin.
Mit einem Ruck endete die Fahrt.
Zischend öffnete sich die Tür, die Passagiere schoben sich hinaus.
Charles hatte eine Umsteigezeit von zwanzig Minuten und beschloss zu warten, bis sich die Hauptflut hinaus ergossen hatte.
Und er ersann einen Plan: Er würde das Handy mitnehmen und anonym bei der Bundespolizei abgeben, zusammen mit einer Nachricht, in der er die Informationen festhielt, die er gehört hatte. Damit war seine Schuldigkeit getan. Sollen die Gesetzeshüter sich drum kümmern.
Er schärfte sich ein, seine Fingerabdrücke gleich auf der Toilette der DB-Lounge von jedem einzelnen Stück des Alcatel zu entfernen. In einem der bequemen roten Ledersessel der ersten Klasse würde er die Botschaft an die Polizei schreiben, in aller Ruhe bei einem schönen Weizenbier, danach den Mist loswerden und zu Annika fahren.
Das Alcatel vibrierte, und das Symbol für eine neue Nachricht erschien auf dem Display.
Charles sah zu den Touristen, die sich nur langsam an ihm vorbeiwälzten, Gepäck schoben und zerrten und schleiften. Noch hatte er Zeit. Er öffnete die SMS.
BRAUCHE MEINE INFOS …
Sofort bekam er einen Schweißausbruch. Die Nachfrage konnte nur vom Auftragnehmer kommen. Charles versuchte mit aller Macht, nicht Killer zu denken.
Die Nummer wurde als unbekannt deklariert.
Wieder summte das Alcatel.
BRAUCHE MEINE INFOS.
JETZT!
Das klang sehr dringend und bedrohlich.
Charles warf einen kurzen Blick auf den Gang und sah noch zwei Reisende, die eben ihre Koffer ins Freie wuchteten. Da es die Endstation war, würde niemand mehr einsteigen, er könnte gleich hinaushuschen.
BRAUCHE ME
Er warf seine Akten in den Koffer und klappte ihn zu, stellte ihn auf das Tischchen, um den ICE zu verlassen.
Plötzlich erschien ein Mann um die fünfzig in weißem Polohemd und schwarzer Hose neben seinem Sitz und nahm Platz. Sein Sakko hielt er in der Rechten, die Hand lag unter dem Stoff, als sei dort etwas verborgen. Die Designersonnenbrille verdeckte einen Teil seines Gesichts. Der Mann sah auf das Handy in Charles’ Fingern und lächelte. »Sie haben ein Paketproblem?«
Charles wurde schlagartig schlecht. Krampfhaft versuchte er wieder, nicht Killer zu denken. Den Ahnungslosen zu mimen, klappte nicht, er hielt das Handy in der Hand. Der Mann würde ihn als unliebsamen Zeugen über den Haufen schießen. Dank des leeren Abteils gab es keinerlei Zeugen. Scheiße. Jetzt hänge ich drin. So was von.
»Ja«, erwiderte er und hoffte, nicht zu zittrig zu klingen.
»Fein.« Der Mann entspannte sich ein wenig. »Verzeihen Sie, dass ich den persönlichen Kontakt herstelle, aber die Technik ließ mich im Stich. Das ist mir sehr unangenehm.« Er zeigte auf den Sessel wie als Anweisung, dass Charles sich nicht bewegen solle. »Bitte. Es dauert nur ein paar Sekunden. Ich habe noch einige Rückfragen, um das Paket abzufangen.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Mir auch. Man sollte sich auf die alten Akkus einfach nicht mehr verlassen.« Der Mann lächelte kalt. »Machen wir es kurz: Ich brauche den Namen und die Adresse des Pakets.«
»Dann haben Sie meine SMS gar nicht erhalten?«
»Bis auf die zeitlichen Parameter?« Der Mann, der sehr unscheinbar wirkte und in der Menge auf dem Bahnsteig niemandem in Erinnerung bleiben würde, schüttelte den Kopf. Es schien ihm unangenehm zu sein. »Geben Sie mir die Infos, und es wird geschehen, wofür Sie mich bezahlen.«
Charles sah die letzten Leute aussteigen. Was mache ich?
Verunsicherte neue Passagiere blickten auf die Anzeige neben der Tür, ein Schaffner spurtete vorbei, um sie vom Einsteigen abzuhalten.
Er wusste, wie der Name des Pakets lautete und wo es wohnte. Zumindest die Straße. Seine Gedanken überschlugen sich, und nirgendwo schien eine Lösung zu sein.
Die Angst, im Angesicht des Killers aufzufliegen und wie auch immer von dem Mann an Ort und Stelle umgebracht zu werden, saß ihm im Nacken und lähmte den Verstand; dazu raste das Herz, er atmete viel zu schnell.
Das entging auch seinem Gegenüber nicht. Er runzelte die Stirn. »Alles in Ordnung?«
»Ich … bin nervös. Ich gebe nicht jeden Tag Mordaufträge«, entschlüpfte es ihm.
»Das Abfangen eines Pakets nennen wir es.« Der Mann lächelte nachsichtig. »Ich höre?«
Charles wusste nichts mehr. Gar nichts mehr.
Da er weder Unschuldige noch Freunde noch sonst wen in die Sache verwickeln wollte, entschied sein Gehirn sekundenbruchteilschnell unter Ausblendung von Verstand und Feigheit, dass sein Mund heldenhaft sagen sollte: »Charles Egon Mischke, Nikischplatz 8. Drittes Obergeschoss. Leipzig.«
»Die zeitlichen Parameter bleiben?«
»Ja.« Scheiße! Scheiße, was mache ich da?
Charles’ Verstand beruhigte ihn sofort mit einer Lösung: die Polizei in seine Wohnung bestellen, den Killer abfangen, Fall gelöst und die Hinterfrau nachträglich dingfest machen.
Das war besser, als nichts zu tun und einen Unschuldigen draufgehen zu lassen.
Und besser als den Tod in einem ICE-Abteil durch eine unter dem Sakko des Killers verborgene Waffe zu empfangen, sollte dieser merken, nicht den Auftraggeber vor sich zu haben. Das spielte eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung, sagte ihm sein Verstand. Lebensnotwendige Tötungsprokrastination.
»Bestens.« Der Mann zeigte auf das Alcatel. »Geben Sie mir das, bitte.«
Mein einziges Beweismittel! Das durfte er nicht verlieren. »Ah, lassen Sie nur. Ich demontiere es, knicke die SIM-Karte und verteile das Zeug einzeln in den nächsten Gullys.«
»Eigentlich wollte ich es einsammeln, so wie es abgemacht war, aber Sie bekommen das sicherlich hin.« Der Unbekannte erhob sich. »Betrachten Sie den Auftrag als erledigt.« Er schlenderte zum Ausgang, durch den eben der Schaffner kam und die beiden letzten Passagiere missbilligend ansah. »Sollten Sie der Meinung sein, Sie könnten das Paketproblem ohne mein Eingreifen lösen, senden Sie mir einfach das Codewort an die Mail-Adresse.«
Man kann ihn zurückpfeifen! Zu gerne hätte Charles gefragt, wie das Codewort und die Mail-Adresse lauteten, aber dann würde er vermutlich von Kugeln durchsiebt werden. Und der Schaffner gleich mit. »Alles klar.«
»Aber mein Geld bekomme ich dennoch.« Der Killer grinste kalt. »Überlegen Sie es sich also gut. Der Abtransport nach dem Abfangen ist übrigens inklusive.«
»Was macht Sie so sicher, dass es klappt?« Charles versuchte, unauffällig an Informationen zu kommen.
Der Unbekannte beschwichtigte den Schaffner, der sich gestikulierend der Glastür näherte, die Eingangsbereich von Abteil trennte. Der Bewegungssensor würde gleich reagieren. »Einer von uns erwischt ihn. Ein guter Paketdienst hat mehr als einen Mitarbeiter. Schönen Tag.«
Bevor Charles nachhaken konnte, stand der Schaffner im Wagen. »Herrschaften, bitte verlassen Sie den Zug. Please, gentlemen, leave …«
»Entschuldigen Sie. Ich war noch auf Toilette.« Der Killer ging an ihm vorbei und sprang auf den Bahnsteig, schaute auf die Uhr und ging rasch los.