Rem - Luisa Rausch - E-Book

Rem E-Book

Luisa Rausch

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Beschreibung

Die 29-jährige Anni Sølversen träumt davon, vom Schreiben leben zu können. Allerdings hat sie schon bei ihrem zweiten Roman einen totalen Aussetzer. Als sie dann plötzlich nachts von seltsamen Träumen geplagt wird, die sie bis in den Tag verfolgen, scheint ihre scheiternde Autorenkarriere ihr kleinstes Problem zu sein. Seltsame und unerklärliche Dinge geschehen und Anni wünscht sich nichts mehr, als endlich aus diesem Albtraum aufzuwachen. Welche Rolle ihr Vormieter bei all dem spielt, erfährt sie erst zum Schluss.

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Für Jens

Ich freue mich schon, mit dir dieses wunderschöne Land zu bereisen!

PROLOG

Der Wind zerrte an ihr und peitschte ihr die Haare ins Gesicht. Sie hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten, während sie auf den Rand der Klippe zuhielt, der sie magnetisch anzuziehen schien.

Ihr Kopf schrie unentwegt Stopp, doch ihre Beine bewegten sich unbeirrt vorwärts. Sie hielten erst an, als sie schon beinah den Rand des bröckeligen Steilhangs erreicht hatte und ihr Blick geradewegs in den dunklen Abgrund vor ihr fiel. Sie konnte nicht ausmachen, wie tief es hinab ging, geschweige denn, ob unten überhaupt etwas auf sie warten würde…

Der Wind wurde noch stärker und übertönte jegliche Geräusche um sie herum. So bemerkte sie auch viel zu spät, dass sie längst nicht mehr allein war.

Sie hatte denjenigen nicht kommen hören, sondern lediglich die Anwesenheit einer anderen Person gespürt. Doch als sie sich umdrehen wollte, um zu sehen, wer sie an diesem Ort aufgesucht hatte, verlor sie bereits das Gleichgewicht.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

EINS

Tromsø, Samstag 23:27 Uhr

Der Cursor blinkte schon eine halbe Ewigkeit an ein und derselben Stelle. Das bläuliche Licht des Bildschirms erhellte den sonst dunklen Raum und ließ ihr restliches Umfeld für sie in ein tiefes Schwarz versinken.

Annis Augen schmerzten und sie kniff sie fest zusammen, um ihren Blick anschließend neu zu fokussieren. Was machte sie sich vor – sie würde die Deadline, die Ingar ihr gegeben hatte, nie einhalten können. Erschrocken zuckte sie zusammen, als etwas direkt neben ihr auf dem Tisch landete.

Buscuit, ihr Kater, erreichte ihr begrenztes Sichtfeld und tapste leichtfüßig an der Tischkante entlang auf sie zu. Anni schob ihren Laptop etwas von sich, um die Norwegische Waldkatze davon abzuhalten über die Tastatur zu laufen. Ein lautes Schnurren erfüllte den Raum, als sie sanft über den Rücken des Katers strich.

„Ja, du hast recht – ich kann genauso gut schlafen gehen“, stimmte sie ihrem Kater zu, der sich demonstrativ vor ihrem aufgeklappten Bildschirm positioniert hatte. Mit einem Seufzen klappte Anni den Laptop zu und stand auf.

Erst jetzt merkte sie, wie steif sie inzwischen war, und auf dem Weg ins Schlafzimmer massierte sie sich stöhnend den schmerzenden Nacken.

„Auh, verdammt“, meckerte sie, als sie im Dunklen mit dem Fuß gegen einen der Umzugskartons stieß, die schon seit Tagen kreuz und quer in ihrer Wohnung herumstanden und sie jedes Mal, wenn sie sie anschaute, anzuschreien schienen, dass sie doch endlich ausgepackt werden wollten.

Im Schlafzimmer angekommen betätigte Anni den Lichtschalter neben der Tür und die einsame Glühlampe, die von der Zimmerdecke herunterbaumelte, warf ihr spärliches Licht in den Raum.

Auch hier herrschte noch ein heilloses Durcheinander. Die Kartons mit den Klamotten türmten sich in einer Zimmerecke - einige davon bereits aufgerissen und durchwühlt.

Drei Wochen wohnte sie jetzt hier. Und drei Wochen hatte sie sich gekonnt davor gedrückt, auch nur irgendwas zu tun, um diese Wohnung zu ihrer Wohnung zu machen.

Monatelang hatte sie nach etwas Passendem in Tromsø Ausschau gehalten und nichts gefunden – oder vielleicht hatte sie auch einfach nichts finden wollen – bis dann ganz plötzlich Beret von der Arbeit heimkam und freudestrahlend verkündete, dass sie die Wohnung für Anni gefunden hätte.

Und tatsächlich hatte Anni diesmal keinen ernsthaften Grund finden können, um Beret und Len davon zu überzeugen, dass sie doch noch ein Weilchen in ihrem gemütlichen WG-Zimmer bleiben müsste.

So kam es, dass sie keine Woche später ihre sieben Sachen zusammenpackte, wobei ihr Len und Beret, ihrer Meinung nach etwas zu euphorisch, zur Hand gingen.

Sie vermisste ihr kleines kuschliges Zimmer, in dem sie während des Studiums und in den drei Jahren danach gelebt hatte, schon jetzt. Sie wusste, dass sie mit ihren 29 Jahren inzwischen wirklich alt genug für etwas Eigenes war. Außerdem gönnte sie Len und Beret, die seit einigen Jahren ein Paar waren und ihre Anwesenheit schon viel zu lange toleriert hatten, ihre Zweisamkeit. Trotzdem fiel ihr der Abschied schwer. Vor allem, weil es ihr mal wieder vor Augen führte, wie unfähig sie eigentlich war, ihr eigenes Leben zu organisieren.

Über die Wohnung konnte sie sich allerdings wirklich nicht beschweren. Das Zwei-Zimmer-Apartment befand sich in einem ruhigen Wohnviertel nicht weit vom Prestvannet See und dem nahegelegenen Park. Das alte Gebäude war vor wenigen Jahren erst komplett saniert worden und die Zimmer waren groß und mit wunderschönem Holzboden ausgestattet. Die Lage im zweiten Obergeschoss bot noch dazu eine nette Aussicht. Alles in allem also wirklich die Wohnung und eigentlich war es ein Wunder, dass Anni sie bekommen hatte.

Es hatte noch keine Anzeige in der Zeitung oder im Internet gegeben. Beret hatte von einer Arbeitskollegin im Krankenhaus, die in der Nachbarschaft wohnte, erfahren, dass die Wohnung wohl bald zur Vermietung freiwerden würde, nachdem der Vormieter recht überstürzt und unter seltsamen Bedingungen ausgezogen war. So kam es auch, dass Anni die Wohnung sogar teils möbliert hatte übernehmen können.

Während sie sich nun aus ihrer Sweatjacke schälte, die sie über ihrem Schlafanzug getragen hatte, fiel ihr Blick auf das Bild über ihrem Bett.

Auf die Frage nach einem Abstellplatz für ihr Fahrrad hatte der Vermieter ihr einen Schlüssel für das zur Wohnung gehörige Kellerabteil übergeben. Dort hatte sie, neben ein paar anderen alten Kisten und Schnickschnack, auch dieses Ölgemälde gefunden, was sie kurzerhand mitgenommen und an den bereits vorhandenen Nagel über dem Bett aufgehängt hatte. Sie konnte verstehen, warum der ehemalige Bewohner es zurückgelassen hatte. Das Motiv war nicht sonderlich originell. Es zeigte Tromsø bei Nacht. Über den Lichtern der Inselstadt zogen sich giftgrüne Streifen durch den Nachthimmel.

Anni war der Ausblick mehr als bekannt. Sie wusste nicht, wie oft sie selbst schon oben auf dem Storsteinen, dem Hausberg, gestanden und runter auf die Stadt geblickt hatte. Der Ort war bekannt für seine beeindruckende Aussicht und machte ihn so zu einem der beliebtesten Plätze für Touristen. Bilder dieses Motives in unterschiedlichsten Ausführungen, zu unterschiedlichsten Jahres- oder Tageszeiten, bekam man somit in fast jedem Souvenirshop beinah hinterhergeworfen.

Trotzdem fand Anni, dass das Bild sich dort an der Wand ganz gut machte und wenigstens etwas Farbe in die sonst noch sehr kahlen Zimmer brachte.

Sie nahm ihre Brille ab, legte sie auf den Nachttisch und kletterte anschließend unter die dicke Daunendecke.

Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr.

„Bitte lass es morgen besser laufen“, schickte sie ein Stoßgebet gen Himmel, ehe sie das Licht löschte.

ZWEI

„Annike! Annike, Kind! Wach schon endlich auf! Das ist wieder typisch! Nur am Schlafen! Was soll denn aus dir werden?“

Erschrocken riss Anni die Augen auf. Sie lag rücklings auf dem Boden. Ihr Blick war geradewegs an die hölzerne Decke über ihr gerichtet. Es war inzwischen unglaublich warm in dem Raum und als sie den Kopf zur Seite neigte, blickte sie direkt in den riesigen Steinkamin neben sich, dessen knisterndes Feuer seine Wärme versprühte.

Als Anni sich bewegte, bemerkte sie die weiche Unterlage, die sie von den harten Fliesen trennte. Zaghaft strich sie über das Fell, welches früher mal den Leib eines Tieres geschmückt hatte. Angewidert rümpfte sie die Nase, als sie die blutigen ausgefransten Ränder sah.

Der Grund für ihr Aufwachen kam ihr wieder in den Sinn und ruckartig setzte sie sich auf und schaute sich um. Die Möbel um sie ragten wie riesige Schatten in die Dunkelheit empor, doch sie konnte ihn nicht entdecken. Sie war allein. Die Erkenntnis ließ ihren Puls schlagartig sinken.

„Wird aber auch Zeit.“ Der Unterton der Stimme klang gereizt.

Anni zuckte zusammen, als die Stimme erneut und viel zu nah an ihr Ohr drang.

Der Klang rief Bekanntes in ihr hervor und nochmals suchte sie den halbdunklen Raum nach ihm ab. Als sie schließlich den Kopf hob, blickte sie geradewegs in das Gesicht des riesigen Tieres.

Über dem Kamin hing ein überdimensional großer Elchkopf und starrte ihr entgegen. Der Schein des Feuers spiegelte sich in den Gläsern seiner Brille wider, die auf seiner Nase thronte. Ein kleines vernickeltes Drahtgestell.

In diesem Moment öffnete sich das Maul des Tieres und erneut erklang die altbekannte Stimme: „Kind, was hast du denn hier schon wieder für ein Durcheinander angerichtet?“, empörte sich der Elchkopf.

In Anni stieg Scham auf, während sie auf das verstreute Papier um sich herum blickte. Einige Blätter waren zu Bällen zerknüllt, andere glatt und unberührt. Sie griff zu dem Nächstgelegenen und hielt es so in den Schein des Feuers, dass sie die paar wenigen Worte, die auf den Anfang der Seite geschrieben standen, entziffern konnte. Es stand nur ein Halbsatz auf dem Zettel, der noch dazu wieder durchgestrichen worden war. Ihre Handschrift wirkte krakelig und spiegelte die Emotionen, die sie beim Schreiben der wenigen Worte verspürt hatte – Ärger und Wut.

„Du siehst es selbst, oder? Dass das nirgendwo hinführt. Du hast dich da in etwas verrannt und bist nur zu stur, um dir das einzugestehen.“

Anni riss den Blick von dem Papier los, um dem Elch zu widersprechen, sackte jedoch sofort wieder in sich zusammen, da er inzwischen nochmal um ein Vielfaches gewachsen war. Er überragte sie nun vollkommen und Anni blieb stumm.

Die nächsten Worte klangen wie eine böse Prophezeiung:

„Du bist in Gefahr. Überleg dir deine nächsten Schritte gut.“

Das Feuer im Kamin schoss plötzlich in die Höhe, als hätte man Spiritus beigefügt und Anni musste die Hände schützend vor das Gesicht halten. Durch das ohrenbetäubende Knistern des Feuers vernahm sie die warnenden Worte des Elches.

„Pass auf!“, sprach er eindringlich.

Und noch einmal: „Pass auf!“

DREI

Tromsø, Sonntag 7:46 Uhr

Anni schreckte aus dem Schlaf. Ihr Puls raste und es dauert einen Moment, bis sich ihr Herzschlag wieder etwas normalisierte. Die letzten warnenden Worte des Elches klangen in ihr nach.

Dieser Traum hatte sich merkwürdig echt angefühlt und instinktiv fasste sie sich an die Wange, doch die Haut unter ihren Fingern war angenehm kühl. Trotzdem war es seltsam wie unglaublich präsent der Traum noch in ihrem Kopf war. Sie konnte sich an jedes kleine Detail erinnern, selbst an den Duft nach Rasierwasser, der in dem Raum geschwebt hatte. Für gewöhnlich konnte sie sich nicht gut an Einzelheiten aus ihren Träumen erinnern.

Anni rieb sich mit den Händen übers Gesicht. Dann starrte sie eine ganze Weile die Decke an, während sie grübelte, was dieser Traum ihr sagen wollte. Wobei sie sich nicht sicher war, ob sie die Antwort überhaupt hören wollte.

Um die zermürbenden Gedanken loszuwerden, stand sie auf und zog sich die Sweatjacke vom Vortag wieder über. Dann ging sie ins Bad, um zumindest das vergessene Zähneputzen vom Vorabend nachzuholen und den schalen Geschmack im Mund loszuwerden.

Buscuit wartete schon in der Küche an seinem Fressnapf auf sie und empfing sie mit einem empörten Miauen. Eilig schüttete sie ein paar Brekkies in die Schüssel.

Sie setzte sich zurück an ihren Schreibtisch, doch schon während sie ihren PC beim Hochfahren beobachtete, überkam sie ein Gefühl von Ernüchterung. Sie ahnte schon, dass dieser Tag nicht sehr viel anders verlaufen würde. Sie überflog, was sie am Vortag geschrieben hatte - es war überschaubar.

Während sie die wenigen Seiten gegenlas und nebenbei ein paar Schreibfehler korrigierte, hoffte sie irgendwo den roten Faden zu finden, den sie wieder aufgreifen konnte. Doch sie musste sich eingestehen, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wo die Story hinführen sollte.

Neben ihr auf dem Schreibtisch lag ihr Notizblock, auf den sie ein paar Schlagworte geschrieben hatte. Sie öffnete den Internetbrowser, um ein paar Recherchen dazu zu machen und ihre Ideen darauf vielleicht etwas ausbauen zu können. Nach ein paar Klicks fand sie ein Video mit einer interessanten Überschrift und klickte es an…

Tromsø, Sonntag 12:05 Uhr

…zehn Videos später schweifte ihr Blick hinunter in die rechte Bildschirmecke. Kurz nach zwölf – verdammt! Sie hatte es mal wieder fertiggebracht, den ganzen Vormittag über nichts aber auch rein gar nichts Wertvolles zu Papier zu bringen. Sie wusste nicht, ob es bloß dem Druck, den sie diesmal von außen bekam, zuzuschreiben war, dass sich in ihrem Kopf einfach keine neue Idee bilden wollte, oder ob sie sich letztendlichen eingestehen musste, dass sie nicht dazu taugte, wie am Fließband neue Romane rauszuhauen, was jedoch nötig war, wenn das Schreiben kein Hobby bleiben sollte.

Ihren ersten Kriminalroman „Bis dass der Tod uns scheidet“ zu schreiben hatte ihr unglaublich viel Spaß bereitet. All die Stunden, die sie in der Bücherei verbracht hatte, um zu recherchieren und sich Inspiration zu holen. Die unzähligen kleinen Zettel mit Ideen, die überall rumgeflogen waren und die nächtlichen Geistesblitze, die es ihr oft unmöglich gemacht hatten, im Bett zu bleiben, waren für sie die Definition des Autorendaseins. Für sie hatte das Schreiben schon immer einen Ausflug in eine andere Welt bedeutet und egal wo sie sich als Kind befunden hatte, sie war meist in irgendwelche Geschichten vertieft gewesen.

Doch das hier – das hatte alles nichts mit Freude und Leichtigkeit zu tun. Das war purer Stress.

Die Tatsache, dass sie einen Verlag in Oslo gefunden hatte, der ihren ersten Roman verlegen wollte, war wie ein Sechser im Lotto gewesen. Und Ingar, die die Autoren im Norden betreute, war ein Goldstück. Doch sie hatten ihr von Anfang an klar gesagt, dass sie nicht zu lange warten dürfe, ein neues Buch auf den Markt zu bringen, sonst würde ihr Name mit einem Wimpernschlag wieder in Vergessenheit geraten. Aber was, wenn ihr erster Roman bloß ein Glückstreffer gewesen war und sie keine neue gute Idee haben würde…

Anni schlug sich mit der flachen Hand mehrfach an den Kopf, so als könne das diese fiese kleine Stimme, die sie jetzt schon eine ganze Weile begleitete, vertreiben.

Sie schloss den Internetbrowser und der weiße leere Bildschirm erschien vor ihr. Der blinkende Cursor schien sie zu verpönen und Anni stützte stöhnend das Gesicht in die Hände.

Sie musste hier raus.

Mit diesem Gedanken stand sie auf, packte kurzerhand ihren Laptop zusammen und verstaute ihn in der Tragetasche. Dann ging sie in ihr Schlafzimmer um sich anzuziehen.

An ihrer Flurgarderobe hing bloß ihr wuchtiger alter Mantel, den sie vor ein paar Jahren in einem Secondhandladen erstanden hatte und der sie schon durch einige kalte Winter gebracht hatte. Dick eingepackt und die Tasche umgehängt verließ Anni ihre Wohnung. Sie zog die Tür hinter sich ins Schloss und steckte ihren Schlüssel in die Manteltasche, während sie auf die Treppe zuhielt.

„Ach, guten Morgen, meine Liebe. Schön, dass ich dich antreffe“, hörte sie plötzlich eine Stimme über sich und fuhr erschrocken zusammen.

Eine ältere Dame mit großem dunkelrotem Mantel und Hut war auf dem Weg hinunter vom oberen Stockwerk. Ihr voraus trabte ein mittelgroßer schwarzer Hund die Stufen hinab. Der freundliche Smalltalk Ton der Dame verwirrte Anni und sie fragte sich kurz, ob sie irgendwas verpasst hatte. Womöglich verwechselte die etwas ältere Dame sie aber auch einfach. Direkt vor ihr blieb sie stehen.

„Ich wollte schon die ganze Zeit mal vorbeischauen und mich vorstellen. Ich bin Tordis. Ich wohne in der Wohnung über dir“, plauderte die Dame freundlich weiter und streckte Anni die Hand entgegen.

Anni ergriff die ausgestreckte Hand, die in einem dicken Fäustling steckte, und schüttelte sie, noch immer etwas irritiert über diese vertraute Ansprache.

In dem Moment trottete der Hund, der hinter Tordis gestanden hatte, nach vorne auf Anni zu und beschnüffelte interessiert ihre Beine.

„Dagna scheint dich zu mögen. Eigentlich ist sie sehr verhalten bei Fremden.“

„Vermutlich rieche ich nach Katze“, überlegte Anni, hockte sich zu dem schwarzen Hund hinunter und ließ ihn an ihren Händen schnuppern. „Dagna?“, wiederholte sie, während sie sich wieder aufrichtete, „interessanter Name für einen Hund, so schwarz wie die Nacht.“

„Naja, so viel anders sehen unsere Tage ja aktuell auch nicht aus.“ Tordis zuckte schmunzelnd mit den Schultern und Anni stimmte ihr lachend zu.

Die beiden Frauen verließen gemeinsam das Gebäude.

„Ach wie schön, es schneit ja wieder“, meinte Tordis, als sie zusammen vor die Tür traten.

Der sowieso schon dunkle Himmel war mit Wolken verhangen, doch auf dem Boden hatte sich eine dünne Schneeschicht gebildet, wodurch alles um sie herum ein bisschen heller wirkte. Es war Ende November und so weit oben im Norden hatte die Polarnacht die Welt zu dieser Zeit fest im Griff. Die Stunden, in denen sowas ähnliches wie Tageslicht vorhanden war, waren rar.

„Hast du ein bestimmtes Ziel, Liebes?“, brach Tordis das Schweigen, während sie nebeneinanderher auf die nächste Hausecke zuliefen.

Anni überlegte kurz: „Ich hatte vor runter in die Stadt zu laufen und mich ein bisschen in ein Café zu setzen. Ich suche nach etwas Schreibinspiration.“ Sie deutete auf ihre Laptoptasche. „Zuhause fiel mir gerade die Decke auf den Kopf.“

„Ach du schreibst. Das ist aber interessant. Dann wünsche ich dir viel Erfolg. Oft kommen einem ja die besten Ideen in völlig ungewöhnlichen Momenten.“ Tordis blieb an der Straßenkreuzung stehen. „Ich muss hier lang. Dagna und ich wollen noch eine alte Freundin besuchen. Alles Gute, Liebes.“

Anni fand es äußerst sympathisch, dass die ältere Dame sie die ganze Zeit so herzlich Liebes nannte, obwohl sie sich gerade im Hausflur zum ersten Mal über den Weg gelaufen waren. Es löste ein warmes Gefühl in ihrer Brustgegend aus. Auf dem Weg runter in die Stadt überlegte sie mehrfach, ob sie Tordis irgendwie in ihre nächste Geschichte einbauen könnte.

Nachdem sie eine Weile durch die Einkaufsstraße spaziert war und die Einheimischen und unzähligen Touristen beobachtet hatte, machte sie sich auf den Weg zum Hafen. Dort ließ sie sich den rauen Wind um die Nase wehen, während sie die Lichter der Autos auf der Brücke und der Häuser drüben auf dem Festland betrachtete. Als ihre Zehen taub vor Kälte wurden, suchte sie Unterschlupf im Svermeri Café, wo sie einen Tisch am Fenster ergatterte. Draußen war es inzwischen längst wieder vollends dunkel.

Anni bestellte sich einen Früchtetee und eine frische Zimtschnecke und packte dann ihren Laptop vor sich aus.

Es hatte wieder angefangen zu schneien und durch das Fenster des Cafés beobachtete sie, wie die weißen Flocken im Licht der Straßenlaternen tanzten. So saß sie da eine ganze Weile.

Als ihr Handy auf dem Tisch zu vibrieren begann, erwachte sie aus ihrem tranceähnlichen Zustand. Das Bild ihrer Stiefschwester Iben war auf dem Display des Smartphones erschienen.

„Hey Iben“, meldete sich Anni.

„Hallo. Wo bist du denn gerade? Stör ich?“

„Nein, gar nicht. Ich bin grade im Svermeri, mich etwas aufwärmen. Was gibt’s denn?“

„Ich wollte fragen, ob du Lust hast, heute Abend zum Essen rüberzukommen. Bente hat vorhin seine Fischsuppe angesetzt, die du so gern magst. Und so wie es aussieht, reicht das wieder für eine ganze Woche.“ Iben lachte und Anni konnte hören, wie ihr Schwager im Hintergrund seine üblichen Rechtfertigungen vorbrachte.

Bei dem Gedanken an Bentes Fischsuppe lief Anni tatsächlich das Wasser im Mund zusammen, obwohl sie gerade erst ihre Zimtschnecke verputzt hatte. „Super, gerne“, gab sie zurück.

„Prima! Um halb fünf gibt’s Essen. Schaffst du das?“

Ein Blick auf die Uhr auf dem Laptop Bildschirm vor ihr zeigte Anni, dass es bereits zwanzig vor vier war. Sie klappte den Laptop zu. Sie hatte kein einziges Wort getippt, seit sie hier saß, und wenn sie ehrlich war, wusste sie, dass sich das auch nicht mehr ändern würde.

Sie verabschiedete sich von Iben und legte auf. Keine zehn Minuten später stieg sie an der nächsten Haltestelle in den Bus.

Zuhause stellte sie ihre Tasche auf dem Schreibtisch ab und ging ins Schlafzimmer, um sich noch etwas Gemütlicheres für den Abend anzuziehen. An der Haustür überlegte sie, griff dann aber kurzerhand zum Autoschlüssel und verließ die Wohnung.

Ihr Auto, ein kleiner älterer Opel Corsa in mintgrün, parkte an der Straße. Sie fragte sich häufig, für was sie das Auto eigentlich brauchte, da alles wunderbar mit dem Bus erreichbar war. Aber hin und wieder kam es doch mal vor, dass es ganz praktisch war mobil zu sein.

Über die Brücke verließ sie die Insel Tromsøya. In dem kleinen Örtchen Eidkjosen fuhr sie am Eide Handel, dem örtlichen Supermarkt, rechts ab Richtung Kaldfjord.

Der Ort, der direkt an einem Fjord gelegen war, war sehr idyllisch und die Lichter der Häuser spiegelten sich auf der Meeresoberfläche, die beinahe wie ein Spiegel wirkte, so ruhig lag das Meer in den Fjord eingebettet da.

Bente und Iben hatten vor einem Jahr ein gemütliches kleines Haus gekauft, nachdem ihnen ihre Wohnung mit ihrer kleinen Tochter Malin einfach zu eng geworden war.

Anni mochte, was die beiden aus dem älteren Häuschen gemacht hatten, und als sie in der Auffahrt parkte, konnte sie durchs Küchenfenster die kleine Familie bereits sehen. Bente am Herd, in einem großen Topf rührend. Iben und Malin ihm gegenüber, konzentriert auf etwas auf dem Tisch vor ihnen blickend.

Iben führte in Annis Augen ein richtiges Klischeeleben. Nach der Schule hatte sie Grundschullehramt studiert und im Anschluss an der Schule angefangen, auf die sie selbst früher gegangen war. Mit 23 hatten sie und Bente geheiratet und ein Jahr später war sie schon schwanger gewesen.

Es war nicht so, dass Anni sich auch so ein Leben wünschte. Im Gegenteil, sie liebte ihre Unabhängigkeit und Flexibilität. Doch manchmal beneidete sie Iben dafür, dass ihr Leben scheinbar so nach Plan verlief. Iben hatte ein offensichtliches Talent für Organisation und dafür, Verantwortung zu übernehmen, während Anni immer noch die Tatsache überforderte, dass sie jetzt für sich allein verantwortlich war und niemand den Müll rausbringen würde, wenn sie es mal wieder vergaß.

Der Schnee vom Mittag war schon wieder getaut und so lief Anni um ein paar Pfützen herum zur Veranda, die sich an der vorderen Hausseite entlang zog. Sie klingelte und es dauerte nicht lange, bis ihr Schwager Bente ihr die Tür öffnete.

„Hey Anni, du kommst genau pünktlich. Komm rein“, begrüßte Bente sie und trat einen Schritt zur Seite, um Anni vorbeizulassen.

Anni kannte Bente schon seit dem Kindergarten. Sie waren im selben Alter und da der Hof von Bentes Eltern quasi der Nachbarhof ihrer Familie gewesen war, hatten die beiden als Kinder sehr viel Zeit miteinander verbracht. Nach der Schule hatte Bente Veterinärmedizin studiert und weiterhin auf dem Hof seiner Eltern gearbeitet. Inzwischen war er der ortsansässige Tierarzt.

Anni legte Mantel und Schal im Flur ab und folgte ihm dann in die gemütliche Wohnküche, aus der ihr bereits der unverwechselbare Geruch von Bentes Fischsuppe entgegenwehte.

Kaldfjord, Sonntag 17:22 Uhr

Anni rieb sich den vollen Bauch und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

„Ich glaube, ich brauche die nächsten drei Tage nichts mehr zu essen.“

„Es gibt auch noch Waffeln“, berichtete Iben daraufhin.

„Ja, Tante, Tante“, quäkte Malin dazwischen. „Ich habe geholfen. Ich habe den Mixer sogar gaaanz alleine gehalten“, verkündete die dreijährige stolz.

„Das erzählt ihr mir erst jetzt?“, empörte sich Anni und blies mit einem Blick auf ihren Bauch die Backen auf.

„Ach komm, so wie ich dich kenne, hast du auch noch Platz für ein oder zwei Waffeln“, schmunzelte Bente, während er die leeren Teller vom Tisch sammelte und in die Küche trug.

Anni lachte, obwohl sie Bentes Kommentar nicht wirklich schmeichelhaft fand. Die Tatsache, dass er sie für verfressen hielt, gefiel ihr nicht wirklich. Unzufrieden warf sie einen erneuten Blick auf ihre Körpermitte. Sie kämpfte schon seit Ewigkeiten damit ein paar Kilo runterzubekommen, doch ihre Leidenschaft für das Essen, besonders für süße Leckereien, machten ihr Vorhaben nicht sonderlich leicht. Aber trotz Bentes Kommentar, der etwas an ihr nagte, sagte sie auch diesmal nicht nein, als Malin ihr, kurze Zeit später, ganz stolz eine warme Waffel mit Braunkäse vorsetzte.

Nach dem Waffelessen verschwanden Bente und Malin im Bad und Iben und Anni verlagerten ihr Gespräch mit zwei Gläsern Wein in die Küche, wo Iben nebenbei die Spülmaschine bestückte.

„Los erzähl, was ist los?“, fragte Iben, nachdem ein Moment der Stille entstanden war. Sie schaute Anni durchdringend an, die verwundert von ihrem Weinglas aufblickte.

„Was meinst du?“, wollte sie wissen.

„Dich bedrückt doch etwas, das merk ich. Ist mit der neuen Wohnung alles in Ordnung? Hast du dich schon ein bisschen eingelebt? Oder stimmt was an der Arbeit nicht?“

„Nein, es ist alles gut, Iben. Wirklich. Ich habe nur echt schlecht geschlafen letzte Nacht.“

Iben zog wenig überzeugt die Augenbrauen nach oben.

„Doch, ehrlich. Ich hatte heute Nacht einen ganz seltsamen Traum“, fiel Anni ein. „Von einem Elchkopf, der sich mit mir unterhalten hat. Oder besser gesagt mich beschimpft hat. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er wie Ingvald klang. Er trug auch seine blöde Nickelbrille und der ganze Raum hat nach seinem Rasierwasser gerochen.“

„Ingvald war ein Elch? Was hat er denn gesagt?“, wollte Iben leicht belustigt wissen.

„Das meine Entscheidungen nichts taugen. Das so nie was aus mir wird und irgendwas davon, dass ich aufpassen und mir meine nächsten Schritte gut überlegen soll. Also quasi das, was auch mein Vater sagen würde. Aber warum träum ich so einen Scheiß?“

„Mh“, machte Iben nachdenklich. „Kann es sein, dass es zurzeit nicht so gut mit deinem Buch läuft?“, fragte sie dann vorsichtig.

Anni fühlte sich, als hätte sie einen riesigen Stein im Magen. Natürlich hatte Iben gleich eins und eins zusammengezählt und direkt erfasst, was Anni gerade eigentlich das Leben schwer machte. Anni vergrub das Gesicht in den Händen und ihr verzweifeltes „Nein“ wurde von ihnen gedämpft.

„Ich wette jeder Autor hat mal so eine Phase, in der ihm nicht gefällt, was er schreibt. Sei nicht zu kritisch mit dir.“ Ibens Aufmunterungsversuche drangen an Annis Ohren und sie hob den Kopf aus den Händen

„Wenn es ja so wäre. Aber es läuft einfach gar nicht. Ich habe ja nicht mal einen blassen Schimmer, was ich überhaupt schreiben will. Ich habe gestern keine einzige verwendbare Idee zustande gebracht. Kannst du alles direkt in die Tonne kloppen.“ Anni ließ ihren Kopf zurück in die Hände fallen, nur um ihn gleichdarauf wieder zu heben. „Aber das Schlimmste: Ingar hat schon für die nächste Woche ein Termin angesetzt, in dem ich ihr mein neues Exposee vorstellen soll. Wie? Sag mir, wie soll ich in einer Woche ein komplettes Exposee auf die Beine stellen, wenn ich ja nicht mal eine vernünftige Idee habe?“, jammerte sie weiter.

Kommentarlos griff Iben zur Weinflasche und füllte Annis Glas erneut. Anni schenkte ihrer Schwester ein schmales Lächeln und nahm einen großen Schluck davon.

„Warum ein Elch?“ überlegte Iben laut.

„Was? Keine Ahnung.“ Anni winkte ab und nahm noch einen weiteren Schluck Wein.

„Hast du nicht gesagt, dass dich dein Opa immer zur Jagd mitnehmen wollte?“, überlegte Iben weiter.

„Oh ja, grauselig. Er war immer der Meinung, er müsse mir das Jagen beibringen, so wie meinem Vater.“

„Ich find das sehr interessant. Meistens haben so Tiere ja eine bestimmte Bedeutung in Träumen.“ Iben schloss die Spülmaschine und umrundete die Kücheninsel.

„Ach ja?“, fragte Anni, wenn auch eher unbeeindruckt. Sie wollte nicht wissen, warum ihr Vater ihr im Traum als Elch erschienen war, um sie zu kritisieren.

„Komm wir googeln das mal.“ Iben kletterte auf den Stuhl neben Anni und griff nach ihrem Handy, welches neben Annis auf der Anrichte lag.

Sie tippte ein paar Mal darauf und überflog einige Seiten.

„Hier“, meinte sie dann und las laut vor. „Der Elch als Traumsymbol: Genauso wie in der Realität, steht der Elch auch in Träumen als Zeichen für eigene Kraft, Stärke und Unabhängigkeit des Träumenden.

Wird das Tier im Traum in der freien Wildbahn gesehen, kann es weiterhin auf ein harmonisches familiäres Zusammenleben hinweisen“

„Pff, genau.“ Anni lachte sarkastisch. „Das hört sich exakt nach mir und Ingvald an“

„Es geht doch noch weiter.“ Iben senkte wieder den Blick. „In naher Zukunft wird die Kommunikation innerhalb der Familie des Träumenden gut funktionieren und es wird weniger zu Streit oder ähnlichem kommen. Einzelne Familienmitglieder werden zueinander finden.“

Anni warf Iben einen abschätzigen Blick zu, als diese eine verheißungsvolle Pause einlegte.

„Der Elch als Traumsymbol kann aber auch auf das Knüpfen günstiger neuer Bekanntschaften hindeuten. In naher Zukunft könnten Menschen in das Leben des Träumenden treten, die ihn beruflich und/oder privat voranbringen werden, was ihn zu großen Erfolgen führen wird. Wird der Elch im Traum allerdings in Gefangenschaft gesehen, ist dies eher negativ zu interpretieren. Es könnte für den Träumenden bedeuten, dass es in naher Zukunft zu Streitigkeiten kommen könnte. Der Betroffene eckt möglicherweise mit seiner Meinung oder seinen Handlungen öfter an und gerät dadurch in Konflikte. Der psychologischen Auffassung nach sehnen sich Leute, die von einem Elch träumen, nach Freiheit und Unabhängigkeit. Die unberührte Natur, in der das Krafttier natürlicherweise lebt, spielt hierbei auch eine Rolle. Der Träumende fühlt sich möglicherweise in seinem Alltag stark eingenommen und hat das Gefühl, sich nicht frei entfalten zu können. Er wünscht sich mehr von der Einfachheit und Reduziertheit der unbegrenzten Natur. Der Träumende sollte dies also als Aufforderung sehen sich mehr Ruhe zu gönnen und mehr Zeit an der frischen Luft zu verbringen.“

„Da haben wir’s!“, platzte es aus Anni heraus, kaum das Iben verstummte. „Das Ding hing quasi tot an der Wand. Mehr Gefangenschaft geht ja gar nicht. Also nichts mit Harmonie.“

„Das schon, aber vielleicht solltest du es trotzdem als guten Hinweis sehen. Immerhin kann es ja sein, dass dir der Traum einfach nur sagen will, was du brauchst oder dir im Moment guttun würde.“

„Ich war heute den verdammten ganzen Mittag draußen und das hat mir null Komma null gebracht.“

„Du bist aber auch echt ungeduldig.“ Iben lachte.

„Ich habe halt keine Zeit geduldig zu sein“, jammerte Anni, worüber sie dann doch beide lachen mussten.

„Komm mal her.“ Iben stand von ihrem Hocker auf und nahm Anni fest in die Arme, die diese Geste dankend annahm.

„Was hältst du davon, wenn wir uns gleich, wenn ich Malin schlafen gelegt habe, hinsetzen und die Köpfe zusammenstecken. Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich gerade mit unzähligen Romanideen in meinem Kopf umherlaufe, aber vielleicht kannst du mir von deinen erzählen und wir können eine etwas ausarbeiten“, schlug Iben dann vor und blickte Anni aufmunternd an.

Auch wenn Iben nicht ihre leibliche Schwester war, hätte Anni sich keine bessere wünschen können.

Tromsø, Sonntag 22:33 Uhr

„I was a key that could use a little turning… So tired that I couldn't even sleep. So many secrets I couldn't keep. Promised myself I wouldn't weep. One more promise I couldn't keep…“

Anni drehte das Autoradio noch ein bisschen lauter, während sie die Küstenstraße entlangfuhr und voller Emotionen den Text von Runaway Train mitsang.

„It seems no one can help me now. I'm in too deep. There's no way out. This time I have really led myself astray…“

Über eine Stunde hatten sie und Iben zusammengesessen und waren ihre bisherigen Ideen durchgegangen. Iben hatte wirklich versucht konstruktiven Beistand zu leisten, doch Anni konnte nicht behaupten, dass sie einen Schritt weitergekommen wäre.

Trotzdem hatte es sehr gutgetan, einfach mal bei einer anderen Person jammern zu können, und bei Iben wusste sie wenigstens, dass sie ihr nicht irgendwann einen Strick daraus drehen würde.

„…Runaway train never going back. Wrong way on a one way track. Seems like I should be getting somewhere…“

Sie hatte gerade die Lichter der Brücke hinter sich gelassen, als plötzlich links von ihr etwas Großes aus dem Gebüsch auf die Straße preschte.

Anni trat heftig auf die Bremse und im selben Moment erfassten die Scheinwerfer ihres kleinen Corsas die mächtige Gestalt eines ausgewachsenen männlichen Elches. Der Wagen kam direkt vor ihm zum Stehen.

Mit vor Schock weit aufgerissenen Augen blickte Anni das Tier vor ihr an – und das Tier blickte geradewegs zurück. Es hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Noch immer angestrahlt stand es mitten auf der Straße, direkt vor der Motorhaube, und hielt Blickkontakt mit Anni.

Es war nichts Ungewöhnliches für Anni einen Elch zu sehen. Auf Kvaløya und selbst direkt auf dem Hof ihrer Mutter war sie schon des Öfteren auf diese imposanten Tiere getroffen. Doch allgemein zählten sie, im Vergleich zu den Rentieren, die sich auf den Inseln ebenfalls tummelten, eher zu den scheueren Lebewesen, die eilig die Flucht ergriffen, wenn sie sich bedroht oder bloß beobachtet fühlten.

Vielleicht hatte das Tier, wie sie, einen Schock erlitten und war genauso unfähig sich zu bewegen.

Anni löste eine Hand vom Lenker, den sie noch immer verkrampft umschlossen gehalten hatte, und schaltete ihre Scheinwerfer aus. Sofort versank die Welt um sie in tiefschwarze Dunkelheit. Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an die neuen Umstände zu gewöhnen und so konnte sie nicht direkt erkennen, ob das Tier noch immer vor ihrem Wagen stand. Als sie das Licht nach einiger Zeit wieder einschaltete, war das Tier jedoch tatsächlich verschwunden. Als wäre es nie da gewesen.

Anni legte den ersten Gang ein und fuhr langsam wieder an. Eine viertel Stunde später parkte sie den Wagen wieder in der Lücke am Bürgersteig vor ihrem Zuhause.

Der Schock von dem Beinah-Zusammenstoß steckte ihr immer noch ein bisschen in den Knochen und der fixierende Blick des Elches wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Es hatte fast so gewirkt, als hätte er ihr etwas sagen wollen. Fast wie in ihrem Traum.

Anni hielt kurz auf ihrem Weg zur Haustür inne, als ihr dieser Gedanken kam, doch sie vertrieb das