Reise ohne Landkarten - Graham Greene - E-Book

Reise ohne Landkarten E-Book

Graham Greene

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Beschreibung

Im Januar 1935 reiste Graham Greene von Liverpool aus nach Westafrika, um auf dem Fußweg Liberia zu durchqueren. Europa hatte er nie zuvor verlassen, und er gab unumwunden zu, ein absoluter Amateur in Sachen Reisen zu sein. Er hielt es für das Beste, im benachbarten Sierra Leone Träger und Führer anzuheuern, mit dem Zug bis zum Ende der Eisenbahnlinie in Pendembu zu reisen und von dort zur liberianischen Grenze zu marschieren. Aber schon als es gilt, die genaue Route festzulegen, gibt es Probleme. Greene kann nur zwei Landkarten auftreiben, auf denen Liberia überhaupt verzeichnet ist. Auf der einen Karte, angefertigt vom britischen Generalstab, findet sich anstelle von Liberia ein großer weißer Fleck. Die andere Karte wurde vom Kriegsministerium der Vereinigten Staaten herausgegeben. Dort, wo die englische Karte sich damit begnügt, einen Fleck zu zeigen, steht bei den Amerikanern in fetten Buchstaben das Wort "Kannibalen" … Graham Greenes Bericht über seinen legendären Fußmarsch ins Herz der Finsternis liegt nun erstmals vollständig auf Deutsch vor. "Reise ohne Landkarten" ist das Porträt eines Landes jenseits aller Zivilisation und die faszinierende Geschichte eines Mannes auf der Suche nach sich selbst.

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Graham Greene

Reise ohne Landkarten

 

Aus dem Englischen von Michael Kleeberg

liebeskind

Die Originalausgabe erschien 1936 unter dem TitelJourney Without Maps im Verlag William Heineman, London.

© Verdant S. A. 1936© Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2015Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Marc Müller-Bremer, München Umschlagmotiv: National Geographic Society / Corbis Herstellung: Sieveking, München Typografie und Satz: Frese Werkstatt, München Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-95438-041-1

»O do you imagine«, said fearer to farer, »That dusk will delay on your path to the pass, Your diligent looking discover the lacking Your footsteps feel from granite to grass?«

W. H. AUDEN

Das Leben eines Einzelnen ist in vielerlei Hinsicht wie die zerschnittene Landkarte eines Kindes. Wenn ich hundert Jahre leben würde und bis zuletzt im Vollbesitz meiner geistigen Kraft wäre, traute ich mir zu, die einzelnen Teile so zusammenzusetzen, dass sie wieder ein verbundenes Ganzes ergäben. Aber wie alle anderen auch finde ich bloß einige zusammenhängende Fragmente und eine sehr viel größere Anzahl von losen Teilen vor, die ich vielleicht mit der Zeit in ihren natürlichen Zusammenhang stellen kann. Viele dieser Teile scheinen fragmentarisch zu sein, würden sich aber nach und nach als wesentliche Bausteine des Ganzen erweisen. Was mich umtreibt, ist die Beliebigkeit daran, als wäre der unregelmäßige Verlauf der Verbindungslinien zwischen den einzelnen Fragmenten rein zufälliger Natur. Mit jedem Jahrzehnt finde ich neue Teile, die sich einfügen. Leerstellen aus vergangenen Jahren werden von unberührten Fragmenten gefüllt. Wenn ich auf das Ganze zurückschauen würde, so wie wir die zusammengesetzte Karte des Kindes betrachten, hätte ich den Eindruck, dass mein ganzes Leben plausibel vor mir ausgebreitet läge …

OLIVER WENDELL HOLMES

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Sechs Jahre nachdem dieses Buch geschrieben wurde, fand ich mich in Sierra Leone wieder – ein Schriftsteller sollte vorsichtig sein, wohin er in Friedenszeiten zum Vergnügen reist, denn in Kriegszeiten wird er mit allzu großer Wahrscheinlichkeit genau dorthin zum Arbeiten zurückkehren müssen. Es war seltsam, von Lagos hinaufzufliegen und von oben die Brandungslinie entlang der liberianischen Küste mitzuverfolgen, das Gewirr kleiner Hütten zu sehen, das sich Grand Bassa nannte, wo ich meine Träger entlohnt hatte, oder über das allein stehende kleine weiße Gebäude zu fliegen, das die britische Gesandtschaft in Monrovia beherbergte. Es war auch seltsam, meinen eigenen Fußspuren von Freetown nach Kailahun zu folgen, in demselben kleinen, lampenbeleuchteten Zug zu fahren und in denselben Gästehäusern zu übernachten.

Ich bin heute in der Lage, mit einem gewissen Bedauern auf die harten Worte zurückzublicken, die ich über Freetown verloren habe, denn heute ist Freetown eine der Heimaten, wo ich durch alle Jahreszeiten hindurch gelebt und gearbeitet habe. Nach einem Jahr Aufenthalt dort war ich in der Lage, an mir selbst die Trägheit wahrzunehmen, die ich als Tourist an anderen so heftig verdammt hatte. Aber wenn es Fehlschlüsse gibt, die dem durchreisenden Besucher unterlaufen, dann gibt es auch Fehlschlüsse, die auf eine zu genaue Bekanntschaft zurückzuführen sind. Schon nach kurzer Zeit ist da so viel, was man einfach nicht mehr wahrnimmt, und wenn ich jetzt über Freetown schriebe, wie unnatürlich rosig wäre das Bild, das ich zeichnete, denn mittlerweile erinnere ich mich hauptsächlich an die Sonnenuntergänge, durch die all die ziegelroten Karrenwege plötzlich ein paar Minuten lang die Farbe einer Rose annahmen, an das alte Sklavenhändler-Fort, mit der Kanone, die im Gras lag, die verlassenen Bahngleise und die Hühner, die drinnen und draußen durch den kleinen alten, verfallenden Bahnhof pickten, und den Geschmack des ersten rosigen Gins um sechs Uhr abends. Ich habe angefangen, all das zu vergessen, was der Besucher von damals so deutlich wahrnahm – den Dreck und das Elend und die unbeabsichtigten Ungerechtigkeiten müder Männer. Aber da auch dieses Bild seine Wahrheit hat, lasse ich es stehen.

London, November 1946

TEIL EINS

1. Der Weg nach Afrika

2. Der Frachter

3. Die Heimat fern der Heimat

 

TEIL ZWEI

1. Westliches Liberia

2. Seine Exzellenz der Präsident

3. Ins Buzie-Land

4. Schwarzer Montparnasse

 

TEIL DREI

1. Missionsstation

2. »Ein zivilisierter Mensch«

3. Der Diktator von Grand Bassa

4. Die letzte Runde

5. Postskriptum in Monrovia

TEIL EINS

I.

DER WEG NACH AFRIKA

Erntedankfest

Die hohe schwarze Tür in der engen Innenstadtstraße blieb geschlossen. Ich klingelte und klopfte und klingelte von Neuem. Ich konnte die Türglocke nicht hören, wieder und wieder zu klingeln war daher eine Frage der Hoffnung oder der Verzweiflung, und als ich dann später vor einer Hütte in Französisch-Guinea hockte, wo ich nie hätte landen wollen, erinnerte ich mich an diesen ersten Fehlschlag, und wie die Busse an der Kreuzung vorüberfuhren und an die blasse Herbstsonne.

Ein Botenjunge kam mir zu Hilfe und fragte, ob ich den Konsul sehen wolle, und als ich sagte, ja, genau das wolle ich, führte der Junge mich auf direktem Wege zum Portal von Sankt Dunstan und dort die Treppe hoch in die Sakristei. Das war nicht der Beginn, den ich mir vorgestellt hatte, als ich das Zelt einpackte, das ich nie benutzen sollte, die Injektionsspritze, die ich zu Hause vergaß, die automatische Pistole, die unter Stiefeln und Schuhen und Beuteln voller Münzen im Geldkasten versteckt bleiben sollte. Man bereitete das Erntedankfest vor, die Sakristei war vollgestopft mit großen, dekorativen gelben Blumen und Bergen von Kürbissen; den Konsul konnte ich nirgendwo entdecken. Der Botenjunge spähte in dem dämmrigen Licht zwischen den Blumenarrangements hindurch und deutete schließlich auf eine geschäftige, kleine, über die Blumen gebeugte Frau. »Da ist sie«, sagte er, »das ist sie. Sie wird Ihnen helfen.«

Ich war sehr befangen, wie ich mich da in Sankt Dunstan zwischen den Blumen hindurchzwängte und fragte: »Könnten Sie mir wohl eventuell sagen? Ist der liberianische Konsul –« Aber sie wusste Bescheid, und ich verließ diese Straße für eine andere.

Es war drei Uhr nachmittags, und das Mittagessen im Konsulat war soeben vorüber. Drei Männer, deren Nationalität ich nicht benennen konnte, überfüllten das winzige Zimmer, das tief vergraben in dem riesigen, neuen, glänzenden Bürokomplex lag. Auf der Fensterbank standen aufgereiht alte Telefonbücher und Chemielehrbücher aus der Schule. Einer der Männer spülte das Essensgeschirr in einer Waschschüssel, die auf einem Papierkorb stand. In dem fettigen Wasser schwammen unidentifizierbare gelbliche Fäden, die aussahen wie Bast. Der Mann schüttete kochendes Wasser aus einem Kessel vom Gasbrenner auf einen der Teller, den er über den Papierkorb hielt. Danach wischte er den Teller mit einem Tuch trocken. Auf dem Tisch waren unzählige aufgerissene Päckchen, in denen sich so etwas wie Steine zu befinden schien, und der Liftboy steckte alle paar Augenblicke den Kopf zur Tür herein und kippte weitere Päckchen auf den Boden. Dieser Raum wirkte wie ein schäbiger Wohnwagen, der einen Moment lang in einer schicken hellen Straße abgestellt war. Man konnte seine Zweifel hegen, dass man ihn, kehrte man ein paar Stunden später zu dem strahlenden, technisierten Häuserblock zurück, noch immer dort vorfinden würde; höchstwahrscheinlich wäre er abtransportiert worden.

Aber alle waren sehr freundlich. Letztlich lief es nur darauf hinaus, dass Geld den Besitzer wechselte. Niemand fragte mich, warum ich reisen wollte, obwohl mir von sehr vielen Autoritäten in Fragen Afrikas gesagt worden war, dass die Republik Liberia Eindringlinge ablehnte. Im Konsulat rissen sie untereinander mit kehligem Gelächter ihre privaten kleinen Witze. »Vor dem Krieg«, sagte ein korpulenter Mann, »hast du keinen Pass gebraucht. Viel zu viel Aufhebens. Außer für das Argentinien«, und er warf einen Blick zu dem Mann herüber, der meine Papiere durchsah. »Wenn du in das Argentinien wolltest, dann musstest du sogar einen Monat im Voraus deine Fingerabdrücke abgeben, damit Scotland Yard und Buenos Aires sich kurzschließen konnten. Alle Halunken aus der ganzen Welt sind damals in das Argentinien gegangen.«

Ich betrachtete die übliche leere Landkarte an der Wand, ein paar Städte entlang der Küste, ein paar Dörfer entlang der Grenze. »Waren Sie schon einmal in Liberia?« fragte ich.

»Nein, nein«, sagte der korpulente Mann. »Wir lassen die hierher kommen.«

Der andere Mann klebte ein rundes rotes Siegel auf meinen Pass; darauf war das Nationalwappen zu sehen, ein dreimastiges Schiff, eine Palme, eine darüber fliegende Taube und der Schriftzug »Die Freiheitsliebe führte uns hierher.« Über dem roten Siegel musste ich die »Erklärung eines Ausländers vor Reiseantritt in die Republik Liberia« unterzeichnen.

Ich habe Kenntnis genommen von den Bestimmungen des Einreisegesetzes und bin überzeugt, dass ich zu einer Einreise in die unten genannte Republik berechtigt bin.

Mir ist bewusst, dass ich, sofern ich einer Gruppe angehöre, der von Gesetzes wegen die Einreise untersagt ist, ausgewiesen oder in Haft genommen werde.

Ich schwöre feierlich, dass die oben stehenden Angaben nach bestem Wissen und Gewissen der Wahrheit entsprechen und dass ich die feste Absicht habe, in der Republik den Gesetzen und verantwortlichen Behörden derselben zu gehorchen.

Das Einzige, was ich von den Gesetzen wusste, war, dass sie einem Weißen verboten, das Land anders zu betreten als über die offiziellen Häfen, es sei denn, er hatte eine beträchtliche Summe für eine Forschungs-Genehmigung bezahlt. Ich hatte vor, von der britischen Grenze her einzureisen und mich durch die Urwälder im Innern bis zur Küste vorzuarbeiten. Ich bin Katholik mit einem intellektuellen, wenn nicht sogar einem emotionalen Glauben an die katholischen Dogmen. Ich stelle fest, dass ich auf intellektueller Ebene die Tatsache akzeptieren kann, dass die Sonntagsmesse zu verpassen eine Todsünde darstellt. Und dennoch: »Ich schwöre feierlich…« – es sind diese Widersprüche in der menschlichen Psyche, die ich besonders interessant finde.

Blaubuch Liberia

Im Blaubuch der Britischen Regierung hatte ich im Mai Folgendes gelesen:

Die Rattenpopulation kann zutreffend als wimmelnd bezeichnet werden, die Holz- und Wellblechhäuser bieten geeignete Zufluchten …

Die Abwesenheit jeglichen Versuchs der Regierung, wirksame Schritte gegen Gelbfieber oder Pest zu unternehmen oder auch nur eine Meldepflicht für Gelbfieber einzuführen, sowie das komplette Fehlen medizinischer Kontrolle der Schiffe, die vor der liberianischen Küste festmachen…

Die überwältigende Mehrheit aller in Monrovia gefangenen Moskitos gehören einer Gattung an, die erwiesenermaßen Gelbfieber überträgt …

Insgesamt wurden 41 Dörfer niedergebrannt sowie 69 Männer, 45 Frauen und 27 Kinder, also insgesamt 141 Menschen ermordet …

Aus verschiedenen Quellen wurde mir außerdem der Fall eines Mannes zugetragen, der in der Nähe von Sasstown verwundet worden war und sich zu ergeben wünschte. Obwohl er unbewaffnet war und um Gnade bat, wurde er in Gegenwart von Captain Cole kaltblütig von Soldaten erschossen.

Die Soldaten schlichen sich durch die Bananenpflanzungen an, die alle Eingeborenendörfer umgeben, und feuerten Salven auf die Hütten. Eine Frau, die am selben Tag von Zwillingen entbunden worden war, wurde in ihrem Bett erschossen, und die Neugeborenen kamen in den Flammen um, als das Dorf von den Truppen beschossen wurde …

In einem Dorf wurden nach Abzug der Truppen die verkohlten Überreste von sechs Kindern gefunden …

In diesem Zusammenhang verdient es Erwähnung, dass ein Mann, der politischer Gefangener in New Sasstown gewesen war, aussagte, er habe Soldaten damit prahlen hören, sie hätten Kinder mit Macheten getötet und die Leichen dann in die brennenden Hütten geworfen …

Und als ich erfuhr, dass Colonel Davis mit den Tiempoh gekämpft hatte, die meine Kinder sind und das Land für mich bewirtschaften, und Payetaye-Männer und -Frauen gefangen und misshandelt hatte, bekamen es alle meine Leute und ich mit der Angst …

Soweit man weiß, gehören zu den schwersten Erkrankungen im Hinterland Elefantiasis, Lepra, Frambösie,

Malaria, Hakenwurm, Bilharziose, Ruhr, Pocken sowie Unterernährung. Im gesamten Land gibt es lediglich: zwei Ärzte in Monrovia, beide ausländisch und beide mit einer Privatpraxis, einen Sanitätsoffizier auf der Firestone-Plantage und drei oder vier Missionsärzte, die im Hinterland arbeiten …

In Monrovia selbst ist der Malariabefall quasi umfassend …

In anderen Ländern setzt der Produzent die Preise für seine Waren fest, in diesem Lande dagegen erzwingt der Käufer die Preise, die ihm behagen …

Die Regierung kann alle Einwohner von Sasstown und alle Stämme der Kru-Küste töten, bevor wir uns der Regierung ergeben. Wir werden nicht an die Küste zurückkehren oder kapitulieren, bevor wir nicht vom britischen Konsul in Monrovia hören, dass es keinen weiteren Krieg geben wird. Dann erst werden wir ins alte Sasstown zurückkehren …

Dieses Bild war von einer Vollständigkeit, die schon fast etwas Befriedigendes hatte. Es sah tatsächlich so aus, als ginge es nicht mehr tiefer hinab; die ganze Agonie, wie sie das Blaubuch der Britischen Regierung präsentierte, rief einen wahrhaft erhabenen Eindruck hervor; dagegen wirkten die unbedeutenden Unregelmäßigkeiten in Kenia geradezu armselig und kleinbürgerlich.

Und was das Ganze vor Melodramatik bewahrte, war die Ironie der Tatsache, dass diese Republik gegründet worden war, um dem gesamten Afrika das strahlende Beispiel eines christlichen und sich selbst verwaltenden Staates zu geben. Anfang des 19. Jahrhunderts begann ein wohltätiger amerikanischer Verband (es heißt, dass viele seiner Direktoren Sklavenhalter waren, die es praktisch fanden, auf diesem Weg ihre unehelichen Kinder loszuwerden), freigelassene Sklaven nach der Pfefferküste Afrikas zu verschiffen. Man kaufte den Eingeborenenführern Land ab und gründete in Monrovia eine Siedlung. »Die Freiheitsliebe führte uns hierher«, aber man kann diesen ersten Mischlings-Siedlern schwerlich Vorwürfe machen, als sie feststellen mussten, dass die Liebe zu ihrer eigenen Freiheit nicht zusammenging mit der Freiheit der Eingeborenenstämme. Die Geschichte der Republik unterschied sich nur wenig von der Geschichte der benachbarten weißen Kolonien: die gleichen gebrochenen Verträge, die gleiche Zuflucht zu Waffen, die gleichen sukzessiven Übergriffe, ja sogar die gleiche Art von Heldentum bei den ersten Siedlern, nämlich die typisch protestantische Eigentümlichkeit, Märtyrertum mit Absurdität zu kombinieren. Zum Beispiel gab es da die schwarzen Quäker aus Pennsylvania, Abstinenzler und Pazifisten, die sich, als sie von spanischen Sklavenhaltern angegriffen wurden, auf ihre Gebete verließen und massakriert wurden. Nur hundertzwanzig von ihnen kamen davon und ließen sich in Grand Bassa nieder.

Von Anfang an waren diese amerikanischen Mischlings-Sklaven Idealisten auf typisch amerikanische Art. Als die Republik ausgerufen wurde, besaß ihre Unabhängigkeitserklärung genau dieselbe weiß glänzende, marmorne Anmutung wie die amerikanische. Zwar schrieb man das Jahr 1847, aber die Sätze waren reinstes 18. Jahrhundert, sie gehörten Washington und waren geprägt von der Rhetorik eines teuren Grabmals. Die unumstößlichen Rechte von Leben und Freiheit führten die Schriftrolle an, aber irgendwann kam das Pergament auf »das Recht, Eigentum zu erwerben, zu besitzen, zu nutznießen und zu verteidigen« zu sprechen. Noch heute sind diese »Ideale« amerikanisch, ein wenig wie die Grundsätze von Tammany Hall, und die Nachkommen der Sklaven haben sich mit all dem Enthusiasmus von erfahrenen Craps-Spielern auf die Politik gestürzt.

»Wenn du dir für dein Volk Wohlstand wünschst, sowie die Unabhängigkeit deiner Regierung und einen Ehrenplatz für den Einsamen Stern unter den Flaggen aller Nationen, dann unterstützt du in diesem Wahlkampf die Wiederwahl von Präsident Barclay …«

Auch das zog mich an. Etwas Zwielichtiges, das man so leicht nirgendwo anders fand, umgab dieses Land, und Zwielichtigkeit besitzt eine tiefe Anziehungskraft. Auch die Zwielichtigkeit der Zivilisation, der Leuchtreklamen am Leicester Square, der Nutten auf der Bond Street, des Geruchs der Garküchen abseits der Tottenham Court Road, der Autoverkäufer in der Great Portland Street. Offenbar befriedigt sie eine Zeit lang die Sehnsucht nach etwas Vergangenem. Sie scheint etwas wie einen Schritt zurück, eine Stufe hinab zu verkörpern.

Straßen, die aufeinander folgen wie eine ermüdende Beweisführung in hinterhältiger Absicht Um dich an eine Frage von überwältigender Bedeutung heranzuführen …

Aber es gibt Zeiten der Ungeduld, in denen man sich ungern damit begnügt, auf der städtischen Stufe zu verweilen, in denen man willens ist, einige Unannehmlichkeiten zu ertragen, wenn dafür die Möglichkeit besteht, etwas zu finden – was? Dafür gibt es tausend Namen: die Minen König Salomos, das Herz der Finsternis, sofern man eine romantische Ader hat, oder viel simpler, so wie es Herr Heuser in seinem afrikanischen Roman Die innere Reise ausdrückt: welchen Platz in seiner Zeit man einnimmt, und das nicht nur ausgehend von der eigenen Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit, aus der man hervorgegangen ist. Natürlich gibt es andere Menschen, die sich lieber einen Schritt weiter, eine Stufe höher umsehen, und denen Intourist billige Fahrkarten in eine plausible Zukunft liefert, doch meine Reise verkörperte ein Misstrauen gegen jede Art von Zukunft, die auf dem basiert, was wir sind.

Der Beweggrund für eine Reise verdient ein wenig Aufmerksamkeit. Es ist nicht das vollkommen klare Bewusstsein, welches eine Reise nach Westafrika einer in die Schweiz vorzieht. Der Psychoanalytiker, der die Bilder eines Traums eins nach dem anderen durchgeht – »Sie haben geträumt, Sie wären in einem Wald eingeschlafen. Was kommt Ihnen bei dem Begriff ›Wald‹ als Erstes in den Sinn?« –, ist der Ansicht, dass bestimmte Bilder sofortige Assoziationen hervorrufen; zu anderen fällt dem Patienten überhaupt nichts ein. Sein Hirn ist wie ein Kinosaal, in dem jemand »Feueralarm!« gerufen hat: Alle Ausgänge sind mit Leuten verstopft, die versuchen zu flüchten, und wenn ich sage, dass mir Afrika immer ein wichtiges Bild war, dann meine ich wohl genau das: dass es mir mehr bedeutet hat, als ich sagen könnte. »Sie haben geträumt, Sie wären in Afrika. Woran denken Sie als Erstes, wenn ich das Wort ›Afrika‹ sage?« Sofort drängt sich ein Getümmel von Wörtern und Bildern, Hexen und Tod, Unglück und der Saint-Lazare-Bahnhof, die massige, vom Rauch vernebelte Brücke über ein Pariser Elendsviertel zusammen und versperrt den Weg zu völliger Bewusstheit.

Dagegen ist meine Reaktion auf das Wort »Südafrika« unmittelbar: Cecil Rhodes und das Britische Empire und ein hässliches Gebäude in Oxford und am Trafalgar Square. Bei »Kenia« gibt es kein Zögern: »Gentleman-Farmer, exilierte Aristokratie und die Klatschspalten.« »Rhodesien« bringt »Scheitern«, »Empire Tobacco« und noch mal »Scheitern« hervor.

Das heißt also, dass nicht jeder Teil Afrikas mein Unbewusstes in so heftige Bewegung zu versetzen vermag, und ganz gewiss keiner der Teile, wo die weißen Siedler erfolgreich die Lebensbedingungen, die Sitten und die Populärkultur ihres eigenen Landes nachgebildet haben. Eine gewisse Finsternis und Düsterheit ist vonnöten, etwas Unerklärliches. Dieses Afrika kann die Form einer rätselhaften Brutalität annehmen, wie dort, wo Conrad in sein Kongo-Tagebuch einträgt: »Donnerstag, 3. Juli … Traf einen staatlichen Offizier auf Inspektionstour. Ein paar Minuten später sah ich in einem Lager die Leiche eines Backongo. Erschossen? Entsetzlicher Gestank.« Oder einer Art Verzweiflung wie dort, wo Céline schreibt: »Irgendwo in diesem blühenden Urwald voll verschlungener Pflanzen versteckt, kauern ein paar dezimierte Eingeborenen-Stämme inmitten von Fliegen und Flöhen unter dem Joch ihrer Tabus und essen die ganze Zeit nichts als verfaultes Tapioca.« Und was ich mit eigenen Augen gesehen habe: Der alte Mann, der vor dem engen, kleinen Gefängnis in Tapee-Ta mit einem Stock geprügelt wurde, die nackten Witwen in Tailahun, die, vollständig mit gelber Tonerde beschmiert, in einem Erdloch hockten, der holzzahnige Teufel, wie er zwischen den Hütten sein Baströckchen schwang – alle scheinen sie wie Traumbilder für etwas zu stehen, das Bedeutung für mich hat.

Unsere heutige Welt ist offenbar ganz besonders empfänglich für Brutalität. Es liegt ein Hauch Nostalgie in dem Vergnügen, das uns Gangsterromane und Gestalten bereiten, die all ihre Gefühle aufs Angenehmste vereinfacht haben und sich nun wieder auf einem Niveau unterhalb der Benutzung des Großhirns befinden. Wir leben, wie Wordsworth, nach einem Krieg und einer Revolution, und diese Mischlinge, die zwischen den Klippen der Wolkenkratzer mit Bomben kämpfen, scheinen eher als unsereins wahrzunehmen, wie Proteus sich aus dem Meer erhebt. Nun ist es natürlich nicht so, dass man für immer auf diesem Niveau bleiben wollte, aber wenn man sieht, zu welchem Unglück, in welche menschheitsbedrohende Gefahr des Untergangs uns Jahrhunderte von Hirntätigkeit gebracht haben, dann empfindet man manchmal eine gewisse Neugierde, womöglich zu erfahren, woher wir kommen, und sich bewusst zu werden, an welchem Punkt wir in die Irre gegangen sind.

Über Liverpool

Aber nichtsdestoweniger hatte ich ein wenig Angst vor der Aussicht, diesen Weg zurück mit Hilfe von Afrika ganz allein zu gehen. Ich bin daher meiner Cousine Barbara zu großer Dankbarkeit verpflichtet, die bereit war mich zu begleiten und das Abenteuer, für das kein Kartenmaterial gekauft werden konnte, mit mir zu teilen, von seinem Beginn an im Speisewagen des 18.05-Uhr-Express von der Euston Station aus, wo wir dann vor unseren Tellern mit lauwarmem weißem Fisch saßen. Eine Schlagzeile verriet mir, dass es in dem Koffer-Mordfall einen neuen Hinweis gab: Ein Arbeitsloser hatte sich umgebracht, und währenddessen verloschen die kleineren Bahnhöfe entlang der Strecke wie Fackeln, die man ins Wasser tunkt.

Das riesige Hotel in Liverpool war ohne Sinn für Ästhetik, dafür aber mit der richtigen Vorstellung von Komfort und einer echten Lust an Prunk eingerichtet worden. Vermutlich fasste es ebenso viele Passagiere wie ein Ozeandampfer, Passagiere wohlgemerkt, denn nach Liverpool reist niemand zum Vergnügen, auf diesen kleinen, zugebauten Platz mit den niedrig hängenden Leuchtreklamen, die man beinahe mit der Hand berühren kann, und wo alle Bars und Kinos um zehn schließen. Aber dennoch war in diesem Hotel so etwas wie Persönlichkeit versteckt; es war nicht schick, es war nicht glamourös, es war nicht international; aber irgendwo entlang seiner langen, gedämpften Korridore, unter den klippenhaft herabstürzenden Wänden war das Urbild eines englischen Gasthauses verborgen. Man schämte sich nicht, hier nach Muffins oder einem Pint Dunkelbier zu fragen, während die Schiffe auf dem Mersey ihre Hupen ertönen ließen und die ganze Lobby voller Gepäck stand. Und gewiss gab es irgendwo sogar einen Hausknecht. Jedenfalls genügte es, damit ich die Überraschung verstehen konnte, die Henry James bei seiner Ankunft in England darüber empfunden hatte, »dass England nämlich tatsächlich so englisch war, wie es sich zu meiner Unterhaltung anstrengte zu sein.«

Die natürliche urwüchsige Schäbigkeit war nicht im Chrom-Geglitzer verloren gegangen, nur war der Muffin kolossal, ja vielleicht sogar ein wenig ekelhaft groß geraten. Wenn das Hotel lächerlich war, dann nur, weil Prunk fast immer ein wenig lächerlich ist. Eine großartige Geste funktioniert kaum je richtig. In den seltenen Fällen, wo Schönheit und Großartigkeit aufeinandertreffen, hat man meist wie im Theater oder Kino den Eindruck, »es ist zu schön, um wahr zu sein«. Mir geht es so, dass ich immer zwischen zwei Überzeugungen hin- und hergerissen bin: der, dass das Leben besser sein sollte als es ist, und der, dass es, wenn es einem besser erscheint, meistens noch schlimmer ist. Aber in der riesigen Liverpooler Hotellounge, die der eines Landgasthofs glich, nur in fünfzigfacher Vergrößerung, fühlte man sich auf den weiten, dunklen und dicken Teppichen zu Hause; lediglich ein einziger Geschäftsmann schlief mit offenem Mund; man fühlte sich so zu Hause, wie es gewiss nicht der Fall gewesen wäre, hätten sich hier Hollywood-Geschmäcker ausgetobt. Hier trug man Tarnfarbe. Hier war man auch ein wenig schäbig.

Am nächsten Morgen saßen vier Frauen mittleren Alters in dem Pub nahe der Prince’s Stage, dem Landungssteg, und tranken zusammen mit einem schmutzigen alten Mann von 84 Jahren. Drei von ihnen sahen aus, als würden sie in einem Drecksloch leben; sie dünsteten eine Atmosphäre von Mietskasernen, mageren Katzen und Gemeinschaftsbädern aus. Die Vierte hatte es in der Welt ein wenig weiter gebracht, sie war die Tochter des alten Mannes und über Weihnachten auf Besuch aus Amerika gewesen. »Noch ein Glas, Vater?« Er begleitete sie zum Schiff. Ihr Verhältnis war vertraut und aufgeräumt, die ganze Gruppe strahlte eine leicht anrüchige Festlichkeit aus. Einer der Damen war die Gruppe egal, sie hatte den amerikanischen Akzent angenommen. Den anderen Frauen, die wieder in ihr Drecksloch zurückmussten, erschien sie gefährlich, gewagt, atemnehmend; sie waren entzückt und fassungslos, als der alte Mann eine Pfundnote hervorzog und eine Runde ausgab. »Na, und warum auch nicht?« fragte die Tochter die anderen, fragte sie Jackie-Boy, den Barmann, die Bierreklamen, die dicke Luft, den Mann, der hereinkam und Rasierklingen verkaufte, das halbe Dutzend für Threepence, »ist doch besser, als es für einen Haufen zweifelhafte Damen zu verpulvern.«

Wenigstens hatte sich das Flussufer von Liverpool nicht verändert seit den Tagen von Henry James: »Die schwarzen Dampfer rollten auf dem gelben Mersey hin und her, unter einem Himmel, der so tief hing, dass sie ihn mit ihren Schornsteinen zu berühren schienen, mitten im dichtesten, windigsten Licht.« Selbst die Farben waren die gleichen: »Das milde Grau, das jeden Vorwand nutzte, um sich zu tiefer Schwärze zu verschatten.«

Der Frachter lag direkt außerhalb der Mersey-Mündung in der Irischen See. Ein kalter Januarwind wehte über das Ausschiffungsboot, die Menschen hockten dicht an dicht unter Deck und sagten einander Lebewohl, gelangweilt, verlegen und jovial, wie Eltern am ersten Schultag auf dem Bahnhof, und dann glitt England hinter dem Bullauge davon, eine steinerne Kulisse, eine geteerte Flanke, ein Schwapp graues Wasser gegen das Glas.

2.

DER FRACHTER

Madeira

Meine Cousine und ich reisten gemeinsam mit fünf weiteren Passagieren auf dem Frachter: zwei Spediteure, ein Vertreter eines Ingenieurbüros, ein Arzt, der mit Antiserum für Gelbfieber zur Küste unterwegs war, und eine Frau, die ihren Gatten in Bathurst treffen wollte. Alle außer der Frau und dem Vertreter kannten die Küste; sie kannten auch die gleichen Leute, sie besaßen denselben Lebensstil, den ähnliche Lebensbedingungen erzwungen hatten. Die tägliche Dosis Chinin und Moskitonetze an allen Bullaugen – das war für sie so natürlich wie Tischdecken zur Mahlzeit.

Es sind diese Lebensbedingungen, aus denen gerne Legenden erwachsen. Legenden gehören für gewöhnlich zu primitiveren Gesellschaften, wo das Bewusstsein noch so wenig differenziert ist, sei es durch Arbeit oder Vergnügen oder Erziehung, dass eine Geschichte rasch und unhinterfragt von Hirn zu Hirn springen kann. Manchmal aber bilden diese Verhältnisse sich auch künstlich. Gemeinsame Gefahren, Ziele oder Lebensweisen können Unterschiede in Intellekt und sozialer Klasse fast vollständig ausradieren – dann bekommt man so etwas wie die Engel von Mons oder die Wunder eines Heiligenbildes.

»Ja«, hieß es dann im Rauchsalon, »Sie werden keinen zäheren Mann finden als Captain W.« Sie hatten alle von ihm gehört, denn sie gehörten alle hierher, an diese Küste, der Kapitän, der Arzt und der Spediteur.

»Wenn er in eine zerbrochene Flasche laufen würde«, sagte der Arzt, »würde er nicht mal das Gesicht verziehen.«

»Er würde eher mit einem Schlepper rund um die Welt fahren als Sie eines Blickes würdigen.«

»Er lässt seine Fracht nie versichern. Er trägt das Risiko selbst. Deswegen sind seine Frachtraten auch so billig.«

»Geht denn jemand so ein Risiko ein?«

»Sein Wort ist ebenso viel wert wie das einer Versicherungsgesellschaft.«

»Aber wenn er seine Fracht verliert?«

»Er hat noch nie Fracht verloren.«

Einen Samstagabend wartete der junge Spediteur im Telegraphenbüro Stunde um Stunde auf die Liga-Ergebnisse. Er führte eine etwas abseitige Plauderei über den Klatsch der Ozeane mit dem Telegraphenoffizier: Dass dieser oder jener Mann mit dem Alten gestritten hatte und zu einer anderen Linie gewechselt war. An der Decke flackerten die Glühbirnen, Röhren summten in der kleinen Kabine mit ihren Reihen von Scheiben und Kolben, es ging hier ebenso technisch zu wie unten im Maschinenraum, diesem riesigen schwarzen, polierten Felsen, wo die Rohre an den Nähten von blauen, gelben und roten Muffen umhüllt waren, die aussahen wie Wärmflaschen, und wo ein einsamer Neger mitten in dieser schimmernden Einöde aus Messing und Eisen mit seinem Polierlumpen stand.

Zurück von den Röhren und dem Klatsch und der Düsternis hörte ich im Rauchsalon den Kapitän mit dem Arzt reden. »416 Leute in Dakar«, sagte er. Das Thema kam beim Frühstück erneut auf: die Pest in Dakar, Gelbfieber in Bathurst; entlang der französischen Küste wurden die Epidemien verschwiegen, an der liberianischen gar nicht erst gemeldet. Dem Thema der Fieberinfektionen konnte man schwerlich entkommen. Man konnte ein Gespräch über Religion, Bücher oder Politik beginnen, es endete unweigerlich mit Malaria, Pest und Gelbfieber. Solange man sich auf dem Ozean befand, war das alles ein Spaß, so wie jemandes boshafte Frau an Land jedoch wurde es zu einer Horrorgeschichte, die einem Schauer über den Rücken jagt, zugleich schälten sich dann aber auch diejenigen heraus, die da nicht mitmachten und lieber über Angenehmeres redeten.

Zum Beispiel über so etwas wie Ein Dorf in einem Tal von Beverly Nichols, das sich in der kleinen Bibliothek fand. An Bord eines Schiffes liest man komische Sachen, Bücher, die zu Hause zu lesen einem im Traum nicht einfallen würde: Dinge wie Lady Eleanor Smith’ Tzigane oder die Romane von Warwick Deeping und W. B. Maxwell – alles Bücher, ohne einen Funken Wahrheit geschrieben, ohne Notwendigkeit, ein stumpfes Wort nach dem anderen, Bücher, die man liest, während man auf den Bus wartet, während man sich im Bus an der Halteschlaufe festhält, zwischen den Diktaten des Chefs, während des Kantinenessens – eine ganze Industrie, die auf dem Willen zur Zerstreuung und zum Glücklichsein basiert.

Auf Madeira regnete es. Die Schlepper waren in der schäbigen, verrufenen Stadt bereits um zehn Uhr morgens am Werk. Man trank seinen süßen Wein beim Goldenen Tor, und der Regen tropfte von den merkwürdig phallischen Hüten, die draußen vor den Läden hingen. Die Schlepper trugen Strohhüte mit Cambridge-Hutbändern und klebten einem in Funchal auf jedem Meter an den Fersen, und es störte sie weder, dass es regnete, noch, dass es gerade erst Frühstückszeit war. »Luxus«, wiederholten sie unaufhörlich, und »Sex« und irgendwas von tanzenden Mädchen. Ihr Gewerbe gründete sich, ganz genau wie das von Beverly Nichols, auf ein Bedürfnis nach Zerstreuung und Glücklichsein. Schnell, schnell, du bist nur eine halbe Stunde an Land, du bist nur noch wenige Jahre gesund und kräftig, gönn dir noch ein Mädchen, bevor es zu spät ist, mit dem, das du hast, bist du nicht zufrieden? Also probier ein anderes aus. Die Frauen verkauften Vergissmeinnicht und Lilien und Rosen im Regen, die phallischen Hüte tropften, die Schlepper konnten nicht verstehen, dass man an einem verregneten Tag direkt nach dem Frühstück keine Lust auf ein Mädchen hatte. Es gab noch andere Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben, man konnte süßen Wein beim Goldenen Tor trinken, man konnte auch zurück an Bord gehen und in einem Buch von Lady Eleanor Smith oder Beverly Nichols lesen.

In Funchal kamen ein junger deutscher Künstler und seine Frau als Deckpassagiere an Bord und bekamen die kleine Sanitätsstation als Schlafzimmer zugeteilt. Er war ein dicker, pickeliger Mensch in einem Samtjackett; er hatte D.H. Lawrence in Taos kennengelernt und Mabel Dodge Luhan. Was keinen Unterschied machte, er hatte nicht vor, ein Buch darüber zu schreiben. In der kleinen Sanitätsstation breitete er seine Leinwände aus, derbe realistische Landschaften und die sonnengegerbten Gesichter mexikanischer Indianer. Es wurde dunkel, und alle tranken schlechten Madeira aus der Flasche, und er redete über Kunst und Sport und Leibesschönheit, und seine Frau, klein, mit Kurven, hübsch und nachgiebig, schwieg und war seekrank. Er glaubte an Hitler und den Nationalismus und Schwimmen und die Liebe, er mochte die Bilder von Orpen und de László, aber Munchs Gemälde ließen ihn unbefriedigt zurück. Ihnen mangele es an Seele, sagte er, sie seien materialistisch; nicht dass er nicht an den Leib glaube, an die Leibesschönheit und die körperliche Liebe. Außerdem war er bereit, ebenfalls nach Afrika zu reisen und dieses Buch hier zu illustrieren – ein Künstler ist schließlich überall zu Hause –, aber nach dem Abendessen änderte er seine Meinung. Und seine liebliche, nachgiebige, anziehende Frau sagte auch, ja, sie habe nichts dagegen, nach Afrika mitzukommen, und nach dem Abendessen änderte auch sie ihre Meinung. Er war ein schlechter Künstler, aber er war kein Hochstapler. Er lebte quasi von Luft, er glaubte an sich und seine diffusen teutonischen Ideen, und ihre Beziehung besaß eine Art sinnlicher Schönheit. Die beiden lebten gewissermaßen in beständiger Intimität, sie hatte keine Meinungen außer den seinen, keine Lebenskraft außer seiner; er versorgte sie mit Leben für zwei, und sie steuerte einen freundlichen, warmen, sinnlichen Tod bei, so teilten sie untereinander das Universum auf. Die ganze Zeit über, ob in der Kabine, beim Essen oder am Tisch zum Kaffee, vermittelten sie den Eindruck, sich eben erst aus dem Bett erhoben zu haben.

Als es Zeit zum Abendessen wurde, waren alle vom schlechten Madeira und dem rosa Gin betrunken, den sie Coaster nannten. Der Spediteur sang The Old Homeland und The Floral Dance und I shot an arrow into the Air, und der fette Vertreter namens Younger meinte: »Reichen Sie mir noch was von dem ›Eau de Kuh‹« und verschüttete seinen Kaffee. Die Ausländer gingen auf ihre Kabine, fanden ihren Weg durchs Unterdeck und dann die eiserne Treppe hinauf ins Heck. Sie war seekrank, aber das machte sie lediglich stiller, an ihrer schönen, sinnlichen Empfänglichkeit änderte es nichts. Der Spediteur sang erneut The Old Homeland: »Bin ich weit überm Ozean, wer wird für mich beten dann« – und alle fühlten sich englisch und exiliert und wehmütig – alle außer Younger, der vorsichtig die Treppe hinaufstieg und sich am Geländer festklammerte: »Die Rückreise mache ich mit der Bahn.« Er war englischer als alle anderen, er trug Nordengland im Herzen, er war ein überzeugter Lokalpatriot und unsentimental und sehr derb und ehrlich. Er soff, weil er Urlaub brauchte, weil an der Küste schwere Arbeit auf ihn wartete, weil er seine Frau liebte und unter verzweifelten Panikanfällen litt. Er hatte mehr Grund zu trinken als jeder andere. Die Boomjahre zeichneten sich in seinem schweren Fleisch und seinem Triple-Kinn ab; aber was man nicht auf den ersten Blick sah, war, dass ihm die Depression wie Blei im Magen lag. Hätte man sein Porträt im alten Stil mit winzigen Landschaften und toskanischen Städten malen wollen, dann hätte man ihm als Hintergrund einen stillgelegten Hochofen gegeben oder die Stahlträger einer Brückenkonstruktion, die nur noch den Vögeln als Sitzstange dienen.

Aber selbst wenn er betrunken war oder unzüchtig daherredete, besaß er eine bewundernswerte geistige Gesundheit. »Achtzehn Monate an der Küste. Sagen Sie mir, Herr Doktor, was kann man dagegen einnehmen?«

»Das spricht auf keine Behandlung an«, sagte der Arzt.

»Aber was tun die Leute dann?«

»Das hat mich sogar schon der Gouverneur gefragt. Es gibt keine Antwort.«

Er war der Letzte, der zu Bett ging, er tigerte zehn Minuten lang den Korridor auf und ab, es war etwas sowohl Gewöhnliches wie zugleich Königliches um ihn, das Zuwendung erzwang. Nichts, was er tat, konnte jemanden verletzen. »Kipper«, rief er dann vor der Tür des Kapitäns, »Kipper!«, und folgsam erschien der Kapitän im Türrahmen. Gegenüber Frauen hatte er etwas Falstaffartiges, eine absurde Form von Unschuld, die sich mit einem Klaps oder einem Kitzeln zufriedengab. »Du leckeres kleines Schnittchen«, und sogar die junge, scheue, verklemmte, verheiratete Frau, die noch nie aus Liverpool herausgekommen war und weder trank noch rauchte und auch nicht den Mond anstarrte, gab ihm seinen Klaps zurück. Seine Schweinigelei hatte etwas Troubadourisches. Und seine Sprache besaß die gleichen Tugenden wie Kunst von Kindern: sie war lebhaft, unbefangen, unverdorben.

Reklamerummel

Das Kino in Teneriffa zeigte die Verfilmung eines meiner Bücher. Es war eine lehrreiche und ziemlich schmerzhafte Angelegenheit gewesen, sie zu sehen. Die Regie war inkompetent, die Kameraführung beliebig, die Story sentimental. Falls es in der Vorlage irgendein Körnchen Wahrheit gegeben hatte, so war es sorgfältig entfernt worden, und wenn etwas nicht verändert worden war, dann weil es unwahrhaftig war. Aber an dem, was unverändert war, konnte ich meinen eigenen Roman beurteilen und verdammen. Ich konnte deutlich erkennen, was daran so billig und banal war, dass es in den billigen und banalen Film passte.

Dennoch blieb eine Verbindung zwischen ihm und mir. Ich hatte das Buch nie ernst genommen, ich hatte es übereilt geschrieben, weil ich verzweifelt dringend Geld brauchte. Aber selbst in so ein Buch war doch ein Stück Erfahrung eingegangen, neun Monate des eigenen Lebens. In meinem Bewusstsein war es mit einer ganz bestimmten Landschaft verbunden, mit ganz bestimmten Ängsten. Man konnte sich also nicht so einfach davon lossagen, und es war eine sonderbare und alles in allem angenehme Erfahrung, es hier in der heißen, hellen, blühenden Stadt wiederzutreffen. Es gibt solche Orte, an denen man sich über die Begegnung mit jedem auch noch so entfernten Bekannten freut, mit dem man gemeinsame Erinnerungen teilt: Gewiss, er taugt nicht viel, aber er kannte Annette. Er ist unehrlich, aber früher hat er einmal mit George zusammengewohnt. Das funktioniert, selbst wenn die Erinnerung sehr vage ist und lange rekonstituiert werden muss.

Zwei jugendliche Herzen in den Wirren des Schicksals. Auf der Flucht vor dem Leben. Betrogen? Absturz in Europa. Das Rad der Fortuna.

Bisher hatte ich noch nie erlebt, wie die amerikanische Reklamemaschine sich einer Sache bemächtigte, die ich so intim kannte. Es war beeindruckend, wie sehr ihr das Produkt schnuppe war, für das sie bezahlt hatte. Und ihre psychologische Einsicht war entweder auf zynische Weise falsch oder traf fürchterlich genau ins Schwarze.

Der echte Orientexpress durchquert Europa von Belgien bis Konstantinopel. Das heißt, Sie denken in die falsche Richtung, wenn Sie das Wort »Orient« mit China oder Japan verbinden. Es ist genügend anderes Material vorhanden, um lebendige und farbige Werbeaktionen zu starten, wie Sie sehen werden, sobald Sie die Vermarktungs-Seiten im Presseheft aufschlagen.

Dattel-Synergien. Zu der Auswahl von Standbildern, die der Filmverleiher freigegeben hat, gehören drei, die Norman Foster zeigen, wie er Heather Angel das Sexualleben der Datteln erklärt, wie er Heather Angel Datteln überreicht und wie Heather Angel aus dem Wagen heraus Datteln kauft. In einer Szene des Films ist der Dialog, was Datteln betrifft, höchst erhellend. Jede Großstadt besitzt Feinkostläden, in denen Datteln in Geschenkpackungen angeboten werden. Für eine erfolgreiche Fusion muss man nur mit einem davon für Schaufensterdekoration und Ladenaufbau Kontakt aufnehmen und dazu angemessenes Informationsmaterial sowie die Standbilder benutzen.

Eine andere Herangehensweise könnte eine Vorführung mit Produkten aus Datteln sein, die die vielen Verarbeitungsmöglichkeiten von Datteln illustrieren. Das müsste vor allem in sehr großen Metropolen möglich sein. In Fällen, wo mit größeren Unternehmen zusammengearbeitet wird, könnten die Verantwortlichen mit Kostproben bestückt werden. Diese Kontakte müssen lokal geknüpft werden, obwohl auch Kontakt mit den Importeuren der wichtigsten Marken bestehen muss.

Unterschätzen Sie nicht den Verkaufswert eines gut dekorierten Schaufensters voller Dattelprodukte, mit Körben appetitlicher Früchte und Datteln sowie den drei Standbildern aus dem Film. »Kaufen Sie ein Päckchen köstlicher Datteln und nehmen Sie den Orientexpress nach Konstantinopel, eine äußerst spannende und lohnende Abendunterhaltung für Sie im Rialto-Theater.«

Wussten Sie, dass …

– Heather Angels Hauskatze Penang die Krallen gekürzt bekommen musste, weil sie nicht damit aufhörte, sie an den Tischbeinen wertvollster Tische zu schärfen?

– Heather Angels Spartrick Nr. 1 ist, waschbare Handschuhe zu kaufen und sie selbst sauber zu machen?

– Una O’Connor es nur sehr wenigen ihrer engsten Freunde gestattet, sie Tiny zu nennen?

Die geballte Reklameanstrengung hatte den Film nicht an den Mann gebracht – zu meiner großen Erleichterung, denn vertragsgemäß musste mein Name auf jedem Plakat stehen. Er war nur in den kleineren, schäbigen Sälen gelaufen und jetzt eben in Teneriffa gestrandet, in einer düsteren Seitenstraße hinter einer alten geschnitzten Tür, die aussah wie der Eingang eines Klosters. Und deshalb war es auch eine angenehme Wiederbegegnung: ohne die Schamlosigkeit des Erfolgs. Vielleicht war der Film vulgär, aber immerhin nicht vulgär erfolgreich. Sein Scheitern besaß etwas vollständig Unhollywoodhaftes.

Die Kanaren liegen auf halbem Weg nach Afrika. Der Fox-Film und die bleichen Kakteen-Speere, die aus dem Hügel ragten, ein viktorianisches Hotel wie aus dem Schauerroman, erstickt in Bougainvilleen, Papageien und ein Affe an der Leine. Unzählige Themen wurden angespielt wie die Fehlstarts und Unentschiedenheiten eines ganzen Lebens: der chinesische Job, den ich gekündigt hatte, die Verabredung in Bangkok, zu der ich nie erschienen war, die Zeitung in Nottingham. Das Einzige, woran ich mich noch erinnere, ist das farbenprächtige Plakat, der Geschmack des süßen gelben Weins, flache Dächer und Blumen und eine Laube voll leerer Flaschen, und in der kleinen dunklen Kathedrale die Weihnachtskrippe (Burgen und kleine Dörfer und Frauen mit Körben voller Karotten, ein Esel und ein Automobil und ein komischer Mann mit Zylinder, kleine Höhlen, in denen Eremiten oder Zigeuner auf moosbedeckten Steinen schlummerten, ein Mann auf einem altmodischen Fahrrad, und irgendwo, in einer Ecke verborgen, saß, zwergenklein vor der großen Welt, dem Fleisch, diesen leuchtenden Frühlingskarotten und dem Teufel, dem Mann mit Zylinder, die Mutter Gottes mit einem alt-jungen Kind, faltig und verhärmt und schielend, und über eine Mauer lehnte Herodes und trug seine Krone schief auf dem Kopf).

Las Palmas

Von Las Palmas erinnere ich mich kaum an mehr als dies: ein Mann, der nach Mitternacht Damen-Pyjamas von einem Ruderboot verkauft, die Frauen im »33« mit theatralisch schwarz geschminkten Augen und schwerer Statur. Es war halb eins nachts, als wir an Land gingen und ein Taxi fanden. Niemand sprach etwas anderes als Spanisch, die Drinks waren schlecht und teuer, aber Younger war alles egal. Sein unvermeidlicher Spruch »Du leckere kleine Schnitte« tönte durch alle Räume, sein Weg war eine einzige Abfolge von Klapsen und Kitzeln und kostenlosen Drinks. Der Geschäftsführer verfolgte ihn mit Rechnungen, die er nicht zahlen wollte, und Phil, der junge Schiffsspediteur, bildete mit der unerwiderten Hingabe eines Pagen in einem elisabethanischen Stück die Nachhut, weil er Angst hatte, es werde Ärger geben. Ab und zu bezahlte Phil, um den Geschäftsführer ruhig zu halten, eine der Rechnungen, und der Geschäftsführer zerriss sie, ließ sie auf den Boden fallen und schrieb die nächste aus. Dann raubte Younger die Frau, die einem Mann mit einer Gitarre gehörte, und der Mann küsste ihn und ließ sich auf einen Drink einladen. Der Geschäftsführer schrieb eine Rechnung, und Phil zupfte Younger am Ärmel und sagte: »Nur mit der Ruhe, alter Mann, nur mit der Ruhe.« Ein Verrückter erschien auf der Bildfläche und bedrohte Younger, aber Younger verstand ihn nicht, und wenn, hätte es ihn nicht gekümmert, vielleicht hatte er ihn auch gar nicht gehört. Er saß auf einem Barhocker und begrapschte sein stämmiges schwarzhaariges Luder; immer mal wieder ritt er einen Angriff auf ihren Mund, aber sie wich aus, drängte ihn mit dem Ellbogen weg, schob ihr leeres Glas vor, und der Geschäftsführer schrieb eine weitere Rechnung aus. Dann ging alles wieder von vorn los: die Weigerung zu zahlen, die Streitereien, Phils »Nur mit der Ruhe, alter Mann, nur mit der Ruhe«, noch eine Lokalrunde, weitere Grapschereien, »Du leckere kleine Schnitte« und noch eine Rechnung. Auf dem Weg zum Hafen verlor er endgültig das Bewusstsein, musste getragen werden, seine ganzen neunzig Kilo wurden ins Ruderboot bugsiert, an Bord gezogen, ausgekleidet und ins Bett gelegt. Aber niemand war ihm deswegen böse, er kam mit solchen Sachen durch, am nächsten Tag war er wieder in bester Form, in einen Anzug gegossen, der ihm kaum um den Leib reichte, und brüllte im Korridor »Kipper, Kipper!«, zum Mittagessen war er betrunken, und er erklärte, das sei sein letzter Drink vor der Küste: Ab jetzt werde er arbeiten. Keiner glaubte ihm, aber wir sollten uns getäuscht haben.

Er besaß das Stehvermögen eines Bullen, er konnte aufhören zu trinken, wann er wollte. Die Inseln lagen hinter uns, der nächste Hafen, den wir anlaufen würden, lag an der Küste, er hatte Arbeit vor sich. Keiner wusste, wie weit ins Landesinnere ihn seine Arbeit führen würde oder wie wichtig sie war. Er war fett und ungestüm, aus seinem Verhalten konnte niemand herauslesen, welche Angst über seiner Reise lag. Er ging ein großes Risiko ein, er musste Aufträge an Land ziehen, und das Gelbfieber würde ihn dabei nicht aufhalten. An einem der Orte auf seiner Route war eine Epidemie ausgebrochen; als er an Bord kam, hatte er davon nichts gewusst. Jedermann machte sich wegen des Fiebers über ihn lustig, und es war offensichtlich, dass er sich ein wenig fürchtete, aber es war ebenso deutlich, dass das keinen Unterschied machen würde. Er war wie ein alter Boxer, der wieder in den Ring steigen muss, weil er die Kampfbörse braucht. Er mag keine Kondition mehr haben, mag auch Angst vor einer Verletzung haben, aber er kann es sich nicht leisten zu verlieren, selbst wenn die Anstrengung ihn umbringt. Younger erzählte von seiner Frau: Nie zuvor war er an einem Ort gewesen, an dem er sie nicht abends um neun Uhr anrufen konnte. Das hatte er immer getan, ganz gleich ob in Brüssel, in Berlin oder in Warschau.

Friedhof

Am Tag nach Las Palmas wachen Schiffspassagiere auf dem Weg zur Westküste in einer vollkommen neuen Luft auf. Sie währt einen ganzen Tag lang, aber nur einen. Meine Bettlaken waren klamm wie von einer Art Tau, es ging ein warmer, feuchter Wind, und über dem Meer hing ein Dunstschleier. Die Luft roch ebenso salzig und nach Fisch wie vor der Küste von Brighton. Es heißt, diese Waschküchenfeuchtigkeit sei gefährlich für Reisende, die mit einer Malariainfektion im Blut von der Küste zurückreisen, und unter Seeleuten ist dieser Teil des Atlantiks als Elder-Dempster-Friedhof bekannt. Aber dieser Umstand ist älter als die Reederei. Burton hat in seiner Anatomie der Melancholie darüber geschrieben: »Solch eine Klage hörte ich über jene Kapverdischen Inseln führen, vierzehn Breitengrade vom Äquator entfernt, dass sie male audire. Man bezeichnet sie als das ungesündeste Klima auf der Welt aufgrund der Ausflüsse, Fieber, Krämpfe und Delirien, welche gemeinhin die Seefahrer befallen, die dort vorüberkommen, und all das wegen einer heißen Misstemperatur in der dortigen Luft. Selbst die robustesten Männer leiden unter dieser Hitze, und noch der größte Schelm kann ihr nicht widerstehen.«

Das brachte Younger das Geldfieber in Kano ins Gedächtnis. An diesem Abend, dem ersten Abend seiner neu gefundenen Abstinenz, sagte er im Rauchsalon, er glaube, der Tod sei ein großes Abenteuer. Aber das Leben, meinte Phil, sei ebenfalls ein großes Abenteuer. Die Wissenschaft mache neuerdings große Fortschritte, man könne nie wissen, wobei natürlich Wells und Verne alles schon vorhergesehen hätten; was für wunderbare Propheten die beiden doch seien. Dann sagte er: »Früher einmal dachte ich, auch Hannen Swaffer sei ein Prophet, aber dann hat er mich enttäuscht.«

»Ist Hannen Swaffer nicht eine Frau?« fragte Younger.

»Nein, er ist ein Mann.«

»Sind Sie sicher?« sagte Younger. Aber Phil war sich sicher. Er hatte ihn getroffen. Er hatte sogar mit ihm gesprochen, an dem Abend, als er vor seinem Literaturklub eine Rede gehalten hatte. Das war mal eine Abwechslung vom Bridge, dieser Klub, wirklich berühmte Schriftsteller hatten ihn besucht und Vorträge gehalten. Chesterton war da gewesen und Cecil Roberts. Dann trat er hinaus, um den Mond zu betrachten. Er lehnte sich an die Reling und wartete vergeblich, dass meine Cousine oder die andere Frau an Bord sich zu ihm gesellte. Wenn das geschah, legte er den Arm um sie und redete über Wallasey oder seine Frau oder die Liga-Ergebnisse. Aber seine Art von Romantik war rein formal, er hatte großen Respekt vor Frauen. Bei Younger fühlte er sich im Grunde viel mehr in seinem Element. Er kümmerte sich um Younger, wenn der betrunken war, beschützte ihn, ja entkleidete ihn sogar, wenn nötig. Als Younger nun nüchtern wurde, war er ein wenig verloren, sah umso öfter zum Mond und tappte in todernster Romantik auf dem Deck entlang, wurde auch gereizt, weil keiner »tropische Nächte« mit ihm spielen wollte, und verschwand schließlich in dem kleinen Telegraphenkämmerchen, um mit »Sparks« über Fußball zu reden. An einem Abend übermannte ihn seine Vitalität, die kein Ventil hatte, und er fing an, Gläser über Bord zu schmeißen.

Dakar

Es muss zwei Tage später gewesen sein, da erwachte ich vom Knirschen von Eisen auf Stein, und das war die Küste. Die Welt war schon allzu familiär geworden. Die Leute sagten: »Eldrigde. Klar, er ist ein alter Küstenhase.« Und Eldrigde, der ältere Schiffsspediteur, sagte dann zu Beginn jeder Mahlzeit: »Chop, wie wir an der Küste sagen«, oder, wenn er einen Teller Zwiebeln weiterreichte: »Vergissmeinnicht nennen wir die an der Küste.« Der pinke Gin, den ich trank, hieß Coaster. Es gab keine andere Küste außer der Westküste, und jetzt waren wir da.

Auf dem Kai schlenderten die Senegalesen auf und ab, ihre langen weißen und blauen Gewänder wirbelten den Staub auf, der von den Wipfeln der Pistazienbäume in fast zehn Metern Höhe herabgeweht war. Die Männer gingen Hand in Hand und lachten schläfrig miteinander unter dem blendenden vertikalen Brand. Manchmal legten sie einander den Arm um die Schulter, offenbar berührten sie sich gerne. Es sah aus, als freue es sie, sich zu vergewissern, dass der andere bei ihnen war. Mit Liebe hatte das nichts zu tun; es hatte keine Bedeutung, die wir hätten verstehen können. Zwei von ihnen gingen den ganzen Tag umher, ohne den Körperkontakt zu verlieren, sie waren da, als das Boot zwischen den Pistazienbäumen hereinglitt, und am Abend, als das Laden beendet war und die Arbeiter Hände und Gesicht in dem warmen Wasser wuschen, das aus der Flanke des Schiffs floss, hatten sie selbst keinen einzigen Handstreich Arbeit verrichtet, waren nur hin und her geschlendert, hatten Händchen gehalten und über ihre eigenen Witze gelacht. Aber mit Liebe hatte das nichts zu tun, es war nichts, was wir hätten verstehen können. Sie fügten dem grellen Tageslicht, dem ersten Anblick Afrikas, eine gewisse warme und schläfrige Schönheit hinzu, etwas von Selbstgenuss, der von jeglicher Aktivität und ermüdender Willensanstrengung abgekoppelt war.

Là tout n’est qu’ordre et beauté,

Luxe, calme et volupté.

Da, wo alles friedlich lacht,

Lust und Heiterkeit und Pracht.

In Dakar fiel es mir schwer zu glauben, dass Baudelaire nie in Afrika gewesen sein soll, dass er dem Kontinent am nächsten in Gestalt von Jeanne Duval gekommen war, dem Mulatten-Flittchen aus dem Pantheon-Theater, denn Dakar, das war der Baudelaire aus Einladung zur Reise, wenn es denn nicht der René Clair aus Die Million war.

Die glückliche lyrische Absurdität war ganz René Clair: Die beiden würdevollen Moslems, die im städtischen Park auf dem Kiesweg neben einem schwarzen Eisenkessel schliefen, die kleinen syrischen Kinder, die mit weißen Tropenhelmen zur Schule gingen, die nähenden Männergruppen auf dem Gehweg, der alte pockennarbige Kutscher, der seine Pferde anhielt und im Gebüsch verschwand, um seinen Perlenkranz zu beten; die mit Säcken beladenen Männer, die fast rhythmisch eine aus Säcken bestehende Leiter erklommen und wieder herabstiegen und den Pistazien-Hügel immer höher bauten – sie wirkten wie die Spielzeugfiguren, die man zu Weihnachten in Holborn bekommt. Dakar war auch René Clair in den anmutigen Gesichtern der Frauen auf dem Markt, der jungen wie der alten – anmutig weniger durch sexuelle Attraktivität als vielmehr in ihrer scharf voneinander geschiedenen skulpturalen Bildhaftigkeit. Im Restaurant bereitete mir, ein wenig angeschickert von eisgekühltem Sauternes, das Dakar, von dem ich gehört hatte, keine Sorgen: das Dakar endemischer Pest und schwerfälliger Bürokratie, die ungesündeste Stadt an der ganzen Küste. Mr. Gorer beschreibt in seinem Geheimes Afrika und seine Tänze, wie die jungen Neger in Dakar einfach sterben, nicht an Tuberkulose, Pest oder Gelbfieber, sondern an innerer Leere, an Hoffnungslosigkeit. Er ist einfach zu lange geblieben, nehme ich an, und hat zu viel gesehen; dieses plötzliche Glücksgefühl, das einen in Dakar anspringt, ist nicht von Dauer, genau wie das, was ich empfand, als ich Die Million sah; ein Glücksgefühl, das hinter den Augen kitzelt, schön und unbeständig, ein erfüllter Wunschtraum.

Erwarte keine Phoenix-Stunde mehr, den dreifach getürmten Himmel, die klagende Taube, und plötzlich goldenen Regen und erstmals wird das Herze leicht…

Zweifellos war das andere Dakar auch da (das Dakar der 416 Toten, der Verzweiflung und des Unrechts), aber in diesem Moment schimmerte etwas anderes durch, etwas, das einfach immer wieder aufregend ist. In einem frühen Film von René Clair konnte man glauben, dass dies das Leben war, für das man geboren war; aus dem Leben ausbrechen, für das man vorgesehen war, dabei alle Ängste durchbrechen und allen Ärger und alle finanziellen Schwierigkeiten und zu lange schwelende Begierden. Diese Stimmen, die durch die Luft schwirrten, diese Jagd nach einem Lotterie-Billett inmitten von umherfliegenden Opern-Hüten, diese melodiengesättigte Miniaturliebe in Theaterkulissen: Nichts war wirklich ernst zu nehmen, nichts von Dauer, man musste sich keine Sorgen machen, woher morgen das nächste Essen oder das nächste Mädchen käme, man streckte einfach die Beine entspannt auf dem Gehsteig aus und nähte Hosen, man schlief zwischen Blumen neben seinem schwarzen Kessel ein, man hielt sich bei den Händen und fühlte sich gut und kümmerte sich um nichts und niemanden.

Natürlich entdeckte man schnell genug, dass diese Eindrücke nicht für die ganze Küste galten. Die Bussarde, die mit schweren Flügelschlägen über Bathurst kreisten, ein langer, niedriger Hintergrund aus Häusern und Bäumen entlang des Sandstrandes, ein Schwarm von Menschen in den Eingeborenenvierteln wie Fliegen auf einem Stück Fleisch, das Verbot, an Land zu gehen, wegen des Gelbfiebers, das Gefühl von Isolation, das die Frau empfand, als sie sich auf den Weg machte, um ihren Mann in der Stadt, die unter Quarantäne stand, zu treffen – das war schon eher die Küste –, oder der zwielichtige Pole in Unterhemd und dreckiger weißer Hose, der in Conakry an Bord kam, weder Englisch noch Französisch sprach und die Namen der Farben beim Bridge lernen wollte. Der Kapitän zog seine Pistole und schoss einen Bussard ab, der in der Takelung saß, die Möwen stoben auseinander, schraubten sich in die funkelnde Luft, und zwischen ihnen hindurch fiel der staubige Kadaver aufs Deck wie eine Mahnung der Finsternis.

Die Konturen Afrikas

Eine Mahnung der Finsternis: das Mädchen in der Queen’s Bar. Ich fand sie weinend auf dem Leicester Square, das Laub war gefallen und machte die Bürgersteige glitschig. Sie ging ins Foyer des Empire-Kinos und wechselte noch einmal brüsk die Richtung (aber das half nichts). Schließlich setzte sie sich in der Queen’s Bar auf einen Barhocker, schminkte sich das Gesicht frisch und bestellte einen Gin Tonic. Ich hatte nicht den Mut, nach den Details zu fragen. Im Übrigen passiert dergleichen ja ständig und überall. Man weint nicht, wenn man nicht zuvor glücklich war; Tränen bedeuten immer etwas Beneidenswertes.

Das Flugzeug rumpelte über Hannover hin, dahinter verzogen sich die letzten Sturmausläufer. Plötzlich kippte es 500 Fuß nach unten in Richtung des kleinen Flugfelds, dann zog es wieder hoch, ostwärts. Hinter dem Flugzeug ging am Rand der Wolken die Sonne unter. Wir waren oberhalb des Sonnenuntergangs, wenn man nach hinten blickte, lag er unter einem langen blassen Grat aus gefleckten Wolken. Die Luft war grau über den Seen, sie waren in den Boden gesunken wie geschmolzenes Blei, dazwischen die Lichter von Dörfern. Schon lange vor Berlin war es vollständig dunkel, und die Metropole kam dem Flugzeug durch die Dunkelheit entgegen wie ein Buschfeuer: lauter Brandherde inmitten der tiefgrünen Nacht. Eine Straßenlaterne hatte die Größe einer Briefmarke, man konnte den gesamten Stadtplan erkennen wie auf dem Leuchtplan der U-Bahn, wenn man auf einen Knopf drückt und die U-Bahnroute leuchtet auf. Das riesige Rechteck von Tempelhof war mit roten und gelben Lichtern markiert, das Flugzeug beschrieb eine Kurve über die ganze Breite von Berlin, wendete und begann zu sinken. Die Lichter in der Kabine gingen aus, und man konnte die Frontscheinwerfer über die Asphaltbahn gleiten sehen. Hinter dem grauen Lufthansa-Flügel flogen die Funken, und dann bekamen die Räder Bodenkontakt, hoben noch einmal ab und landeten dann endgültig. Glück war der erste Eindruck, aber einmal ausgestiegen, sah man zwischen den Hakenkreuzen auf jedem Meter Leid.

Gegen neun Uhr morgens am Bahnhof Saint-Lazare angekommen, Ostern 1924, mich in ein Hotel eingemietet und dann weiter zum Casino, um Mistinguett zu sehen, die dünnen, versicherten, bedeutenden Beine, die scharf geschnittenen, »prägnanten« Züge, die dem Papiergesicht einer Hässlich-Grässlichen in Das verzauberte Schloss glichen (»Geh auf Zehenspitzen, Liebe«, flüsterte die Hässlich-Grässliche mit der Haube zu der mit einem Kranz, und selbst in diesem aufregenden Moment fragte sich Gerald, wie sie das konnte, da die Zehen des einen Fußes nur das Ende eines Golfschlägers waren und die des anderen das Ende eine Hockeyschlägers). Am nächsten Abend trafen die Kommunisten sich in den Slums am Ende einer Sackgasse. Sie lasen ständig von der Bühne Telegramme vor, und alle sangen die Internationale. Dann redeten sie ein wenig, dann traf das nächste Telegramm ein. Sie waren arm und verhärmt und laut, ich fragte mich, wozu all die guten Neuigkeiten, die sie erhielten, taugten, wenn sich trotzdem überhaupt nichts änderte. All die guten Neuigkeiten und die Singerei fanden am Ende einer Gasse in einer großen, kalten Halle statt. Dort konnten sie nicht raus, auf dem kleinen Platz davor standen die Soldaten mit ihren Stahlhelmen neben ihren aufgestellten Gewehren. In dieser Nacht sah ich vom Fenster eines Hotelzimmers aus einen Mann und eine Frau kopulieren; sie standen unter einer Straßenlaterne gegeneinandergedrückt wie zwei Menschen, die sich im gemeinsamen Leiden an irgendeiner Krankheit helfen und trösten. Am nächsten Morgen las ich in der Zeitung, wie die Roten versucht hatten, rauszukommen, aber die Soldaten hatten sie abgefangen. Ein paar Leute waren verletzt, ein paar andere wanderten ins Gefängnis.

Meine erste Erinnerung überhaupt ist ein toter Hund, der unten in meinem Kinderwagen lag. Er war an einer Kreuzung auf dem Land überfahren worden, an der ich später einmal einen Jack-in-the-Green sah, und das Kindermädchen legte ihn unten in den Wagen und schob mich nach Hause. Der Anblick rief kein Gefühl hervor. Es war nur eine einfache Tatsache. In diesem Alter besitzt man eine bewundernswerte Objektivität. Eine weitere solche Tatsache war der Mann, der aus einem Cottage in der Nähe der Kanalbrücke gerannt kam und im Nachbarhaus verschwand: Er hatte ein Messer in der Hand. Hinter ihm liefen schreiende Leute her. Er wollte sich umbringen.