Reich & Schön - Best of Julia 2015 - Lynn Raye Harris - E-Book

Reich & Schön - Best of Julia 2015 E-Book

Lynn Raye Harris

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Beschreibung

BLITZHOCHZEIT AUF GRIECHISCH Groß und elegant steht Anatole Telonidis vor ihr, und Lyn spürt, wie ihre Knie nachgeben. Nicht vor Verlangen - sondern aus Angst! Sicher ist der gutaussehende Grieche angereist, um ihr den kleinen Georgy, Sohn seines verstorbenen Bruders und einziger Erbe des Telonidis-Clans, zu nehmen! Sie hat nichts, was sie ihm entgegensetzen könnte - außer vielleicht der bedingungslosen Liebe für ihren Neffen. Was kann sie nur tun? Doch noch während sie fieberhaft nach einem Ausweg sucht, erhebt Anatole die Stimme. Und was er sagt, erschüttert Lyns Welt: "Wir werden heiraten!" UNSERE ZWEITE CHANCE FÜR DAS GLÜCK? Was für ein Mann! Die junge Parfümeurin Holly kann Drago di Navarras Verführungskünsten einfach nicht widerstehen. Eine Dummheit, die sie teuer zu stehen kommt. Denn der Chef des millionenschweren Kosmetikkonzerns glaubt, dass sie nur mit ihm geschlafen hat, um ihre Karriere voranzutreiben … Ohne Holly eine Chance zur Verteidigung zu geben, setzt er sie vor die Tür. Doch als sie sich ein Jahr später überraschend wiedersehen, entflammt das Verlangen erneut. Aber dieses Mal ist es Holly, die die Regeln aufstellt! Denn ihr Herz schlägt nicht mehr nur allein für Drago … HOCHZEITSNACHT MIT EINER FREMDEN "Sie dürfen die Braut jetzt küssen." Der charismatische Alexander King glaubt sich am Ziel seiner Träume. Neben ihm steht seine schöne, junge Ehefrau, und mit dem Ja vor dem Altar steuert er sie beide in eine glückliche, wenn auch etwas langweilige Zukunft. Doch als sich ihre Lippen berühren, durchfährt Alex ein unbekanntes, wildes Verlangen. Sein Verstand weigert sich zu glauben, was sein Körper mit jeder Faser fühlt: Die Frau, der er auf der romantischen Karibikinsel das Ja-Wort gegeben hat, ist niemals Kim - sondern ihre sexy, skandalumwitterte Zwillingsschwester Liv!

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Julia James, Lynn Raye Harris, Tara Pammi

Reich & Schön - Best of Julia 2015

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: 040/60 09 09-361 Fax: 040/60 09 09-469 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Christel BorgesGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2014 by Julia James Originaltitel: „Securing the Greek’s Legacy“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIABand 2161 - 2015 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Helga Meckes-Sayeban

Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733701307

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Resigniert ließ Anatole Telonidis den Blick durch die weitläufige, kostbar eingerichtete Empfangshalle des Penthouse-Apartments im vornehmsten Viertel Athens schweifen. Sie sah immer noch so chaotisch aus, wie sein junger Cousin Marcos sie vor wenigen Wochen verlassen hatte. Unmittelbar bevor er in den Tod gerast war.

Wieder dachte Anatole an den Augenblick, als sein Großvater Timon Petranakos ihn verzweifelt angerufen hatte. „Anatole, er ist tot! Marcos, mein geliebter Marcos – tot!“

Mit gerade mal fünfundzwanzig war Marcos am Lenkrad seines Sportflitzers bei wahnwitzig überhöhter Geschwindigkeit buchstäblich in Stücke gerissen worden. Den teuren Rennwagen hatte Timon seinem Enkel geschenkt, nachdem er von seiner unheilbaren Krebserkrankung erfahren hatte.

Der Tod seines Lieblingsenkels, den er maßlos verwöhnt hatte, weil der Junge mit sechzehn die Eltern verloren hatte, war für Timon ein grausamer Schicksalsschlag gewesen. Seitdem verweigerte er jede Behandlung und lebte seinem Tod förmlich entgegen.

Dass sein Großvater nur noch trauerte und allen Lebenswillen verloren hatte, verstand Anatole. Doch die Folgen von Marcos’ tragischem Tod würden sehr viel mehr Menschen zu spüren bekommen als nur die eigene Familie. Ohne direkten Erben würde die riesige Petranakos Corporation an einen fernen Verwandten ohne die erforderlichen unternehmerischen Fähigkeiten übergehen. Angesichts der ohnehin kritischen allgemeinen Wirtschaftslage musste das unweigerlich zum Zusammenbruch des Konzerns und dem Verlust Tausender Arbeitsplätze führen – und die ­sowieso schon katastrophale Arbeitslosigkeit im Lande noch weiter verschärfen.

Anatole leitete ein eigenes Unternehmen, das er von seinem verstorbenen Vater übernommen hatte. Und er tat das mit unermüdlichem Einsatz und enormem Verantwortungsbewusstsein. Ganz sicher hätte er seinen lebenslustigen Cousin auch so weit bringen können … wenn er noch am Leben wäre. Der jetzige Erbe – ein selbstgefälliger, arroganter Mann mittleren Alters – lehnte jede Beratung als Einmischung ab.

Anatole sorgte sich um die Zukunft von Petranakos Corporation und ihrer verwaisten Belegschaft. Fürs Erste blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als sich an die undankbare Aufgabe zu machen, die Hinterlassenschaft seines Cousins zu sichten.

Zunächst würde er sich die Unterlagen und Ordner vornehmen.

Anatole ging in Marcos’ Arbeitszimmer und sah die planlos abgelegten Papiere methodisch durch. Ärgerlich stellte er fest, dass sein Cousin ein hoffnungsloser Chaot gewesen war. Quittungen, Rechnungen und persönliche Korrespondenz lagen kreuz und quer durcheinander, was bewies, wie wenig Marcos das alles interessiert hatte. Er hatte einfach Spaß haben wollen. Sein Leben hatte sich praktisch nur um rassige Wagen, Luxus und eine endlose Folge schnell wechselnder weiblicher Bekanntschaften gedreht.

Im Gegensatz zu Anatole, den die Leitung des Telonidis-Unternehmens voll in Anspruch nahm, sodass ihm nur wenig Zeit für Beziehungen geblieben war, meistens zu Geschäftsfrauen aus der Finanzwelt.

Seufzend hielt Anatole inne.

Wenn Marcos wenigstens geheiratet hätte! Dann hätte er möglicherweise einen Sohn gehabt, der Timons Erbe antreten könnte! Für ihn hätte ich die Petranakos Corporation geleitet, bis er erwachsen ist …

Doch für den Playboy Marcos war Heiraten kein Thema gewesen. Er ziehe unverbindliche Beziehungen vor, hatte er wiederholt erklärt. Zum Heiraten sei später noch genug Zeit.

Doch für ihn hatte es kein Später gegeben …

Seufzend widmete Anatole sich wieder den Papieren auf dem Schreibtisch seines Cousins. Geschäftliches auf einen Stapel, Persönliches auf den anderen. Im Zeitalter von SMS und Internet war letzterer erwartungsgemäß nicht hoch. In einer Schublade entdeckte Anatole ein kleines Bündel von drei, vier handschriftlich adressierten Umschlägen mit Londoner Poststempel und englischen Briefmarken. Nur einer war geöffnet.

Stirnrunzelnd betrachtete Anatole ihn. Die lila Umschläge und die große, geschwungene Schrift ließen auf einen weiblichen Absender schließen. Obwohl Marcos’ dramatischer Unfall die Titelseiten der griechischen Boulevardblätter gefüllt hatte, war es gut möglich, dass seine englische Freundin nichts von seinem Tod erfahren hatte. Also sollte er sie wohl unterrichten. Erst jetzt fiel Anatole auf, dass die Poststempel auf allen Umschlägen mehr als neun Monate alt waren. Wer immer die Dame war, ihre Affäre mit Marcos – oder was zwischen ihnen gewesen sein mochte – war längst vorbei.

Um das Ganze möglichst schnell hinter sich zu bringen, zog Anatole den Brief aus dem geöffneten Umschlag, faltete ihn auseinander und begann zu lesen.

Und hielt wie versteinert inne …

Seufzend verließ Lyn den Hörsaal. Es war hoffnungslos! Tausendmal lieber hätte sie Geschichte studiert. Doch mit Buchhaltung und Rechnungswesen konnte sie sich in Zukunft besser durchs Leben schlagen, und das war entscheidend. Schließlich musste sie die Behörden überzeugen, dass sie ihren geliebten Georgy allein versorgen konnte. Während Lyn ungeduldig darauf wartete, ihn adoptieren zu können, durfte sie ihn nur vorübergehend als Pflegemutter übernehmen. Sie wusste, dass die Behörden ihn lieber einem kinderlosen Ehepaar anvertraut hätten, das ein Baby adoptieren wollte. Doch Lyn war entschlossen, um Georgy zu kämpfen. Nichts und niemand würde ihn ihr wegnehmen!

Egal, wie schwer es war, zu studieren und sich gleichzeitig um ein Baby zu kümmern – erst recht mit ihren knappen Mitteln –, irgendwie würde sie sich durchschlagen. Wieder bereute Lyn, nach der Schule nicht gleich die Universität besucht zu haben. Dann könnte sie jetzt ein abgeschlossenes Studium vorweisen.

Aber sie hatte damals nicht direkt auf die Uni wechseln können, weil sie sich um Linda kümmern musste. Lyn hatte es einfach nicht über sich gebracht, die kleine Schwester ihrer gleichgültigen, schlampigen Mutter zu überlassen. Und nachdem Lindy von der Schule abgegangen war, mit einer Freundin in London zusammengezogen war und sich dort eine Stelle gesucht hatte, war ihre zigaretten- und alkoholabhängige Mutter schwer erkrankt. Schließlich hatten ihre Lungen und die Leber versagt, sodass Lyn nichts anderes übrig geblieben war, als sich um die Todkranke zu kümmern.

Und jetzt war Georgy da …

„Lyn Brandon?“ Eine Angestellte der Universitätsverwaltung kam auf sie zu. „Ein Herr möchte Sie sprechen.“ Die Frau deutete zu einem Büro auf der anderen Seite des Ganges.

Befremdet betrat Lyn den Raum.

Und blieb wie angewurzelt stehen.

Im fahlen Vormittagslicht konnte sie am Fenster eine eindrucksvolle Gestalt in einem schwarzen Kaschmirmantel ausmachen. Seinen Zügen, der olivefarbenen Haut und dem dunklen Haar nach zu schließen, stammte der Mann aus einem Mittelmeerland.

Stirnrunzelnd sah er sie an. Offenbar hatte er jemand anders erwartet.

„Miss Brandon?“, fragte er und betrachtete sie zweifelnd.

Der Mann sah umwerfend aus.

Ihr wurde bewusst, dass sie einen praktischen Pferdeschwanz, kein Make-up und zu abgewetzten Jeans einen ausgebeutelten Pullover trug.

Dann begriff sie, wer der Fremde sein musste …

Sein Aussehen, die teure Kleidung, die gepflegte Erscheinung … alles an ihm sprach von Reichtum und …

Ihr Magen verkrampfte sich, Panik stieg in ihr auf.

Anatole bemerkte ihre alarmierte Reaktion. Ahnte sie etwas? Endlich hatte er die Person gefunden, die er seit der Entdeckung des Briefs an Marcos verzweifelt suchte: die Frau, die laut Detektivauskunft einen gesunden Jungen zur Welt gebracht hatte.

Marcos’ Sohn?

Wenn Marcos einen Sohn hätte, würde das alles ändern. Alles!

In dem Fall musste er das Kind finden und nach Griechenland bringen, wohin es gehörte. Und Timon, der von Tag zu Tag schwächer wurde, würde wieder aufleben, nachdem das grausame Schicksal ihm fast alles genommen hatte.

Aber nicht nur für seinen Großvater würde die Entdeckung von Marcos’ Sohn ein Segen sein. Timon würde sein Testament ändern. Sein geliebter Enkel Marcos hatte einen Sohn, dem er Petranakos Corporation hinterlassen konnte! Solange der Junge noch klein war, würde Anatole das Imperium leiten und die Belegschaft trotz gewisser Probleme voll weiterbeschäftigen.

Die Suche nach der Briefschreiberin hatte Anatole zunächst zu einem Rathaus in Südengland geführt und von dort – dank einiger Hinweise von Nachbarn – zu der Universität hier im Norden.

Doch nachdem er Linda Brandon nun vor sich hatte, überkamen ihn Zweifel. Das sollte die Frau sein, der er für seinen schwerkranken Großvater in einem Wettlauf mit der Zeit bis in diese gottvergessene verregnete Stadt nachgejagt war? Marcos hätte dieser Frau keinen zweiten Blick gegönnt – geschweige denn eine Affäre mit ihr angefangen!

„Sie sind Ms Brandon?“, fragte er etwas schärfer.

Lyn verkrampfte sich und nickte zögernd.

„Ich bin Anatole Telonidis“, stellte er sich vor. „Ich bin wegen meines Cousins Marcos Petranakos hier, mit dem Sie, soweit ich weiß …“, er suchte nach den richtigen Worten, „bekannt waren.“

Forschend betrachtete er die junge Frau erneut. Sie sah absolut durchschnittlich aus, dabei hatte Marcos auf kurvenreiche Blondinen gestanden. Schlanke Brünette hatten ihn kaltgelassen. Doch die Reaktion dieser Ms Brandon zeigte, dass sie tatsächlich die Person sein musste, die er gesucht hatte. Marcos’ Name sagte ihr etwas.

Aber nichts Gutes.

Ihr Gesichtsausdruck wurde hart. „Er hat sich also nicht einmal die Mühe genommen, selbst zu kommen“, erwiderte sie verächtlich.

Ihre anklagenden Worte trafen ins Leere. Der Mann, der sich als Marcos Petranakos’ Cousin vorgestellt hatte, wurde ganz still, und in seinen Augen erschien ein bedrückter Ausdruck.

„Es ist nicht so, wie Sie denken“, sagte er.

Ihr fiel auf, dass der Fremde sich sehr vorsichtig ausdrückte.

Einen Moment schwieg er, als müsste er sich zum Weitersprechen zwingen, dann erklärte er: „Ich muss mit Ihnen reden, Ms Brandon. Aber das ist nicht einfach …“

Sie schüttelte den Kopf und kam nun richtig in Fahrt. „Es ist sogar ganz einfach“, unterbrach sie ihn abschätzig. „Was immer Sie mir von Ihrem Cousin ausrichten sollen, können Sie sich sparen! Georgy – seinem Sohn – geht es ohne ihn bestens. Ausgezeichnet sogar!“

Ein Schatten überflog die Züge des Fremden, und wieder erschien in seinen dunklen Augen dieser seltsame Ausdruck.

Ein Schauer überlief Lyn.

„Ich muss Ihnen etwas sagen.“ Seine Stimme war dunkel und gedämpft.

„Was immer Sie mir sagen wollen, es interessiert mich nicht …“

Doch er ließ sie nicht ausreden. „Mein Cousin ist tot.“

Lastendes Schweigen folgte Anatoles Worten. Im Stillen verfluchte er seine schonungslose Enthüllung.

„Tot?“, wiederholte die junge Frau schockiert.

„Tut mir leid, Ms Brandon. Ich hätte es Ihnen nicht so brutal sagen dürfen“, entschuldige er sich steif.

Immer noch sah sie ihn starr an. „Marcos Petranakos ist tot?“

„Er hatte einen Autounfall. Vor zwei Monaten. Es hat mich einige Zeit gekostet, Sie ausfindig zu machen.“

Als Lyn zu schwanken begann, war er bei ihr und fing sie auf. Benommen stolperte sie zurück, versuchte, sich zu fangen.

Nach einem Moment gab er sie zögernd frei.

„Er ist tot?“, flüsterte sie ungläubig. Georgys Vater war tot …

„Bitte …“, sagte Anatole. „Sie sollten sich erst mal setzen. Tut mir leid. Das Ganze muss ein Schock für Sie sein“, fuhr er fort und wählte seine Worte nun behutsam. „Wie intensiv war Ihre Beziehung zu Marcos?“

Sie brachte nur einen dumpfen Laut heraus und sah ihn weiter starr an. Dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Empörung und verständliche Wut auf den Mann, der sie geschwängert und dann einfach hatte fallen lassen, übermannten sie.

„Meine Beziehung zu ihm?“, wiederholte sie und schüttelte den Kopf.

„Ja“, beharrte Anatole. „Aus Ihren Briefen an ihn weiß ich – verzeihen Sie, dass ich sie gelesen habe –, dass Sie meinen Cousin geliebt haben. Und dass Sie gehofft hatten …“ Er zögerte, weil ihm einfiel, wie hoffnungsvoll sie Marcos mitgeteilt hatte, ein Baby zu erwarten. „Sie wollten eine Familie mit ihm gründen, Miss Brandon, aber …“

Weiter kam er nicht.

„Ich bin nicht Georgys Mutter“, klärte sie ihn auf und schien den Tränen nahe zu sein.

Im ersten Moment glaubte Anatole, sich verhört zu haben. Was, zum Teufel, ging hier vor?

„Wie bitte?“, fragte er scharf. „Sie haben doch behauptet, Linda Brandon zu sein.“

Wie in Trance schüttelte sie den Kopf. „Ich bin Lyn … Lynette Brandon.“

Anatole sah, dass es ihr schwerfiel zu sprechen. Ihr Gesicht war schneeweiß, sie stand immer noch unter Schock.

„Lindy … Linda …“ Sie verstummte, und ihre Augen schimmerten verräterisch. „Linda war meine Schwester“, brachte sie matt hervor.

War …

Nur sehr langsam begriff Anatole.

Mit bebender Stimme fuhr sie fort: „Meine Schwester ist … Georgys Mutter. Sie starb bei seiner Geburt. Eklampsie … Heutzutage dürfte es nicht mehr dazu kommen, aber es ist passiert …“ Ihre Stimme brach.

Trostlos sah sie Anatole an.

Was für eine unglaubliche Tragödie!

Georgys Eltern sind beide tot!

Dass Marcos ein ähnlich schreckliches Schicksal ereilt hatte wie ihre Schwester, war unfassbar. Lyn kamen die Tränen.

Wie aus weiter Ferne drang Anatole Telonidis’ Stimme zu ihr durch. „Sie sollten sich lieber setzen, Ms Brandon!“, drängte er sie.

Behutsam führte er sie zu einem Stuhl. Aber auch er musste sich erst einmal mit der Situation auseinandersetzen.

Wo ist das Kind? Wo ist Marcos’ Sohn?

Das musste er hier und jetzt klären! Kalte Furcht packte Anatole. Neugeborene standen bei kinderlosen Paaren hoch im Kurs. Und ein vaterloses Baby, dessen Mutter bei der Geburt gestorben war …

Ist das Baby bereits adoptiert worden? Die Frage brannte Anatole auf der Seele. Wenn ja, würde es einem Albtraum gleichkommen, es aufzuspüren – selbst falls die Behörden mitspielten. Und würden die Adoptiveltern das Kind wieder hergeben? Würde er den Behörden begreiflich machen können, dass für den todkranken Großvater des Kindes alles davon abhing, zu erfahren, dass er einen Erben hatte?

Wieder betrachtete Anatole die Schwester der Frau, die das Kind seines Cousins zur Welt gebracht hatte und dabei gestorben war.

Vorsichtig fragte er: „Wo ist der Sohn meines Cousins?“ Natürlich durfte er Lyn Brandon nicht drängen – aber er musste es wissen!

Sie hob den Kopf und sah ihn trotzig an. „Bei mir!“

Undeutlich wurde Anatole bewusst, wie die Person, die er eben noch als unscheinbar abgetan hatte, sich von dem einen Moment zum nächsten in eine leidenschaftliche Kämpferin verwandelte. Dann ging ihm auf, was ihre Antwort bedeutete.

„Bei Ihnen?“

„Ja, bei mir! Und da bleibt er auch! Punkt, Schluss!“

Panisch sprang sie auf. Zu viel war in letzter Zeit passiert. Ein Schock nach dem anderen hatte sie überrollt. Sie konnte nicht mehr, wurde mit ihrer Situation nicht mehr fertig.

Anatole trat näher. „Miss Brandon, wir müssen reden und verschiedenes besprechen …“

„Da gibt es nichts zu besprechen! Nicht das Geringste!“

Ehe er sie daran hindern konnte, stürmte sie aus dem Raum.

Lyn floh. Sie war völlig durcheinander. Obwohl sie sich zwang, die nächste Vorlesung zu besuchen, konnte sie sich nicht konzentrieren. Ein einziger Gedanke beherrschte sie.

Georgy gehört zu mir! Zu mir!

Lindy hatte ihr das Baby auf dem Sterbebett anvertraut, und sie würde ihr Versprechen halten. Was auch immer geschah!

Wieder übermannte Lyn die Trauer um ihre Schwester.

„Kümmere dich um Georgy …“, waren Lindys letzte Worte gewesen, ehe die Dunkelheit die Fiebernde dahingerafft hatte.

Ja, das werde ich. Ich verspreche dir, immer für ihn da zu sein, ihn nie zu verlassen und alles zu tun, damit er es gut hat. Ich werde ihn niemals im Stich lassen!

„Du und ich – wir sind unzertrennlich, Georgy“, flüsterte Lyn später, als sie die Vormittagsvorlesungen hinter sich hatte und den Kleinen vom Universitätshort abholte, um mit dem Bus nach Hause zu fahren.

Während sie in den Bus stieg – den Klappbuggy in einer Hand, Georgy auf dem anderen Arm –, entging ihr, dass hinter dem Bus eine schwarze Limousine auf die Straße hinausglitt und ihm folgte.

Zwei Stunden später stand Anatole vor dem Wohnblock, in dem Lyn Brandon wohnte, und blickte finster hinauf. Es war ein hässlicher, primitiver Betonbau aus den sechziger Jahren, von dessen Mauern die Farbe abblätterte. Die ganze Gegend wirkte düster und trostlos. Kein Ort, an dem Timon Petranakos’ Urenkel aufwachsen durfte!

Entschlossen klingelte er an der Haustür.

2. KAPITEL

Aufatmend hatte Lyn sich an den wackligen Tisch in der Wohnzimmerecke vor ihre Studienbücher gesetzt. Georgy war gefüttert und gewindelt und machte im Nebenzimmer seinen gewohnten Mittagsschlaf. Sie war froh, dass er das nachmittags tat, obwohl er dann oft nachts nicht durchschlief. Aber so blieben ihr ein, zwei Stunden, um fürs Studium zu arbeiten. Doch heute konnte sie sich nicht konzentrieren. Die Ereignisse des Vormittags hatten sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.

Hoffentlich hatte sie den Mann, der wie eine Bombe in ihr Leben geplatzt war, so überzeugend abgefertigt, dass er nach Griechenland zurückflog und sie in Ruhe ließ! Die Begegnung mit Anatole Telonidis hatte ihre alte Furcht wieder geweckt. Die Adoptionsbehörden glaubten, es gäbe keinen Kontakt zu Georgys Vater oder seiner Familie. Doch seit heute stimmte das nicht mehr.

Daran darf ich einfach nicht denken! Entschlossen versuchte Lyn, die beunruhigenden Gedanken an den Mann zu verbannen, der ihr Leben durcheinandergewirbelt hatte, und schlug ihr Fachbuch auf.

Zwei Minuten später wurde sie gestört. Es klingelte an der Tür.

Befremdet hob Lyn den Kopf. Wer konnte das sein? Zu ihr kam doch eigentlich niemand.

Wieder klingelte es. Seufzend ging Lyn zur Wohnungstür und meldete sich über die Gegensprechanlage.

„Wer ist da?“, fragte sie.

„Ms Brandon – wir haben noch viel zu besprechen.“

Anatole Telonidis!

Sekundenlang stand Lyn reglos da. Einfach nicht reinlassen! Doch sie wusste, dass sie damit nicht durchkommen würde. Ihr blieb nichts anderes übrig, als diese Aussprache ein für alle Mal hinter sich zu bringen. Danach konnte sie den Mann und den Zwischenfall abhaken und Georgys Familie würde sie nicht mehr belästigen. Genervt drückte Lyn auf die Einlasstaste.

In ihrer beengten Wohnung wirkte Anatole Telonidis noch größer und eindrucksvoller. Doch es waren nicht nur seine Größe und das fabelhafte Aussehen, die sie überwältigten. Der Mann hatte etwas Beherrschendes an sich, eine Ausstrahlung, der sie sich nicht entziehen konnte.

Lyn versuchte, sich nichts von seiner Wirkung auf sie anmerken zu lassen. Das konnte sie sich jetzt nicht leisten!

Außerdem erinnerte eine innere Stimme sie daran, wen er vor sich hatte: einen Niemand, eine unscheinbare Studentin mit Pferdeschwanz, ohne Make-up in ausgebeulten Jeans und Schlabberpulli, der ein Mann wie er keinen zweiten Blick schenkte.

Was schert mich das? Hier ging es um Georgy und die Forderungen des Fremden! Und darum, wie sie ihn schleunigst wieder loswurde!

Prüfend blickte Anatole an ihr vorbei in das kleine Wohnzimmer mit den schäbigen Möbeln, dem abgewetzten Teppich und den Vorhängen mit dem schrecklichen Muster.

Lyn warf stolz den Kopf zurück. Sicher, bei ihr war alles sehr einfach, aber die Wohnung war billig und wurde möbliert vermietet. Wählerisch zu sein, konnte sie sich nicht leisten. Und Geor­gy fand es nicht wichtig, wo sie wohnten. Sie selbst auch nicht.

Doch dieser Mann, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel in ihr Leben eingebrochen war, sah aus, als legte er Wert auf so etwas. Was er sah, schien ihn nicht gerade zu begeistern.

„Ich hoffe, Sie haben sich inzwischen Gedanken über das gemacht, was ich Ihnen heute Vormittag sagte, und bringen Verständnis dafür auf“, sagte Anatole. „Es ist ungeheuer wichtig für mich, mit Ihnen über die Zukunft von Marcos’ Sohn zu sprechen.“

„Da gibt es nichts zu besprechen“, erwiderte Lyn schroff.

Anatole presste die Lippen zusammen. Sie blieb also halsstarrig. Dann musste er sie wohl zur Vernunft bringen. Doch im Moment war etwas noch wichtiger: Er musste Marcos’ Sohn mit eigenen Augen sehen.

Suchend blickte er sich um. „Wo ist das Baby?“, fragte er locker.

Die junge Frau zuckte zusammen. Sie war immer noch so schrecklich gekleidet. Wie sie aussah, schien ihr völlig egal zu sein.

„Georgy schläft“, erwiderte sie abweisend.

Er sah sie eindringlich an. „Ich möchte ihn sehen.“

Das war keine Bitte, sondern eine Forderung. Anatole blickte an ihr vorbei zur halb geöffneten Schlafzimmertür und ging darauf zu. Im Halbdunkel bemerkte er neben dem Bett ein Kinderbett, in dem, in eine Decke gekuschelt, ein Baby lag. Seine Züge konnte er nicht erkennen.

Bist du Marcos’ Sohn? Bist du das Kind, das ich verzweifelt suche?

„Wecken Sie ihn bitte nicht auf“, warnte Lyn, die ihm besorgt gefolgt war.

Ihr flehender Ton verfehlte seine Wirkung nicht. Anatole nickte, verließ das Schlafzimmer und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Mit seiner Größe schien er den beengten Raum fast zu sprengen.

„Sie sollten sich lieber setzen, Ms Brandon“, sagte er und deutete auf das Sofa.

Steif folgte sie seiner Aufforderung. Sie musste eine Möglichkeit finden, den Mann loszuwerden, und erreichen, dass er sie und Georgy in Ruhe ließ. Entschlossen hielt sie sich vor Augen, warum er hier war. Und was er forderte.

„Wenn Sie wollen, dass ich unterschreibe, keinerlei Ansprüche an das Vermögen seines Vaters zu stellen, tue ich es auf der Stelle“, platzte Lyn heraus. „Ich will kein Geld oder Unterhalt oder sonst etwas. Georgy und mir geht es wunderbar. Wir kommen auch so bestens aus!“ Ein Schatten überflog ihre Züge, und sie schlug einen sanfteren Ton an. „Tut mir leid zu hören, dass Ihr Cousin … tot ist.“ Sie sah Anatole Telonidis fest an. „Aber das ändert nichts daran, dass er nie das geringste Interesse an Georgy gezeigt hat. Darum …“

Beschwichtigend hob Anatole die Hand.

„Mein Cousin ist … war…“, berichtigte er sich schmerzlich, „der einzige Petranakos-Enkel unseres gemeinsamen Großvaters Timon. Marcos’ Eltern starben, als er noch ein Teenager war, sodass er zum erkorenen Liebling unseres Großvaters wurde. Mit Marcos’ Tod brach Timons Welt zusammen. Den grausamen Schicksalsschlag hat er nicht verkraftet.“ Anatole atmete tief durch. „Marcos starb am Steuer des Sportwagens, den sein Großvater ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, nachdem er erfahren hatte, dass er unheilbar an Krebs erkrankt war.“

Anatole schwieg, um der jungen Frau Zeit zu lassen, das Gehörte zu verarbeiten. Reglos saß sie da und wirkte ehrlich erschüttert.

Nach einer Weile fuhr er ruhig fort: „Jetzt verstehen Sie sicher, wie viel es Timon bedeuten würde zu wissen, dass er nach dem Verlust seines geliebten Enkels immerhin einen Urenkel hat.“ Abwartend betrachtete er sie. Ihre Miene blieb starr und abweisend. Ich muss sie von meinem Anliegen überzeugen. „Meinem Großvater bleibt nur noch wenig Zeit. Der Krebs ist schon weit fortgeschritten. Und seit dem Tod meines Cousins verweigert er jede Behandlung. Er wartet nur noch auf den Tod, weil er seit dem Verlust seines Enkels keinen Grund mehr sieht weiterzuleben.“ Jetzt galt es, das entscheidende Argument ins Feld zu führen: „Das Baby Ihrer Schwester – der Sohn meines Cousins – würde meinem Großvater wieder Lebensmut geben, Ms Brandon.“

Gespannt sah er sie an. Sie war immer noch kreidebleich und knetete die Hände im Schoß. Ernst sprach er weiter. Er musste ihr klarmachen, wie dringend sein Ersuchen war.

„Ich möchte Georgy so schnell wie möglich nach Griechenland mitnehmen. Mein sterbenskranker Großvater muss die Gewissheit haben, dass sein Urenkel im Land seiner Väter aufwächst …“

Da sprang Lyn entsetzt auf. „Nein! Nein, das lasse ich nicht zu!“, brach es aus ihr heraus.

Jetzt war Diplomatie gefragt, das wusste Anatole. „Sie sind außer sich, Ms Brandon, und das ist verständlich. Das Ganze ist ein Schock für Sie. Ich wünschte, es wäre nicht so dringend, aber wegen Timons kritischen Gesundheitszustands bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie zu drängen!“ Beschwörend fuhr er fort: „Das Letzte, was ich will, ist ein Kampf zwischen uns. Ihre Mithilfe und Zustimmung sind mir sehr wichtig. Ich muss Ihnen wohl nicht erst sagen, dass Marcos’ Vaterschaft durch einen DNA-Test bestätigt werden könnte …“

„Es wird keinen DNA-Test geben!“, unterbrach Lyn ihn heftig.

Etwas in ihrem Ton, ihrem Gesichtsausdruck ließ ihn aufmerken. Dahinter stand mehr als Empörung. Lyn Brandon war unsicher.

Und sie hatte Angst.

Jetzt war er hellwach. Thee mou … War das Kind vielleicht doch nicht von Marcos? Alles in den bittenden, fast flehentlichen Briefen der Mutter des Kindes ließ darauf schließen, dass sie kein flatterhaftes Partygirl gewesen war, sondern sich unsterblich in seinen Cousin verliebt hatte. Nein, Marcos war der Vater ihres Kindes, daran konnte es keinen Zweifel geben.

Natürlich würde Timon Beweise verlangen, ehe er den Kleinen zu seinem Erben ernannte, aber das dürfte reine Formsache und unkompliziert sein.

Angestrengt versuchte Anatole, sich ein genaueres Gesamtbild der Situation zu verschaffen. Lyn Brandons seltsame Reaktion gab ihm zu denken. Sie wehrte sich mit aller Macht dagegen, dass er Marcos’ Sohn nach Griechenland brachte. Aber wenn das Baby nicht von Marcos war, könnte sie seinen Anspruch abschmettern, indem sie auf einem DNA-Test bestand …

Und noch etwas ergab keinen Sinn: die Sache mit den fast gleichen Vornamen der beiden Schwestern. „Warum hieß Ihre Schwester so ähnlich wie Sie?“, fragte er unvermittelt. „Lynette und Linda … So etwas ist selten, weil man die Namen zu leicht verwechselt.“

„Na und?“, erwiderte Lyn kampfbereit. „Was ist schon dabei?“

Anatole sah sie durchdringend an. Hierauf reagierte Lynette Brandon genauso scharf wie auf die Erwähnung des DNA-Tests. Ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn sie ging zum Gegenangriff über.

„Haben Sie endlich begriffen, dass Sie die Reise hierher umsonst gemacht haben, Mr Telonidis? Es tut mir leid – auch wegen Ihres Cousins und Ihres Großvaters –, aber Georgy bleibt hier! Bei mir! Der Junge wird nicht in Griechenland aufwachsen. Er gehört zu mir!“

„So?“ Sein zweifelnder Ton ließ sie verstummen. Ihre Züge zeigten die gleiche Regung wie schon vorher: Ihre Angst war fast greifbar.

Was ist hier los? Die Frage ließ Anatole nicht mehr los.

Unvermittelt verlor Lyn die Fassung. „Ja!“, schleuderte sie ihm entgegen.

Seit Anatole am Vormittag von der doppelten Tragödie um das Baby erfahren hatte, hatte er seine Anwälte darauf angesetzt, die Sorgerechtsfrage juristisch abzuklären und zu prüfen, ob er mit der Forderung, das verwaiste Baby in Griechenland aufzuziehen, vor Gericht durchkommen würde. Noch hatte er keine Nachricht, aber offensichtlich wusste die Tante des Kindes mehr, da sie wiederholt betont hatte, das Sorgerecht für den Sohn ihrer Schwester zu haben.

Aber war das tatsächlich der Fall?

„Hat man Ihnen das Sorgerecht für Georgy amtlich zugesprochen, Ms Brandon?“

Wieder überflog ihre Züge ein seltsamer Schatten, dann wurden sie abwehrend.

Ja!“, wiederholte sie heftig.

Nun ging Anatole die Sache frontal an. „Sie haben ihn adoptiert?“

Auf ihren Wangen bildeten sich hektische Flecken. „Die Adoption läuft“, erklärte Lyn schnell. „Diese Dinge brauchen Zeit. Der Papierkram und die damit verbundene Bürokratie sind die reinste Nervenprobe. Aber natürlich adoptiere ich Georgy! Als seine nächste Verwandte habe ich einen vorrangigen Anspruch auf ihn.“

Anatole verzog keine Miene. Ihm war klar, dass die britischen Behörden der Tante des Kindes den Vorzug geben würden, wenn sie sich richtig ins Zeug legte. Und das tat sie! Ihre Beharrlichkeit nötigte ihm sogar Respekt ab. Lyn Brandon hatte es bestimmt nicht leicht. Neben dem Studium musste sie sich um das Baby kümmern. Dazu die bescheidenen finanziellen Lebensumstände …

Trotzdem musste er sie irgendwie überzeugen, dass Marcos’ Sohn auf keinen Fall in diesen ärmlichen Verhältnissen aufwachsen durfte. Undenkbar! Sobald Timon davon erfuhr, würde er mit letzter Kraft darauf bestehen, dass der Sohn seines geliebten Enkels nach Griechenland gebracht wurde. Zu seiner Familie.

Wie das Kind aufwachsen sollte, konnte später geklärt werden. Jetzt ging es erst einmal darum, das Baby nach Griechenland zu bringen, damit sein Urgroßvater es sehen und zu seinem Erben ernennen konnte, ehe der Krebs ihn hinwegraffte.

Um das zu schaffen, musste er die halsstarrige Tante des Babys davon abbringen, sich mit allen Mitteln dagegen zu sperren.

Aber wie?

Ein nicht sehr feiner, aber genialer Gedanke begann, in seinem Kopf Gestalt anzunehmen. Es gab eine Möglichkeit, einen fantastischen Weg, um den Widerstand der Frau zu brechen. Eine bewährte Methode, wie er aus geschäftlicher Erfahrung wusste, um Halsstarrige zum Nachgeben zu bewegen.

Zwar wollte er den Weg hier lieber nicht gehen … aber wenn jeder andere Versuch scheiterte, musste er es versuchen. Das schuldete er Timon und Marcos. Und den Tausenden Belegschaftsangestellten von Petranakos Corporation, deren Existenz auf dem Spiel stand.

Gefasst, aber eindringlich erklärte Anatole: „Ich bin sicher, Miss Brandon, dass Georgys Urgroßvater sich bei Ihnen für Ihre Hilfe und liebevolle Fürsorge bedanken wollen wird, die sein Urenkel durch Sie erfahren hat – und für Ihr Verständnis, dass Marcos’ Sohn im Kreis seiner Familie in Griechenland aufwachsen sollte. Als Zeichen seiner Anerkennung und Dankbarkeit wird mein Großvater Ihnen eine beträchtliche Summe zukommen lassen, die Ihnen eine sorglose finanzielle Zukunft garantiert.“

So. Es war heraus. Er hatte es unmissverständlich ausgesprochen. Wenn Lynette Brandon aufhörte, sich zu widersetzen, war ihr Leben in Armut ein für alle Mal vorbei. Gespannt wartete Anatole auf die Wirkung seines Angebots und ließ sie nicht aus den Augen.

Ihre Miene zeigte keine Regung. Hat sie mich nicht gehört?

Endlich erwiderte sie eisig: „Sie wollen mir Georgy abkaufen?“

Damit hatte er nicht gerechnet. „Natürlich nicht!“, wehrte er ab.

„Sie bieten mir Geld, damit ich Ihnen Georgy überlasse“, stellte sie klar.

Anatole schüttelte den Kopf. Musste sie es so brutal ausdrücken? „Was ich sagen will, ist …“

„Dass Ihr Großvater mich bezahlt, wenn ich mich bereit erkläre, dass Sie Georgy nach Griechenland mitnehmen“, erklärte sie kalt.

„Nein! So ist es nicht, Miss Brandon!“, widersprach er vorsichtig.

Wütend sprang Lyn auf. „Oh doch!“, schrie sie ihn an. „Genauso ist es! Wie können Sie es wagen, mir Georgy abkaufen zu wollen?“ Ihr schlug das Herz bis zum Hals. „Was fällt Ihnen ein, herzukommen und mir Geld zu bieten, damit ich Ihnen den Sohn meiner verstorbenen Schwester überlasse? Dass ich ihn überhaupt jemandem überlasse? Wie können Sie es wagen?“

Auch Anatole war aufgestanden. Groß und breitschultrig stand er vor ihr. Doch sie würde sich weder einschüchtern noch überrumpeln lassen. Nichts und niemand konnte sie von Georgy trennen!

Lyn war jetzt nicht mehr aufzuhalten.

„Ich habe meiner Schwester auf ihrem Sterbebett geschworen, ihren kleinen Sohn immer bei mir zu behalten. Mich immer um ihn zu kümmern und ihm alle Liebe zu geben, die er braucht. Weil sie es nicht mehr konnte. Weil sie wusste, dass sie sterben und nicht mehr erleben würde, wie ihr Baby aufwächst.“

Ihre Stimme war rau, und sie brachte die Worte nur mühsam hervor. Doch sie hatte die Hände zu Fäusten geballt.

Drückendes Schweigen folgte Lyns Ausbruch. Im Raum herrschte Totenstille.

Dann erklang ein hoher, verlorener Klagegeschrei.

„Gehen Sie!“, fuhr Lyn Anatole an. „So gehen Sie doch endlich!“

Dann stürzte sie ins Schlafzimmer, wo Georgy hellwach dalag. „Ssch!“, sprach sie tröstend auf den Kleinen ein und nahm ihn auf die Arme, um ihn zu wiegen, bis er sich beruhigt hatte.

Das vertraute Gefühl seines warmen Körpers entspannte sie und hatte eine ermutigende Wirkung auf sie.

Wie konnte jemand glauben, sie würde ihn weggeben? Sie liebte den kleinen Kerl mehr als alles auf der Welt! Georgy war ihr Ein und Alles – und sie seine einzige Bezugsperson.

Ein unsägliches Gefühl der Liebe und Zärtlichkeit durchflutete sie, während sie ihn schützend an sich drückte.

„Darf ich ihn sehen?“, drang Anatole Telonidis’ Stimme in ihr Bewusstsein vor.

Benommen fuhr sie herum.

Er stand an der Schlafzimmertür – und etwas an ihm war anders. Bisher hatte sie in ihm nur eine Gefahr, eine Bedrohung gesehen. Einen Eindringling, der Dinge sagte, die sie nicht hören wollte, die sie erschreckten. Und der alles bedrohte, was ihr etwas bedeutete.

Doch jetzt, im schwachen Licht des dämmrigen Raums, wirkte Anatole Telonidis irgendwie bedrückt – gequält.

Lyn spürte, dass Georgy den Kopf an ihrer Schulter hob und sich so drehte, dass er sehen konnte, woher die Stimme kam.

Einen Moment standen Lyn und Anatole reglos da. Dann stieß Georgy einen gurgelnden Laut aus und streckte die Arme nach dem Fremden aus – dem Mann, der mit seinem toten Vater verwandt war.

Unwillkürlich griff Anatole in seine Jacketttasche und holte ein silbergerahmtes Foto hervor. Prüfend blickte er auf Marcos’ Foto in seiner Hand und dann auf das Baby, das die junge Frau zärtlich in den Armen hielt.

Seine Ähnlichkeit mit Marcos war unverkennbar: Die gleichen dunklen Augen, die gleiche Mund- und Kopfform. Der gleiche Gesichtsausdruck …

Wie kommt es, fragte Anatole sich bewegt, dass Marcos’ Vaterschaft bereits in diesem frühen Alter eindeutig zu erkennen ist?

„Ich war mir meiner Sache nicht sicher“, sagte er leise. „Darum wollte ich auf einem DNA-Test bestehen.“ Er schwieg einen Augenblick, um sich von der überraschenden Entdeckung zu erholen. „Doch jetzt gibt es für mich keinen Zweifel mehr. Das ist Marcos’ Sohn! Sein Vermächtnis an uns – das Einzige und Wichtigste, was er uns hinterlassen hat. Georgy gehört zu uns, zu seiner Familie.“ Als Lyn aufbegehren wollte, hob Anatole besänftigend die Hand. „Wir werden einen gemeinsamen Weg finden …“ Er sah Lyn eindringlich an. „Es muss eine Lösung geben.“

„Was ich gesagt habe, tut mir leid“, fuhr er fort. „Es war taktlos und beleidigend. Sie haben allen Grund, empört zu sein.“ Wieder schwieg er kurz. „Nehmen Sie meine Entschuldigung an?“

Lyns Zorn verflog. Ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, sie schluckte schmerzlich. Dass dieser harte Mann auch Gefühle besaß, berührte sie. Und wie er Georgy ansah, traf sie mitten ins Herz.

In dem Baby auf ihren Armen sah er seinen toten Cousin.

So wie Lindy in Georgy weiterlebte.

Etwas Unerwartetes geschah mit ihr. Sie nickte und atmete tief ein.

„Danke“, sagte sie leise.

Bewegt blickte Anatole auf Georgy – der sie schicksalhaft miteinander verband.

Mit klopfendem Herzen ging Lyn an Anatole vorbei ins Wohnzimmer zurück und ließ sich aufs Sofa sinken. Etwas hatte sich zwischen ihnen geändert. Etwas Grundlegendes war geschehen. Das verriet ihr sein Gesichtsausdruck, seine Haltung, als er sich zu ihr setzte.

Und auch sie empfand auf einmal anders. Weil sie sich damit abgefunden hatte, dass Georgy mehr war als der Sohn ihrer toten Schwester. Weil er auch väterlicherseits eine Familie hatte – der er ebenso viel bedeutete wie ihr.

Es fiel Lyn schwer, sich der Wahrheit zu stellen, doch ihr blieb nichts anderes übrig.

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Anatole, der schweigend neben ihr saß. Er war ihr viel zu nah. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, um Abstand zwischen sie zu bringen. Doch Geor­gy beugte sich fröhlich zu der interessanten neuen Person in seiner Welt vor und streckte die Hände nach ihr aus.

Vor ihren Augen verwandelte sich dieser große, bedrohliche Mann, der ungebeten in ihre Wohnung eingedrungen war und mit seinen Forderungen, seinem Reichtum und seiner Familie ihre schlimmsten Ängste geweckt hatte, auf wundersame Weise. Er sprach Griechisch mit dem Kleinen und streckte ihm die Hand hin. Und Georgy griff prompt nach seinen Fingern und zog hoffnungsvoll, wenn auch vergeblich, daran, um sie in den Mund zu stecken.

„Hallo, Georgy“, sagte Anatole rau. „Hallo, kleiner Mann.“

Seine markanten Züge wirkten auf einmal zärtlich, fast ehrfürchtig.

Der Anblick wühlte sie auf. Sie spürte ein seltsames Ziehen in der Brust, konnte sich nicht abwenden und bestaunte gebannt die Verwandlung, die mit dem Mann vor sich ging.

Anatole bemerkte es nicht einmal. Er hatte nur Augen für das Baby in ihren Armen.

Lyn hörte ihn etwas auf Griechisch flüstern, das wie eine Liebkosung klang. Ihr wurde warm ums Herz. Fasziniert beobachtete sie die beiden.

Georgy wand sich ungeduldig in ihren Armen und zupfte an Anatoles Finger, den er immer noch umklammert hielt. Als sie den Griff lockerte, damit er sich freier auf ihren Armen bewegen konnte, entdeckte Georgy etwas noch Tolleres. Er ließ den Finger los und griff nach der Seidenkrawatte, die verführerisch vor ihm baumelte, als Anatole sich vorbeugte. Triumphierend glucksend packte Georgy das faszinierende Ding und stopfte es sich in den Mund, um daran zu saugen.

Lyn musste schallend lachen. „Ach Georgy, du Äffchen!“, rief sie amüsiert und wollte ihm die Krawatte entziehen, dabei kam sie dem Träger beunruhigend nahe.

Seiner interessanten Beute beraubt, stimmte der Kleine ein empörtes Protestgeschrei an. „Nein, die kannst du nicht haben, du kleines Ungeheuer!“ Spielerisch rieb Lyn ihre Nasenspitze an ­Georgys, bis der Kleine ausgelassen lachte. „Tut mir leid“, entschuldigte sie sich. „Hoffentlich hat er Ihre Krawatte nicht ruiniert.“

Belustigt blickte Anatole auf die nasse Seide. „Macht nichts“, winkte er heiter ab.

Ehe Lyn ahnte, was er vorhatte, nahm er sich die goldene Uhr ab und reichte sie Georgy. Strahlend entriss dieser ihm den glänzenden Schatz, drückte ihn an sich und sah den großzügigen Spender mit leuchtenden Augen an.

„Sie sind verrückt!“, rief Lyn. „Er wird versuchen, Ihre Uhr zu essen.“

Doch für Anatole gab es nur noch das Baby. „Nicht essen, ­Georgy. Ein Gentleman isst keine Uhren. Verstanden?“

Georgy sah ihn immer noch mit großen staunenden Augen an. Die dunkle energische Stimme machte offenbar tiefen Eindruck auf ihn. Er unternahm keinen Versuch, sich die Rolex einzuverleiben, sondern hielt sie einfach umklammert, ohne den hochinteressanten Ratgeber aus den Augen zu lassen.

Und dann stopfte sich Georgy die Uhr mit einer ruckartigen Bewegung in den Mund.

„Georgy – nein!“, riefen beide Erwachsene zugleich, und Anatoles verspäteter Versuch, dem Kleinen die Uhr abzunehmen, passte dem Kleinen überhaupt nicht. Er reagierte mit einem wütenden Tränenausbruch.

Schnell holte Lyn Georgys Lieblingsspielzeug zur Hilfe – einen Satz Plastikschlüssel. Mit kleinen Tricks schaffte sie es, sie gegen die kostbare goldene Uhr zu tauschen.

Verlegen reichte Lyn die Rolex ihrem Eigentümer zurück und vermied es, ihn dabei anzusehen. Als sie Georgy auf den Schoß nahm, knabberte ihr Neffe zufrieden an seinen Schlüsseln. Obwohl Lyn sich unbehaglich fühlte, spürte sie, dass sich etwas geändert hatte. Das Eis war geschmolzen.

Anatole Telonidis’ dunkle Stimme brach das Schweigen.

„Tja … was wollen wir jetzt tun?“

3. KAPITEL

Überrascht sah Lyn den Mann neben sich an. Auch Anatole schien zu spüren, dass zwischen ihnen etwas anders geworden war. Zwar traute sie ihm immer noch nicht, doch ihre Wut und Empörung waren verflogen. Auch sein Ton hatte sich verändert. Er war viel offener, verständnisvoller– als wollte er ihr nicht mehr diktieren, was sie tun sollte, sondern um ihre Einsicht werben.

Dennoch würde sie Georgy auf keinen Fall aufgeben! Niemals!

Schulterzuckend senkte Lyn den Blick. Bisher hatte sie sich feindselig gezeigt und alle Forderungen empört abgeschmettert … doch jetzt fühlte sie sich verletzlich und preisgegeben.

Anatole sah, wie liebevoll sie das Baby auf dem Schoß hielt, das weiter zufrieden an den Schlüsseln kaute. Starke, überwältigende Gefühle stürzten auf ihn ein. Auch ohne DNA-Test wusste er im tiefsten Inneren, dass der Kleine Marcos’ Sohn war. Schon jetzt verspürte er nur noch den Wunsch, ihn zu beschützen und liebevoll zu umsorgen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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