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Winnetou und Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar – Karl Mays Helden kennt man noch heute. Aber was wären diese Helden ohne ihre treuen Gefährten, die nicht im Mittelpunkt standen? Was sind ihre Geschichten? Die Vettern Tante Droll, der Westmann in Frauenkleidung und Hobble-Frank, der immer einen Spruch auf den Lippen hatte, waren die Einzigen, die je Winnetou und Old Shatterhand retteten. Ellen, die Tochter Old Firehands und Ribannas, lernte von Winnetou alles, was man als Westfrau im Wilden Westen wissen muss. Diese Anthologie erzählt ihre Geschichten, voller Abenteuer, Spannung, Humor und Tragödien. Kein anderer Autor hat so viele Leser in eine Welt voller Abenteuer und Freundschaft versinken lassen, seine Geschichten und die Sehnsucht nach Abenteuern füllen noch heute die Freilichtbühnen und Westernstädte Deutschlands. Zu seinem 175. Geburtstag setzen Autoren der Phantastik Karl May ein Denkmal und bedanken sich für ihre Zeit und Inspiration in seinen Welten. Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter, denn alle Künstler spenden ihre Tantieme an das Karl-May-Museum in Radebeul zum Erhalt der Sammlung. Mit Geschichten von Tommy Krappweis, Iris Kammerer, Christian von Aster, Oliver Hoffmann, Lena Falkenhagen, Anja Bagus, Ulff Lehmann, Gerd Scherm, Isa Theobald, Robin Gates, Oliver Graute, Selina Haritz, Hermann Ritter, Falko Löffler, Matthias Kremer, Alexa Waschkau, Katya Caelum, Volkmar Kuhnle, Sabine Joey Schäfers, Marcus Rauchfuß, Germaine Paulus, Ingo Muhs, Alex Jahnke, Axel Hildebrand und einem Vorwort von Ruth Ellen Gruber.
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Seitenzahl: 676
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1. Auflage Oktober 2017
Copyright © der Gesamtausgabe 2017 by Edition Roter Drache
Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel, [email protected]; www.roterdrache.org
Copyright © der Geschichten obliegen dem jeweiligen Autor
Titelbild: Arnd Empting
Satz und Umschlaggestaltung: Holger Kliemannel
Lektorat: Anne-Cathrin Gurke
Gesamtherstellung: Jelgvas tipografia
Der Abdruck der Geschichte »Der Das Hemd« erfolgt mit freundlicher Genehmigung aus Krappweis, T./ Bründl, H.J., VIER FÄUSTE FÜR EIN BLAUES AUGE © 2013 Droemer Verlag. Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Illustrationen: Helge C. Balzer (S. 14, S. 28, S. 60, S. 272, S. 323, S. 354); Katya Caelum (S. 220 & S. 227); Oskar Herrfurth (S. 1 & S. 380 aus »Der Ölprinz«); Alex Jahnke (S. 341, S. 416 & S. 438); Gerd Scherm (S. 127, S. 130, S. 136 & S. 148) und Jörg »doJoerch« Schlonies (S. 4)
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 978-3-944180-88-5
Cover
Titel
Impressum
VorwortRuth Ellen Gruber
Old FaithfulRobin Gates
Der Geist des langen ErkennensHermann Ritter
Fliegen wir!Falko Löffler
Die japanischen Angelegenheiten eines toten GentlemansSelina Haritz
Silber und BleiMatthias Kremer
AbgehalftertOliver Graute
Der geheimnisvolle GefangeneGerd Scherm
Worte verliert man nichtAnja Baus
Stadt der HügelUlff Lehmann
Am HorizontAlexa Waschkau
Tante Droll und der Schatz der verlorenen ZeitKatya Caelum
Der ErzfreundLena Falkenhagen
Der Weg nach DenverSabine Joey Schäfers
Das Gold des Samuel SonntagChristian von Aster
GeisterjägerVolkmar Kuhnle
Von Ratten und HundenIris Kammerer
Das letzte AbendmahlOliver Hoffmann
Teufelskraut und ViehdiebMarcus Rauchfuß
Frau Holle in HobokenIsa Theobald
MorgengrauenGermaine Paulus
Tante Droll und Missouri-Blenter bei den SiouxIngo Muhs
Miss Morrison’s Retirement Home for the ElderlyAlex Jahnke
Der Das HemdTommy Krappweis
Epilog: Karl lügtAxel Hildebrand
Die Beteiligten
Danksagung
Sie halten gerade ein Buch in den Händen, von dem ich nie gedacht hätte, dass es einmal Wirklichkeit werden würde. Doch bevor ich Sie auf den Weg zu den Lagerfeuern der Prairie schicke, wo Geschichtenerzähler Sie erneut in die Welt von Old Shatterhand, Winnetou und Sam Hawkens entführen, möchte ich Ihnen die Geschichte dieses Buches erzählen. Zeigt Sie doch, dass auch 175 Jahre nach der Geburt Karl Mays sein Werk weiterhin Autoren prägt.
Ich muss Ihnen aber ein Geständnis machen: Auch wenn ich mich heute als Phantast bezeichne, aber »My heroes have always been Cowboys«. Als Kind der 70er Jahre wuchs ich mit Bonanza, Rauchende Colts, Dem Mann in den Bergen, John Wayne und Audie Murphy auf. Natürlich war da auch immer Raumschiff Enterprise, Catweazle und Mondbasis Alpha 1, aber zur Familientradition gehörte es, dass jeder Western, der – auf den damals 2,5 Kanälen (der halbe war reichlich verrauscht) – lief, auch geschaut wurde, und zwar mit besonderer Andacht. In den 70er Jahren wurden auch die Karl-May-Filme zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt und Sie können sich denken, was diese Filme für eine Wirkung auf einen kleinen Jungen hatten. Daher war es auch keine Frage, dass wir in das benachbarte Elspe zu den Karl-May-Festspielen fuhren, nachdem bekannt wurde, dass man dort Pierre Brice als Winnetou engagiert hatte. Wer einmal so eine Aufführung besucht hat, kann verstehen, welcher Zauber dort gewoben wurde und bis heute gewoben wird. Waren die Western im Fernsehen zwar spannend und mitreißend, so waren sie doch weit weg, hinter einer Glasscheibe. Auch eine Schießerei aus einem winzigen 8-Watt-Lautsprecher an der Seite des Gerätes ist wenig beeindruckend. Aber in Elspe … Dutzende echte Pferde, die im wilden Galopp von links nach rechts über die mehr als 100 Meter breite Bühne reiten, echte Schlägereien, bei denen die Banditen auch mal vom Bühnenrand ins Publikum fielen, Explosionen, die einem die Ohren klingeln ließen und deren Hitze man auf der Haut spürte … Und dann natürlich dieser Moment, in dem Winnetou – DER WINNETOU – über den Berg ritt und seinen Freund begrüßte. Mir war damals völlig klar, dass er nur mich mit diesem Gruß meinen konnte. Mir kam allerdings Old Shatterhand zuvor, der »Winnetou, mein Bruder« rief und Winnetous Aufmerksamkeit von mir ablenkte. Am Tag nach dieser Vorstellung betrat ich die örtliche Bücherei und verließ sie mit sechs Karl-May-Büchern wieder. Dies wiederholte ich so lange, bis ich alle gelesen hatte. Über zehn Jahre lang besuchte ich jede Aufführung, bis die Wirren der Jugend mir einredeten, dass ich jetzt zu »alt für diesen Kinderkram« sei. Noch mal zehn Jahre später und ich setzte meine jährliche Pilgerfahrt wieder fort – und das bis heute.
Natürlich mögen die Karl-May-Forscher nun einwenden, dass die Stücke bei diesen Festspielen nur wenig mit Mays Büchern zu tun haben. Dem möchte ich zustimmen, aber auch widersprechen. Sie sind nicht werksgetreu, aber sie sind dem Zauber treu, den May beim Lesen bereitet hat, nämlich Abenteuer zu erleben und an das Gute im Menschen zu glauben. Ich war May auch nie böse, dass er bei seinen Erzählungen sich selbst als Old Shatterhand ausgegeben hat, denn – Hand auf Herz – wer hat denn nicht versucht, seinen besten Kumpel zu überzeugen, dass eine Blutsbrüderschaft unbedingt von Nöten war, um sich des Vertrauens des anderen wirklich sicher zu sein? Mit reichlich stumpfen Schweizer Taschenmessern geritzt, aber es ging um das Prinzip! Wir waren auch Old Shatterhand oder Winnetou, da gab es doch nie einen Zweifel!
Zudem sind »Tall Tales«, also Lügengeschichten auch eine alte Tradition des Wilden Westens. Einer der größten historischen Geschichtenerzähler war Jim Bridgers (1804-1881). Seine Entdeckungen als Scout und Trapper sind legendär. Er sah als erster Weißer den Yellow Stone und den großen Salzsee. Der nach ihm benannte Bridgers Pass verkürzte den Oregon Trail um 61 Meilen. Bridger liebte es, den Greenhorns Geschichten zu erzählen und sie dabei auf den Arm zu nehmen. In einer seiner liebsten Geschichten wurde er von über hundert Kriegern der Cheyenne verfolgt. Nachdem sie ihn mehrere Meilen gejagt hatten, fand er sich am Ende eines Canyons wieder, aus dem es kein Entrinnen gab. Die Indianer hatten ihn eingekesselt. Alles ging dem Ende zu. An diesem Punkt der Geschichte schwieg Bridger und wartete auf die Frage seiner Zuhörer.
»Was passierte dann, Mr. Bridger?«, kam die atemlose Frage aus dem Publikum.
Bridger antwortete: »Nun, sie töteten mich.«
Die Idee zu dieser Anthologie kam mir vor ungefähr vier Jahren, nachdem ich den Schatz im Silbersee erneut gelesen hatte. Zum ersten Mal ging mir richtig auf, dass auch jede der Nebenfiguren so unglaublich bunt war und voller Geschichten steckte, sodass ich es bedauerte, dass es nicht mehr über die skurrilen Helden am Rande zu erfahren gab. Einen Umstand, den es zu ändern galt.
Welche Autoren könnte ich für diese Anthologie gewinnen? Es sollten Phantastikautoren sein, denn für mich lebt diese besondere Fabulierkunst Mays vor allem in den phantastischen Welten weiter. Aber es sollte kein Phantastikbuch werden, sondern eine Hommage an die Abenteuergeschichten, die einen als Kind aus der Welt entrissen und die Weide oder den Parkplatz von nebenan zur Hochebene des Llano estakados werden liessen.
Letztendlich fanden sich 23 Autoren, um die Geschichte von Tante Droll, Hobble-Frank und Ellen weiterzuerzählen. Diese drei Helden sollen ein roter Faden sein, der die Abenteuer in der Anthologie verbindet.
Falls sie diese drei noch nicht kennen, so möchte ich Sie ihnen kurz vorstellen:
Hobble-Frank (Bürgerlich: Heliogabalus Morpheus Edeward Franke) hält sich für gebildet, deutlich gebildeter als seine Mitmenschen. Dabei wirft er aber vieles durcheinander und kann schnell aufbrausend werden, wenn man ihn auf diese Fehler aufmerksam macht oder ihn gar verbessert. Auch wenn er ein Pfau im Gehabe ist, so wird er doch als ehrlicher und zuverlässiger Freund geschätzt.
Sein Vetter Tante Droll (Bürgerlich: Sebastian Melchior Pampel) Tante Droll ist von kleinem, dicklichem Wuchs, dabei bekleidet mit einem ledernen, sackartigen Gewand, das aussieht wie Frauenkleidung. Da er kaum Bartwuchs hat und er mit einer hohen Fistelstimme spricht, erklärt es sich leicht, wie er zu seinem Spitzamen gekommen ist. Abgesehen von diesen Äußerlichkeiten ist er ein äußerst fähiger Westmann und im Gegensatz zu seinem Vetter Hobble-Frank ein eher ernster Mensch.
Damit die Welt nicht zu maskulin wird, gesellt sich noch Ellen zu diesen beiden.
Ellen ist die Tochter von Old Firehand (in der Originalfassung von 1875) und dessen zweiter Frau Ribanna, die große Liebe von Winnetou. Nach der Ermordung Ribannas lehrt Winnetou das Mädchen alles, was man im Wilden Westen können und wissen muss.
Der eigentliche rote Faden ist aber der Geist der Abenteuergeschichte. Dies nostalgisch-süße Gefühl, wenn man sich mit einem Karl-May-Roman in eine Ecke verzog und in dieser Welt versank. Daher werden sie Geschichten lesen, in denen diese drei Helden nur am Rande auftauchen, bei anderen wiederum stehen sie im Mittelpunkt. Allen gemeinsam ist aber die Lust am Abenteuer. Manche Geschichten mögen sich widersprechen, denn es wird viel erzählt an den Lagerfeuern des Wilden Westens. Wer weiß schon, was der Wahrheit entspricht?
Die Geschichten in diesem Buch sind so unterschiedlich wie die Autoren: Mal spannend, romantisch, lustig, dramatisch oder tragisch. Es war nie das Ziel dieser Anthologie, authentische Karl-May-Geschichte neu zu erfinden, sondern den damals gefühlten Zauber neu zu entfachen. Jeder Autor sagt auf seine Weise »Danke« an einen der größten Geschichtenerzähler ihrer Jugend.
Dieses Danke drückt sich nicht nur in den Geschichten aus, denn alle Autoren und Illustratoren sind sich einig, dass die Erlöse dieses Buches dem Karl-May-Museum in Radebeul gespendet werden. Dafür möchte ich mich noch mal herzlich bedanken!
Nun bleibt mir nicht mehr, als Sie auf die Reise in einen Wilden Westen zu schicken, den es niemals gab und Ihnen viel Vergnügen zu wünschen!
Reiten Wir!
Alex Jahnke
Ich wuchs im Nachkriegs-Amerika auf, ein Ostküstenkind gefangen in den Fantasien der »Frontier«. Mein Zuhause war in der Nähe von Philadelphia – tausende Kilometer von dem entfernt, was man einst den Wilden Westen nannte. Doch ich wurde verzaubert durch die Westernserien mit Gene Autry, Roy Rogers, Hopalong Cassidy, dem Lone Ranger und vielen anderen. Schon als kleines Kind lief ich mit Cowboyhut und Spielzeugrevolver umher. Meine Mutter (sowie ihre Mutter davor) kamen aus Texas und ich bekam meine erste Cowboyausrüstung als Kleinkind im Kurzwarenhandel meines Großonkels in Baytown, am Golf von Mexiko.
In dieser Hinsicht war ich eines von Millionen Kindern Amerikas – und ebenso Erwachsener. John Wayne hatte seine Hochzeit und Western waren extrem populär. Ich unterschied mich aber in einem wesentlichen Punkt: Als Teenager war ich eine der wenigen Amerikanerinnen, die Karl May kannten und eine der ganz, ganz wenigen – ich gestehe – die sich, wie unzählige europäische Mädchen, in den verträumten französischen Schauspieler Pierre Brice und seiner Rolle als Winnetou verliebten.
In den letzten 12 Jahren forschte ich zu dem Thema, das ich »Imaginary Wild West in Europe« nenne. Eine breitgefächerte Subkultur, welche alles beinhaltet – von Wild-West-Freitzeitparks über Rodeos bis hin zu Trucker-Festivals und der mannigfaltigen Reenactor-Szene. Countrymusik in all seinen Spielarten bildet dazu den Soundtrack. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1999 bezeichnen Edward Buscombe und Kevin Mulroy Amerikas Legende der Besiedlung des Westens als »den am erfolgreichsten vermarkteten Nationalepos in der Geschichte1« . Jeder hat das Gefühl, ein Teil davon zu sein und in der Tat, die Cowboys, die Indianer, die Weite einer Westernlandschaft, die Schlangenlederstiefel, die schwingenden Saloontüren, die nicht enden wollenden Straßen, das Twang eines Banjos oder einer Steel Guitar: All dies sind direkt wiedererkennbare Symbole voller Subkontexte und Nuancen.
Diese Faszination, wie auch die Entwicklung des Phänomens, hat eine lange Geschichte. Als Buffalo Bill vor mehr als einem Jahrhundert durch Europa zog und dabei selbst die heutige Ukraine erreichte, zog er mit seiner Fleisch und Blut gewordene Verkörperung einer literarischen Fantasie riesige Menschenmassen an. Einige Jahrzehnte früher hatten der »Letzte Mohikaner« und andere Werke von James Fenimore Cooper den europäischen Kontinent im Sturm genommen. Während des 19. Jahrhunderts entwickelte Europa seine ganz eigene Tradition der Wild-West-Literatur. Karl May war der populärste und erfolgreichste Autor dieser neuen Tradition, aber bei weitem nicht der Einzige. Dutzende europäische Autoren schrieben Abenteuer, die im Wilden Westen spielten.
Eines meiner Hauptinteressen in der Erforschung des »Imaginary Wild West« Europas ist die Art und Weise, wie sich die Europäer der amerikanischen Archetypen angenommen und sich diese zu eigen gemacht haben – sei es durch Literatur, Convention oder durch ihre eigenen fiktionalen Heldenfiguren. Der Wissenschaftler Richard Carcroft schrieb dazu: »Andere Nationen haben einen Anspruch auf den amerikanischen Westen, der ebenso bedeutend ist, wie der der amerikanischen Nation selbst2«
In vielerlei Hinsicht ähnelt die Art, wie Europäer die Mythologie des Wilden Westens für sich vereinnahmen und ausschmücken dem, wie es auch Amerikaner tun. Doch Europäer nähern sich diesem Thema (oder das Thema nähert sich ihnen) aus der Ferne, aus einer anderen und in gewisser Weise mehr desinteressierten Richtung: Sie nähern sich dem amerikanischen Westen aus Gesellschaften, Staaten und Kulturen, deren eigene Nationalidentität nicht von der amerikanischen Gründungslegende abhängt. Ihre Begeisterung ist daher eher in einer Art transformativer Nostalgie verwurzelt – für etwas, das es vielleicht niemals gegeben hat. Der Brite David Hamilton Murdoch schrieb dazu in seinem Buch »The American West: Creation of a Myth«, dass Europäer »Außenseiter sind, die in das Innerste schauen – auf ein Bild der Welt, die sie niemals hatten. Für sie ist der mystische Westen der schönste Eskapismus. Was für Amerikaner der Fallstrick ihres eigenen Mythos ist, ist für andere die eigentliche Essenz3.«
Mein erster persönlicher Kontakt mit dem Imaginary Wild West Europas – und mein Entdecken Karl Mays – fand im Jahr 1966 statt. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, während meine Familie den Sommer in der kommunistischen Tschechoslowakei verbrachte; mein Vater leitete eine archäologische Grabung in der Nähe von Prag. Ich schrieb damals Tagebuch; ein Tagebuch, welches ich (verblüffenderweise) immer noch besitze. Darin notierte ich mit einiger Verwunderung die tschechische Faszination zu Winnetou und zum Wilden Westen im Allgemeinen. Tatsächlich haben die Tschechen eine lange Tradition einer Outdoor- und Musiksubkultur namens »Tramping«, die sich nach dem 1. Weltkrieg entwickelte und den amerikanischen Westen romantisiert. Tschechische Tramps trugen oft Cowboyhüte oder Bandanas, sie gaben ihren Camps Namen wie »Colorado« oder »Arizona« und schmückten sie mit Totempfählen, Tipis und anderen Symbolen des Wilden Westens. Die Inspiration dazu zogen sie aus vielen Quellen, darunter auch Karl May: Winnetou wurde bereits im Jahr 1901 ins Tschechische übersetzt.
»Cowboys und Indianer sind ÜBERALL!«, schrieb ich in mein Tagebuch. »Besonders (…) die Filme mit Winnetou und Old Shatterhand. Hemden, braun, mit falschen Fransen und Schnürung werden als ARIZONA beworben, direkt daneben werden TEXAS Blue Jeans angeboten …«
»Winnetou«, so schrieb ich, »ist anscheinend der feierlich dreinschauende Indianer (in typischer Kleidung), der entweder wie Sal Mineo oder Paul Newman aussieht (oder wie beide)«. In jedem Schaufenster, so notierte ich damals, »findet man Farbpostkarten oder Dias mit Szenen aus dem Film zum Kauf; ich entdeckte Winnetou-Schokoriegel, -Bücher und ein Poster zum Winnetou-Soundtrack, usw«. Weiterer »Vinnetou Junk« (wie ich es in der tschechischen Schreibweise nannte), waren unter anderem »Bügelaufnäher, Jeanshosen, Aushangkarten, Spielkarten mit dem Schauspieler, der Vinnetou spielt, Zeitschriftencover …« Ich kaufte Fotos von Pierre Brice und schnitt sein Bild aus tschechischen Zeitschriften aus. Und ich sah den Film »Winnetou« im Fernsehen. »Es war ein ziemlich schlechter Film, aber in einigen Punkten interessant«, war meine strenge Teenagerkritik. Die interessanten Punkte waren die internationale Besetzung, die Tatsache, dass der Film in Jugoslawien gedreht war, die Besonderheit, dass die Indianer die Guten waren (im Gegensatz zur typisch amerikanischen Erzählweise) und die »hohe und nasale« Stimme des Schauspielers, der Brice in der tschechischen Version synchronisierte: Im Imaginary Wild West der amerikanischen Filme und TV-Serien hatten Indianer (wie zum Beispiel Tonto, der Gefährte des Lone Rangers) eine tiefe Stimme.
Als Brice 2015 im Alter von 86 Jahren verstarb, verfiel ein großer Teil Europas in Trauer; aber nur wenige Amerikaner (außer mir) hatten jemals seinen Namen gehört. Ich bedauere sehr, dass ich nie die Gelegenheit hatte, ihn persönlich zu treffen und ihn für mein »Imaginary Wild West«-Projekt zu interviewen – oder ihn wenigstens einmal als Winnetou in Bad Segeberg gesehen zu haben, dem größten und ältesten der knapp ein Dutzend Karl-May-Festspiele, die jedes Jahr in Europa stattfinden.
Aber ich durfte einen anderen Winnetou treffen – Gojko Mitić, der jugoslawische Schauspieler, der durch seine Rollen als heroischer Indianer in ostdeutschen Westernfilmen zur Berühmtheit gelangte. Mitić spielte 15 Jahre lang den Winnetou in Bad Segeberg. Dort sah ich ihn 2003, ernst und nachdenklich auf seinem nachtschwarzen Pferd, in einem makellosen Lederhemd mit Perlenstickereien, Stirnband und einer langen Schwarzhaar-Perücke.
Jahre später traf ich Mitić auf einem der Karl-May-Festivals, die jedes Frühjahr in Radebeul, Karl Mays Wohnort, stattfinden. Mitić war der Ehrengast des Festivals und hatte sich zu dieser Gelegenheit als Cowboy gekleidet.
Das Festival in Radebeul war – und ist bis heute – Karl May gewidmet, seinem Werk, seinen Figuren und seiner Person. Es beinhaltet aber auch andere Aspekte des Imaginary Wild Wests: Country Musik, Line Dance, Bürgerkriegs-Reenactor, Lager (von denen einige die Fahne der Konföderierten flaggen), eine kleine Westernstadt mit dem Namen »Little Tombstone« und Dutzende von Ständen, die Westernbekleidung, Bücher, Trinkbecher und Kunsthandwerk verkaufen.
Mitić sagte mir, dass all diese unterschiedlichen Blickwinkel und Auffassungen zusammenpassen. All dies sei Teil des Erbes Karl Mays. Während wir uns unterhielten, tippte er sich an seinen (Cowboy-)Hut, um dem Mann zu danken, »der all dies geschrieben hatte.«
»Ich konnte die Empfindung nicht los werden, als sei ich der Held eines jener phantastischen Märchen, welche ihre Gestalten der Einbildungskraft des Dichters entnehmen und grad desto interessanter sind, je unmöglicher die Ereignisse genannt werden müssen, welche sie erzählen.«
(Karl May, »Old Firehand«)
Die beiden Reiter näherten sich dem Lager der Assiniboines von Westen. Die Sonne stand bereits tief über den Pioneer Mountains und warf lange Schatten. Obwohl sich ihr Schein bereits rötlich zu verfärben begann, besaß sie immer noch so viel Kraft, dass der junge Jäger am Rand des Lagers seine Augen mit der flachen Hand abschirmen musste. Im Gegenlicht erschienen die beiden Fremden auf ihren Pferden wie zwei schwarze Schemen in der mit niedrigem Gras bewachsenen Ebene.
Abrupt drehte der Jäger sich um und lief zu einem der zwölf Tipis seiner Ti‘óšpaye, der Großfamilie, die am Fuß der Gallatin-Bergkette ihr Winterlager aufgeschlagen hatte. Kurz darauf trat eine Frau aus dem Tipi und ging zu der Stelle, von der aus der Jäger die beiden Reiter entdeckt hatte. Sie stand reglos wie ein Fels und wartete darauf, dass die Fremden den zur Siedlung leicht ansteigenden Höhenzug erreichten. Hinter ihr sammelten sich in einigem Abstand weitere Assiniboines der Ti‘óšpaye, bis beinahe das gesamte kleine Dorf auf den Beinen war.
Die Frau war etwa fünfzig Jahre alt und nicht besonders hochgewachsen, aber schlank, mit einem länglichen Gesicht, dessen Haut die tiefe Brauntönung eines Lebens im Freien aufwies. Sie trug ihr pechschwarzes Haar, in dem bereits einige graue Strähnen sichtbar waren, streng aus dem Gesicht gekämmt und in einem langen geflochtenen Zopf, der ihr beinahe bis zur Hüfte hinabreichte. Nur die Farbe ihrer Augen, von einem intensiven Hellblau wie der Himmel im ersten Licht eines klaren Sommermorgens, verriet, dass sie keine reine Assiniboine war.
Bald waren die beiden Reiter nahe genug herangekommen, dass die Frau ihre Gestalten ausmachen konnte. Sie erkannte einen hageren älteren Mann, der auf einem Schecken ritt, während sein Begleiter, ein etwa zehn Jahre alter Junge, sich auf einem vollgepackten Maultier ein wenig hinter ihm hielt. Der Hagere ließ seinen Schecken bis dicht vor die Frau herantrotten und musterte sie lange und hart, ohne abzusteigen. Er sah um einiges älter als die Frau vor ihm aus, doch vielleicht war das seinem Bart geschuldet, der ihm in langen, grauen Zotteln vom Kinn herabhing. Er trug die lederne Kleidung eines Trappers, und sein Hut war flach und mit breiter Krempe, sodass seine Augen beinahe im Schatten darunter verschwanden.
»Du bist also diejenige, die sie Halbblut nennen«, stellte er schließlich fest. Seine tiefe, raue Stimme klang jünger, als er aussah.
»Ich habe auch einen christlichen Namen«, erwiderte die Frau ruhig. »Unter den Weißen heiße ich Ellen. Ellen Winter.«
»Vielleicht war das einmal dein Name, Frau«, gab der Reiter kühl zurück. »Jetzt nicht mehr. Jetzt bist du Halbblut, und Halbblut bleibst du, bis zum Ende deines Lebens. Du hast deine Wahl getroffen.«
Direkt hinter der Frau hatten sich fünf junge Jäger des Stammes aufgestellt. Sie betrachteten die beiden Fremden wortlos und mit feindseligen Mienen. Einer trat neben die Frau und zischte ihr in der Sprache der Assiniboines leise eine Frage zu. Die Frau schüttelte knapp den Kopf und gab ihm eine scharfe Antwort in derselben Sprache zurück.
»Was wollen Sie hier?«, wandte sie sich wieder an den Fremden.
»Ich will, dass mich einer von euch zum Lone Mountain führt. Ich habe gehört, dass ihr dort euer Winterlager habt und die Gegend kennt.«
»Dafür brauchen Sie keinen Führer«, sagte die Frau. »Reiten Sie einfach weiter direkt nach Osten, dann können Sie ihn gar nicht verfehlen. Er steht ja ganz allein, wie schon der Name sagt.«
»Was ich am Lone Mountain suche, ist nicht so leicht auszumachen wie der Berggipfel selbst«, erwiderte der Mann. »Würde ich sonst in einem Lager von Rothäuten fragen? – Ich suche das Revier von Big Surly.«
Die jungen Krieger starrten ihn an wie einen Verrückten. Mehrere von ihnen murmelten erregt miteinander. Der Reiter verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. »Dachte ich's mir doch, dass ihr schon auf ihn getroffen seid. Hätte mich sonst auch gewundert.«
»Bei meinem Volk heißt er Wütender Mann Auf Vier Beinen«, sagte die Frau, die als Einzige ruhig geblieben war. »Dem alten Griesgram geht man besser aus dem Weg, wenn man schlau ist. Er ist ein Man Eater.«
»Um so besser, wenn jemand ihm die Zähne zieht«, entgegnete der Fremde auf dem Schecken. »Big Surlys Ruhm hat sich herumgesprochen. Ein Yankee aus Boston, der in Virginia City nur so mit Geld um sich schmeißt, bezahlt eine ordentliche Summe für das Vieh. Der sieht ihn zuhause schon ausgestopft hinter seinem Schreibtisch stehen, mit weit aufgerissenem Rachen und Augen aus Glaskugeln.« Der Mann streckte sich im Sattel durch und sah über die Ansammlung von Tipis hinweg. Sein Blick blieb an den Holzgestellen hängen, auf denen Fleisch von Wapitis und Gabelböcken trocknete. »Bringt mich in die Nähe von Big Surly, und für euch fällt genug ab, um dieses Jahr gut durch den Winter zu kommen. Sieht ja nicht so aus, als ob ihr in diesem Sommer viel gefangen hättet.«
»Es ist genug, damit wir nicht zu hungern brauchen«, erwiderte die Halbblutfrau. »Sie werden Big Surly alleine stellen müssen.«
»Jack!«, rief der Fremde den Jungen auf dem Maultier hinter sich an, ohne sich dabei zu ihm umzudrehen. »Mach dich nützlich!«
Der Junge stieg wortlos ab. Seine Kleidung war dreckig und zerschlissen, und mit der zu großen und löchrigen Hose, die er mit einem Strick um seine Hüfte gebunden hatte, wirkte er wie eine dürre Vogelscheuche. Er nahm dem Maultier ein Bündel mit Decken ab und legte es vor der Frau auf den Boden.
»Die hier überlasse ich euch im Austausch für einen Begleiter«, sagte der Fremde. »Und ich lege sogar ein paar Stränge Tabak drauf. Bist du immer noch sicher, dass ich hier niemanden finden werde, der uns führt?«
Einer der Assiniboine-Jäger trat einen Schritt vor, aber bevor er den Mund öffnen konnte, hob die Frau eine Hand, und der junge Mann schwieg.
»Es bleibt bei meiner Antwort.«
Das Gesicht des Reiters hatte sich verfinstert.
»Ich dachte, die Assiniboines wären Krieger«, sagte er verächtlich, »keine Feiglinge, die sich von einer Frau herumkommandieren lassen.«
Der junge Mann stieß einen Schwall erregter Worte in der Sprache seines Volkes aus. Seine Hand legte sich auf den Griff des breiten Jagdmessers in seinem Gürtel.
»Sie reiten besser weiter«, sagte die Frau. »Was Sie suchen, werden sie hier nicht finden. Und wenn ich Ihnen einen Rat mit auf den Weg geben kann, dann lassen sie Big Surly in Ruhe. Er bringt den Leuten, die hinter ihm her sind, kein Glück.«
»Ich habe mir mein ganzes Leben lang mein eigenes Glück geschmiedet«, entgegnete der Fremde hart. »Ich werde mich nicht heute von ein paar ängstlichen Wilden daran hindern lassen. Das Glück gehört den Mutigen!«
Er bellte seinem Begleiter einen Befehl zu, das Bündel wieder auf das Maultier zu packen. Kurze Zeit darauf ritt er mit dem Jungen an der Siedlung vorbei Richtung Osten. Die Frau, die vor langer Zeit einmal auf den Namen Ellen getauft worden war, blickte den beiden Gestalten nach, bis sie in der allmählich einbrechenden Dämmerung verschwanden. Der Junge auf seinem Maultier, der dem Fremden in die Gefahr gefolgt war, ging ihr nicht aus dem Sinn. Sein dünnes, verschlossenes Gesicht stand ihr noch vor Augen, als sich längst die Nacht auf das Land herabgesenkt hatte.
Jack Hammond fror. Er bemühte sich, nicht zu laut mit den Zähnen zu klappern, während er seine steifen Finger anhauchte. Die lederne Jacke, die er über seinem Baumwollhemd trug, hielt die Oktoberkälte kaum ab, und seitdem sie die Nordseite des Lone Mountain erreicht hatten, biss sie mit jedem Höhenmeter, den sie gewannen, schneidender ins Fleisch. Henry O'Reilly neben ihm dagegen, der nicht viel dicker angezogen war, kümmerte die Kälte überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Ein inneres Feuer schien den alten Trapper zu wärmen und um so heißer aus seinen tief in ihren Höhlen liegenden Augen zu brennen, je näher er dem Ziel seiner Suche zu kommen glaubte.
Sie hatten in den letzten Tagen mehrere Male Grizzlies gesehen, meistens in den späteren Nachmittagsstunden. Dann waren die Tiere damit beschäftigt, ihre Winterlager in die höheren Berghänge unterhalb der nackten Felswände zu graben, wo der Schnee bis weit in den Frühling hinein liegen bleiben würde. Jack hatte die Bären mit riesigen Augen und heftig klopfendem Herzen beobachtet, immer aus gebührender Entfernung, doch O'Reilly hatte sich nicht weiter für sie interessiert. Er war hinter einem besonderen Tier her. Trotz seiner Aufregung hatte der Junge sich nie so lebendig gefühlt wie in diesen Tagen, allein in den Gebirgswäldern Montanas mit dem Trapper, in dessen Dienst er stand.
Jack war in Virginia City aufgewachsen. Einen Vater hatte er nie gekannt, seine Mutter war vor einem halben Jahr an der Schwindsucht gestorben. Seitdem hatte er sich auf den Straßen dieser Goldgräberstadt herumgetrieben, deren kurzlebiger Ruhm längst seinen Zenit überschritten hatte. Die Welt außerhalb von Virginia City kannte er erst, seitdem O'Reilly ihn mit sich genommen hatte. Der alte Trapper hatte einen Handlanger gebraucht, und Jack war es leid gewesen, in den Saloons Spucknäpfe auszuleeren und von den betrunkenen Gästen Prügel zu bekommen, wenn er ihnen nicht schnell genug aus dem Weg sprang. Henry O'Reilly war ein harter Knochen, dem die Hand ebenfalls locker saß. Doch wenigstens ließen die anderen, die zum Teil noch üblere Gesellen waren, Jack in Ruhe, seitdem er bei dem Alten in Lohn und Brot stand.
Bisher war ihnen das Wetter wohlgesonnen gewesen. Erst am vorigen Tag hatte es zu schneien begonnen, einzelne, aber große Flocken, die durch die beinahe windstille Luft taumelten. Bevor der Schnee dichter fallen konnte, hatten sie in einem Fichtengehölz eine Bärenspur entdeckt, die größer als alles war, was sie bisher am Lone Mountain gesehen hatten. Es war die einzige Spur weit und breit. Offenbar mieden die anderen Grizzlies das Gebiet, das dieses Ungetüm als sein Revier beanspruchte.
Zum ersten Mal verspürte Jack Unruhe. In den Saloons von Virginia City hatte er mehr als eine grausige Geschichte über das Unheil gehört, das ein wütender Grizzly anrichten konnte. O'Reilly dagegen wirkte alles andere als ängstlich, ganz im Gegenteil: Die Bärenspur befeuerte seine Zuversicht, dass sie Big Surly endlich aufgespürt hatten.
»Mit etwas Glück haben wir ihn bald vor der Flinte, Junge!«, sagte er begeistert, bevor er ihn anwies, das Pferd und das Maultier anzubinden und sich zu Fuß weiter fortzubewegen. Jack folgte dem hageren Trapper wie ein Schatten und bemühte sich, so lautlos wie möglich hinter ihm durch das Dickicht zu schleichen. Seine Anspannung wuchs, als O'Reilly unvermittelt anhielt und sich duckte.
»Runter!«, zischte er ihm über die Schulter zu.
Jack gehorchte ohne zu zögern und spähte an der Schulter des Trappers vorbei. Vor den beiden öffnete sich das Dickicht zu einem der baumlosen Geröllhänge, die vom Fuß des Lone Mountain bis zu seinem oberen Drittel reichten, wo der nackte Felsen begann. In etwa fünfzig Metern Entfernung gähnte ein breites Loch im Hang. Frisch ausgehobene Erde und kopfgroße helle Steine, bleich wie Knochen, lagen ringsum.
»Jede Wette, dass das Big Surlys Winterlager ist«, flüsterte O'Reilly erregt. »Wahrscheinlich hat er es sich gerade erst angelegt.«
»Du – du meinst, er ist jetzt da drin?«, stammelte Jack.
»Gibt nur einen Weg, das rauszufinden«, raunte O'Reilly so leise, wie er es mit seiner Reibeisenstimme vermochte. Er griff nach seiner Winchester, die neben ihm auf dem Boden lag. Es war der einzige Gegenstand in seinem Besitz, den er peinlich sauber hielt. Das Nussholz des Schafts glänzte matt im abnehmenden Licht des späten Nachmittags. »Du gehst vor und schlägst Lärm, damit er aus seinem Bau kommt.«
»Was? Ich soll –«, begann Jack erschrocken, bevor O'Reilly ihm einen Schlag gegen den Kopf versetzte. »Nicht so laut!«, wisperte er ärgerlich. »Du willst doch nicht, dass er uns jetzt schon hinterher rennt!«
»Tut mir leid«, flüsterte Jack und rieb sich die schmerzende Schläfe.
»Hör genau zu: Du gehst in Richtung des Baus und schlägst Krach. Sobald das Vieh seinen Kopf aus dem Bau steckt, rennst du den Hang entlang, aber auf keinen Fall zurück in meine Richtung, sonst hab ich kein freies Schussfeld. Mach dir keine Sorgen! Sobald Big Surly dir hinterher kommt, jage ich ihm eine Kugel ins Herz.«
»Er wird mich umbringen!«, stieß Jack so leise hervor, wie er es in seiner Verzweiflung vermochte.
O'Reilly starrte ihn mit einer Mischung aus Wut und Verachtung an. »Was bist du bloß für ein Waschlappen! Ich passe auf dich auf, und ich verfehle ihn nicht, schon gar nicht auf die Entfernung. Los, jetzt, zeig mir, aus welchem Holz du geschnitzt bist, oder ich nehm mir das Maultier und lass dich hier am Lone Mountain zurück!«
Trotz seiner Angst gehorchte Jack dem Trapper. Die Aussicht, sich allein und ohne fremde Hilfe in den wilden Wäldern Montanas zurecht finden zu müssen, war entsetzlicher als das dunkle Loch vor ihm. Vielleicht hatte er ja Glück, und Big Surly hielt sich gar nicht in seinem Bau auf. Er erhob sich und trat an dem geduckt hinter einem verrottenden Baumstamm liegenden O'Reilly vorbei auf das offene Gelände hinaus. Einen Schritt nach dem anderen näherte er sich über den Hang aus Geröll und aufgeworfener Erde dem frisch gegrabenen Loch.
Etwa fünf Meter vor dem Eingang blieb er stehen. Die wenigen taumelnden Schneeflocken hatten aufgehört zu fallen, und Jack war, als sei jedes Geräusch wie aus der Umgebung herausgesickert.
Er wusste, dass O'Reilly ihn aus der Deckung des Unterholzes in seinem Rücken beobachtete. Dass der Trapper ihn ohne zu zögern zurücklassen würde, wenn er nicht das tat, was er ihm befohlen hatte. Langsam und ohne den Eingang zu dem breiten Erdloch aus den Augen zu lassen, ging er in die Knie und hob einen faustgroßen Stein vom Boden auf.
Er holte tief Luft und spürte seinen Herzschlag hart im Hals.
»Komm raus, wenn du da bist!«, rief er mit schriller, erstickter Stimme und schleuderte den Stein. In seiner Aufregung hatte er so schlecht gezielt, dass sein Wurfgeschoss gegen den oberen Rand des Lochs prallte, bevor es polternd im Dunkel verschwand.
Der Bär tauchte mit solcher Geschwindigkeit aus seinem Bau auf, dass Jack erst auf den Gedanken kam, die Beine in die Hand zu nehmen, als das Tier sich vor ihm mit einem nassen Schnaufen zu voller Größe aufrichtete, ein mehr als zwei Meter hoher Berg aus schmutzig-braunem Fell und Muskeln. Seine kleinen Augen richteten sich auf den Jungen. Als Big Surlys Blick den Seinen traf, endete endlich Jacks Lähmung. In Panik fuhr er herum. Er glaubte deutlich das harte Klicken eines Schlagbolzens zu hören, doch kein Schuss peitschte auf. Im selben Moment, als er losrannte, ließ der Grizzly sich schwer auf die Vorderpfoten fallen. Er riss sein Maul auf und gab ein tiefes, grollendes Brüllen von sich. Speichel spritzte ihm in dicken Tropfen von den Lefzen, seine Reißzähne glänzten nass.
Jack hetzte den schrägen Hang hinab. Seine Beine verfingen sich in einer aus dem Erdreich hervorstehenden Wurzel. Er fühlte einen harten Ruck, verlor das Gleichgewicht und stürzte vornüber. Seine Hüfte und sein linker Arm schrammten schmerzhaft über das Geröll am Boden. Er blickte zurück und sah den Grizzly, der ihn mit wenigen Sprüngen erreicht hatte. Big Surlys rechte Vorderpfote schnellte vor und fetzte Jack über die Schulter, wobei er ihn so mühelos wie einen Tierkadaver herumschleuderte. Jack schrie gellend auf, als ein heißer Schmerz durch seine aufgerissene Schulter jagte. Big Surlys Kopf schoss vor, um die Zähne in das Gesicht des Jungen zu graben, da knallte ein Stein hart gegen seinen Schädel, groß wie ein Ziegel.
Der Grizzly hielt mitten in seinem Ansturm inne und schüttelte heftig den Kopf.
»Hey!«, vernahm Jack die durchdringende Stimme von Henry O'Reilly. Hierher, hey! Komm schon!« Er wandte mühsam den Kopf und sah den Trapper, der seine Deckung verlassen hatte und wie wild mit den Armen winkte. O'Reilly holte aus und schleuderte einen weiteren Stein, der gegen den Oberkörper des Bären prallte.
»Na los doch!«, brüllte er ihn an. »Setz schon deinen faulen Arsch in Bewegung! Sie hätten dich nicht Big Surly, sondern Big Ugly nennen sollen, du hässliches Vieh!«
Mit wütendem Schnauben fuhr der Bär herum und auf O'Reilly zu, der sein Bowiemesser zückte. Jack wälzte sich auf die Seite. Seine Schulter brannte wie Feuer. Er sah, wie der Bär O'Reilly ansprang. Der zähe Trapper ging nicht sofort zu Boden. Die beiden Kämpfenden schienen eng aneinander geklammert einen eigenartigen Tanz zu vollführen. Der Trapper rammte Big Surly wie besessen sein Jagdmesser in die Seite, wieder und wieder, aber das verlangsamte den angreifenden Grizzly nicht im Geringsten. Mit der Wucht einer heranrollenden Zugmaschine stemmte er sich gegen O'Reilly und drückte ihn rückwärts zu Boden. Sein gähnendes Maul vergrub sich in den Hals des Trappers. Ein gurgelnder Schrei entkam O'Reillys Kehle und riss abrupt ab. Blut färbte das knochenfarbene Geröll am Boden. Big Surly stieß den Körper seines Gegners hin und her, dann wandte er sich unvermittelt um, als hätte er sich wieder daran erinnert, dass es da noch einen zweiten Eindringling in sein Revier gab.
Jack versuchte erneut, sich aufzurichten, doch seine Muskeln wollten ihm nicht gehorchen. Der brennende Schmerz in seiner Schulter füllte seine gesamte Wahrnehmung aus. Gelähmt vor Entsetzen starrte er das monströse Tier an, das sich ihm erneut näherte.
Da ertönte eine weitere helle Stimme über den Hang hinweg.
»Big Boy, hey Big Boy! Komm her!«
Jack wandte mühsam den Kopf. Aus der Richtung des Waldes, den sie durchquert hatten, hatte ein junger Mann den Hang betreten. Er war bestimmt nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre. Sein weizenblondes Haar hing ihm tief in die Stirn. Trotz der Kälte trug er nur ein Baumwollhemd über der abgewetzten Denim-Nietenhose eines Farmers. Wie eben noch O'Reilly winkte er wie wild mit beiden Armen, um die Aufmerksamkeit des Bären zu bekommen.
Big Surly hatte Jack beinahe erreicht. Der Junge konnte den intensiven Gestank von feuchtem Fell und Urin wahrnehmen, der von dem riesigen Grizzly ausging. Der Kopf des Bären senkte sich auf ihn herab, als der Fremde das Tier erneut anrief. »Komm schon, alter Junge! Hierher!«
Neugierig hielt Big Surly inne, dann machte er eine Kehrtwende. Der Fremde winkte und stieß einen weiteren Schrei aus, bevor er sich umdrehte und im Wald verschwand. Eilig folgte ihm der Grizzly, aber mehr wie ein zahmer Hund als ein wütendes Untier, das Blut sehen wollte.
Jack war zu erschöpft, um sich darüber zu wundern. Die Konturen der Landschaft um ihn herum verblassten zu milchigem Grau, und ihm schwanden die Sinne.
Als er die Augen wieder aufschlug, hatte der junge Mann sich über ihn gebeugt und begutachtete seine Schulter.
»Keine Sorge, Big Surly ist fort«, sagte er. »Und so schnell kommt er auch nicht wieder. Kannst du aufstehen?«
Jack nickte. Der junge Mann half ihm auf die Beine.
»Was – was ist mit O'Reilly?«, fragte Jack heiser.
Der Fremde, der ihn gerettet hatte, schüttelte nur knapp den Kopf. Er begutachtete die Verletzung des Jungen. Seine ernsten Augen besaßen die Farbe von Schiefer. »Du hast eine Menge Blut verloren. Wenn deine aufgerissene Schulter nicht schnell versorgt wird, dann wirst du sterben. Komm mit mir.«
Jack fühlte, wie der Fremde ihn stützte. Er stolperte neben ihm den Pfad entlang, den er mit O'Reilly gekommen war. Sein Blick fiel auf den Leichnam und die polierte Winchester, die den Trapper im entscheidenden Moment im Stich gelassen hatte. Nutzlos lag sie neben ihrem Besitzer am Boden. Sein Begleiter würdigte weder O'Reilly noch das Gewehr neben ihm eines Blicks. Im nächsten Moment waren sie vorbei, und Jack schien, als gehörte der Tote bereits zu einer weit zurückliegenden Vergangenheit.
Der Fremde half Jack dabei, auf O'Reillys Pferd zu steigen, wobei der Junge vor Schmerzen beinahe das Bewusstsein verlor. Wie durch einen grellroten Schleier nahm Jack wahr, dass der Mann das Maultier mit einem Strick an den Sattel des Pferdes band. Er selbst setzte sich hinter den Jungen auf das Pferd.
»Halte durch!«, hörte Jack ihn mit eindringlicher Stimme sagen. »Ich bringe dich zu ihr, in Sicherheit.«
Jack Hammond versuchte angestrengt etwas zu erwidern. Er wollte den jungen Mann nach seinem Namen fragen, danach, wo er so unvermittelt hergekommen war, wieso Big Surly ihn nicht angegriffen hatte, und zu wem der Fremde ihn brachte. Aber seine Zunge fühlte sich dick und heiß an, und es wollten ihm keine zusammenhängenden Worte über die Lippen kommen. Er sackte über dem Tier zusammen und ahnte mehr, als dass er es spürte, wie Hände ihn festhielten, sodass er nicht zu Boden fiel. Dann stieg Dunkelheit vom warmen Rücken des Pferdes auf und verschluckte ihn.
Ellen Winter blickte auf den Jungen herab, der nahe der Feuerstelle auf mehreren Fellen lag. Seine offene Schulter war mit Moos und Baumrinde bandagiert. He-hun Tungah, Große Eule, der sich auf Heilkunst verstand und mit den Geistern sprach, war guter Dinge, dass der Junge überleben würde. »Er ist dünn wie Gras, das der Wind bewegt«, hatte er gesagt, als er Ellens Tipi verließ, »aber er ist auch stark wie Gras, das sich wieder aufrichtet, wenn der Büffel fort ist.«
Als ob der Junge geahnt hätte, dass sie ihn betrachtete, schlug er unvermittelt die Augen auf. Sein verstörter Blick verriet ihr, dass er nicht wusste, wo er sich befand.
»Alles ist in Ordnung!«, sagte sie beruhigend. »Erinnerst du dich an mich? Ihr seid vor ein paar Tagen an unserem Dorf vorbeigekommen.«
Der Junge runzelte die Stirn, dann nickte er matt. Seine Anspannung löste sich ein wenig. »Wie …« Er leckte sich die spröden Lippen und setzte erneut an. »Wie bin ich hierher gekommen?«
»Ich hatte gehofft, dass du uns das erklären könntest«, erwiderte Ellen. »Kannst du mir deinen Namen sagen?«
»Jack«, antwortete der Junge. »Mein Name … ist Jack.« Er versuchte vergeblich, sich aufzurichten und verzog das Gesicht vor Schmerzen, bevor er sich auf die Felle zurücksinken ließ.
»Bleib besser liegen«, erwiderte Ellen. »Du bist noch sehr schwach, aber deine Wunden sind versorgt. Wir haben dich gestern Abend am Dorfrand gefunden. Jemand hat dich auf den Rücken eines Pferdes gebunden. War das der Mann, mit dem du unterwegs warst?«
Jack schüttelte den Kopf. »Nein, der ist –« Er stockte. »Er ist tot«, fuhr er schließlich fort. »Big Surly hat ihn angegriffen. Und dann kam dieser junge Mann … er hat mir das Leben gerettet. Er muss mich zu euch gebracht haben. Wo ist er? Ich will mich bei ihm bedanken.«
Ellen runzelte verwirrt die Stirn. Geduldig hörte sie Jack zu, wie er ihr mit stockender Stimme von der Attacke des Bären berichtete. Als er aber von seiner Rettung erzählte und den Fremden beschrieb, der ihm geholfen hatte, schlug ihr Herz schneller.
Mein Gott, er war es! Nach all der Zeit!
Sie gab sich Mühe, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen. Doch die Art und Weise, wie der Junge auf dem Krankenlager sie ansah, verriet ihr, dass ihr das nicht besonders gut gelang.
»Du … kennst du ihn?«, fragte er sie.
Ellen holte tief Luft, dann nickte sie. Etwas schien sich in ihrer Kehle zu lösen, und sie blinzelte fest, um nicht vor dem Jungen in Tränen auszubrechen.
»Er war ein Freund. Vor sehr langer Zeit. Damals war ich so jung wie er. Und er – er sah genauso aus, wie du ihn erlebt hast.«
Jack starrte sie aus riesigen Augen an. »Aber das kann doch nicht sein! Wie ist das möglich?«
Sie presste ihre Lippen aufeinander, und nun musste sie doch den Kopf wegdrehen und sich mit der Hand über die Wangen wischen.
»Er … er ist tot, nicht wahr?«, fragte Jack vorsichtig. »Ist er so was wie ein Geist?«
»Wir mochten einander sehr«, antwortete Ellen, »aber es ist meine Schuld, dass er gestorben ist. Er hatte vor vielen Dingen Angst, und ich war sehr eingebildet. Ich nannte ihn einen Feigling, und dass ich nur etwas für jemanden empfinden könnte, der wirkliche Courage besäße.«
Sie sah Jack wieder an, der ihren Blick schweigend und gespannt erwiderte. »Er ließ sich auf eine dumme Mutprobe ein. Sprang von einer hohen Klippe in einen See hinab und kam dabei ums Leben. Die Assiniboines sagen, sie hätten ihn immer wieder einmal in diesen Wäldern gesehen. In der Sprache der Weißen nennen sie ihn Old Faithful.«
Jack zog ein verwirrtes Gesicht, und Ellen fuhr fort: »Den Namen hat er bekommen, weil sie glauben, dass er meine Nähe sucht. Es heißt, dass er all die Jahre über immer noch so jung aussieht, wie zu der Zeit, als er starb. Aber mir selbst ist er nie erschienen, kein einziges Mal.«
»Er hat mir das Leben gerettet«, wiederholte Jack.
Ellen lächelte traurig. »Er erscheint denen, die sich aus Tollkühnheit in große Gefahr bringen, zur Warnung. Aber ich habe noch nie davon gehört, dass er zu jemandem gesprochen hat.«
»Ich bringe dich zu ihr, in Sicherheit, das hat er gesagt!«, brach es aus Jack hervor. Diesmal gelang es ihm trotz seiner Schmerzen, seinen Oberkörper aufzurichten. »Daran erinnere ich mich noch genau.«
Ellen starrte ihn wortlos an. »Versuch dich ein wenig auszuruhen«, sagte sie schließlich und erhob sich. »Ich habe dich für den Moment schon genug aufgeregt. Hast du Verwandte, die wir benachrichtigen können?«
Jack schüttelte den Kopf.
»Dann bleib so lange bei uns, wie du willst. Du bist hier in Sicherheit, wie er es dir versprochen hat.« Sie lächelte. »Über alles Weitere reden wir, wenn du wieder zu Kräften gekommen bist.«
Der Junge auf dem Krankenlager sah aus, als ob ihm noch viele Fragen auf der Zunge brannten, die er aber aus Erschöpfung hintenan stellte. Er bettete seinen Kopf zurück auf die Felle.
Ellen verließ ihr Tipi. Noch war die Morgendämmerung nicht angebrochen. Sie erreichte den Rand der Siedlung und blickte nach Osten, wo sich in der Dunkelheit die von dichten Wäldern bewachsenen Höhenzüge Montanas verbargen.
»Tom«, flüsterte sie kaum vernehmbar. »Ich habe dich nie vergessen. All die langen Jahre über hast du dich anderen gezeigt, niemals mir. Sie hätten dich nicht beschreiben müssen. Ich habe dein Aussehen immer noch genau vor Augen.«
Sie hielt inne. »Aber du hast diesen Jungen zu mir geschickt, damit ich mich um ihn kümmere. Bedeutet das, dass es endlich so weit ist? Dass du mir verzeihst? Hast du deinen Frieden gefunden?«
Es erklang keine Antwort. Nur ein leichter Wind war aufgekommen, der wispernd durchs Gras fuhr und die Morgendämmerung ankündigte. Für Ellen klang er wie ein einziges, kaum vernehmbares Wort.
Vergebung.
Mein Kopf schmerzte schrecklich. Vor mir tanzten bunte Lichter. Ich versuchte, mich auf sie zu konzentrieren. Dabei stellte ich fest, dass die Lichter auf der Innenseite meiner Lider tanzten. Meine Augen waren fest geschlossen. Vorsichtig öffnete ich sie. Ich blinzelte einmal, dann noch einmal. Es war stockdunkel um mich herum. Ich schloss die Augen erneut.
In meinem Mund schmeckte ich Metall. Voller Freude stellte ich fest, dass ich meine Hände bewegen konnte. Langsam schob ich den rechten Zeigefinger in den Mund. Beim Abtasten meiner Zähne stellte ich fest, dass ich mir in das Zahnfleisch gebissen hatte. In meinem Mund war Blut. Aber meine Zähne waren alle noch in Ordnung.
Mit der rechten Hand suchte ich nach einer Stütze. Ich fand kalten Steinboden. So aufgestützt, drehte ich mich ein wenig nach links, wobei mein Kopf wieder anfing zu schmerzen. Mit einem lauten Röcheln zog ich den Schleim aus dem Hals hoch und spuckte einen beeindruckend großen Schleim-Blut-Klumpen aus. Leider konnte ich nicht sehen, wo ich ihn hinspuckte.
Es war Zeit für eine Bestandsaufnahme. Um mich herum war es hoffentlich dunkel – sonst hatte ich mein Augenlicht verloren, was eine viel schlimmere Vorstellung war. Konnte man blind noch Lichter in den Lidern sehen? Ich wusste es nicht, setzte es aber die Liste der Dinge, die ich bei Gelegenheit mal in der Leihbibliothek nachlesen musste. Oder den Schulmeister danach fragen …
Ich versuchte, mich nur selbst abzulenken, um über die Möglichkeit einer Erblindung nicht nachdenken zu müssen. Meine Bestandsaufnahme schritt weiter voran. Meine Beine waren voller blauer Flecken und Abschürfungen, soweit ich das ertasten konnte. Meine Arme fühlten sich an, als hätte ich versucht, an einem Seil hinter einer Kutsche hergezogen zu werden, während diese die Straße zum Jagdforst hinauf jagte. Auf meinem Kopf hatte ich mindestens eine Beule, die aber erklärte, warum ich mich nicht erinnern konnte, wie ich hierhergekommen war.
Auf einmal konnte ich mich an die Straße in den Jagdforst erinnern. Der Friedewald mit seinen langen Schneisen, die wie mit einem warmen Messer durch kalte Butter in den Forst geschnitten worden waren. Ich war auf dem Weg zum Hellhaus gewesen. Warum eigentlich? Ich versuchte mich auf diese Frage zu konzentrieren, aber in meinem mürben Gehirn gab es keine befriedigende Antwort.
Eine Abkürzung. Auf einmal fiel es mir wieder ein: Ich hatte eine Abkürzung durch den Wald ausprobieren wollen. Irgendwie quer durch den Wald, an ein paar Wegmarken vorbei, um Zeit zu sparen. Hatte ich nicht noch überlegt, ob ich aufpassen müsse wegen des schlechten Lichts? Hatte ich nicht noch bei mir gedacht, dass es im Herbst doch früher dunkel wurde, als im Sommer und dass ich mich beeilen müsste, um bei guten Licht mein Ziel zu erreichen?
Was war es gewesen, weswegen ich gestolpert und gefallen war? An welchem Ort hatte mein Weg ein jähes Ende genommen? Am alten Tunnel an der Hohen Burg? Oder lag ich im Rübenkeller oder gar im Eiskeller des Tiergartens? War ich gar in einen der Abflüsse gefallen, deren ummauerte Eingänge immer wieder wie offene Schlünde im Waldboden auftauchten?
»Nein. Es war keine von diesen Höhlen.«
Ich erschrak bis in das Mark hinein. Entweder, ich hatte laut gesprochen oder ich fing an, mir Stimmen einzubilden. Beides ließ darauf schließen, dass meine Kopfverletzung schlimmer war, als ich bis jetzt vermutet hatte. Oder war ich nicht nur blind, sondern auch verrückt?
»Nein. Es ist keines von beiden.«
Wieder diese Stimme. Doch dieses Mal war ich weniger überrascht als bei ihrem ersten Erklingen. Sie hatte einen tiefen, sonoren Klang, hörte sich eher wie der Pfarrer an, wenn dieser einen guten Tag hatte. Was, unter uns bemerkte, selten genug vorkam. Aber nein, das war es nicht. Es war nicht nur die Stimmlage, die angenehm klang, anders als bei der Predigt in der Kirche. Es war der Dialekt, die Grundsprache, die einer anderen Melodie zu folgen schien als mein eigener Dialekt. Während ich oft das Gefühl hatte, dass meine Art, das Deutsch auszusprechen, ein wenig langsam, ein wenig gemächlich klang, war es hier ein härteres Deutsch, mit klareren Vokalen und kürzeren Konsonanten, die wie ein Scherenschnitt viel mehr Kontur zeigten, dabei aber ganz viel Farbe und damit auch Wärme vermissen ließen. Das war nicht die Sprache, die im Wirtshaus oder in der Kirche gesprochen wurde. Das hier war reines, fast schon fehlerfreies Hochdeutsch. Wenn ich schon den Verstand verlor – warum sprach der Irrsinn nicht Sächsisch?
Vorsichtig versuchte ich, ein Auge halb zu öffnen. Es dauerte einen Moment, bis ich mich entscheiden konnte, ob das Licht von außen kam oder immer noch flackernde Irritationen auf der Innenseite der Lider mein Sehvermögen trogen. Aber da war etwas: Ich konnte sehen. Es war erst ein flackerndes Licht, dann zogen sich die Ränder der Wahrnehmung zusammen, die Bilder wurden schärfer. Es handelte sich um eine Laterne, oder eher ein Windlicht. Denn die Lichtquelle war eine Kerze, nicht etwa Gas. Die Kerze brannte hinter einer Glasscheibe der Laterne ruhig und still vor sich hin. Von ihr ging ein milder Schein aus, der aber nicht stark genug war, um mir zu zeigen, wo ich mich befand. Und den Ursprung der Stimme, mit der ich mich eben unterhalten hatte, konnte ich ebenso wenig ausmachen.
Dabei war es keine echte Unterhaltung gewesen. Ich hatte doch nur gedacht, was ich sagen wollte, und hatte darauf eine Antwort erhalten. War das alles hier ein Alp, und ich lag verschwitzt in meinem Bett und wartete darauf, dass ich morgen wieder hinaus musste in den Forst? Oder lag ich im Sterben, den Schädel zerschlagen auf dem Boden einer Höhle oder eines Schachtes, irgendwo zwischen daheim und der Helle?
»Nein. Du bist nicht tot oder verrückt, auch wenn es dir so erscheinen mag.«
Das war jetzt das dritte Mal, dass ich diese Stimme gehört hatte. Und irgendwo tief in mir drin entschloss ich mich dazu, dass ich nicht verrückt und schon gar nicht tot war. Es musste eine Erklärung geben, die vernünftig war und alle Fakten einschloss. Aber um eine Erklärung zu erhalten, musste ich mich umschauen können. Jetzt gab es um mich herum Licht, wenn auch nur den Schein einer Kerze in einer Laterne. Außerdem befand sich jemand in meiner Nähe, der sich mit mir unterhielt. Ob ich im Moment alleine in der Lage wäre, mich irgendwohin zu bewegen, oder ob meine zerschlagenen Beine und aufgeschürften Knie nicht sowieso der Hilfe bedürften, wollte ich nicht diskutieren. Als Allererstes brauchte ich Klarheit. Um den letzten Zweifel in den hintersten Winkeln meines Bewusstseins auszuschließen, dass ich vielleicht doch wahnsinnig geworden war, musste ich diesen kleinen Finger ergreifen, den die Realität mir entgegenstreckte, und mich an ihm entlang in die Wirklichkeit begeben.
Ich drückte mich wieder auf meinen rechten Unterarm auf. Doch dieses Mal tat ich es, um in eine sitzende Stellung zu gelangen. Das Wirbeln in meinem Schädel war wieder da, doch nicht so stark wie beim ersten Mal. Also gab es doch so etwas wie eine Heilung und damit eine Hoffnung für mich.
Endlich saß ich leidlich stabil aufrecht. Dann war es an einem neuen Versuch, meine Augen zu öffnen. Wieder dauerte es eine Weile, bis sich die Ränder der Gegenstände zusammenzogen und netterweise die Farben annahmen, die ich ihnen auch zuzuordnen bereit war. Es war komisch, in eine Flamme zu schauen, die erst grün, dann blau war. Oder eine Laterne zu betrachten, die anfangs wie ein Regenbogen schillerte, um dann doch zu einer Oberfläche mit einem polierten Metallton zu werden, der sich nach einigen Veränderungen auch darauf einzupendeln schien, ein Metallton zu bleiben.
Vorsichtig drehte ich den Kopf nach links und rechts. Ich räusperte mich. »Hallö?«
Ein Räuspern antwortete mir. Hinter der Laterne bewegte sich etwas. Gebannt hielt ich den Blick darauf gerichtet, obwohl ich nicht wusste, ob ich vor dem, was ich gleich erblicken würde, Angst haben müsste. Ein großer Mann trat in den Lichtkreis der Laterne. Er trug Stulpenstiefel bis unter die Knie. Die Stulpen sahen abgenutzt aus, so als sei der Mann einen sehr langen Weg mit ihnen gegangen. Darüber trug er eine dunkle Hose und ein helles Hemd mit einer eigenartigen, farbigen Bordüre als Abschluss am Hals. Diese Mode war mir unbekannt, aber es stand ihm ausnehmend. Um den Leib trug er einen breiten Gürtel mit einer Schließe, die so aussah, als würde sie eine Schlange darstellen, die sich selbst in den Schwanz biss. Das Material konnte ich nicht erkennen – Stahl, Silber gar? Mein Blick wanderte höher. Das Gesicht war das eines mittelalten Mannes. Die Haare waren von grauen Strähnen durchzogen und bildeten nun das, was meine Mutter früher »Pfeffer und Salz« genannt hatte, wenn sie Männer beschreiben musste, welche noch Haare hatten, aber diese dann in jener beschriebenen Farbkombination des heranschreitenden Alters. Der Schnitt der Frisur war herkömmlich. Die Haare fielen gerade noch über die Ohren. Die Nase des Mannes war gerade, fast schon klassisch. Sie bestimmte das Gesicht, gab ihm einen aristokratischen Anstrich. Ich ließ meinen Blick weiter wandern und war erschrocken von der Intensität des Blicks aus diesen Augen. Die Farbe war schwer zu beschreiben; wenn ich nicht sicher gewusst hätte, dass es keine Menschen mit grauen Augen gibt, so hätte ich jetzt zu zweifeln begonnen, denn die Augen dieses Mannes waren im Licht der Laterne eindeutig grau. Ich schob es auf das ungünstige Licht, damit ich nicht länger darüber nachgrübeln musste.
Immerhin konnte ich mir jetzt beruhigend einreden, dass ich entweder nicht verrückt war oder in einer Verrücktheit gefangen war, deren Detailreichtum sicher mit der echten Welt konkurrieren konnte. Wobei mir dann nicht klar war, aus welchen tiefen Pfuhlen der Erinnerung oder Imagination dieser Mann aufgestiegen sein sollte. Ich schaute erneut in das Gesicht. Ein Lächeln schien die Lippen zu umspielen.
»Guden Dag!«, versuchte ich es mit Höflichkeit.
Der Mann senkte den Kopf im Ansatz eines höflichen Nickens. Dann schien er sich zu besinnen. »Euch auch einen guten Tag, werter Herr.«
Als »werter Herr« war ich noch nie betitelt worden. Mein Meister im Forst nannte mich selten seinen Gehilfen, wie es eigentlich mein Titel war; selbst vor anderen Menschen stellte er mich als Handlanger oder als nützliche, weitere Hände vor. Zu einem vollen Namen hatte ich es im Forst noch nicht gebracht. Gerufen wurde ich mit einer Kurzform meines Familiennamens, fast schon eine Beleidung, wenn man darüber nachdachte. Nur meine engsten Freunde benutzten die intime Form eines meiner Vornamen und riefen mich einfach Ede. Das war auf jeden Fall weniger entwürdigend als die wenigen Unterhaltungen im Wald – wobei man, um im Wald zu arbeiten, sicher nicht wortgewandt werden muss. Die meisten Bäume beginnen keine Unterhaltung.
»Wöh bin isch?«, wandte ich mich an den Fremden.
»Formal befindet ihr euch auf dem Boden eines Schachtes, durch den ihr gefallen seid, als ihr ein wenig zu hektisch zur Helle vordringen wolltet. Das nasse Herbstlaub, eine kurze Unaufmerksamkeit, das trügerische Spätabendlicht. All diese Faktoren haben eine Rolle gespielt, um diesen Unfall zu provozieren.«
»Sic transit gloria mundi. Die Wahrheit der Wält sprischt durch oiren Mund.«
Der Fremde lachte leise.
Ich errötete, denn offensichtlich hatte ich das lateinische Zitat laut ausgesprochen, anstatt es nur bei mir zu denken. »Gefälld eusch mein Laddein nisch?«
»Doch, doch«, antwortete der Fremde, wobei er sich danach länger räuspern musste und verstohlen versuchte, ein paar Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen.
Ich schaute mich um. Wenn das hier der Boden eines Schachtes war, dann gab es im Untergrund der Moritzburg Räumlichkeiten, die eher einer römischen Kasematte denn einem banalen Schacht glichen.
Der Fremde schien meine neugierigen Blicke richtig einzuordnen. »Wie gesagt, ihr befindet euch formal auf dem Boden eines Schachtes. Spirituell oder einfach metaphorisch würde ich sagen, dass ihr euch am Beginn eines Scheideweges befindet. Ich weiß, dass dies hier nicht danach aussieht. Aber das ist der Ort, wo ihr euch wirklich befindet. Ihr habt die seltene Gelegenheit, kurz innezuhalten und darüber nachzugrübeln, was die Zukunft bringen könnte – und bringen kann.«
»Wie meind öhr das?«
Der Fremde setzte sich vor die Laterne auf den Boden, sodass sein Gesicht auf derselben Höhe war wie mein Gesicht. »Lasst es mich einmal so sagen. Manche Menschen haben eine Fee, eine gute Frau, eine Holde, die ihnen bei der Geburt etwas mitgibt für ihr Leben. Und wenn diese Holde es gut mit einem meint, dann erhält man ein Geschenk, eine Gabe, oft verbunden mit einem Namen, den man trägt. Bei eurer Geburt … ist etwas schief gelaufen. Ihr hattet drei gute Frauen, die an eurer Wiege standen.«
»Wie bidde?«
Der Fremde überlegte einen Moment. »Nun, nehmt es einfach als Märchen, als eine Mär aus einer vergangenen Zeit. Als eine gute Geschichte, die ich euch erzähle, bis ihr euch gut genug fühlt, um mit mir gemeinsam aus diesem Graben zu klettern. Bis dahin … nehmt meine Geschichte für das, was sie ist: Eine Geschichte.«
Ich musste kurz nachgrübeln. Wenn ich das meinem Vetter erzählen würde … Aber dazu musste ich wirklich erst aus diesem eigenartigen Ort hinausgelangen. Und das war – da hatte der Fremde recht – im Moment nicht zu erwarten, wenn ich in meine Glieder hineinfühlte. Mithilfe meiner beiden Hände setzte ich mich ein wenig bequemer auf und ruckelte ein wenig zur Seite, sodass ichmeinen Rücken an die Höhlenwand lehnen konnte. »Gud, isch wäre dann soweid.«
»Also«, begann der Fremde, »durch einen Wink des Schicksals oder eine Gunst der Nornen habt ihr drei Frauen gehabt, die bei eurer Geburt unsichtbar und unhörbar an eurer Wiege Wünsche und Hoffnungen an euer Leben banden. Jeder eurer Vornamen ist mit einer jener Frauen verbunden. Und jede hat andere Dinge für euch vorhergesagt. Diese drei Wege, die eure Zukunft gehen könnte, gabeln sich heute hier an dieser Stelle. Daher müsst ihr eine Entscheidung treffen, welchem Weg ihr folgen wollt. Und ich bin der Führer, der euch die Wege zeigen kann. Aber ich darf euch nicht bei der Entscheidung helfen oder eine vor den anderen der drei Frauen bevorzugen. Sonst ziehe ich ein Schicksal auf mich, das schrecklicher ist als jenes in den Sagen des Altertums.«
Ich kannte einige dieser Geschichten. Die Tage in der Leihbibliothek und die ganzen abonnierten Lieferungswerke mussten sich auch irgendwann mal auszahlen.
»Gud. Fangt an.«
Der Fremde räusperte sich erneut. »Euer erster Name ist der Name des Sonnengottes. Er wurde vor langer Zeit in einem Tempel verehrt, dessen Herz ein heiliger Stein war. Nein, es ist nicht der Gott der Muselmanen, den ich hier erwähne. Elagabal – denn so lautet euer erster Name, wenn man ihn korrekt schreibt und ausspricht – stammte aus dem Vorderen Orient. Marc Aurel Antonius, dem später dieser Name gegeben wurde, hat sich nie selbst so genannt. Es ist eine schöne Idee des gelehrsamen Pfarrers gewesen, diesen Namen auf einen römischen Kaiser zurückzuführen – auch wenn sein Leben nicht gerade ein Ruhmesblatt für die römische Geschichte war. Die Dame, die diesen Namen mit einem Wunsch verknüpfte, versprach euch Reichtum und ein gutes Leben.«
Das Licht der Laterne schien zu flackern. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, dass ich ein Bild sehen konnte. Da war ein erwachsener Frank zu sehen, der in einer schönen Behausung stand. Neben ihm stand eine schöne Frau mit langem, blondem Haar, die an der Hand einen Knaben führte. Dieses Kind hatte wenig von seiner eigenen, vom Schicksal mit ein wenig zu geringer Größe ausgestatteter Statur, sondern er schien die schönen Anteile seiner Mutter mit den Augen und den Gesichtszügen seiner selbst zu vereinen. Dann drehte mein älteres Ich sich um. Liebevoll schaute er auf seine Frau und das Kind. Aber sein Blick enthielt noch mehr … eine Sehnsucht, ein Verlangen, eine Traurigkeit – alles Dinge, die ich an mir selbst nur zu gut kannte.
»Ihr habt es gesehen?«, fragte der Fremde.
»Ja«, antworte ich kleinlaut.
»Dieses Leben wäre das Geschenk der ersten Dame.«
»Aber warum schaue ich so traurig?«
Der Fremde zuckte die Schultern. »Das darf ich euch nicht sagen. Ihr müsst es selbst erraten, es ist eure Zukunft, nicht die meine.«
»Gut.« Ich überlegte einen Moment. Ein schönes Leben, sicherlich. Aber würde ich glücklich werden mit einer Familie, einer Arbeit, einem Haus? Wo würden dann meine ganzen Träume enden, die ich in mir selbst verbarg in einem Schatzkasten, den anzurühren ich nur selten wagte? »Was sünd die anderen beiden Wünsche, die man mir mitgegeben had?«
Der Fremde lächelte. »Gut. Die zweite Portion guter Wünsche ist für euren dritten Vornamen abgegeben worden.« Ich wollte nachfragen, doch er hob abwehrend die Hand. »Ich weiß, das ist nicht die richtige Reihenfolge, in der die Namen in das Taufbuch eingetragen worden sind. Aber ich kann nur wiedergeben, in welcher Reihenfolge die Wünsche ausgesprochen worden sind. Und dann kommt jetzt Edeward.«