Religiöse Sonderwege - Stefanie Pfister - E-Book

Religiöse Sonderwege E-Book

Stefanie Pfister

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Beschreibung

Die argumentierende Teilnahme am Dialog mit anderen Religionen und Weltanschauungen und die kompetente Unterscheidung von lebensförderlichen und lebensfeindlichen Formen von Religionen sind ein zentrales Anliegen kompetenzorientierten Religionsunterrichts. Für die Förderung dieser Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern benötigen Lehrkräfte selbst grundlegendes Handwerkszeug und Kompetenzen. Dieses Werk liefert in kompakter Form 1. Informationen zu in der Gegenwart bedeutsamen weltanschaulichen und religiösen Gemeinschaften wie Evangelikalen, neuapostolischen oder esoterischen Gruppen, aber auch zu fundamentalistischen Gruppierungen. Es bietet 2. Hilfestellung dabei, die Wahrheitsansprüche dieser religiösen und weltanschaulichen "Sonderwege" religionsdidaktisch reflektiert für den Unterricht aufzubereiten. Darüber hinaus werden 3. Lehrkräfte bei der Ausbildung einer praktisch-theologischen Beratungskompetenz unterstützt, um angemessen und verantwortlich mit Schülerinnen und Schülern umgehen zu können, die einer jeweiligen Gruppierung angehören. Der Band ist insbesondere für die Vorbereitung im Referendariat und im Berufseinstieg als Religionslehrerin und -lehrer eine wichtige Bereicherung!

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Stefanie Pfister/Matthias Roser

Religiöse Sonderwege

Weltanschauliche Orientierungskompetenz für Religionslehrkräfte

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 12 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99816-9

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: © Vobelima/Panthermedia

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /

Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

1.Einleitung

1.1Relevanz der Thematik

1.2Aufbau des Bandes

2.Systematischer und theologischer Überblick über religiöse Sonderwege

2.1Religiöse Gruppe? Neue religiöse Bewegung? Sekte? Religiöser Sonderweg?

2.2Religiöse Sonderwege und die apologetische Aufgabe evangelischen Christseins

2.3Theologische Impulse

2.3.1Bibeltheologische Impulse zur Bestimmung von Begriff und Gegenstand von Apologetik

2.3.2Religionstheologische Perspektiven

2.4Apologetik in religionspädagogischer Perspektive

3.Differenz, Dialog oder Distanz? – Religionspädagogische Einsichten zum Umgang mit religiösen Sonderwegen

3.1Staatskirchenrechtliche Kriterien

3.2Anthropologische Kriterien

3.2.1Pädagogische und soziale Kriterien

3.2.2Psychologische Kriterien

3.3Theologische Kriterien

3.4Religionspädagogische Kriterien und Schlussfolgerungen

4.Weltanschauliche und religiöse Sonderwege

4.1Religiöse Sonderwege der Zeugen Jehovas

4.2Religiöse Sonderwege der Scientology-»Kirche«

4.3Religiöse Sonderwege der Mormonen

4.4Esoterische und okkulte Sonderwege

4.5Neuapostolische Sonderwege

4.6Religiöse Sonderwege von Neuoffenbarungsgruppen

4.7Evangelikale Sonderwege

4.8Religiöse Sonderwege der Kreationisten

4.9Religiöse Sonderwege messianischer Juden

4.10Religiöse Sonderwege deutschsprachiger Gruppierungen mit Sharia-Bezug

4.11Religiöse Sonderwege des Salafismus

5.Die Protagoras-Schule

5.1Didaktisch-methodische Vorbemerkungen

5.2Spielregeln und Spielablauf

5.3Die Anforderungssituation (zur Kopie oder als Vortrag)

5.4Die Aufgabenverteilung

5.5Beteiligte Gruppierungen

5.6Materialien

5.7Chancen und Grenzen

6.Fazit: Perspektiven auf weitere religiöse Sonderwege

7.Glossar

Literatur

1.Einleitung

1.1Relevanz der Thematik

Abbildung 1

Wie zweifelhafte Lockangebote, quasi »Falltüren in die Hölle« – so stellt der Zeichner des Bildes1 die Angebote verschiedener weltanschaulicher und religiöser Gruppierungen dar: ein großartiges Versprechen von vermeintlichen Himmelsfreuden, jedoch verbunden mit einem offenkundig fatalen Abstieg.

–Doch kann man so pauschal und vorschnell über die Gruppierungen urteilen?

–Warum sind diese Gruppierungen unter Umständen für Jugendliche interessant?

–Und wie argumentiert man als Pädagoge2, wenn Schüler einer bestimmten Gruppe angehören und gleichzeitig am Religionsunterricht teilnehmen?

Diesen Fragen gingen Lehramtsstudierende für das Fach Evangelische Religionslehre an den Universitäten Dortmund und Duisburg-Essen auf den Grund. Im Rahmen ihrer religionspädagogischen Seminare bei den Autoren unternahmen sie Exkursionen zu verschiedenen weltanschaulichen Gruppierungen, darunter zum Beispiel eine Exkursion zur Christlichen Versammlung Lütgendortmund. Es handelt sich dabei um eine Gemeinde, die sich selbst noch innerhalb des evangelikalen Spektrums des Protestantismus verortet3 (vgl. auch Kapitel 4.7). Ziel der Exkursion war es, mit den Gemeindemitgliedern in einen theologischen Diskurs zu treten, doch es kam nicht zu einem wirklichen Dialog: So vertrat der Gemeindeleiter in seinem Einleitungsvortrag vehement eine Weltanschauung bzw. religiöse Ansicht, die letztendlich nur durch das Bekehrungserlebnis eines geistlich Wiedergeborenen4 verständlich ist, d. h. ohne eine sogenannte »Konversionshermeneutik«5 kann überhaupt kein Verstehens- und/oder Erkenntnisprozess stattfinden.

Zudem erzeugten der Vortrag und einige Besonderheiten in der Gemeinde – z. B. die räumliche Trennung von Frauen und Männern, die handschriftlich ergänzten Studienbibeln und die Teilnahme einer Absolventin des christlich-zionistischen Bibelcenters Breckerfeld – bei den Studierenden ein Gefühl von großer Fremdheit.

Besonders irritierte die Studierenden ihre eigene Sprachlosigkeit im Dialog mit den Gemeindemitgliedern. Obwohl sie die theologischen Grundlagen dieser Gemeindestruktur und Denkweise im Seminar ausführlich erarbeitet hatten, entstand der Eindruck der eigenen theologischen Unsicherheit und Diskursunfähigkeit angesichts eines derart in sich geschlossenen Weltbilds.

Folgende Aspekte waren Anlass für den vorliegenden Band:

–Die genannten Unsicherheiten und die geäußerten Ängste der Studierenden vor der Begegnung und Auseinandersetzung mit geschlossenen Weltbildern in der späteren schulischen Berufspraxis.

–Die Konfrontation der Studierenden mit einer umfassenden Daseinsorientierung, die ihre Orientierung und Zielrichtung von einer christlich-fundamentalistischen Weltanschauung her erhält. Indirekt fühlten sie sich zu einer begründeten Rechenschaftsablegung aufgefordert, die sie aber vor Ort nicht geben konnten (vgl. Kapitel 2).

–Zugleich evozierte die Kommunikationssituation vor Ort die Anfrage an die Studierenden nach ihrer persönlichen Daseinsgewissheit, aber auch ihren eigenen wissenschaftstheoretisch reflektierten Begründungsstrukturen der Kohärenz und »Logik« des christlichen Glaubens (vgl. Kapitel 2).

–Weiterhin warf die Exkursion auch Fragen nach einer kriterienbewussten Unterscheidung von lebensförderlichen und lebensfeindlichen Formen von Daseinsorientierung, Weltanschauungen und religiösen Überzeugungen auf 6 (vgl. Kapitel 3).

Von den zukünftigen Religionslehrkräften und Pfarrern wird erwartet, dass sie als »Experten in Sachen Theologie, Religion(en) und Weltanschauungen« Orientierung und Hilfestellung bei der Urteilsbildung, aber auch spontane seelsorgerliche Beratung aus evangelischer Perspektive zu geben vermögen.

Zudem haben angehende Religionslehrkräfte die Aufgabe, dass ihre Schüler sich

»im Unterricht Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Haltungen an(eignen), die für einen sachgemäßen Umgang mit sich selbst, mit dem christlichen Glauben und mit anderen Religionen und Weltanschauungen notwendig sind.«7

Dabei sollen die prozessbezogenen Kompetenzen religiöser Bildung wie die Dialogfähigkeit im Unterricht ausgebildet werden, d. h. sie sollen »am Dialog mit anderen Religionen und Weltanschauungen argumentierend teilnehmen« können. Doch bevor man in einen Dialog treten kann, sind zunächst Differenzen wahrzunehmen oder gegebenenfalls ist auch die Einnahme von Distanz erforderlich. Oder wie es die Arbeitsgruppe des Comenius-Instituts (Münster) formuliert: Schüler sollen die Kompetenz erwerben »kriterienbewusst lebensförderliche und lebensfeindliche Formen von Religionen unterscheiden«8 zu können.

Insgesamt zeigt sich daher die Notwendigkeit einer praktischtheologischen Orientierungs- und Beratungskompetenz hinsichtlich des »Panoramas der religiösen Sonderwege«. Es stellt sich doch die Frage, warum junge Lehramtsanwärter, die ein drei- bis vierjähriges theologisches Studium hinter sich haben, angesichts der Argumente in einer christlich-fundamentalistischen Gruppierung Schwierigkeiten haben, Rede und Antwort zu stehen. Ist mittlerweile nicht nur für die Schülerschaft, sondern auch für Lehrkräfte das Phänomen des – von Bernhard Dressler skizzierten – »Traditionsabbruches« aktuell und das »Christentum eine Fremdreligion«9 geworden?

Für eine Klärung dieser Frage ist der Beruf der Lehrkraft professionstheoretisch in den Blick zu nehmen. Zu den Tätigkeiten einer Religionslehrkraft zählt nicht nur das »Kerngeschäft einer Lehrkraft: der Unterricht«10, sondern verstärkt auch die Fähigkeit zur praktischtheologischen Beratungskompetenz, z. B. in Form von seelsorgerlichen Beratungen, Umgang mit Schülern, die Gewalt in der Familie erleben, Beratungsgespräche mit Eltern sowie mit schulpsychologischen Beratungsstellen. Am Lernort Schule

»erwerben die Heranwachsenden die Kulturfertigkeiten, mit denen sie im Alltag moderner Gesellschaften teilnehmen können; in Schulen erwerben sie aber auch die Kompetenzen, ihr Leben selbst als einen Lernprozess zu verstehen und zu gestalten, und zwar mit Hilfe von Fähigkeiten, Lernstrategien, Motiven und Interessen, die sie organisiertem Unterricht verdanken«.11

Das heißt, an die Lehrkraft, die die oben genannten Kompetenzen bei Schülern fördern soll, werden hohe Ansprüche gestellt. Doch wie kann die entsprechende Kompetenz zunächst gefördert bzw. überhaupt entwickelt werden?

Aktuelle Debatten beschreiben, dass professionelles Lehrerhandeln durch einen Zusammenhang von Wissen und Können und der daraus resultierenden Handlungsfähigkeit gekennzeichnet ist. Folgt man weiter der Kompetenzorientierung, bildet insbesondere die Handlungsfähigkeit, die sich in konkreten Anforderungssituationen bewähren soll, den Kern der Professionalität von Lehrkräften. Dieses prozedurale Wissen ist ein praktisch nutzbares Wissen, das sich als Können implizit im Handeln zeigt: Shulman nennt es auch »wisdom of practice«.12

Auch Bernhard Dressler betont die zentrale Bedeutung des Unterrichtenden:

»Im Lichte der Alltagserfahrungen sind für den Religionsunterricht die Lehrerinnen und Lehrer wichtiger als die religionsdidaktischen Konzeptionen und die Lehrpläne. Das wird freilich für andere Schulfächer kaum anders sein. Konzeptionen sind unerlässlich als professionelle Reflexionsmedien. Aber ob der Unterricht gelingt, entscheidet sich nicht an ihnen, auch nicht an den Methoden und Medien, sondern an den Kompetenzen der Lehrkräfte und darüber hinaus an etwas, für das wir in der Regel einen eher vortheoretischen, empirisch nur schwer zu fassenden Begriff benutzen: ›Lehrerpersönlichkeit‹.«13

Für Dressler sind Begriff und Gegenstand des Religionslehrer-Habitus besser geeignet, um den unscharfen Begriff »Lehrerpersönlichkeit« tiefenschärfer in den Blick nehmen zu können.14 Er plädiert für eine Unterscheidung zwischen individuell »gelebter Religion« und im Religionsunterricht »gelehrter Religion«15 und davon »möglicherweise abweichender unterrichtsthematischer und didaktischmethodischer Präferenzen«.16

Für Dresslers Habitus-Konzept ist die Lehrerkompetenz des »Religion-Zeigen-Könnens«17 zentral: »Religion soll gezeigt werden können, ohne dass die Religionslehrer einfach nur sich selbst als religiöse Menschen zeigen.«18 Dressler beschreibt die deiktische Handlungskompetenz der Unterrichtenden mit Hilfe einer von Thomas Ziehe19 entliehenen »Fremdenführer-Metapher«:

»Religionslehrer können sich dabei gleichsam, wie Thomas Ziehe es vorgeschlagen hat, als ›Fremdenführer‹ in andere Sinngebiete verstehen, in denen sich die Fremdenführer naturgemäß besser auskennen als die Touristengruppen. Dabei wäre schon viel gewonnen, wenn sie das anfängliche Nichtverstehen erträglich machen. Fremdenführer zwingen niemanden zu Daueraufenthalten in dem Gelände, durch das sie führen. Aber ohne ihre Sachkunde erschließt sich nichts von dem Reiz dieses Geländes. […] Lehrer können sich nach diesem Modell als Darsteller eines Sachzusammenhangs verstehen, nicht eines Darstellers von sich selbst, und gerade deshalb kann an ihnen ein engagiertes, nicht neutrales Verhältnis zur Sache erkennbar werden.«20

Die von Dressler namhaft gemachte »deiktische Kompetenz« findet man auch in den von den evangelischen Landeskirchen und theologischen Fakultäten formulierten Kompetenzen wieder: So sollen Lehrkräfte in ihrem Studium die »Fähigkeit zur religionsdidaktischen Auseinandersetzung mit anderen Lebens- und Denkformen«, die »Fähigkeit zur Interpretation und didaktischen Entschlüsselung religiöser Aspekte der Gegenwartskultur« sowie eine »interkonfessionelle und interreligiöse Dialog- und Kooperationsfähigkeit«21 entwickeln (vgl. auch Kapitel 3).

1.2Aufbau des Bandes

Der Blick richtet sich in diesem Band darauf, wie diese »wisdom of practice« (Shulman) bzw. der RU-Lehrer-Habitus (Dressler) hinsichtlich der Herausforderungen der pluralistischen Daseins- und Werteorientierungen oder kurz: ausgewählter »religiöser Sonderwege« gefördert werden kann und folgt folgendem Aufbau:

Im ersten Kapitel wird die Relevanz der Thematik für Studierende der evangelischen und katholischen Theologie auf Lehramt/ Pfarramt aufgezeigt.

Im zweiten Kapitel folgt eine Definition zum Begriff »religiöser Sonderweg« sowie die Darstellung der apologetischen Aufgabe evangelischen Christseins heute verbunden mit religionspädagogischen Schlussfolgerungen.

Religionspädagogische und theologische Einsichten zum Umgang mit weltanschaulichen und religiösen Gruppierungen werden im dritten Kapitel dargestellt. Zentral sind die Begriffe Differenz, Dialog und Distanz.

Das vierte Kapitel bildet das Herzstück des Bandes. Hier werden die einzelnen religiösen Sonderwege mit einem aussagekräftigen Quellenzitat jeweils vorgestellt und Aspekte für den Religionsunterricht entwickelt. Die Auswahl der Gruppierungen erfolgt nach gegenwärtiger Relevanz und Brisanz, weniger nach deren statistischen Häufigkeit.22 Diese Kapitel haben jeweils folgende Struktur:

–Quellenzitat

–Kurze und präzise Beschreibung der jeweiligen Gruppierung: Kontext der Entstehung, wichtigste Stellvertreter, theologische bzw. weltanschauliche Schwerpunkte, gegenwärtig kontrovers theologisches Konfliktpotenzial mit einem Christentum evangelischer Prägung und daraus resultierender Problemlage für den RU. Konkrete Arbeitsfragen zur reflektierten theologischen und religionspädagogischen Ausbildung von Differenz-, Dialog- und gegebenenfalls auch Distanzkompetenz. Die Arbeitsfragen haben folgende Ziele:

•reflektiertes, kriterienorientiertes Beobachten und Beschreiben des entsprechenden religiösen Sonderwegs zu ermöglichen (Orientierung),

•reflektiertes, kriterienorientiertes Verstehen und Deuten der von der Gruppe evozierten Daseinsorientierung bzw. Weltanschauung zu initiieren (Orientierung),

•Erarbeitung entsprechender reflektierter Stellungnahmen zu diesen evozierten Daseinsorientierungen und Weltanschauungen aus der Perspektive des evangelischen Christentums zu fokussieren, d. h. eines Wirklichkeitsverständnisses, dass sich der Heiligen Schrift als norma normans und den Bekenntnisschriften als norma normata christlichen Glaubens verpflichtet weiß (theologische Auseinandersetzung),

•Arbeitsaufträge, die ergänzend Hinweise auf religionsdidaktische Erarbeitungsmöglichkeiten religiöser Sonderwege für den Religionsunterricht mit Hilfe eines konkreten fachdidaktischen Ansatzes23 enthalten (religionspädagogische Auseinandersetzung),

•religionspädagogische und praktisch-theologische Perspektiven auf die jeweiligen religiösen Sonderwege zu entfalten, d. h. der Frage nachzugehen, wie man als Lehrkraft mit Schülern umgeht, die der bestimmten Gruppierung angehören, und wie die Lehrkraft ihren eigenen Glauben begründet darlegen kann (Begegnung).

Abbildung 2

Zur Förderung der religiösen und weltanschaulichen Orientierungskompetenz lädt das fünfte KapitelDie Protagoras-Schule ein. Hier wird von der Dortmunder Studentin Julia Peter die Methode des Planspiels vorgestellt. Zudem werden hier auch der Spielablauf, die Rollenkarten und die Spielregeln mit Chancen und Grenzen vorgestellt, sodass eine spielerische Umsetzung in Schule und Hochschule erfolgen kann. Das Material steht als kostenloser Download unter www.v-r.de/religioese_sonderwege zur Verfügung.

Das Buch schließt mit einem Fazit (sechstes Kapitel), das als Orientierungshilfe in Bezug auf weitere religiöse Sonderwege dient sowie einem Glossar der wichtigsten Begriffe religiöser Sonderwege (siebtes Kapitel).

Im Onlinematerial zu diesem Buch befindet sich zusätzlich zu den Spielmaterialien auch ein Adressverzeichnis evangelischer und katholischer Informations- und Beratungsstellen.

1Valerij, 9. Klasse (Münster).

2Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für beide Geschlechter.

3Vgl. die Homepage der Christlichen Versammlung Lütgendortmund: http://www.cv-dortmund.de (letzter Zugriff am 07.07.2017) und insbesondere die dort als mp3-Dateien niedergelegten Vorträge. Diese Gemeinde gehört zur Brüderbewegung (Darbyisten) und ist eng mit weiteren Gemeinden im Ruhrgebiet und insbesondere auch mit dem Bibelmuseum Wuppertal vernetzt.

4Der Gemeindeleiter beschrieb sein Bekehrungserlebnis und die für ihn daraus resultierende geistliche Wiedergeburt in seinem Vortrag sehr detailliert. Die Gemeindemitglieder sekundierten mit eigenen Bekehrungserzählungen.

5Zur Konversionshermeneutik vgl. Peter G. Stromberg: Language and self-transformation. A study of the Christian conversion narrative, Cambridge 1993.

6Vgl. dazu Dietlind Fischer/Volker Elsenbast (Hg.): Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I, Münster 2006, 19 sowie 51–55.

7EKD (Hg.): Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I. Ein Orientierungsrahmen, Hannover 2010, 11.

8Vgl. Dietlind Fischer/Volker Elsenbast (Hg.): Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung, 2006.

9Vgl. Bernhard Dressler: Darstellung und Mitteilung. Religionsdidaktik nach dem Traditionsabbruch, in: rhs 1 (2002), 11–19.

10Sigrid Blömeke: Universität und Lehrerausbildung, Bad Heilbrunn 2002; Heinz-Elmar Tenorth: Professionalität im Lehrerberuf, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9/4 (2006), 580–597.

11Heinz-Elmar Tenorth: »Alle Alles zu lehren«. Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung, Darmstadt 1994, 155.

12Lee S. Shulman: The Wisdom of Practice, Essays on Teaching, Learning, and Learning to Teach, San Francisco 2004; R. Bromme: Kompetenzen, Funktionen und unterrichtliches Handeln des Lehrers, in: Franz E. Weinert (Hg.), Psychologie des Unterrichts und der Schule. Enzyklopaedie der Psychologie Serie I, Bd. 3, Göttingen 1997, 177–212, hier: 199.

13Bernhard Dressler: Was soll eine gute Religionslehrerin, ein guter Religionslehrer können, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 8 (2009), H. 2, 115–127, hier: 115.

14Ebd., 119.

15Ebd.

16Ebd.

17Ebd.

18Ebd., 123, kursiv: eigene Auflösung von RL in Religionslehrer.

19Thomas Ziehe: Zeitvergleiche. Jugend in kulturellen Modernisierungen, Weinheim/München 1991.

20Bernhard Dressler: Was soll eine gute Religionslehrerin, 124, kursiv: eigene Auflösung von RL in Religionslehrer.

21Papier der Gemischten Kommission: Theologisch-religionspädagogische Kompetenz. Professionelle Kompetenzen und Standards für die Religionslehrerausbildung, Hannover 2009 (Teilkompetenzen 5.6 und 11).

22Dem Aspekt der Konfessionslosigkeit bzw. bewusst atheistischen Gruppierungen wird in der vorliegenden Untersuchung nicht nachgegangen. Vgl. zur Konfessionslosigkeit: Michael Domsgen: Religionsunterricht in Ostdeutschland. Die Einführung des evangelischen Religionsunterrichts in Sachsen-Anhalt als religionspädagogisches Problem (Arbeiten zur Praktischen Theologie, Bd. 13), Leipzig 1988.

23Vgl. Stefanie Pfister/Matthias Roser: Fachdidaktisches Orientierungswissen für den Religionsunterricht. Kompetenzen – Grenzen – Konkretionen, Göttingen 2015.

2.Systematischer und theologischer Überblick über religiöse Sonderwege

2.1Religiöse Gruppe? Neue religiöse Bewegung? Sekte? Religiöser Sonderweg?

In organisationssoziologischer Perspektive ist nicht immer eindeutig zu erkennen, wann eine Gruppe/Szene/Gemeinde den Status einer eigenen »Gruppierung« einnimmt und wann diese Gruppe schon zu einer (neuen) religiösen Bewegung gehört.

Die Autoren bezeichnen daher in Anlehnung an Friedhelm Neidhard eine religiöse Gruppe als diejenige religiöse Sozialform mit einem sehr geringen Organisationsgrad, deren »Sinnzusammenhang durch unmittelbare und diffuse Mitgliederbeziehungen sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt ist«24. Zunehmend kann es dabei zu fest ausgeprägten Strukturen mit hohem Organisationsgrad und Mitgliedschaftskriterien in Abgrenzung zur Umwelt kommen. Dies stellt dann den Organisationsgrad einer religiösen Gemeinde dar.

Eine religiöse, soziale Bewegung ist »ein mobilisierender kollektiver Akteur, der mit einer gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenden sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen«25.

Diese religionssoziologische Zugangsweise ermöglicht es auch, den Begriff der Sekte zu vermeiden. So weist Pfarrer André Hahn in einer aktuellen Verlautbarung des »Amtes für missionarische Dienste« der Evangelischen Kirche in Westfalen darauf hin, dass der vielerorts verwendete Sektenbegriff für den fachtheologischen bzw. religionspädagogischen Kontext mittlerweile als nur sehr eingeschränkt verwendbar zu bezeichnen ist:

»Solange weitgehend homogene religiöse Verhältnisse herrschten mit einer dominierenden Religion – oder wie in Deutschland mit den beiden großen Konfessionen – und die ›Sekten‹ eine Minderheit bildeten, konnte dieser Begriff in negativer Abgrenzung verwendet werden: Was eine ›Sekte‹ war, bestimmte die Mehrheit. In der heutigen Situation einer religiösen Vielfalt und Ausdifferenzierung ist dies nicht mehr möglich und auch wenig sinnvoll. Die bloße historische Priorität kann kein Kriterium für die negative Qualifizierung als ›Sekte‹ sein – sonst wären auch die evangelischen Kirchen ›Sekten‹ gegenüber der katholischen oder das gesamte Christentum gegenüber dem Judentum.«26

Hahn verweist weiter auf die – in der öffentlichen Verwendung – häufig zu beobachtende, wissenschaftlich unzureichende Konnotation des Sektenbegriffs als »Kampfbegriff«:

»Dieser Begriff bleibt aber problematisch, weil er im Grunde ein ›Kampfbegriff‹ ist. Man qualifiziert eine Gruppe ab und man tut dabei so, als könne man klar zwischen Schwarz und Weiß unterscheiden. […] Abspaltungen und Sonderlehren sind kein Kennzeichen für Sektierertum. Erst da, wo historische Abspaltungen zu exklusiven Abgrenzungen werden und Sonderlehren zu Konflikten führen, kann man sinnvollerweise von ›Sekten‹ sprechen.«27

Bereits 1998 hatte der Endbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags28 daher vorgeschlagen, eine an umgangssprachlichen Normen orientierte Verwendung des Sektenbegriffs im öffentlichen Raum zu verwerfen29 und stattdessen den am Endbericht beteiligten Fachdisziplinen die Aufgabe anheimgestellt, eine revidierte, wissenschaftstheoretisch begründete Terminologie in Bezug auf religiöse Sonderwege nach Begriff und Gegenstand zu entwerfen.30 Das »Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen«31 der VELKD kommt der von der Enquete-Kommission gestellten Aufgabe explizit nach, vermeidet den »Sekten«-Begriff beinahe vollständig und differenziert z. B. für das protestantische Christentum wesentlich genauer nach »Freikirchen« – Pfingstlichcharismatischen Bewegungen und weiteren unabhängigen Gemeinden – Gemeinden der »apostolischen Bewegung« und »Sondergemeinschaften« mit christlichem Hintergrund.32

In Amerika wurde zur Vermeidung der Begriffe cult oder sect der Begriff new religious movements33 eingeführt, der z. B. auch von dem Religionspsychologen Sebastian Murken konsequent als Neue religiöse Bewegungen (NRB) genutzt wird. Diese Bezeichnung34 umfasst daher

»alle religiösen Bewegungen, die in der Neuzeit (etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts) entstanden sind. Sie wurden von ihren Herkunftsreligionen entweder als Häretiker oder ›Sekten‹ ausgestoßen und gewannen dann eigene historische Gestalt, oder sie nahmen aufgrund ›neuer Erkenntnis oder neuer Offenbarung‹ eine Gegenposition zu ihren Herkunftsreligionen ein.«35

Die Autoren dieses Bandes favorisieren den Begriff religiöse Sonderwege, da er zunächst die religionssoziologischen Definitionen aufnimmt, zum Beispiel den Prozesscharakter von einer Gruppe zu einer (neuen) religiösen Bewegung. Des Weiteren nimmt er aber auch die Suchbewegungen der Menschen nach einem (neuen) Weg auf und den individuellen Beitrittsprozess ernst: »Wie kommt es überhaupt dazu, dass sich Menschen für eine bestimmten religiösen Sonderweg interessieren? Was suchen und finden diese Menschen dort?« Der Begriff »Sonderweg« umfasst auch den kollektiven Entwicklungsprozess: Was ist das allen gemeinsame Interesse, der Motor oder die kollektive Mobilisierung? Darüber hinaus kann der Begriff »Sonderweg« für einen Platz im interreligiösen Dialog oder innerhalb der Ökumene stehen, vorausgesetzt es sind von beiden Seiten Anschlussmöglichkeiten gegeben. Die Bezeichnung »religiöser Sonderweg« umfasst dann auch Bezeichnungen wie »Sondergemeinschaften«36, »moderne Spielarten von Religiosität«37 oder »moderne Variationen von Religionen«38.

Deutlich wird der »Wegcharakter« eines »religiösen Sonderwegs« an der folgenden organisationssoziologischen Matrix von Friedhelm Neidhardt und Dietmar Rucht39, mit Hilfe derer die Entstehung und die Stabilitätsfaktoren religiöser Sonderwege als »soziale Bewegungen« erkennbar werden:

Entstehungs- und Stabilisierungsbedingungen sozialer Bewegungen

Abbildung 3

Die von Neidhardt/Rucht vorgelegte Matrix ermöglicht folgende Beobachtungen:

Auf der individuellen Erfahrungsebene (Mikroebene) können sozialpsychologische Deprivationstheorien erklären, unter welchen Umständen Individuen Unzufriedenheit artikulieren und dann im Kontext eines religiösen Sonderwegs Handlungsbereitschaft entwickeln (A1). Die Erfahrung gemeinsamer Betroffenheit und die Ausbildung von Solidarität sind unverzichtbare Voraussetzungen für kollektive Aktionen religiöser Sonderwege (B1). Für die Stabilisierung kollektiver Aktionen müssen diese Aktionen zur Lösung der wahrgenommenen Probleme als nützlich und zweckentsprechend angesehen werden. Die Wahrnehmung von Erfolgsaussichten (bei den einzelnen Individuen) ist erforderlich, um eine kollektive Mobilisierung der religiösen Sonderwege zu sichern (C1).

Das eigentliche Zentrum dieser von Neidhard/Rucht vorgelegten Matrix ist dabei durch die mittlere, die so genannte Meso-Ebene repräsentiert:

»Auf der Meso-Ebene, der kollektiven Deutungsebene, geht es darum, zu erklären, welche gemeinsamen Alltagstheorien wirksam werden, wenn es um die Definition von Deprivationen, Solidarisierungschancen und Erfolgsaussichten geht. Subjektive Erfahrungen und Einstellungen unterliegen einem kollektiven Deutungsprozess. Diese kollektiven Konstrukte, die sich als Ideologien von den subjektiven Erfahrungen ablösen können, werden von ›Bewegungsunternehmern‹ ständig bearbeitet, damit sie nach innen integrieren und nach außen politischen Druck entfalten.«40

Damit ist das (implizite) Ziel aller in diesem Band verhandelten religiösen und weltanschaulichen Sonderwege, in unterschiedlichster Art und Weise einen Wandel der Religionsstruktur bzw. der Gesellschaftsstruktur in der Bundesrepublik Deutschland voranzutreiben. Die Beschreibung und Definition des Zielpunktes des angestrebten religiösen und gesellschaftlichen Wandels differiert dabei zwischen den dargestellten Gruppen in beträchtlicher Art und Weise. Religiöse und weltanschauliche Sonderwege explizieren in ihrem Denken und Handeln immer auch Gegen- bzw. Alternativmodelle zur pluralen, religiösen und weltanschaulichen Gegenwartskultur der Bundesrepublik Deutschland, z. B.:

–Die christlich-theokratische Gemeinschaft als gesamtgesellschaftliches Idealmodell (vgl. 4.1 Zeugen Jehovas)

–»Zurück zur Urgemeinde« als Antwort auf die fortschreitende Säkularisierung in Kirche und Gesellschaft (vgl. 4.5Neuapostolische Gruppen, 4.7 Evangelikale und evangelikale Gemeinschaften, 4.8 Kreationisten, 4.9 Messianische Juden)

–Geoffenbartes Wissen als Antwort und Handlungsoption für die Sinnsuche des modernen Menschen in der säkularen, unübersichtlich gewordenen Gesellschaft (vgl. 4.3 Mormonen, 4.6 Neuoffenbarungsgruppen)

–Die Selbstperfektionierung und Transhumanisierung der menschlichen Existenz als Handlungsoption in der Gegenwart (vgl. 4.2 Scientology, 4.4 Esoterische Gruppierungen)

–Radikalislamische Umgestaltung der Gesellschaft als religiöse und gesamtgesellschaftliche Antwort auf Pluralismus und säkular begründete weltanschauliche und religiöse Indifferenz (vgl. 4.10 Deutschsprachige Gruppierungen mit Sharia-Bezug, 4.11 Salafisten).

Die innerhalb eines religiösen Sonderwegs virulent gewordenen kollektiven Deutungs- und Handlungsmuster stellen reflektierten christlichen Glauben evangelischer Provenienz vor gegenwärtig bedeutende Herausforderungen.

2.2Religiöse Sonderwege und die apologetische Aufgabe evangelischen Christseins

Gegenwärtige »Religiöse Sonderwege« lassen sich mittels zweier kategorial unterschiedlicher, aber dennoch aufeinander bezogenen Perspektiven genauer beschreiben und deuten: einmal durch eine Außenperspektive, die es vermag, insbesondere die Welt- und Gegenwartsdeutung und das Existenzverständnis des jeweiligen religiösen Sonderwegs und der jeweiligen Plausibilitätsstrukturen beschreibend in den Blick zu nehmen.

Im »Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen« heißt es dazu prononciert:

»Wir können uns anderen Gemeinschaften nur von außen nähern, wir teilen nicht ihre Innenperspektive. Auch bei ihnen ist dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, dass wir ihren Lebensvollzug nicht verstehen können, wenn wir ihn nur mit seiner sprachlichen Artikulation identifizieren. Wir müssen fragen, was damit jeweils zum Ausdruck gebracht ist, welches Existenzverständnis sich hier mitteilt. Wenn wir für uns in Anspruch nehmen, dass ein bestimmter Lebensvollzug, eine gelebte Wahrheit, nur im jeweiligen Lebensvollzug verstanden und verifiziert werden kann, gilt dies auch für andere religiöse Orientierungen.«41

Eine apologetische Auseinandersetzung kann aber sachgemäß dann erst stattfinden, wenn die Außenperspektive mit der Innenperspektive in einen fruchtbaren Dialog tritt:

»Versucht der Glaube, in Gesagtem und Gedachtem zu ergründen, wie die befreiende Wahrheit zu denken ist, auf die hin und von der her er lebt, so kann er dies nur in Auseinandersetzung mit konkurrierenden Lebensorientierungen, d.h. mit deren Versprachlichung und Lebensgestaltung tun. Nur in Bezug auf diese anderen Lebensorientierungen kann er sich selbst verstehen und zur Darstellung bringen. Er versteht sich selbst in Bezug auf anderes und anderes in Bezug auf sich selbst. Die Auseinandersetzungen mit anderen Lebensorientierungen ist daher keine Aufgabe, die nur sekundär zum Sich-selbst-Verstehen und zur Darstellung des eigenen Glaubens hinzutritt, sondern sie ist konstitutiv für das Sich-selbst-Verstehen und die Darstellung des Glaubens. Die konstatierende Rede des Glaubens, die feststellenden und Geltungsanspruch erhebenden Aussagen in deskriptiver Sprache sind folglich nicht nur von den Begriffs und Vorstellungswelten der jeweiligen Umwelt geprägt (wie etwa die seinshaftmetaphysischen Begrifflichkeiten und Vorstellungen der altkirchlichen Bekenntnisse), sondern immer auch von der Bezugnahme auf konkurrierende Lebensorientierungen.«42

Die Semantik des diesem Buch zugrundeliegenden Begriffs »Sonderweg« ermöglicht durch die »Wege-Metapher« die Deutung, dass sich religiöse Gemeinschaften in einem dynamischen Entwicklungsprozess befinden. Dieser Entwicklungsprozess ist dabei nach zwei Seiten offen: einmal als Modus einer »Entsektung«, wie z. B. aktuell bei der Neuapostolischen Kirche beobachtbar, zum anderen aber auch als Modus einer zunehmenden »Versektung«, wie sie aktuell bei einer Vielzahl freier evangelischer Gemeinden, insbesondere pfingstlichcharismatischer Provenienz, zu sehen ist.

2.3Theologische Impulse

Die skizzierte »apologetische« Aufgabe evangelischen Christseins wird nunmehr – aus der benannten Innenperspektive – bibeltheologisch bzw. systematisch-theologisch näher bedacht.

2.3.1Bibeltheologische Impulse zur Bestimmung von Begriff und Gegenstand von Apologetik43

In neutestamentlicher Perspektive ist insbesondere auf den 1. Petrusbrief zu verweisen. 1. Petrus 3, 15 f. gilt als neutestamentlicher locus classicus christlicher Apologetik.44 Begriff und Gegenstand biblisch begründeter, christlicher Apologetik sind nicht unumstritten. Von daher ist es bemerkenswert, dass die Generalsynode der VELKD im November 2015 »Apologetik« sowohl als systematisch-theologisches wie auch praktisch-theologisches, kirchliches Reflexions- und Handlungsfeld an hervorgehobener Stelle in Erinnerung ruft. In der Entschließung der Generalsynode heißt es:

»Im Zeitalter des weltanschaulichen und religiösen Pluralismus fordert uns die offene Gesellschaft zunehmend heraus, Rechenschaft abzulegen von unserem Glauben. […] Die Verankerung im eigenen Glauben bildet die Voraussetzung, um mit Menschen anderer Konfession, Religion und Weltanschauung in einen konstruktiven Dialog eintreten zu können. In diesem Zusammenhang war es den Synodalen wichtig, auch den Dialog mit Konfessionslosen engagiert zu pflegen und zu fördern. Um anderen Weltanschauungen offen und urteilsfähig begegnen zu können sowie Stellung zu nehmen, ist es notwendig, sich des eigenen Glaubens gewiss zu sein und darüber Auskunft geben zu können.«45

Eine Exegese der Verse 1. Petrus 3, 14 ff. lässt zentrale Perspektiven von »Apologetik« erkennen. Im biblischen Text heißt es:

1. Petr. 3, 14 Aber wenn ihr auch leiden solltet um der Gerechtigkeit willen, glückselig seid ihr! Fürchtet aber nicht ihren Schrecken, seid auch nicht bestürzt, 15 sondern haltet den Herrn, den Christus, in euren Herzen heilig! Seid aber jederzeit bereit zur Verantwortung jedem gegenüber, der Rechenschaft von euch über die Hoffnung in euch fordert, 16 aber mit Sanftmut und Ehrerbietung! Und habt ein gutes Gewissen, damit die, welche euren guten Wandel in Christus verleumden, darin zuschanden werden, worin euch Übles nachgeredet wird (ELB).