Repeat This Love - Kylie Scott - E-Book

Repeat This Love E-Book

Kylie Scott

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Beschreibung

Jeder von uns hat eine Vergangenheit. Doch alles, was zählt, ist das Hier und Jetzt!

Nachdem Clementine bei einem Überfall ihr Gedächtnis verloren hat, muss sie nicht nur herausfinden, wer sie ist, sondern auch, weshalb sie vor einem Monat Ed Larson verlassen hat - von dem ihr alle erzählen, dass er die Liebe ihres Lebens gewesen sei. Ed ist alles andere als begeistert, als Clementine in seinem Tattoostudio auftaucht, kann sie aber nicht wegschicken. Nicht, wenn es einen kleinen Funken Hoffnung gibt, dass für sie beide vielleicht doch noch Hoffnung auf eine zweite Chance besteht ...

"Dieses Buch. Ihr braucht dieses Buch! Repeat this Love hat alles, was ich mir von einem Liebesroman wünsche." L. J. Shen

Der neue Roman von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Kylie Scott!

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Seitenzahl: 400

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Die Autorin

Die Romane von Kylie Scott bei LYX

Leseprobe

Impressum

Kylie Scott

Repeat This Love

Roman

Ins Deutsche übertragen von Anika Klüver

Zu diesem Buch

Als Clementine mit einer Kopfverletzung im Krankenhaus aufwacht, hat sie jede Erinnerung an ihre Vergangenheit verloren. Sie weiß weder, wer sie ist, noch, warum sie überfallen wurde – und von wem. Entschlossen, die Puzzleteile ihres Lebens wieder zusammenzusetzen, versucht sie, so viel wie möglich über ihr früheres Ich herauszufinden. Ihre Suche führt sie in das Tattoostudio von Ed Larson, der – wie sich schnell herausstellt – ihr nicht nur das Tattoo auf ihrer Schulter gestochen hat, sondern auch ihr Ex-Freund ist! Doch Ed ist alles andere als begeistert, Clem zu sehen, denn es ist gerade einmal einen Monat her, dass sie ihn ohne Erklärung verlassen und mit einem gebrochenen Herzen zurückgelassen hat. Dennoch bringt er es nicht über sich, sie fortzuschicken. Schon gar nicht, als klar wird, dass Clem noch immer in Gefahr schwebt. Gemeinsam suchen die beiden nach Hinweisen auf das, was geschehen ist. Und je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto mehr müssen sie sich fragen, ob sie bereit sind, ihrer Liebe eine zweite Chance zu geben …

1. KAPITEL

Der Laden befindet sich in einer geschäftigen Straße in der angesagten Innenstadt von Portland, Maine. Larsen und Söhne Tattoostudio steht in eleganten Buchstaben auf der Schaufensterscheibe. Drinnen läuft Musik, und zwei Kerle lümmeln sich auf einer grünen Samtchaiselongue und blättern Kataloge durch. Alles sieht sehr sauber und ordentlich und toll aus. Und es ertönt ein Geräusch, das an eine elektrische Bohrmaschine erinnert.

Die Frau hinter der Theke hält inne, und ihr bleibt der Mund offen stehen, als sie mich entdeckt. Sie ist hübsch und zierlich und hat einen rasierten Kopf.

»Hi!«, sage ich und versuche zu lächeln. »Kann ich mit …«

»Soll das ein verdammter Witz sein?«, donnert eine tiefe Stimme.

Ich schaue in die Augen eines großen Mannes, der über und über mit Tattoos bedeckt ist. Er hat recht kurzes hellbraunes Haar und ist schlank, aber muskulös. Er trägt eine Jeans und Designerturnschuhe sowie ein T-Shirt, auf dem das Logo irgendeiner Band abgebildet ist. Er sähe zweifellos gut aus, wenn er mich nicht so finster anschauen würde. Eigentlich stimmt das nicht ganz. Er sieht definitiv gut aus, daran ändert auch sein finsterer Blick nichts. Sein kantiger Kiefer ist voller Bartstoppeln, die seine perfekten Lippen umgeben. Er hat eine gerade Nase und hohe Wangenknochen. Im Gegensatz zu mir ist dieser Mann ein Kunstwerk.

»Nein, das kannst du vergessen«, sagt er und kommt auf mich zumarschiert. Er legt seine große Hand um meinen Oberarm. Sein Griff ist fest, aber nicht brutal. »Du hast kein Recht zurückzukommen.«

»Fass mich nicht an.« Er ignoriert meine Worte, während er mich zur Tür zerrt. Panik kocht in mir hoch, und ich schlage fest gegen seine Brust. »Hey, Kumpel. Fass. Mich. Nicht. An.«

Er blinzelt ein wenig überrascht. »Kumpel?«

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber er lässt mich los. Ich brauche eine ganze Minute, um meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Verdammt. In der Zwischenzeit beobachten mich alle. Die Frau hinter der Theke und die zwei Kerle, die auf dem Sofa warten. Die dunkelhäutige Frau mit dem umwerfenden voluminösen Haar, die eine Tätowiermaschine in der Hand hält, und die ältere Frau, an der sie gerade arbeitet. Wir haben ein hübsches kleines Publikum. Die Männerstimme, die aus den Lautsprechern dröhnt und eher schreit als singt, ist das einzige Geräusch im Raum.

»Du musst gehen«, sagt er. Dieses Mal ist seine Stimme leiser, aber nicht weniger barsch.

»Zuerst muss ich dir ein paar Fragen stellen.«

»Nein.«

»Hast du das gemacht?«, frage ich und ziehe den Ärmel meines T-Shirts hoch, um meine Schulter zu entblößen. Es ist eine wundervolle Arbeit – eine Ansammlung von Veilchen mit olivgrünen Stängeln und Blättern. Es sieht fast wie eine wissenschaftliche Zeichnung aus, aber die Wurzelstruktur fehlt.

Er kneift die Augen zusammen. »Natürlich habe ich das gemacht.«

»Ich war deine Kundin. Okay.« Das ist jetzt zweifelsfrei bewiesen. Gut. Eindeutige Fakten verleihen meiner Welt Struktur und helfen dabei, dass die Dinge Sinn ergeben. Unbekannte Faktoren machen mich einfach nur wütend. »Habe ich dich nicht bezahlt oder so was in der Art?«

»Wovon zum Teufel redest du?«

»Du bist wütend.«

Sobald er meine Stirn sieht, wird es offensichtlich. Die Feindseligkeit und Verwirrung in seinen Augen verwandeln sich in Überraschung.

Sofort streiche ich meinen Pony glatt, um meine Stirn zu verbergen. Diese Unsicherheit ist dumm, aber ich kann nichts dagegen tun.

Er schiebt sanft meine Hand beiseite und streicht mir das Haar zurück, um sich meine Stirn genauer anzusehen. Die intime Geste macht mich nervös. Beim Tätowieren kommen sich der Kunde und der Tätowierer zwar sehr nah, aber hinter der Art, wie er mich berührt und mir viel zu nah kommt, steckt … mehr. Ich versuche, einen Schritt zurückzuweichen, aber ich kann nirgendwo hin. Außerdem tut er mir ja eigentlich nichts. Er macht mich nur nervös. Und sosehr ich es auch verabscheue, bedrängt zu werden, hat ein Teil von mir nichts dagegen, dass er mich berührt.

Seltsam. Vielleicht muss ich mal wieder Sex haben. Vielleicht ist er mein Typ. Ich habe keine Ahnung.

Er legt die Stirn in tiefe Falten, während er mich mustert. Genau aus diesem Grund habe ich mir diese Frisur zugelegt. Die Narbe fängt gut zwei Zentimeter oberhalb meines Haaransatzes auf meiner Kopfhaut an und verläuft nach unten bis zu meiner rechten Augenbraue. Sie ist breit und gezackt und dunkelrosa.

Das genügt. Ich lege eine Hand an seine Brust und schiebe ihn von mir weg. Er weicht nur zu gern zurück. Zumindest einen kleinen Schritt.

»Also kennst du mich?«, versuche ich Klarheit zu schaffen. »Ich bin für dich mehr als nur eine Kundin.«

Der Mann starrt mich an. Ich kann seine Miene nicht deuten. Eine Mischung aus Traurigkeit und Verwirrung vielleicht? Er sieht wirklich ziemlich gut aus. Ein neues Lied fängt an, dieses Mal singt eine Frau.

»Also?«

Endlich spricht er. »Was zum Teufel ist mit dir passiert?«

Eine Woche zuvor …

»Bist du bereit?«

Ich höre auf, mit den Füßen zu wackeln, und hüpfe aus dem Krankenhausbett. »Ja.«

»Gut. Das Auto wartet in der Anfahrtsschleife, und wir werden direkt nach Hause fahren. Alles ist organisiert«, sagt meine Schwester mit einem zuversichtlichen Lächeln. »Du musst dir keine Sorgen machen.«

»Ich mache mir keine Sorgen«, lüge ich.

»Wolltest du noch mal die Fotos von meinem Haus sehen?«

»Nein. Ist schon gut.«

Der Name meiner Schwester lautet Frances (nicht Fran oder Frannie), und sie ist Polizistin und lebt in North Deering. Sie gibt sich die Schuld an dem, was passiert ist. Vermutlich gehört das zu ihrem Job.

Sie ist dreißig und damit fünf Jahre älter als ich. Wir haben das gleiche rotblonde Haar, die gleichen blauen Augen, die gleichen kleinen Brüste und die gleichen gebärfreudigen Hüften. Ihre Worte, nicht meine, und ich habe ihr gesagt, dass es eine unschöne Beschreibung ist. Aber wenn man meinen derzeitigen Zustand bedenkt, bleibt mir kaum etwas anderes übrig, als mich auf die Beschreibungen anderer zu verlassen.

Auf jeden Fall sehen meine Schwester und ich uns sehr ähnlich. Das ist mir auf zahlreichen Fotos und im Spiegel aufgefallen, also ist es ein eindeutiger Fakt.

»Hey, Clem.« Pfleger Mike steckt den Kopf zur Tür herein. »Alles ist geregelt, Sie dürfen gehen. Haben Sie noch irgendwelche Fragen oder so etwas?«

Ich schüttle den Kopf.

»Rufen Sie in Doktor Patels Praxis an, wenn Sie Probleme haben, okay?«

»Ja.«

»Bleiben Sie in Kontakt, Kleine. Lassen Sie mich wissen, wie es Ihnen ergeht.«

»Okay.«

Mike verschwindet.

»Wolltest du die Blumen mitnehmen?«, fragt meine Schwester.

Ich schüttle den Kopf. Das ist der Moment. Es wird Zeit zu gehen. Frances steht einfach nur an der Tür und wartet.

Meine erste Erinnerung besteht darin, dass ich im Krankenhaus aufgewacht bin, aber eigentlich wurde ich spät nachts auf einer Straße in der Innenstadt geboren. Ein Paar fand mich bewusstlos und blutend auf dem Bürgersteig. Ich hatte keinen Ausweis bei mir. Meine Handtasche und mein Portemonnaie waren verschwunden. Und die Waffe, eine blutverschmierte leere Scotchflasche, lag herrenlos in der Nähe. Walter, eine Hälfte des Paars, das mich fand, bricht jedes Mal in Tränen aus, wenn er diese Nacht beschreibt. Aber Jack, sein Partner, war zweimal in Vietnam und hat deutlich Schlimmeres gesehen. Sie waren die Ersten, die mir Blumen vorbeibrachten. Nicht dass ich viele bekommen hätte. Ich habe nicht viele Freunde.

Mein früheres Ich war offensichtlich allein zum Abendessen ausgegangen. Ihre letzte Mahlzeit bestand aus Käse-Spinat-Ravioli in Kürbissoße und einer Flasche Peroni. (Detective Chen sagte, das sei ein hefiges italienisches Bier, das gut zu Pasta passe. Das klingt nett. Vielleicht probiere ich es irgendwann mal.) Danach zeigen Überwachungskameraaufnahmen, wie diese Frau an einem Geldautomaten hundertfünfzig Dollar abhebt und dann in die Nacht hinausgeht. In der ruhigen Straße, in der sie ihr Auto geparkt hatte, gab es keine Kameras. Abgesehen von ihrem Angreifer war niemand in der Nähe.

Auf diese Weise starb Clementine Johns.

Draußen im Flur tummeln sich Patienten, Besucher und medizinisches Personal. Das ist vormittags immer so. Ich wische mir die schwitzigen Handflächen an den Seiten meiner Hose ab. Es ist schön, richtige Kleidung zu tragen. Schwarze Sandalen, eine blaue Jeans und ein weißes T-Shirt. Nichts allzu Aufregendes. Nichts, was dafür sorgen würde, dass ich auffalle. Ich will mich einfügen, beobachten und lernen. Denn wenn wir die Summe unserer Erfahrungen sind, dann bin ich nichts und niemand.

Frances beobachtet mich aus den Augenwinkeln, sagt aber nichts. Das ist meistens so. Ich würde ja sagen, dass mich ihr Schweigen paranoid macht, nur bin ich bereits paranoid.

»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, fragt sie, während wir auf den Aufzug warten.

»Ja.«

Der Aufzug kommt, und wir betreten ihn. Als er sich in Bewegung setzt, schlägt mein nervöser Magen Purzelbäume. Wir gehen durch den überfüllten Eingangsbereich und dann in den Sonnenschein hinaus. Ein blauer Sommerhimmel, ein paar grüne Bäume und eine Menge grauer Beton. Nicht weit entfernt nehme ich Verkehr, Menschen und viel Bewegung wahr. Eine leichte Brise zerzaust mir das Haar.

Die Scheinwerfer einer in der Nähe geparkten Limousine blitzen einmal auf, und Frances öffnet den Kofferraum, damit ich meinen kleinen Koffer hineinräumen kann. Meine Nervosität verwandelt sich in Aufregung, und ich kann mir das Lächeln nicht verkneifen. Ich habe sie im Fernsehen gesehen, aber seit jener Nacht habe ich noch nie in einem echten Auto gesessen.

Jetzt …

»Amnesie«, murmelt er zum etwa hundertsten Mal. Normalerweise folgt dieser Aussage ein ›Verdammt‹ oder ›Scheiße‹ oder irgendein anderes Schimpfwort. Dieses Mal kommt jedoch nichts hinterher. Vielleicht gewöhnt er sich endlich an die Vorstellung.

Ich sitze ihm in der Nische gegenüber und beäuge die Cocktailkarte. Sie ist ebenso eklig und klebrig wie der Tisch.

»Kann ich Ihnen noch etwas anderes bringen?«, fragt der Kellner mit einem routinierten Lächeln.

»Ich nehme eine Piña Colada.«

»Du hasst Kokosnuss«, informiert mich Ed Larsen, der nach hinten gelehnt auf seinem Platz sitzt.

»Oh.«

»Versuch’s mit einer Margarita.«

»Was er gesagt hat«, teile ich dem Kellner mit, der vermutlich denkt, dass wir irgendein versautes Dominanzspielchen spielen.

Ed bestellt ein weiteres Leichtbier und beobachtet mich die ganze Zeit über. Ich weiß nicht, ob seine unverhohlene Begutachtung besser oder schlimmer ist als die verstohlenen Blicke meiner Schwester. Er schlug vor, dass wir zu ihm gehen, um zu reden. Ich lehnte ab. Ich kenne den Kerl nicht und fühlte mich nicht sicher. Also gingen wir stattdessen hierher. Die Bar ist dunkel und so gut wie leer, denn es ist Nachmittag. Aber wenigstens ist es ein öffentlicher Ort.

»Wie alt bist du?«, frage ich.

Als Reaktion darauf zieht er seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche und reicht mir seinen Führerschein.

»Danke.« Informationen sind gut. Dadurch erhalte ich mehr eindeutige Fakten. »Du bist sieben Jahre älter als ich.«

»Ja.«

»Wie ernst war das mit uns? Waren wir lange zusammen?«

Er leckt sich über die Lippen und wendet sich ab. »Gibt es nicht jemand anderen, mit dem du über all das reden kannst? Deine Schwester?«

Ich schaue ihn an.

Er runzelt die Stirn, seufzt dann aber. »Wir waren ungefähr ein halbes Jahr zusammen, bevor wir zusammenzogen. Das hielt dann acht Monate.«

»Also war es durchaus was Ernstes.«

»Wenn du das sagst.« Seine Miene ist nicht glücklich. Aber ich muss es wissen.

»Habe ich dich betrogen?«

Nun gesellt sich ein finsterer Blick zu dem Stirnrunzeln.

Trotz seiner »Leg dich nicht mit mir an«-Ausstrahlung fällt es mir schwer, nicht zu lächeln. Der Mann kann sich genetisch gesehen wirklich glücklich schätzen. Er ist so hübsch. Auf männliche Weise.

Ich bin es nicht gewohnt, mich zu Menschen hingezogen zu fühlen, und er sorgt dafür, dass mein Herz heftiger pocht und südlich meines Bauchnabels alles kribbelt, was für mich völlig neu und ein wenig überwältigend ist. Das alles führt dazu, dass ich kichern und das Haar herumschleudern will wie eine hohlköpfige Idiotin.

Aber das tue ich nicht. »Es ist nur so, dass ich sehr deutliche Schwingungen spüre, die mir irgendwie das Gefühl geben, dass ich in dieser ganzen Sache die Schuldige bin.«

»Nein, du hast mich nicht betrogen«, knurrt er. »Und ich habe dich auch nicht betrogen, egal was du vielleicht gedacht hast.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Hm. Also haben wir uns deswegen getrennt?«

»Das ist doch bescheuert. Eigentlich war es schon beim ersten Mal bescheuert.« Er wendet sich wieder ab und trinkt sein Bier aus. »Herrgott.«

Ich warte einfach schweigend ab.

»Du hast keine Erinnerungen, keinerlei Gefühle in Bezug auf mich?«

»Nein, nichts.«

In seinem Kiefer zuckt ein Muskel. Seine Hände liegen zu Fäusten geballt auf dem Tisch.

»Das nennt man traumatische retrograde Amnesie«, sage ich im Versuch, es ihm zu erklären. »Das, was man als mein ›episodisches Gedächtnis‹ bezeichnet, ist verschwunden – all meine Erinnerungen an Ereignisse und Personen und die Vergangenheit. Persönliche Fakten. Aber ich kann immer noch Kaffee kochen, ein Buch lesen oder Auto fahren. Solche Dinge eben. Dinge, die ich ständig gemacht habe, verstehst du? Momentan darf ich allerdings kein Auto fahren. Mein Wagen steht vorm Haus meiner Schwester und verstaubt. Es hieß, ich solle noch ein wenig warten, bis ich mich wieder hinters Steuer setze, damit ich mir sicher sein kann, dass ich damit zurechtkomme. Außerdem ist offenbar der Teil meines Gehirns, der für Hemmungen, soziale Zurückhaltung und so weiter verantwortlich ist, ein wenig durcheinandergeraten, also reagiere ich nicht immer richtig oder zumindest nicht unbedingt so, wie man es erwarten würde, wenn man mein früheres Ich kennt.«

»Dein früheres Ich?«

Ich zucke mit den Schultern. »Die Bezeichnung ist für sie ebenso gut wie jede andere.«

»Sie ist du. Du bist sie.«

»Mag sein. Aber für mich ist sie nach wie vor eine vollkommen Fremde.«

»Herrgott«, murmelt er erneut.

Das ist unangenehm. »Ich verstöre dich. Tut mir leid. Aber es gibt Dinge, die ich wissen muss, und ich hoffe, dass du mir dabei helfen kannst, ein paar von ihnen herauszufinden.«

Unsere Getränke kommen. Der Rand des Margaritaglases ist mit Salz bedeckt und der Inhalt riecht nach Zitrone. Ich nehme einen Schluck und lächle. »Das ist lecker.«

Er greift ernst nach seinem Bier. Das Tattoo auf seinem Unterarm verzerrt sich, als sich der Muskel darunter bewegt. Seine Tattoos decken zahlreiche Themen ab. Eine Flasche mit der Aufschrift »Gift« mit einem Totenkopf und gekreuzten Knochen inmitten einer Ansammlung aus Rosen. Ein anatomisches Herz. Eine Tätowiermaschine (sehr meta). Ein Leuchtturm, an dem sich Wellen brechen. Ich frage mich, ob es Portland Head Light ist, der berühmte Leuchtturm von Cape Elizabeth. Letztens lief darüber etwas im Fernsehen. Seine Tattoos sind auf gewisse Weise hypnotisierend. So als würden sie in ihrer Gesamtheit eine Geschichte erzählen, wenn man sie nur verstehen könnte.

Ed schiebt sein Bier beiseite. »Also nur weil du dich nicht mehr an alles erinnerst, soll ich den ganzen Mist, den du abgezogen hast, vergessen und dir helfen? Weil das alles dein ›früheres Ich‹ war und nicht die Frau, die jetzt vor mir sitzt?«

»Das ist natürlich deine Entscheidung.«

»Danke, Clem.« Seine Stimme klingt verbittert und ist von einer Art kontrolliertem Zorn erfüllt. »Das ist wirklich verdammt großherzig von dir.«

Ich zucke zusammen, da ich es nicht gewohnt bin, dass Leute in meiner Gegenwart fluchen. Nicht dass er nicht schon seit dem Moment unserer Begegnung ständig allgemein in meine Richtung geflucht hätte, aber aus irgendeinem Grund hat es dieses Mal eine Wirkung auf mich. Ich muss mich einfach fragen, wie wütend er genau werden kann. Der Mann ist größer als ich, und seine Schultern sind breiter als meine. Und ich habe bereits eine Kostprobe seiner Stärke erhalten.

»Mist.« Er seufzt, als er meine Reaktion bemerkt. »Clem, tu … tu das nicht. Ich würde dir niemals wehtun.«

Ich bin mir nicht sicher, was ich sagen soll, also trinke ich noch etwas von meiner Margarita.

»Du kennst mich nicht, das ist mir klar«, sagt er mit weicherer, sanfterer Stimme. »Schau mich an, Clementine.«

Als ich es tue, sind seine Augen voller Bedauern. Er wirkt nun nicht mehr wütend, sondern traurig.

»Ich würde dir niemals wehtun, das schwöre ich. Bei mir bist du sicher.«

»Okay.« Ich nicke langsam. »Es ist ein dummer Name, findest du nicht?«

»Deiner? Ich weiß nicht. Ich mochte ihn immer.«

Ich lächle beinahe.

»Du wohnst bei deiner Schwester?«

»Ja.«

»Wie kommst du damit zurecht?«

»Es ist in Ordnung.«

Er hebt ganz kurz einen Mundwinkel. »Du und Frances habt euch immer wegen irgendetwas gestritten.«

»Das ergibt tatsächlich Sinn.« Ich lache. »Mochte sie dich?«

»Das müsstest du sie fragen.«

»Oh, ich habe eine Menge Fragen an sie.«

Als er mich dieses Mal anschaut, wirkt sein Blick eher nachdenklich. So als würde er das alles verarbeiten. Ich habe ihn mit einer Menge Informationen bombardiert und ich weiß, dass es eine Weile dauert, das im Kopf alles zu sortieren. Also trinke ich meine Margarita und beobachte die Frau hinter der Theke und die beiden Männer, die auf Barhockern sitzen und sich unterhalten. Auch wenn es hier ein wenig sauberer sein könnte, mag ich den Laden. Hier herrscht eine entspannte Atmosphäre.

Vielleicht ist das meine Art von Laden.

»Ich scheine nicht viele Freunde zu haben«, sage ich, als mir eine Frage in den Sinn kommt. »War ich schon immer so, in gewisser Weise eine Einzelgängerin?«

Er schüttelt den Kopf. »Du hattest Freunde. Aber offenbar hast du zu allen den Kontakt abgebrochen, als du mich verlassen hast.«

»Warum?«

»Keine Ahnung«, sagt er und lässt die Schultern ein wenig nach unten sacken. »Vielleicht wolltest du einen Neuanfang. Vielleicht wolltest du nicht über die Trennung reden oder so was. Vielleicht wolltest du einfach nur deine Ruhe haben.«

Hm.

»Gib mir dein Handy, ich trage meine Kontaktdaten ein.« Er streckt mir eine Hand entgegen. »Du hast mich doch sicher aus deiner Kontaktliste gelöscht.«

»Oh, ich habe kein Handy. Meine Handtasche und alles, was darin war, wurden mir bei dem Überfall gestohlen.«

Er zieht die Augenbrauen hoch. »Du läufst ohne Handy durch die Gegend? Clem, das ist nicht sicher.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir mein Handy beim letzten Mal nicht nennenswert geholfen hat.«

»Trink aus.« Er nickt in Richtung des Glases. »Ich bringe dich zu Frances. Unterwegs legen wir noch einen Zwischenstopp bei einem Laden ein und besorgen dir ein paar Sachen.«

Das ist eine interessante Idee. Und er scheint ein netter Mann zu sein, dem ich früher mal wichtig war. Aber er hat kaum über die Trennung gesprochen, weshalb ich vermute, dass sie ganz furchtbar gewesen sein muss. Trotz seiner Beteuerungen könnte es sehr gut sein, dass er mich betrogen hat. Mir das Herz gebrochen. Mein Leben in Fetzen gerissen. So was in der Art.

Denn was sollte jemand, der fremdgeht, schon sagen?

»Du solltest auch ein Pfefferspray bei dir haben, wenn man bedenkt, dass sie den Mistkerl, der dir das angetan hat, nicht geschnappt haben. Eins von denen, die man am Schlüsselbund befestigen kann.« Er zieht ein wenig Geld aus seiner Brieftasche und legt es auf den Tisch. Dann hält er inne. »Was?«

»Ich habe nur nachgedacht.«

»Ja?« Er legt den Kopf schief, wodurch ihm eine Strähne seines braunen Haars über die Augen fällt. »Worüber denn?«

»Über eine Menge Dinge«, sage ich. »Du bist plötzlich sehr hilfsbereit. Das macht mich misstrauisch. Ich meine, warum solltest du überhaupt mit mir befreundet sein wollen, wenn man unsere Vergangenheit bedenkt?«

»Ich habe kein Interesse daran, mit dir befreundet zu sein.«

»Oh?«

»Glaub mir, dazu wird es definitiv nicht kommen.« Er lehnt sich zurück und betrachtet mich mit einem leichten Lächeln. Heilige Scheiße, sein Lächeln … es ist ein kleines bisschen gemein und doch sehr wirkungsvoll.

Ich rutsche auf meinem Platz herum. »Ich verstehe.«

»Nein, du verstehst nicht«, widerspricht er. »Clem, du hast mich vollkommen fertiggemacht. Du hast das mit uns versaut. Und das werde ich dir nie verzeihen, ob du dich nun daran erinnerst oder nicht. Aber niemand verdient es, überfallen zu werden und das Gedächtnis zu verlieren. Also werde ich deine Fragen beantworten und dafür sorgen, dass du ein Handy bekommst und etwas bei dir hast, um dich zu verteidigen. Danach bist du auf dich allein gestellt.«

»Du hilfst mir nur heute?«

»Nein, deswegen gebe ich dir meine Nummer. Wie ich schon sagte: Wenn dir eine Frage einfällt, die du mir stellen willst, kannst du mir schreiben, und ich werde sie dir beantworten, sofern ich es kann.«

»Ich kann dir jede beliebige Frage schicken.« Wenn er die Regeln für unsere zukünftigen Interaktionen festlegen will, kann ich damit arbeiten. »Aber das ist alles.«

»Ja.«

»Okay. Das ergibt Sinn.« Ich nicke. »Ähm, danke. Ich danke dir.«

»Ein Dankeschön reicht aus. Du musst es nicht zweimal sagen.«

Ich lächle und bin aus irgendeinem Grund wieder nervös. »Ja, es ist nur … Ach, vergiss es.«

»Wann immer du so weit bist«, sagt er und rutscht aus der Sitznische. Was bedeutet, dass er jetzt gehen will. Ich weiß nicht, warum die Leute nicht einfach sagen, was sie meinen.

Ich trinke meine Margarita aus und wische mir das Salz von den Lippen. Als ich Ed dabei erwische, wie er mich beobachtet, wendet er sich mit einer ruckartigen Bewegung ab. Seltsam. Für einen so großen Mann sind seine Bewegungen bislang größtenteils fließend, beinahe anmutig gewesen. Ich schätze, er will mich loswerden. Ich kann ihm keinen Vorwurf machen.

»Hey, wie war dein Tag?« Frances lässt sich mit einer Wasserflasche in der Hand auf das andere Ende der Couch fallen. »Du hast ein Handy?«

»Ja. Ich war vorsichtig, als ich unterwegs war«, sage ich und komme damit der Frage, die sie unausweichlich als Nächstes gestellt hätte, zuvor.

»Gut.«

Meine Schwester wäre vermutlich am glücklichsten, wenn ich mich den Rest meines Lebens zu Hause verstecken und in Sicherheit bleiben würde. Ich schließe auch nicht aus, dass sie mich am liebsten in Watte packen würde. Aber das kann sie vergessen. Ich brauche meine Freiheit und die Möglichkeit, meinem Leben selbst auf den Grund zu gehen.

Sie greift nach der Fernbedienung und fängt an zu zappen. Irgendeine Serie über Leute in einem Raumschiff, die Abendnachrichten, eine Frau, die über einen Kerl namens Heathcliff singt, ein Tennisspiel. Schließlich entscheidet sie sich für eine Tierdoku.

»Die arme Gazelle«, murmelt sie und trinkt einen Schluck Wasser. »Was willst du zum Abendessen haben?«

»Pizza.«

»Schon wieder?«, fragt sie lächelnd.

Ich arbeite mich durch die Speisekarte der örtlichen Pizzeria, um meine Lieblingssorte herauszufinden. Ich habe eine Woche gebraucht, aber mittlerweile habe ich es auf zwei Sorten eingegrenzt: entweder Kürbis-Spinat-Feta oder Tomate-Basilikum-Mozzarella. Aus irgendeinem Grund sagen mir die vegetarischen Sorten mehr zu. Manchmal fixiere ich mich ein bisschen zu sehr auf gewisse Dinge. Zum Glück gehört Pizza dazu.

»Ich habe mich heute mit Ed getroffen«, sage ich.

Ihr ganzer Körper spannt sich an. »Wirklich?«

»Warum hast du mir nichts von ihm erzählt?«

»Weil er dir das Herz gebrochen hat.« Sie stellt die Wasserflasche ab und dreht sich zur Seite, um mich anzuschauen. »Clem, du warst völlig am Ende, ein Häufchen Elend, das nur noch geweint hat. Es war beinahe schlimmer als die Zeit unmittelbar nach Moms Tod. Nach allem, was passiert ist, brauchst du ihn nicht auch noch zurück in deinem Leben. Die Tatsache, dass du endlich in der Lage bist, dich seinetwegen nicht mehr zu zerfleischen, ist der einzige Lichtblick, den diese ganze Sache mit sich gebracht hat.«

»Er hat gesagt, dass er mich nicht betrogen hat.«

Sie seufzt. »Was das betrifft, habe ich ehrlich keine Ahnung. In dem Monat vor dem Überfall hast du dich geweigert, über ihn oder das, was zwischen euch beiden vorgefallen war, zu reden. Also habe ich im Grunde genommen einfach deine Wünsche respektiert.«

»Hmm.«

»Du warst verrückt nach dem Mann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du ihn ohne einen verdammt guten Grund verlassen hättest.«

Ist Ed der Typ, der zum Fremdgehen neigt? Ich hatte nicht den Eindruck, dass er lügt, und in letzter Zeit bin ich recht gut darin geworden, Leute zu beobachten. Ich versuche, sie zu durchschauen, um zu erkennen, was sie verbergen wollen und was sie mir verschweigen. Zwischen dem, was die Leute sagen, und dem, was sie tun, liegt oft ein himmelweiter Unterschied. Aber bei Ed hatte ich dieses Gefühl nicht. Tatsächlich bin ich mir nicht mal sicher, dass ihm meine Meinung über ihn noch wichtig genug ist, um mich anzulügen. Es ist ja nicht so, als müsste sich der Mann allzu sehr anstrengen, um jemanden zu finden, der den Platz meines früheren Ichs einnehmen kann, falls er darauf aus ist.

»Wie hast du von ihm erfahren?«, fragt Frances leise.

»Was? Oh. Ich bin die Straße runter gegangen, um mir einen Kaffee zu holen, und jemand in der Schlange hat seine Arbeit erkannt. Offenbar ist sein Stil so gut wie unverkennbar.« Ich nicke in Richtung meines Tattoos. »Also bin ich in seinen Laden gegangen. Er war nicht erfreut, mich zu sehen. Aber wir haben miteinander geredet, und er hat mir ein paar Fragen beantwortet. Ich bezweifle, dass ich ihn je wiedersehen werde.«

»Eigentlich mochte ich den Kerl«, sagt sie. »Er schien mir immer ganz anständig zu sein, aber ich habe ihn wohl falsch eingeschätzt. Trotzdem hätte ich dich zu ihm gebracht, wenn ich gewusst hätte, dass du ihn sehen wolltest.«

»Ich bin ein großes Mädchen, Frances. Ich kann mir ein Taxi nehmen.«

Sie lehnt den Hinterkopf an die Couch und starrt zur Decke. »Er hatte mit dem, was dir zugestoßen ist, nichts zu tun. Ich habe ihn überprüft. Zum Zeitpunkt des Überfalls waren in den sozialen Medien überall Fotos, die ihn auf einer Tattoomesse in Chicago zeigten.«

»Warum hast du denn überhaupt gedacht, dass er etwas damit zu tun haben könnte?«

»Ich bin nur vorsichtig.«

»Eine Woche zuvor wurde in derselben Gegend eine andere Frau überfallen und ausgeraubt. Der Polizist, der mich im Krankenhaus befragte, meinte, dass es gut sein könne, dass es zwischen den Überfällen eine Verbindung gebe.« Die Worte kommen mir immer schneller über die Lippen, bis ich mich verhaspele. »Es war ein zufälliger Angriff. Er galt nicht mir persönlich.«

»Reg dich nicht auf. Wie ich schon sagte, ich bin vorsichtig.« Sie zuckt mit den Schultern. »Das gehört zu meinem Job. Als Polizistin. Als deine Schwester. Das schadet doch nicht.«

»War er je …?« Ich schlucke. »War er mir gegenüber je gewalttätig? Oder sonst jemandem gegenüber?«

»Tattoostudios sind meiner Erfahrung nach nicht gerade die friedlichsten Orte der Welt.« Sie runzelt die Stirn. »Aber nein, Gewalttätigkeit gehörte nicht zu Eds Fehlern.«

»Nach dem, was ich im Nachmittagsprogramm im Fernsehen gesehen habe, gehen Menschen ständig fremd. Das ist nichts Ungewöhnliches und führt nur selten dazu, dass man versucht, die andere Person umzubringen.«

Frances kneift einen Moment lang die Augen zu. »Mir ist klar, dass dein Wissen begrenzt ist, aber glaub mir, wenn ich dir sage, dass das Nachmittagsprogramm im Fernsehen das Leben nicht allzu genau widerspiegelt. Und ich habe genug Opfer von häuslicher Gewalt gesehen, um bei Situationen, in denen es kürzlich eine Trennung gab, misstrauisch zu sein. Aber wie ich schon sagte, er hat auf mich nie wie ein gewalttätiger Mensch gewirkt.«

Sie hat recht. In zweierlei Hinsicht.

Der gequälte Ausdruck auf ihrem Gesicht ist mir vertraut. Das Gleiche gilt für ihre bevorzugte Miene, bei der sie die Augen weit aufreißt und den Mund ein klein wenig öffnet. Damit drückt sie Schock oder Überraschung aus. Meine Schwester ist eine ziemlich dominante Persönlichkeit. Und ich schätze, dass mein früheres Ich stiller war und weniger dazu neigte, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen, ohne an die Konsequenzen zu denken. Doktor Patel hat mich gewarnt, dass das ein Problem darstellen könnte.

Im Fernsehen zerrt ein Krokodil ein Zebra ins Wasser. Es ist eine Menge Gezappel und Blut zu sehen. Wenigstens ist es keine sinnlose Gewalt, denn das Krokodil muss schließlich fressen. Ich stelle mir gerne vor, dass mein Angreifer verzweifelt, ausgehungert und allein war. Vielleicht vom Drogenrausch ganz benebelt. Das ist zwar immer noch keine Entschuldigung für die Brutalität des Überfalls, aber es hilft ein wenig. Ich kann nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, mich zu verstecken, vor allem Angst zu haben und die Zivilisation zu hassen.

»Er hat mir ein kleines Pfefferspray gekauft«, sage ich.

»Wie romantisch.« Meine Schwester schnappt sich ein Kissen und stopft es sich hinter den Kopf. »Eigentlich ist das eine ziemlich gute Idee, nun, da du wieder vor die Tür gehst. Das Gleiche gilt für das Handy. Die letzten Tage sind nur so hektisch gewesen, dass ich noch nicht dazu gekommen bin.«

»Du hast schon genug getan. Ich muss lernen, auf mich selbst aufzupassen.«

Einen Augenblick lang erwidert sie nichts. »Hat er auch das Handy bezahlt?«

»Nein, das habe ich übernommen.«

»Hmm.« Sie seufzt. »Du hättest ohnehin irgendwann von ihm erfahren müssen. Dein Name steht immer noch auf der Hypothek für die Eigentumswohnung, die ihr euch geteilt habt. Er muss dir die Hälfte der Anzahlung zurückzahlen.«

»Wirklich? Das hat er mir gegenüber gar nicht erwähnt.«

»Manchmal fällt es den Leuten schwer, sich daran zu erinnern, dass du dich an nichts erinnerst.«

»Stimmt.«

Wieder schweigt sie einen Moment. »Soweit ich weiß, war er gerade dabei, sich um den Papierkram zu kümmern, um deinen Namen aus dem Vertrag zu tilgen. Und ich glaube, du hast ihm Zeit gegeben, damit er dir das Geld zurückzahlen kann. Aber du wirst ihn fragen müssen, wie die Abmachung genau lautete. Du hast deine Hälfte von Moms Lebensversicherung in diese Wohnung gesteckt.«

»Also bin ich eine Wohnungseigentümerin … gewissermaßen. Nicht dass ich dort willkommen wäre.« Ich starre auf den Fernseher und versuche, diese ganzen neuen Informationen zu verarbeiten. »Noch nie hat mich jemand so feindselig angeschaut. Er kann mich wirklich nicht leiden.«

»Und wie fühlst du dich deswegen?«

Ich muss immer lächeln, wenn sie versucht, die Therapeutin zu spielen. Als hätte ich nicht bereits einen Gutteil meines zweiten Lebens in der Gesellschaft echter Therapeuten verbracht. »Was ihn betrifft, fühle ich nur sehr wenig, Frances. Warum sollte ich auch etwas fühlen? Der Kerl ist ein Fremder. Und bevor du fragst, nein, nichts kam mir vertraut vor.«

Sie nickt einfach nur.

»Du hättest mir von ihm erzählen sollen.«

»Das hätte ich irgendwann schon noch getan.«

Sie entschuldigt sich nicht für ihre Lüge durch Auslassung. Dafür dass sie mir nichts von Ed erzählt hat. Deswegen brauche ich neue Informationsquellen. Ich kann nicht zulassen, dass meine Schwester entscheidet, was ich weiß. Sie darf nicht versuchen, mir vorzuschreiben, wer ich war oder was für eine Person ich werden könnte.

Was immer sie auch für Gründe hat, mir gewisse Dinge vorzuenthalten, ich darf das nicht zulassen. Wir sind eine Familie, aber manchmal bin ich mir nicht ganz sicher, ob wir auch Freundinnen sind.

2. KAPITEL

Clem: Hey. Frage: Wie würdest du meine Persönlichkeit beschreiben?

Ed: Du warst immer jemand, der sich um alles Sorgen gemacht hat. Manchmal ein bisschen zickig. Detailversessen.

Clem: Klingt schrecklich.

Ed: Vielleicht bin ich nicht die richtige Person, um diese Frage zu beantworten.

Ed: Damals hast du süß gewirkt.

Ed: Ich habe keine Ahnung, was du jetzt bist.

Clem: Ich auch nicht.

Clem: Womit habe ich früher meine Zeit verbracht?

Ed: Lesen, Fernsehen, an den Wochenenden sind wir meistens ausgegangen oder haben Freunde zu uns nach Hause eingeladen.

Detailversessen ergibt Sinn. Mein früheres Ich hat in einer Bank gearbeitet. Wenn man meine aktuelle Situation bedenkt, stehen die Chancen, dass ich erneut eine Ausbildung mache und in meinen Beruf zurückkehre, eher schlecht. Doktor Patel warnte mich, dass die ersten zwei Jahre die schlimmsten sein würden. Verletzungen am Gehirn sind tückisch. »Mögliche kognitive und verhaltensrelevante Probleme. Eine lange Liste mit Nebenwirkungen.« Also muss ich herausfinden, was ich mit meinem Leben anfangen will. Ich habe ein paar Ersparnisse, aber die werden mir irgendwann ausgehen. Nach der Trennung von Ed war ich wohl vorübergehend zu Frances gezogen. Und auch wenn sie mir bisher nie das Gefühl gegeben hat, dass ich sie störe, habe ich doch langsam den Eindruck, dass sie gern wieder ein wenig Privatsphäre hätte.

Ed fand mein früheres Ich süß. Ich bin beinahe eifersüchtig auf mein früheres Ich. Was absolut keinen Sinn ergibt.

Das Handy geht in den Standbymodus. Meine Schwester wohnt zwanzig Minuten von der Stadt entfernt in einem Vorort. Manchmal macht mich die Stille nervös. Aber momentan fühlt sie sich friedlich an.

Clem: Wo haben wir gewohnt?

Ed: In einer Eigentumswohnung in der Nähe des Studios.

Ed: Ich wohne immer noch dort. Die Erinnerungen sind ätzend, aber es ist praktisch.

Clem: Frances sagte, wir hätten die Wohnung zusammen gekauft.

Ed: Ja. Du hast mir sechs Monate Zeit gegeben, um dir deinen Anteil der Anzahlung zurückzuzahlen. Hat sich das geändert? Ich würde die Wohnung lieber nicht verkaufen, wenn es sich vermeiden lässt.

Clem: Lass uns bei der ursprünglichen Vereinbarung bleiben.

Ed: Gut.

Clem: Was war meine Lieblingsfarbe?

Ed: Solltest du so was nicht selbst entscheiden?

Ed: Geh nach draußen. Schau dir ein paar Blumen an. Halte nach einem Regenbogen Ausschau. Entscheide dich.

Clem: Ich habe mich das nur gefragt. Ich gehe später raus, wenn ich keine Kopfschmerzen mehr habe.

Ed: Du hast Kopfschmerzen? Ist das normal? Kopfschmerzen?

Clem: Das ist halb so wild.

Ed: Veilchenblau war deine Lieblingsfarbe. Deswegen dein Tattoo.

Das ergibt ebenfalls Sinn. Unter den Klamotten, die sie hinterließ, befinden sich eine Menge Sachen in dieser Farbe. Allerdings ist meine Entscheidung in diesem Punkt noch nicht endgütig gefallen. Vielleicht suche ich mir eine andere Farbe aus. Ich weiß es noch nicht.

Clem: Was ist mit Essen?

Ed: Italienisch.

Ed: Versuch’s mal bei Vito’s in Old Port.

Diese Information sorgt dafür, dass ich mich angesichts der letzten Mahlzeit meines früheren Ichs ein wenig besser fühle. Was ihr zugestoßen ist, ist nach wie vor furchtbar. Aber wenigstens konnte sie davor noch ein gutes Essen genießen. Und wenn der Überfall nicht stattgefunden hätte, wäre ich niemals geboren worden. Die Situation ist kompliziert. Seien wir ehrlich. Ich gehe vermutlich vollkommen falsch mit meiner Amnesie um – so falsch wie es nur geht.

Clem: Was ist dein Lieblingsessen?

Ed: Du musst nichts über mich wissen. Sonst noch etwas?

Clem: Nein. Danke.

So viel dazu, eine Unterhaltung zu führen. Es ist ja nicht mal so, als würde mich interessieren, was er gern isst. Nicht wirklich. Ich habe nur versucht, mir unser gemeinsames Leben vorzustellen. Wie wir zusammen als glückliches Paar in einem Restaurant sitzen, reden und lachen. Doch ich sehe nur vor mir, wie er mir am Tisch gegenübersitzt und mich wütend und distanziert anstarrt.

Am liebsten würde ich ihn fragen, ob er mich geliebt hat, ob wir ineinander verliebt waren. Aber wenn er mir nicht mal verraten will, was sein Lieblingsessen ist, sind unsere emotionalen Zustände mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ein absolutes Tabuthema. Möglicherweise würde er sogar wütend werden und den Kontakt zu mir abbrechen. Das Risiko ist zu groß.

Ich lege mein Handy auf den Nachttisch, schließe die Augen und versuche zu schlafen.

Ich weiß nicht, wo der pornografische Traum mit Ed in der Hauptrolle herkommt. Aber er ist sehr angenehm. Der Traum, in dem ich mich in der Dunkelheit verirrt habe und warmes, klebriges Blut spüre, ist deutlich weniger angenehm.

Seit Ed und ich uns geschrieben haben, sind drei Tage vergangen.

In der Zwischenzeit habe ich meine Habseligkeiten einer gründlichen Untersuchung unterzogen. Was die Klamotten im Schlafzimmerschrank betrifft, kann ich vermelden, dass wir Arbeitskleidung für die Bank und eine Mischung aus Sommer- und Winterkleidung haben. Letztere ist größtenteils in hellen, fröhlichen Farben gehalten, und einige Teile weisen blumige Muster auf. Ein paar Sachen sind in Ordnung, aber der Großteil fühlt sich einfach nicht richtig für mich an. In punkto Schuhe verfüge ich über einige Paare mit eher flachen Absätzen, einige mit Keilabsätzen, Sandalen, eine Handvoll Stiefelpaare in Knöchel- und Kniehöhe sowie Turnschuhe.

In der Garage stehen acht Kisten. Eine ist mit allerlei altem Papierkram und Familienfotos gefüllt, die ich mir bereits angesehen habe. Als ich im Krankenhaus war, brachte Frances sie vorbei, um zu sehen, ob ich irgendwas erkennen würde. Das passierte jedoch nie. Die anderen sieben Kisten sind voller Bücher. Es sind sehr viele Bücher. Offenbar hatte Ed recht damit, dass ich gern lese.

Die abgenutztesten, die so aussehen, als hätte ich sie am häufigsten gelesen, nehme ich mit nach oben. Anne auf Green Gables vom L. M. Montgomery, Die Schöne und das Ungeheuer von Robin McKinley, The Stand von Stephen King und Stolz und Vorurteil von Jane Austen. Den Klappentexten nach zu urteilen ist das eine durchaus bunte Mischung.

Endlich ist es mir auch gelungen, Zugang zu meinem E-Mail-Konto und anderen digitalen Dingen zu erhalten. In den E-Mails und Textnachrichten steht nichts Interessantes. Und jegliche Erwähnungen oder Fotos, die aus der Zeit meiner Beziehung mit Ed stammen, sind verschwunden. Was auch immer passiert ist, mein früheres Ich schien fest entschlossen, sämtliche Spuren des Mannes und alles, was mit ihm zu tun hat, auszulöschen.

Auf ihrer Kontaktliste stehen nicht viele Leute. Engere Familienmitglieder gibt es so gut wie keine, und auch die Freunde sind rar gesät. Die Ausnahmen bilden eine Kollegin aus der Bank, eine nett klingende Frau aus der Highschool und ein Kerl, mit dem sie früher mal zusammenwohnte (rein platonisch, soweit ich das beurteilen kann). Andere Leute gibt es nicht. Ihrer Anrufliste und ihren Textnachrichten nach zu urteilen hatte sie in den letzten Monaten mit keinem dieser Menschen Kontakt. Sie war eine ziemlich miese Freundin, und ich nehme es ihr irgendwie übel, dass sie mir nicht ein paar mehr Informationsquellen über mein früheres Leben hinterlassen hat.

Aber vielleicht bin ich auch zu streng mit ihr, wenn man ihre Trennung und das alles bedenkt. Drei Freunde/Bekannte ist keine schlechte Menge. Das genügt, um hin und wieder mit jemandem einen Film zu schauen oder einen Kaffee zu trinken, wenn man will.

Es ist ja nicht so, als hätte mein neues Ich es eilig, sich mit jemandem anzufreunden.

Da wir gerade von Kaffee sprechen, ich stehe im örtlichen Café in der Schlange an. Der Laden ist klein, aber sehr beliebt, hat gelbe Wände und schimmernde Aluminiummöbel. Er liegt ungefähr fünfzehn Gehminuten von Frances’ Wohnung entfernt, und ich gehe jeden Morgen dorthin. Auf diese Weise absolviere ich mein Training, während ich gleichzeitig meine empfohlene tägliche Dosis Koffein erhalte und mich den Leuten draußen stelle. Meiner Schwester wäre es lieber, wenn ich mit dem Ausgehen warten würde, bis sie zu Hause ist. Aber ich lasse mich nicht gern an die Hand nehmen. Ich meine, das ist einfach nicht machbar. Auf diese Weise kann man sein Leben nicht …

Die einzige Warnung, die ich erhalte, ist ein seltsamer Geschmack im Mund. Dann wird mein linker Arm plötzlich steif. Alles wird schwarz.

Ich höre Ed, bevor ich ihn sehe. Das schwere Poltern seiner Schritte und seine erhobene Stimme, mit der er fordernd fragt: »Wo ist sie?«

»Sir, bitte …«

Der Vorhang, der mein Bett umgibt, wird aufgezogen, und der Mann erscheint höchstpersönlich. Sein Blick ist wild, und auf seiner Haut schimmert Schweiß. Er sieht aus, als wäre er den ganzen Weg bis hierher gerannt. Natürlich sieht er verschwitzt und schnaufend gut aus. Der Mann verfügt über Präsenz. Ich hingegen sehe vermutlich ganz furchtbar aus.

»Ich wusste nicht, dass man dich angerufen hat«, sage ich.

»Dein Gesicht … heilige Scheiße. Was zum Teufel ist passiert?«

»Ich hatte einen kleinen Anfall. Es ist alles in Ordnung. Das passiert nach Hirnverletzungen manchmal.«

»Einen Anfall?«

»Sie dürfen gehen.« Doktor Patel steht ruhig auf. Zum Glück war er hier gerade auf Visite bei einem anderen Patienten. Sogar Pfleger Mike kam vorhin kurz vorbei, um nach mir zu sehen. Ganz wie in alten Zeiten. »Wir sehen uns zu Ihrem nächsten Termin, Clementine. Nicht vergessen.«

»Der war gut.« Ich versuche zu lächeln. Das ist so was wie unser Insiderwitz, auch wenn er nicht besonders lustig ist. Aber ich habe festgestellt, dass ich in letzter Zeit eine gewisse Wertschätzung für Galgenhumor entwickelt habe. Allerdings fühle ich mich gerade in jeglicher Hinsicht ziemlich elend.

Ed setzt sich auf mein Krankenhausbett und starrt auf mich herunter. Dann umfasst er mein Kinn und dreht meinen Kopf sanft hin und her, um den Schaden zu begutachten. Von ihm berührt zu werden fühlt sich seltsam an. Er scheint das Gefühl zu haben, dass er ein gewisses Recht auf meinen Körper hat. Ich kann nicht leugnen, dass ich erfreut bin, ihn zu sehen, aber das ist nicht in Ordnung. Abgesehen von ein paar unbeholfenen Umarmungen von Frances bestand der einzige körperliche Kontakt, den ich je hatte, in den desinteressierten Berührungen des medizinischen Personals, das seiner Arbeit nachging.

»Ed.« Ich schiebe seine Hand weg und setze mich langsam auf. »Nicht.«

»Tut mir leid. Kann ich helfen? Geht es dir gut? Solltest du dich bewegen?«

»Es geht mir gut. Wirklich.«

»Clem, dein halbes Gesicht ist grün und blau«, sagt er fassungslos. »Das entspricht nicht meiner Definition von ›gut‹.«

»Es hätte schlimmer kommen können. Wenigstens bin ich nicht auf die verletzte Seite gefallen, als ich bewusstlos geworden und gestürzt bin.«

»Bist du jetzt etwa Jessica Jones und nichts kann dir was anhaben?«

Ich will die Stirn runzeln, doch das tut weh, also höre ich auf. »Ich weiß nicht, wer das ist.«

Er lässt den Kopf hängen und reibt sich den Nacken. Ich bin mir ziemlich sicher, das bedeutet, dass ich ihn wütend mache. Sie hätten ihn nicht dazu zwingen sollen, den ganzen Weg bis hierher zu laufen. Der Himmel weiß, womit er gerade beschäftigt war. Er trägt Jeans und Turnschuhe, ein Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln sowie eine dunkle Sonnenbrille. Vielleicht war er bei der Arbeit. Vielleicht hat er sich gerade für ein Date zum Mittagessen fertiggemacht. Ich weiß nicht, ob mir das etwas ausmachen würde oder nicht. Nicht dass ich irgendeinen Anspruch auf ihn hätte. Aber es wäre trotzdem besser, gar nicht erst darüber nachzudenken.

Wenigstens fühle ich mich so elend, dass mein Körper dieses Mal nicht mit diesem besorgniserregenden Kribbeln auf ihn reagiert.

»Warum haben sie nicht Frances angerufen?«, frage ich.

»Das haben sie. Sie konnte nicht von der Arbeit weg, also rief sie mich an«, erklärt er nicht allzu geduldig. »Vermutlich blieb ihr nichts anderes übrig. Außerdem war ich wahrscheinlich am nächsten dran. Der Arzt hat gesagt, dass du gehen kannst?«

»Ja. Wenn du mir aus dem Weg gehen würdest?«

Er steht auf, und ich schwinge die Beine über den Rand des Betts. Alles fühlt sich größtenteils okay an. Alle meine Körperteile scheinen zu funktionieren.

»Brauchst du irgendwelche Medikamente?«, fragt er und lässt die Hand für alle Fälle in der Nähe meines Ellbogens schweben.

»Nur ein Schmerzmittel und das haben wir zu Hause.«

»Okay.« Er seufzt schwer. »In Ordnung. Du solltest besser mit zu mir kommen.«

»Was? Nein.« Der Saum meines T-Shirts ist ein wenig nach oben gerutscht, und ich ziehe ihn zurück nach unten. »Sie hätte dich nicht anrufen sollen. Das tut mir leid. Aber es geht mir gut, und ich komme problemlos allein heim.«

»Ist das dein Ernst?«

»Ja.«

»Hast du dir eine Gehirnerschütterung zugezogen, als du dir den Kopf gestoßen hast?«

»Eine leichte.« Ich zucke mit den Schultern. »Wenigstens hat dieses Mal niemand versucht, mich umzubringen. Ich werde mir ein Taxi rufen und mich zu Hause ausruhen und meinen Kopf noch ein wenig länger kühlen.«

»Der Arzt hat dir doch gesagt, dass du nicht allein sein sollst, oder? Deswegen hat Frances mich doch gebeten herzukommen«, sagt er und beugt sich näher zu mir. »Aber statt dich vernünftig zu verhalten, musst du deswegen gleich einen Aufstand machen.«

»Ed, warum verhältst du dich so? Du willst mich doch nicht in deinem Leben haben.«

»Weißt du, was ich noch viel weniger will? Dich dazu überreden müssen, dass du mir erlaubst, einen Nachmittag auf dich aufzupassen, als wäre das etwas, das ich tun will, und als würdest du mir diesen großen Gefallen tun«, sagt er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ernsthaft, das ist, als würde jemand mit Fingernägeln über die Tafel meiner Seele kratzen.«

»Tja, das klingt ziemlich theatralisch. Ich gebe dir jetzt die Chance, einfach zu verschwinden. Ergreif sie.«

»Vergiss es. Nicht wenn du so aussiehst, als wärst du im Kampf gegen Hans durchs Nakatomi Plaza gerannt.«

»Und wieder habe ich keine Ahnung, wovon du redest.«

Er blinzelt. »Das ist einer deiner Lieblingsfilme.«

»Geh einfach davon aus, dass mir alle kulturellen Anspielungen absolut nichts sagen.«

»Wirklich? Hm«, brummt er und macht einen Schritt zurück. Gott sei Dank. »Du darfst noch mal Stirb langsam zum ersten Mal sehen. Ich bin beinahe neidisch auf dich.«

Für einen Augenblick sagt keiner von uns etwas.

»Also, Clem, willst du hier herumstehen und dich weiter streiten?«

»Nein.«

»Gut. Du kannst auch bei mir zu Hause mit einer Kühlkompresse auf der Couch liegen. Wenn du Lust hast, mache ich dir dazu einen Film an.«

»Solltest du nicht bei der Arbeit sein?«

»Der Laden ist montags geschlossen. Hör auf, nach Ausreden zu suchen.«

Verdammt. »Du wirst nicht lockerlassen, oder?«

»Wenn es irgendeine andere Option gäbe, würden wir dieses Gespräch gar nicht führen.«

Ich seufze und fühle mich ein bisschen schuldig, dass ich so gut wie keine Freunde habe und er der Einzige ist, der mir bleibt. »In Ordnung. Geh voraus. Und es tut mir leid.«

Als wir im Auto sitzen, reden wir nicht, sondern lassen stattdessen zu, dass sich die Stille so lange ausbreitet, bis sie unangenehm wird. Wie er mir zuvor geschrieben hat, wohnt Ed in einem alten Gebäude aus rotbraunem Backstein. Es befindet sich in der gleichen angesagten Gegend wie das Tattoostudio. Die Eigentumswohnung liegt im Erdgeschoss und ist höchstens fünf Blocks von seinem Arbeitsplatz entfernt.

»Hier haben wir gewohnt?«, frage ich, als ich ihm durch den weißen Flur folge.

»Ja.«

»Ich weiß zu schätzen, dass du das tust.«

»Oh, das kann ich sehen. Du sprudelst quasi über vor Dankbarkeit.«

Das habe ich verdient. »Ich will nicht in der Schuld von jemandem stehen, der mich hasst.«

»Hast du deswegen aufgehört, mir Fragen zu schicken?«

»Das ist einer der Gründe.«

»Ach ja? Was sind die anderen?« Er steckt den Schlüssel ins Schloss, und aus der Wohnung ertönen Gebell und das Geräusch kratzender Krallen. Was auch immer auf der anderen Seite dieser Tür ist, will dringend raus. »Mist, bleib kurz zurück.«

Das muss er mir nicht zweimal sagen. Vorsichtig öffnet Ed die Tür gerade weit genug, um eine Hand durch den Spalt zu stecken und den Hund am Halsband zu packen. Der Hund zappelt und wehrt sich und kämpft darum, sich loszureißen.

»Gordon«, sagt er. »Ja, das ist Clem. Aber das reicht jetzt. Beruhige dich.«

Der Hund beruhigt sich nicht. Wenn überhaupt nimmt seine Begeisterung noch zu, als er mich entdeckt. Gordon ist ein hellgrauer Staffordshireterrier mit hellblauen Augen und einem weißen Streifen auf der Brust. Schritt für Schritt drängt Ed ihn in die Wohnung zurück. Und die ganze Zeit wedelt Gordon vor überbordender Freude mit dem Schwanz.

»Mach die Tür hinter dir zu«, weist Ed mich an. Dann sagt er zu Gordon: »Komm schon, Junge. Sitz. Ich weiß, dass du aufgeregt bist, aber du musst Sitz machen.«

Gordon winselt leise und hält den Blick die ganze Zeit auf mich gerichtet.

»Clem, komm her und lass ihn an deiner Hand schnüffeln.«