Reisen lieben lernen - Hauke Dressler - E-Book

Reisen lieben lernen E-Book

Hauke Dressler

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Beschreibung

Aufbruch zu neuen Horizonten Als Molin nach dem Abi nicht in die Gänge kommt, überredet Reisefotograf Hauke seine Tochter, gemeinsam auf Tour zu gehen, um ihr die Faszination fremder Welten nahezubringen: sechs Wochen und 10.000 Kilometer im Pick-up mit Dachzelt durch Südafrika, Mosambik, Simbabwe, Sambia und Namibia. Über das Reisen, das Erwachsenwerden und die Magie Afrikas Dieses unvergessliche Abenteuer führt sie durch die atemberaubende Landschaft und fesselnde Kultur Afrikas und wird bald auch zu einer Reise zueinander. Vater und Tochter begegnen sich auf Augenhöhe und entdecken nicht nur den Zauber des afrikanischen Kontinents, sondern auch sich selbst. Ein mitreißendes Vater-Tochter-Abenteuer

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Mit 64 Fotos und einer Karte

Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden die Namen einiger im Text beschriebener Personen geändert.

© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Margret Trebbe-Plath, Berlin

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Coverabbildungen: Hauke Dressler und winana / stock.adobe.com

Fotos: Hauke Dressler

Karte: Marlise Kunkel, München

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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((Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen ohne Alternativtexte))

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Karte von Südafrika

Prolog

Kapitel 1: Aufbruch – Wie alles begann

Kapitel 2: Der Hühnerfußmann

Kapitel 3: Dick- und Dünnhäuter

Kapitel 4: Ein Hai und 104 Pferde

Kapitel 5: Fast im Auge des Zyklons

Kapitel 6: Wild und Hüter

Kapitel 7: Goldgräberstimmung

Kapitel 8: Im Gedränge der Hauptstadt

Kapitel 9: Der Löwe Matata

Kapitel 10: Abschied – Hier endet nichts

Epilog

Dank

Bildteil

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Karte von Südafrika

Prolog

Um uns herum herrscht eine so tiefe Dunkelheit, dass die Scheinwerfer unseres Dachzelt-Campers sie kaum durchdringen können. Nur wenige Meter der sandigen Straße vor uns sind sichtbar, daneben ein kleiner Ausschnitt der Böschung aus Steppengras und dornigen Sträuchern.

Unsere Nerven sind angespannt, denn wir müssen auf jeden Fall einen Schlafplatz finden, einfach irgendwo in der Landschaft campen können und wollen wir nicht. Doch wo sollen wir hier unterkommen, mitten im Nirgendwo? Wie konnte es überhaupt passieren, dass wir uns so in der Zeit verkalkuliert haben und in dieser Einöde gestrandet sind?

Langsam fahren wir weiter und rücken dabei instinktiv näher zusammen, soweit es unsere Autositze zulassen – als könnten wir uns auf diese Weise, mit vereinter Kraft, der Dunkelheit und allem Unbekannten entgegenstemmen.

Plötzlich blitzt links im Scheinwerferkegel ein weiß-blaues Rechteck auf, ein Hinweisschild, das hier mitten in der Wildnis Simbabwes wie ein außerirdischer Fremdkörper wirkt. »Zwelabo Secondary School« steht auf dem Wegweiser, was das Ganze noch seltsamer macht, denn wir sind meilenweit vom nächsten Dorf entfernt.

Wir stoppen direkt vor dem Schild, um es genauer zu inspizieren: Unter dem Namen der Schule erkennen wir ein wappenartiges Logo mit einer Schreibfeder und einer stilisierten Fackel darauf, darunter die Worte: »Knowledge is Power.« Wissen ist Macht. Ganz unten weist ein Pfeil mit dem Zusatz »5 km« nach rechts, und weil wir dort einen vertrauenerweckenden Ort vermuten, da eine Schule etwas ist, das wir zu kennen glauben, folgen wir der winzigen Seitenstraße in Richtung des Pfeils.

Nach zehn Minuten holpriger Fahrt versperrt uns ein Tor aus Maschendraht den Weg, und ein Ende des Zauns ist weder rechts noch links davon in Sicht. Lediglich ein Feld, das wie ein Fußballplatz aussieht, erkennen wir direkt dahinter.

Ratlos stehen wir vor dem verschlossenen Eingang, doch als wir noch überlegen, was wir tun sollen, tritt ein älterer Mann aus der Dunkelheit in unser Scheinwerferlicht und öffnet uns die Pforte. Er stellt sich als Lehrer Bheki Raba vor und erlaubt uns sofort, unseren Allrad-Camper auf dem Fußballfeld abzustellen: »Kein Problem, ihr könnt hier schlafen«, sagt er und winkt uns herein.

Wir sind erleichtert, lachen und scherzen, als wir im Schein unserer Taschenlampe das Dachzelt aufbauen: Jeder Handgriff sitzt, selbst im Dunklen – mittlerweile sind wir ein eingespieltes Team.

Elektrisches Licht scheint es weit und breit keines zu geben, wir sehen weder beleuchtete Fenster noch Außenlampen, auch ein Schulhaus erkennen wir nicht, lediglich die Schatten einiger länglicher Gebäude ragen jenseits des Fußballfeldes auf. Trotzdem fühlen wir uns nicht eine Sekunde unwohl, als wir dort in der warmen Nacht stehen, allein unter hunderttausend Sternen, während uns der trocken-grasige Savannenwind um die Nase weht.

Als wir schließlich die letzten Zeltstangen befestigen, taucht überraschend der Lehrer noch einmal auf. »Gleich findet eine Schulveranstaltung mit den Kindern statt, wollt ihr mit mir kommen und daran teilnehmen?«, fragt er mit einem erwartungsvollen Lächeln auf den Lippen.

Trotz der Gebäudeschatten, die wir mehr ahnen als sehen, kommt die Ansage, dass sich hier gerade Schüler aufhalten, recht unerwartet. Wie kann das sein? Es ist doch schon spät und vollkommen still!

Unsere Neugier ist geweckt, und nur allzu gern begleiten wir Herrn Raba im Licht seiner Handlampe, an den flachen Häusern vorbei, zu einem etwas größeren Gebäude weiter hinten auf dem Gelände.

»Wir feiern die Abendmesse. Ihr seid herzlich willkommen!«, teilt der Lehrer uns mit, als er uns die sperrige Tür aufhält und wir vorsichtig in das unbeleuchtete, etwas muffig riechende Schulgebäude treten, um dem ersten afrikanischen Kindergottesdienst unseres Lebens beizuwohnen.

Wir laufen über einen lehmig-steinigen Boden um zwei Ecken herum und finden uns in einem Raum wieder, der so düster ist, dass wir über seine Größe nur Vermutungen anstellen können. Nur gerade so lässt sich ausmachen, dass das Gebäude ein zusammengestückeltes Bauwerk ist, mit Spalten und Sprüngen in den rau verputzten Wänden und einer rohen hölzernen Dachkonstruktion mit Wellblech darüber. Das einzige Licht stammt von einer nackten Glühbirne, die provisorisch an der Decke hängt und durch eine Autobatterie gespeist wird, die auf dem Tisch darunter steht.

Die Beleuchtung ist so schwach, dass sie nur einige wenige Kindergesichter erhellt, die sich über den Tisch beugen, die restlichen verbleiben im Schatten, und wir können nur anhand von Geräuschen – Atmen, Rascheln, Flüstern – erraten, wie viele Menschen im Raum sind. Doch wir spüren ihre Anwesenheit deutlich, ebenso wie die zahlreichen neugierigen Blicke, die auf uns ruhen: Fremdlinge wie wir kommen hier anscheinend nicht allzu oft vorbei.

»Wir haben Besuch aus Deutschland«, erklärt Bheki Raba den Kindern. »Heute Nacht werden die beiden unsere Gäste sein und in ihrem Autozelt auf dem Fußballplatz schlafen.«

»Willkommen!«, rufen die Kinder aufgeregt im Chor, und erst jetzt hören wir, dass es ziemlich viele sind.

»Hallo!«, grüßen wir zurück, und dann beantworten wir ein paar Fragen zu unserer Reise, wobei sofort auffällt, wie gewählt und in welch perfektem Englisch sich die Jungen und Mädchen ausdrücken, obwohl sie höchstens dreizehn oder vierzehn sind.

Dann beginnt der Gottesdienst mit einem Gebet: Die Kinder falten die Hände, senken ihre Köpfe, und Sekunden später wallt ein hohes homogenes Murmeln durch den Raum, das an den Wänden widerhallt und in jeden der dunklen Winkel dringt, bis es auch uns vollständig einhüllt und ausfüllt. Wir halten beide die Luft an, so schön und fremd hört es sich an.

Und dann, als wir denken, dass es kaum noch intensiver und ergreifender werden kann, beginnen die Kinder zu singen! Hell und klar erheben sich ihre Stimmen schwere- und körperlos in diesem finsteren Raum, erst zwei-, dann dreistimmig, zu einem Kanon, der wie Frage und Antwort klingt, und obwohl wir die Worte nicht verstehen, die Kinder nicht sehen, scheint die Bedeutung klar: Dies ist eine Lobpreisung, ein Willkommensgesang, über den sich zuletzt in perfekter Harmonie das Sopransolo eines einzelnen Kindes legt, bevor in englischer Sprache der Refrain folgt: »No turning back, no turning back, no turning back!«

Intuitiv treten wir einen Schritt nach vorn und sehen uns an – und entdecken, dass wir beide Tränen in den Augen haben. In diesem Moment sind wir angekommen, nebeneinander, miteinander und fühlen uns einig, mit den Kindern, mit der Welt und mit uns selbst.

Kapitel 1: Aufbruch – Wie alles begann

Herbst 2018 bis Frühjahr 2019, Deutschland/Bremen

Molin

Das Hämmern an meiner Zimmertür erinnert mich extrem an die Disco-Bässe von gestern Abend. Ich blinzele kurz, blicke zum Fenster, sehe das graue Bremer Regenwetter und ziehe mir die Bettdecke über den Kopf.

»Bäm … bäm … bäm«, dröhnt es in meinem Kopf.

»Molin, aufstehen, es ist halb zwölf!«, höre ich die Stimme meines Vaters, die noch durchdringender ist als sein Klopfen. Wie immer, wenn er mich um diese Uhrzeit weckt, schwingt dieser genervte und ungeduldige Unterton mit: »Na los, du kannst doch nicht dein ganzes Leben vergammeln!«

Mein ganzes Leben. Was soll denn das jetzt heißen? Ich bin doch gerade erst mit der Schule fertig geworden, habe mein Abi in der Tasche, da hab ich mir doch wohl etwas Erholung und Entspannung und ein paar ausgelassene Partys verdient.

»Ja gleich!« Ich bin ebenfalls genervt, berechtigterweise, immerhin bin ich vor ein paar Monaten achtzehn geworden, Papa hat also genau genommen überhaupt kein Recht, mich so herumzukommandieren.

»Jetzt!«

»Moment noch …« Mein ganzes Leben. Übertreibt er da nicht ein bisschen? Und was meint er überhaupt? Die letzten Wochen, in denen ich endlich mal chillen konnte? Oder meine Zukunft? Ich habe keinen blassen Schimmer, wie die aussehen soll, und will auch nicht darüber nachdenken. Das wird sich schon finden. Einige meiner Freundinnen haben sich zwar schon an der Uni eingeschrieben, ein paar andere wollen eine Asienreise machen, aber das klingt mir alles viel zu anstrengend. Ich hab eigentlich zu nichts so richtig Lust, außer mit meinen Freundinnen Party zu machen und mit meinem Freund abzuhängen – obwohl unsere Beziehung im Moment eher suboptimal läuft. Die Wahrheit ist, ich habe keinen Plan.

»Komm in die Gänge, Molin, los, ich hab ’ne Idee!« Papa lässt einfach nicht locker, und so quäle ich mich aus dem Bett, schleppe mich ins Bad und betrachte mein zerknautschtes Katergesicht im Spiegel. Ich seufze und tue mir jetzt schon leid – wenn Papa eine Idee hat, artet das meistens in Arbeit aus.

»Was hältst du davon, wenn wir zusammen eine Fernreise unternehmen? Ganz weit weg … einen Roadtrip, mit einem Land Rover und Dachzelt oder so was in der Art?«, fragt Papa eine halbe Stunde später, als wir zusammen in der Küche sitzen, ich zum Frühstück, er zum Mittagessen. Da meine Eltern getrennt leben, gibt es hier nur uns zwei: Meine jüngere Schwester Lotta ist bei meiner Mutter geblieben, während ich mit meinem Vater zusammenwohne.

»Wie bitte?« Ich blicke von meiner Müslischüssel hoch und denke, dass ich mich verhört haben muss. »Was hast du gesagt?« Eigentlich bin ich mit meinen Gedanken gerade woanders, bei meinem Freund nämlich, mit dem ich mich gestern heftig gestritten habe. Ich überlege, wie es mit uns weitergehen soll.

Also was war das denn da gerade eben, hat Papa wirklich einen gemeinsamen Urlaub vorgeschlagen? Hält er mich für ein Baby? Als meine Schwester und ich noch klein waren, standen Familienreisen ans Mittelmeer nämlich regelmäßig auf dem Sommerprogramm.

Ich sehe nach draußen in den trüben Himmel und stelle mir die Reaktion meiner Freundinnen vor, wenn ich ihnen erzählen würde, dass ich mit meinem Vater in Urlaub fahre, und dann auch noch zum Campen: Oh Gott, wie uncool ist das denn! Nicht für eine Million würde ich mit meinem Vater wegfahren!

»Ich dachte an Südafrika«, sagt mein Vater, »Mosambik, Simbabwe, Sambia vielleicht – und Namibia …«

»Oh!«

»Wär’ das nicht was?«

Ich verschlucke mich an meinem Müsli und bekomme einen Hustenanfall. »Weiß nicht …«, keuche ich, während mein Vater mir auf den Rücken klopft.

»Alles okay?«

»Ja!« Ich muss erst mal verdauen, was ich da gehört habe, mein Gehirn muss es verarbeiten, das geht nicht so schnell. Afrika! Ich versuche, mir das vorzustellen …

»Wir könnten zusammen ’ne richtig tolle Zeit haben«, sagt mein Vater, und jetzt hört er sich an wie ein Motivationscoach.

»Hm, ja vielleicht …«, sage ich zögerlich. Ich finde die Idee eigentlich gar nicht so uncool. Im Gegenteil: Sie triggert etwas in meinem Inneren, ruft dort eine seltsam aufgeregte Freude hervor, eine unbestimmte Sehnsucht – wie einen alten, halbvergessenen und dennoch vertrauten Kindheitstraum. Ich denke an mein altes Kuscheltier, Matata den Plüschlöwen, an die tollen Afrikafotobände, die ich früher bei meinem Opa so gerne angeschaut habe, denke an fremde ferne Länder, und mein Herz macht einen Sprung. Meine Neugier ist geweckt! Und während ich auf die Regentropfen starre, die draußen an der Scheibe grau in grau hinunterlaufen, kann ich nicht anders, als meine Gedanken in sonnige orangefarbene Weiten abdriften zu lassen – ich sehe endlose Savannen vor mir, krasse Sonnenuntergänge und spannende Safaris durchs Löwen- und Elefantenland.

»Du müsstest dir aber das Geld für den Trip selbst verdienen, die Flugkosten, Impfgebühren …«

»Hä?« Echt jetzt? Das ist doch wohl nicht sein Ernst. Und die Impfungen … klar, die braucht man wohl, wenn man sich in Afrika nicht irgendwas einfangen will.

»Welche Impfungen denn?«

»Tollwut, Cholera, außerdem Malariaprophylaxe …«

Mann, klingt das verlockend. Ich hab wirklich überhaupt keinen Bock auf so was, aber jetzt habe ich schon »vielleicht« gesagt, da kann ich ja wohl schlecht einen Rückzieher machen. Und eigentlich will ich das auch gar nicht. Das aufgeregte Kribbeln in mir wird stärker. Ich werde es irgendwie schaffen, das Geld zusammenzukriegen, locker – Papa wird schon sehen.

»Okay!« Ich nicke entschlossen.

Hauke

Jetzt bin ich überrascht. Ich hatte zwar gehofft, dass Molin zustimmen würde, aber so ganz traue ich ihrem schnellen Einverständnis nun doch nicht. Seit meine Tochter vor zwei Jahren zu mir gezogen ist, gibt es immer wieder diese alterstypischen Reibereien. Auch wenn sie mittlerweile volljährig ist, bin ich schließlich nach wie vor ihr Vater, und als solcher will ich ihr natürlich mit gut gemeintem Rat und unterstützender Tat zur Seite stehen – obwohl ich vielleicht hin und wieder übers Ziel hinausschieße.

»Lass mich in Ruhe. Das geht dich nichts an!«, ist eine von Molins Standardantworten, und zumindest manchmal hat sie recht – in ihre Beziehungsgeschichten jedenfalls mische ich mich nicht mehr ein, obwohl ich spüre, dass es derzeit nicht gut läuft mit ihrem Freund. Vielleicht ist das ja ein Grund für ihre miese Laune und die fehlende Motivation, irgendetwas anzufangen. Vielleicht ist es aber auch einfach diese besondere Lebensphase voller Ungewissheiten und Zukunftsängste, die ihr Sorgen bereitet und sie bedrückt.

»Ich war noch ein gutes Stück jünger, als ich zum ersten Mal mit meinem Vater auf große Reise ging …«, versuche ich mit ihr ins Gespräch zu kommen.

»Ich weiß.«

»Und das Reisen kann dich vieles lehren, es kann dir Dinge zeigen, dir Begegnungen verschaffen, vielleicht sogar eine Richtung weisen, wo vorher keine war.«

»Also eigentlich hab ich im Moment genug Begegnungen …«

»Bei mir jedenfalls war es so.« Ich lasse mich nicht beirren und beobachte, wie Molin den Rest ihres Müslis aus der Schüssel trinkt. »Mich hat das Unterwegssein immer wieder aufs Neue weitergebracht, es hat mich selbstsicherer gemacht und mich letztendlich sogar dazu bewogen, Reisefotograf zu werden!«

»Schon gut, ich hab verstanden! Ich komm ja mit, hab ich doch schon gesagt!«, grummelt Molin und verdreht die Augen. Dann erhebt sie sich schwerfällig vom Tisch.

»Super!« Ich kann mir ein Grinsen und eine letzte Bemerkung nicht verkneifen: »Wie wär’s, wenn du deine freie Zeit nutzt, um ein wenig über Afrika zu lesen, dich zu informieren, herauszufinden, was du dort tun und sehen willst?«

»Mhm …« Und schon tippt meine Tochter wieder auf ihrem Handy herum, und ich bin mir sicher, dass sie keine Afrika-Recherche betreibt. »Muss erst mal meinen Freundinnen davon erzählen«, nuschelt sie und schlurft ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus.

Trotz – oder vielleicht wegen – dieser Holprigkeiten habe ich das starke Bedürfnis, noch einmal Zeit mit meiner Tochter zu verbringen, noch einmal Vertrauen und Nähe zwischen uns zu spüren, bevor sie ihrer eigenen Wege geht.

Darüber hinaus würde ich sie wirklich liebend gern für irgendwas begeistern, auch wenn das kein leichtes Unterfangen ist: Immer wieder bemühe ich mich, sie für etwas zu interessieren, spreche mit ihr, versorge sie mit Büchern und Magazinen, um vielleicht ein paar Träume und Wünsche aus ihr herauszukitzeln, und natürlich handelt es sich bei meinen Vorschlägen meistens um das, was ich selbst gerne mache – Reisen, eine Leidenschaft, die ich wiederum von meinem Vater mitbekommen habe. Ich war gerade mal fünfzehn, als er – seinerseits Fotograf und Architekt – mich zum ersten Mal mit nach Amerika nahm und mir beibrachte, wie man in der Fremde zurechtkommt. Mit sechzehn bin ich bereits alleine durch Indien gereist, und danach gab es kein Halten mehr: Mein Vater hatte etwas in Gang gesetzt, hatte mich mit seiner Reiselust infiziert, hatte sogar die Weichen gestellt für meinen beruflichen Werdegang, wofür ich ihm noch heute dankbar bin. Umso schmerzlicher trifft es mich, dass unsere gemeinsamen Reisen nur noch in der Erinnerung existieren – in meiner Erinnerung, denn aus dem Gedächtnis meines Vaters sind sie bereits verschwunden.

Ich seufze und beginne, den Tisch abzuräumen. Auch ich muss mich auf den Weg machen, nicht zu meinen Freunden oder Freundinnen wie Molin, sondern zum Haus meines Vaters, dessen Demenzdiagnose nun schon fünf Jahre zurückliegt. Ein Pflegedienst kümmert sich um ihn, und einen Großteil dieses Sommers habe auch ich mit seiner Betreuung und Pflege zugebracht, die sich immer aufwendiger gestaltet, da seine Krankheit ungebremst voranschreitet: Ich bin mir vollkommen bewusst, dass dies eine Reise ist, die wir nicht gemeinsam erleben können, doch will ich ihm wenigstens auf seinem Weg zur Seite stehen, so gut ich es vermag. Und so besuche ich ihn mehrmals die Woche, sehe nach dem Rechten, helfe beim Einkaufen, Saubermachen, den Alltagsdingen.

Heute steht ein Friseurbesuch auf dem Programm, und während ich Molins Frühstücksreste wegräume, sind meine Gedanken für einen Moment genauso trübe wie der Himmel draußen: Meine Tochter ist wahrhaftig nicht die Einzige, die nicht weiß, wo es langgeht! Nicht nur jungen Menschen ergeht es so, auch ich hadere seit Wochen mit allem so viel wie selten in meinem Leben. Denn immer wieder muss auch ich die richtige Entscheidung, den richtigen Weg, meinen »inneren Kompass« finden, und mein Vater führt mir jeden Tag vor Augen, dass dieser Weg irgendwann zu Ende ist, dieser Kompass auf immer verloren.

Es tut weh zu sehen, wie seine Erinnerungen weniger werden, ihn Stück für Stück verlassen, wie er zunehmend orientierungsloser wird, und dieses Vergessen beflügelt meinen Wunsch, möglichst viele neue und intensive Momente zu erleben, zu sammeln und zu bewahren, was mir auf Reisen am besten gelingt – vielleicht kann ich so auch die Leidenschaft meines Vaters lebendig halten.

Ein wenig schwermütig mache ich mich auf den Weg, und während ich im Nieselregen aus Bremen hinaus, durch Vororte hindurch zum ländlich gelegenen Haus meines Vaters fahre, packt mich ein heftiges Fernweh: Ich will Molin die Welt zeigen, so wie er sie mir gezeigt hat!

Molin

Okay. Erst mal muss ich Geld verdienen. Arbeiten. Es hilft ja nichts. Aber wie und wo kann ich am besten möglichst schnell möglichst viel Lohn einfahren?

Beim größten Automobilhersteller unserer Stadt wahrscheinlich – das Werk liegt schließlich ganz in der Nähe, und einige meiner Freundinnen haben schon mal dort gearbeitet, also bewerbe auch ich mich, mit gemischten Gefühlen, um an der Herstellung der schicken, teuren Karren mitzuwirken. Ich ahne natürlich, dass das nicht meine Lieblingsbeschäftigung sein wird, aber mir fällt gerade nichts Besseres ein – nicht, dass ich irgendeine Ahnung hätte, was denn mein Traumjob überhaupt sein könnte, aber so einfach wie die Stelle in der Autofabrik werde ich ihn garantiert nicht finden. Also Augen zu und durch.

Mittelmäßig motiviert trete ich ein paar Wochen später an einem weiteren farblosen Herbsttag meine Nachtschicht am Fließband an. Hier werde ich nun sechs endlos lange Wochen Einzelteile an Limousinen- und SUV-Karosserien schrauben und stöpseln, um das nötige Geld für die Afrikareise zusammenzukriegen.

»Also Papa, meine Freundinnen bekommen ihre Reisen alle zum Abitur geschenkt, keine muss sich die selbst verdienen …«, versuche ich es in der zweiten Arbeitswoche, während ich gerädert und übermüdet in der Küche sitze und ein spätes Mittagessen zu mir nehme. »Niemand muss so einen Scheißfließbandnachtjob machen wie ich, die anderen werden alle mit Belohnungen und Geschenken überhäuft: Mann, niemand muss sich so die Nächte um die Ohren schlagen wie ich!«

Papa lacht und zwinkert mir zu. »Jetzt übertreib mal nicht, Molinchen. Es zahlt sich bestimmt aus, du wirst schon sehen.« Er klopft mir vatermäßig auf die Schulter. »Und überhaupt, die Arbeitszeiten passen doch wie die Faust aufs Auge – sind die nicht völlig synchron mit deinen vorherigen Wach- und Partyzeiten?«, schiebt er noch hinterher, und das ist das Ende der Diskussion.

Also schleppe ich mich auch an diesem Abend wieder durchs nasskalte Oktoberwetter in den östlichen Bremer Stadtteil Sebaldsbrück, um meinen Platz am endlos scheinenden Band einzunehmen und stundenlang ein Auto nach dem anderen mit denselben monotonen Bewegungen abzufertigen: Handgriff rechts, Handgriff links, Akkuschrauber ansetzen, Sirrrrrr, Brrrmmm, Klack, Schraube fest. Weiter. Halt. Nächstes Auto. Was für ein Stress! Gerade mal eine Minute hab ich pro Fahrzeug, um Schrauben und Werkzeug in Position zu bringen und alles zu befestigen. Dazu dröhnt der Maschinenlärm in meinen Ohren, und das grelle Licht tut mir in den Augen weh. Das geht echt nur, wenn man seine Gedanken wandern lässt, und ich beginne in diesen Stunden, immer öfter an Afrika zu denken. Immer wieder stelle ich mir vor, was ich dort alles erleben werde, und meine Sehnsucht wächst, endlich von hier wegzukommen und unterwegs zu sein.

Und noch etwas Unerwartetes geschieht. In der dritten Woche, als ich mich an die Arbeitsroutine gewöhnt habe, merke ich, wie sich das Klima um mich herum wandelt: Haben meine männlichen Kollegen anfangs eher abschätzig auf mich runtergeschaut, so werde ich jetzt zunehmend mit Respekt behandelt und integriert. Und hey! Ich verdiene mein eigenes Geld! Das fühlt sich mindestens ebenso cool an, und als mich eines Nachts ein Mitarbeiter fragt, was ich denn mit dem ganzen Cash machen werde, da antworte ich voller Stolz: »Nach Afrika reisen!«

Geplant ist unsere Abreise für den kommenden März, und während meine Vorfreude mit jeder Woche größer wird, breitet sich gleichzeitig eine nagende Sorge in mir aus, die bisher eher im Hintergrund gelauert hat, sich aber nun nicht länger zurückdrängen lässt: die Sorge um meinen Großvater.

Opa Fritz’ Zustand hat sich während des letzten halben Jahres kontinuierlich verschlechtert. Es steht nun sogar auf der Kippe, ob wir unsere Reise überhaupt antreten können, so viel Zeit nimmt Opas Versorgung auf einmal in Anspruch: Papa muss sich ständig um irgendwas kümmern, und ich helfe ihm dabei, wann immer ich kann. Ich habe Opa Fritz sehr gern, und es erschreckt mich, dass er immer hilfloser wird und so vieles vergisst, dass sein Leben gewissermaßen im Rückwärtsgang läuft.

Meine Arbeit am Fließband geht also geradezu nahtlos über in meine Betreuungsarbeit bei Opa Fritz. Nachdem ich gelernt habe, mich in der erwachsenen Arbeitswelt zu behaupten, lerne ich nun wie in einem Crashkurs – der garantiert ein paar entscheidende Stationen überspringt – den nächsten Schritt ins anstrengende Erwachsenenleben kennen: das Kümmern um jemand Hilfebedürftigen – als wäre ich plötzlich das Elternteil und Opa das Kind.

Ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussehen wird, was das Leben noch für mich bereithält – doch wird mir in diesen Tagen und Wochen schmerzhaft bewusst, dass Opas Zukunft noch viel ungewisser ist als meine, dass er möglicherweise gar keine hat.

Hauke

Heute ist der 28. Februar. Es ist fast Abend, und wir sitzen etwas erschöpft am Frankfurter Flughafen im Umsteigebereich, essen ein Sandwich und trinken Cola dazu. Vor den großen Fenstern der Wartehalle kann ich die Flugzeuge in der Dämmerung starten und landen sehen, auf und ab fliegen die Lichter, und ich genieße diese typisch gedämpfte Geschäftigkeit, die in Flughafengebäuden herrscht, ohne dass ich selbst etwas tun muss.

Unser Gepäck haben wir bereits eingecheckt, und den kurzen Leerlauf, die Pause nutze ich nun, um mich zu sammeln und meine Gedanken zu sortieren: Wir sind unterwegs! Unterwegs nach Südafrika! Ich kann es immer noch kaum fassen. Ich unternehme diese Reise nun tatsächlich mit meiner Tochter, allen Widrigkeiten zum Trotz, die sich uns in den letzten Monaten doch noch und immer wieder in den Weg gestellt haben.

»Papa, ich kann echt nicht glauben, dass wir jetzt wirklich hier sitzen!«, sagt Molin, als könne sie meine Gedanken lesen, dann beißt sie in ihr Käsebrötchen. »Die letzten Wochen waren voll krass, oder?«, sagt sie mit vollem Mund. »Aber jetzt sind wir unterwegs, und es gibt kein Zurück mehr.«

»So ist es!« Ich spüre ihre Aufregung und lehne mich im unbequemen Flughafensitz zurück, und während ich die Augen schließe, merke ich, wie mich eine tiefe Erschöpfung überkommt.

Die letzten Wochen und Monate waren in der Tat herausfordernd und haben an mir gezehrt wie selten etwas zuvor – vor allem ging es immer wieder um die Frage, ob mein Vater weiterhin in seinem Haus wohnen konnte oder ob er nicht doch in einer Pflegeeinrichtung besser aufgehoben war. Das Thema beschäftigte mich Tag und Nacht, wurde immer drängender, und obwohl es sich als eine der schwierigsten und kraftraubendsten Entscheidungen meines Lebens herausstellte, konnte ich nicht anders, als gleichzeitig unermüdlich die Vorbereitungen für Molins und meine Reise voranzutreiben – als wäre das mein Gegenpol, um mich im Gleichgewicht zu halten. Vielleicht war es auch eine Art Ansporn für uns alle, etwas, das ich zu Ehren meines Vaters unternehmen konnte, das mich gleichzeitig selbst vorwärtstrieb und mit positiven Gefühlen erfüllte. Es waren die Gedanken an unsere Reise, die mir halfen und mich weitermachen ließen mit all jenen lähmenden Fragen und Entscheidungen, die getroffen werden mussten.

»Derjenige, der fortgeht, ist nicht der Gleiche, der wiederkommt«, hat einmal ein alter Berber zu mir gesagt, und ich habe das Sprichwort verinnerlicht. Diese Sehnsucht nach der Ferne, nach Veränderung, nach dem anderen hat mir auch in den vergangenen Wochen dabei geholfen, nicht nur mich, sondern meine Umgebung und die Menschen in meinem Umfeld besser zu verstehen. Selbst meinen Vater, und nach langem Hin und Her, nach endlosem Abwägen und Überlegen traf ich schließlich Anfang Januar gemeinsam mit meiner Familie die Entscheidung für die Demenzpflegeeinrichtung.

Etwa zeitgleich gingen Molin und ich zur Impfberatung bei einem Bremer Tropenarzt, wir besorgten – und bezahlten – die notwendigen Impfdosen in unserer Apotheke, buchten unsere Flüge nach Johannesburg und reservierten einen Mietwagen mit Allradantrieb und Dachzelt, mit dem wir sechs Wochen lang rund 8000 Kilometer durchs südliche Afrika touren wollten. Und spätestens zu dem Zeitpunkt war klar, dass wir die Reise durchziehen würden.

»Flight LH572 to Johannesburg is now boarding«, reißt mich die Lautsprecherstimme aus meinen Gedanken, und wie elektrisiert springe ich auf, ergreife mein Handgepäck und meine Kameratasche. »Los! Rein mit uns!« Ich reiche Molin ihren Rucksack, und meine Tochter sieht müde, aber glücklich aus, als sie mich anlächelt: »Okaaay. Na endlich!« Ihre Augen leuchten auf, und während sie forsch zum Schalter schreitet, wirbeln in meinem Inneren die Emotionen nur so durcheinander: Es ist eine wilde Mischung aus Vorfreude und Angst – Angst, dass zu Hause etwas schiefgehen könnte, während ich weg bin –, doch letztendlich überwiegt die Neugier auf das Neue, auf das Ungewisse. Denn das ist es, was mich antreibt: Noch nie bin ich mit Molin allein verreist; es ist eine neue und deswegen so spannende Situation, die durch alte Erinnerungen noch angeheizt wird. Erinnerungen an Reisen mit der Familie, als meine Töchter klein waren, und an solche, die noch länger zurückliegen. Und plötzlich ist die Aufregung wieder da, die Vergangenheit wieder lebendig, ich fühle mich zurückversetzt und bin gleichzeitig ganz hier, in diesem Augenblick, als wir das Flugzeug besteigen, den Bauch voller Aufregung, den Kopf so voll schwindeliger Freude wie damals, als alle meine Reisen noch vor mir lagen.

Und als schließlich unser Flieger, eine Boeing 747, mit Getöse und Gepolter abhebt, als ich mit voller Kraft in meinen Sitz hineingedrückt werde, da lasse ich alle Anstrengungen der letzten Wochen hinter mir, genieße das Gefühl des Aufbruchs, des Abhebens – und schlafe wenige Minuten nach dem Take-off ein.

Kapitel 2: Der Hühnerfußmann

 

 

1. bis 3. März 2019, Südafrika/Johannesburg

Molin

Die Sonne senkt sich über Melville, jenem Stadtteil von Johannesburg, in dem wir heute übernachten werden. Es ist schwül, stickig, man kann die Hitze geradezu sehen, sogar riechen – flirrend, staubig und teerig hängt sie über dem Asphalt. Ich kann meine Augen nicht abwenden vom Geschehen auf der belebten Straße vor der Terrasse des kleinen Restaurants, in dem wir zu Abend essen. Erschöpfungs- und Adrenalinschübe wetteifern in meinem Körper, und ich bin etwas neben mir: Elf Stunden Flug, Schlafmangel und eine Flut von neuen Eindrücken lassen alles um mich herum unwirklich erscheinen – selbst die afrikanische Pizza mit Calamari, die vor mir auf dem Teller liegt.

Ich habe den tomatigen Tintenfischfladen fast aufgegessen, als mein Vater plötzlich aufspringt, den Hals reckt, um die Umgebung zu scannen, und mir dann einen Batzen bunte Geldscheine in die Hand drückt. Dabei ruft er aufgeregt: »Du bleibst hier und bezahlst, wenn jemand kommt, okay? Du bist hier völlig sicher, keine Sorge, ich bin gleich wieder da!«

Was? Keine Sorge?? Papa! Du kannst mich doch hier nicht einfach alleine sitzen lassen!

Doch, kann er. Was Papa jetzt nicht kann: die drei jungen Kerle vorüberziehen lassen, die gerade auf dem Gehweg vor dem Restaurant aufgetaucht sind. Zwei von ihnen tragen trotz der Hitze Nietenlederjacken und schweren, üppigen Schmuck – lederne Fingerringe, Ohrgehänge und Silberketten mit riesigen Anhängern, die das Wort »RICH« formen. Selbst im Dämmerlicht fallen ihre Sonnenbrillen und vor allem ihre Frisuren auf: Wie Kronen türmen sich die kunstvoll aufgedrehten Dreadlock-Dutts auf ihren Köpfen.

Die ganze Erschöpfung meiner schlaflosen Reisenacht ist wie weggeblasen, als mein Vater mit leuchtenden Augen auf die Straße geht und mich im Restaurant zurücklässt. Wer sind diese Männer? Nun, Papa wird es garantiert herausfinden. Das tut er immer. Doch heute, hier, auf diesem neuen Kontinent, in dieser fremden Stadt, in einem Viertel, in dem kaum andere Weiße sind, würde ich ausnahmsweise lieber nicht alleine irgendwo rumsitzen.

Von der Terrasse aus beobachte ich, wie mein Vater mit den drei Typen ins Gespräch kommt – lässig, lachend und gestikulierend nähern sie sich einander an. Ich muss grinsen. Typisch Papa: Jetzt hebt er seine Kamera, und die drei Männer, deren Erscheinung man durchaus als bedrohlich oder zumindest einschüchternd empfinden könnte, beginnen, fröhlich und bereitwillig für meinen Vater zu posieren.

 

Hauke

Ich musste dieses Geschenk, das sich mir hier unverhofft präsentierte, einfach annehmen: Die drei sehen so toll aus, kommen so sympathisch und selbstbewusst rüber, dass ich nicht anders konnte, als auf sie zuzugehen, um ihre Geschichten zu hören und natürlich, um sie zu fotografieren. Solche Begegnungen sind Glücksmomente, und Fotos lassen mich von ihnen erzählen. Bilder bilden Erinnerungen, durch sie bleiben die Begegnungen – und mit ihnen das Glück.

»Hey, wie geht’s? Wow, ihr seht toll aus! Ich bin Hauke aus Deutschland, und wie heißt ihr?« Alle drei grinsen mich an, und ich grinse zurück, denn die jungen Männer haben mir soeben etwas Wertvolles geschenkt: ihr Vertrauen.

Prince und Warren – die beiden mit dem extravaganten Styling – sind Zwillingsbrüder und arbeiten als professionelle Models, erzählen sie mir; Kevin, der Dritte, ist ihr Cousin, er begleitet sie heute Abend beim Ausgehen und Feiern. Wir erzählen uns, was wir so machen, und nach ein paar weiteren Minuten der Unterhaltung frage ich, ob ich sie fotografieren darf. Es ist ein wunderbarer Einstieg in diese Reise, denn nicht nur mache ich gleich zu Beginn ein solch besonderes Foto, sondern kann meiner Tochter außerdem zeigen, was für mich wichtig ist, worauf es mir ankommt.

Von Weitem sehe ich, wie Molin zu mir herübergrinst, mit der Bedienung redet und dann bezahlt. »Das ist meine Tochter Molin«, stelle ich sie vor, als sie sich anschließend zu uns gesellt. »Etwas erschöpft vom Flug sind wir schon, aber Molin wollte trotzdem noch mal losziehen, was erleben, Leute treffen, denn wir sind nur für ein paar Tage in der Stadt und wollen so viel wie möglich sehen. Nicht das touristische Johannesburg, sondern das authentische …« Und während lächelnd Hände geschüttelt werden, schießt pure Freude durch meine reisemüden Glieder. Das ist es, was Reisen für mich bedeutet – nur hat das Glück nun eine weitere Dimension: Jetzt ist Molin dabei und damit auch ihre Sichtweise und Wahrnehmung.

 

Nach dieser besonderen Begegnung geht es gleich am nächsten Morgen ähnlich spannend und rasant weiter: Mit unserem Mietwagen fahren wir nach Soweto – kurz für »South Western Townships« –, um unseren Stadtführer zu treffen. Den Kontakt zu ihm hat einer meiner Kollegen, ein in Johannesburg lebender Journalist, hergestellt. Wenn man das wahre Leben sehen will, wenn man durch Türen treten will, die für normale Touristen verschlossen bleiben, dann muss man einen professionellen Guide anheuern – genauso mache ich es auch, wenn ich beruflich unterwegs bin.