Right Down to the Bottom - Ian Raine - E-Book

Right Down to the Bottom E-Book

Ian Raine

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Beschreibung

Wie oft kann ein bunt schillerndes Herz brechen, bis es sich nicht mehr zusammenfügen lässt? Der 21-jährige Liam flieht vor einer ungesunden Beziehung über das große weite Meer zurück in die Heimat seiner Kindheit: Sunset Creek, Arizona. Dort, in der Stadt mitten in der Wüste, sucht er Ablenkung, Ruhe und neue künstlerische Inspiration. Doch stattdessen findet er sich unversehens seinem ehemals besten Freund und gleichzeitig seiner ersten heimlichen Liebe gegenüber: Noah. Aber der ist in den letzten Jahren ein anderer geworden. Verschlossen und von einer nicht zu greifenden Dunkelheit umgeben. Dennoch glimmt da ein alter Funke. Zwei verwundete Seelen, die sich nach Nähe sehnen und zögerlich erneut die Hand reichen – entweder, um sich gegenseitig aufzufangen, oder am Ende in tödliche Tiefen zu ziehen. Ein queerer New-Adult-Roman, der auf berührend einfühlsame Weise zeigt, wie leicht und gleichzeitig schwer es in dieser Welt ist, zu leben und zu lieben.

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Right Down To The Bottom

Ian Raine

 

 

Ian Raine

Right Down to the Bottom

 

Instagram: @ian.raine_autor

Tiktok: @ian.raine_autor

Web: Ian-Raine.de

 

Content Notes:

Sucht, (missbräuchlicher) Alkoholkonsum, Verlust von engen Familienangehörigen, Trauer und Trauerverarbeitung, Demenzerkrankung, Armut, häusliche Gewalt (erwähnt), non-consensual Sex (erwähnt) und consensual Sex (explizit beschrieben), Queerfeindlichkeit, übergriffiges Verhalten, Selbsthass, Erbrechen, narzisstisches und manipulatives Verhalten.

 

1. Auflage 2024

Copyright © Novel Arc Verlag, Fridolfing 2024

Novel Arc Verlag, Kirchenstraße 10, 83413 Fridolfing

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf im Ganzen, wie auch in Teilen, nur mit Genehmigung des Verlags

wiedergegeben, vervielfältigt, übersetzt, öffentlich zugänglich gemacht oder auf

andere Weise in gedruckter oder elektronischer Form verbreitet werden.

 

www.novelarc.de

www.novelarcshop.de

 

Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG

Lektorat: Lektorat Vo Dieu

Korrektorat: Tino Falke

Buchsatz: Novel Arc Verlag

 

Klappenbroschur: 978-3-98942-027-4

E-Book Ausgabe: 978-3-910238-19-0

 

Vorwort

 

 

Liebe Lesende,

 

um allen das bestmögliche Lesererlebnis bieten zu können, informiere ich euch in diesem Vorwort über Inhalte des Buches, die möglicherweise triggern. Es ergeben sich Spoiler für die Handlung.

Folgende Themen werden in diesem Roman behandelt: (missbräuchlicher) Alkoholkonsum, Sucht, Verlust von engen Familienangehörigen, Trauer und Trauerverarbeitung, Demenzerkrankung, Armut, häusliche Gewalt (erwähnt), non-consensual Sex (erwähnt) und consensual Sex (explizit beschrieben), Queerfeindlichkeit, übergriffiges Verhalten, Selbsthass, Erbrechen, narzisstisches und manipulatives Verhalten.

Bitte gebt beim Lesen auf euch acht und meldet euch bei Novel Arc unter [email protected], wenn ihr Inhalte im Text entdeckt, die in der Liste fehlen.

Die behandelten Themen mögen nicht leicht sein, doch mir ist wichtig, ihnen hier, in dieser Geschichte, einen Raum zu bieten. Damit die, die zu oft an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, eine Stimme mehr bekommen.

 

Viel Spaß mit »Right Down to the Bottom« wünscht

 

Ian Raine

 

Für Liam und Noah.

Sorry.

Später – Noah

 

 

»Was ist mit uns?«

Eine Frage. Tausend Gefühle.

Liam schweigt. Lange.

Was ist mit uns?

»Ich weiß es nicht«, antwortet er, und stürzt meinen Chaoskopf noch tiefer in Gefühlswirbel und Antwortsuchen. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Tür auf, Tür zu.

Ich bin allein.

Allein mit meinen Gedanken und mit meinen Erinnerungen.

Sonnenuntergänge und Wüstenküsse.

Kitschig, wie im Film, aber so viel echter.

Kapitel 1 – Liam

What About Us – P!nk

 

Ich habe lange mit dem Gedanken gespielt, nach Arizona zurückzukehren. Ein wenig zu jobben, später an der SCU, der Sunset Creek University, Kunst zu studieren. Schon als 13-jähriger Junge wollte ich auf dem Campus mitten in der Natur in Farben ertrinken und meine Gedanken auf Leinwände übertragen. Kunst zu schaffen, ist die ehrlichste Sprache, die ich beherrsche, das wusste ich bereits, als ich das erste Mal einen Pinsel in die Finger bekommen habe. Ich habe den ersten Strich gesetzt und mir war klar: Ich möchte nie wieder etwas anderes tun.

Für Julian habe ich diese Träume vergraben. Ich habe alles für ihn getan, solange er mir nur einen Fingerbreit Nähe und Zuneigung geschenkt hat, während ich gegeben und gegeben habe. Viel zu lange habe ich zu seinen Konditionen geliebt und gelebt.

Ich schaue aus dem Fenster des rüstigen Greyhound-Busses. Es ist noch Nacht, doch der Himmel ist klar und der volle Mond streichelt die Wüste mit seinem zarten Licht. Schemenhaft ziehen die dunklen Silhouetten der Saguaro-Kakteen vorbei, die vielen buschigen Arme hoch gen Himmel gereckt. So vertraut und doch so fremd.

Ich habe gehofft, mich heimisch zu fühlen, sobald mich die Atmosphäre der Kakteen und der Wüste erneut umgeben würde – aber nichts. Keine übersprudelnde Vorfreude, kein Gefühl von Neuanfang, nur ein Loch, da wo mein Herz sein sollte.

Die alte Dame neben mir schnarcht unter ihrem Schlapphut, dessen Krempe sich unter jedem Atemzug hebt. Die meisten anderen Reisenden schlafen ebenfalls, oder zumindest dösen sie, so gut es geht. Nur wenn der Bus mal wieder ein Schlagloch erwischt, sieht man vereinzelt Köpfe hochschrecken und verwirrtes Augenreiben und Gähnen. Der Herr mit dem grau meliertem Haar schräg vor mir liest bereits die ganze Fahrt auf seinem E-Reader, manchmal kann ich zwischen den Sitzen einen Blick auf den Text erhaschen. Genau kann ich der Handlung so nicht folgen, aber gerade geht es heiß her. Ein junger Mann mit Yankees-Cap auf der anderen Gangseite nickt sachte zu der unhörbaren Musik aus seinen Earpods, während er seit einer Stunde durch Instagram scrollt.

Ich schließe die Augen, atme einmal tief durch und mache mich wieder an das Projekt Einschlafen. Dabei versuche ich mir schöne Dinge vorzustellen: das erste Mal über den Quad des SCU-Campus zu laufen, nachdem ich die letzte Qualifikationsrunde geschafft habe. Links und rechts die verschiedenen, modernen Glasbauten, die die unterschiedlichen Fakultäten beherbergen, drumherum die Wüste. Ich umarme den Rucksack auf meinem Schoß, in dem die Einladung der SCU steckt, und lehne meinen Kopf an die Scheibe.

Doch bevor ich mich endgültig fallen lassen kann, blitzt Julians Visage vor meinem inneren Auge auf. Julian, mit seinem verschissen strahlend weißen Lächeln und den trügerischen Grübchen. Dieser Typ hält mich wortwörtlich von meinen Träumen ab, dabei ist die Trennung bereits ein halbes Jahr her. Meine Gefühle für ihn sind längst verlöscht, aber die Vergangenheit mit ihm scheint immer noch an mir zu kleben wie Hundekot an Wanderschuhen. Vielleicht liegt es daran, dass ich seinetwegen nicht schon früher in die USA zurückgekehrt bin, dass mein Kopf ihm jetzt schon wieder so viel Raum gibt. Ich wünschte, ich könnte –

Das Tröten eines Elefanten unterbricht viel zu laut meine Gedanken. Es kommt aus meinem abgenutzten Jeans-Rucksack.

Mein Kopf ergänzt das schmierige Fenster um einen weiteren Abdruck, als ich meine Stirn von der Scheibe schäle.

Leises Murren ertönt, ein Fahrgast motzt mich von hinten an, während mein Rucksack fröhlich weitertrötet. Keiner wirkt begeistert von dem Afrika-Safari-Erlebnis, das ich ihnen biete. Hektisch nestele ich am Reißverschluss, der natürlich klemmt. Wenn es darauf ankommt, läuft nichts so, wie es soll. Wenn bloß das Tröten nicht so verdammt laut wäre. Die Dame neben mir streckt sich, die Stirn in Falten gelegt, bevor sie mich böse anstarrt.

»Was fällt Ihnen eigentlich ein …«, zischt sie. Den Rest blende ich aus.

Verdammt, Christin.

Endlich löst der Reißverschluss sich. Er öffnet sich so schwungvoll und unerwartet, dass meine Hand von dem Widerstand befreit zurückfliegt und ich mir selbst einen Kinnhaken verpasse, bevor ich nach dem Handy greifen kann. Natürlich hat Christin auch nach einer Ewigkeit nicht aufgelegt. Sie weiß, dass ich ewig brauche, um ans Telefon zu gehen.

Ich wische den kleinen grünen Kreis mit dem Telefonsymbol nach oben und presse das Handy an mein Ohr. Mit der anderen Hand reib ich mir das pochende Kinn. Der Frau nicke ich entschuldigend zu. Sie schüttelt grummelnd den Kopf, schließt aber provokativ wieder die Augen.

»Guten Morgeeeeeeeen«, quietscht es mir in so einer Lautstärke entgegen, dass ich sofort das Handy in einen Sicherheitsabstand zu meinem Ohr bringe. Ich antworte nur mit einem müden Grunzen, aber insgeheim freue ich mich, dass Christin anruft.

»Ich bin aus der Zukunft! Wie geht es euch Losern in der Vergangenheit?« Christin hat ihre beste Doc-Brown-Stimme ausgepackt und lacht hämisch und tief. Nun ja, sie versucht es zumindest, das Lachen erinnert aber eher an Gandalf im Stimmbruch. Das reicht, um mir ein Schmunzeln zu entlocken und die restlichen Gedanken an Julian zu vertreiben.

»Wieso zur Hölle bist du wach? Es ist …«, ich werfe einen kurzen Blick auf mein Handy, wo die Uhrzeiten von München und Arizona nebeneinanderstehen, »… halb acht. Hast du nicht nach dem Abi geschworen, nie wieder vor neun aufzustehen? Und, Zitat, das wäre schon wirklich unterste Grenze?«

Christin kichert, diesmal aber ohne verstellte Stimme. »Ja, ich weiß, aber die Nachbarn unter mir haben wohl gemeint, sie müssten unbedingt um sechs Uhr morgens anfangen, irgendwelche Löcher zu bohren. Und die Nachbarn über mir haben sich dann wohl gedacht, wenn die um sechs bohren können, können wir staubsaugen. Auf jeden Fall haben wir hier gerade die Kakofonie des Schlafentzugs am Laufen und dann konnte ich eh nicht mehr schlafen und …« Sie schluckt. »Na ja, ich habe an dich denken müssen und wollte sehen, wie es meinem Lieblingsauswanderer geht. Gut angekommen?«

Christin ist eine unersättliche, fröhlich vor sich hin sprudelnde Quelle. Den meisten ist sie zu viel – doch ich liebe sie genau dafür. Erst dank ihrer Hilfe habe ich es geschafft, mich von der Beziehung zu lösen, die mich in Deutschland gehalten hat. Stück für Stück hat sie mich, Stück für Stück haben wir meine Träume wieder zusammengepuzzelt. Sie hat mir den nötigen Tritt gegeben, um es tatsächlich zu wagen, auf eigene Faust in eine alte, neue Heimat aufzubrechen.

»Kennst du noch andere Auswanderer außer mir?«, hake ich flüsternd nach. Ich kann mir ein ehrliches Lächeln nicht verkneifen.

»Ja, äh, nein. Meine Mum schaut immer diese Auswandererserie und ich musste das so oft mit ertragen, dass ich die ganzen Teilnehmer mitsamt Namen und ihrer tragischen Lebensgeschichte kenne. Sie sind also schon fast Teil meines Freundeskreises, auch wenn das natürlich eine sehr einseitige Freundschaft ist …«

Irgendwie ist das so ein Ding, dass die Leute, die auswandern, immer irgendeinen Shit erlebt haben. Wer auswandert, rennt vor etwas davon. Die meisten zumindest. Meine Eltern glauben das auch – auch wenn sie nicht wissen, wovor ich angeblich fliehe. Aber ich sehe das anders: Ich laufe nicht davon, nein, ich kann endlich meinem Herzen folgen. Ich gebe ihm nicht mehr die Macht, über mich zu bestimmen. Ich wünsche mir bloß, es würde sich auch so anfühlen.

»Auf jeden Fall«, fährt Christin fort. »Auch wenn ich dich als nicht viel intelligenter einschätze als diese ganzen Reality-TV-Teilnehmer, bist du immer noch mein Lieblingsauswanderer. Um Längen!«

Ich räuspere mich entrüstet, dann lache ich, lasse mir meine Melancholie nicht anmerken, doch sogar in meinen Ohren hört es sich erzwungen an. Da ist es wieder. Das unehrliche Lachen.

Kurz herrscht Stille zwischen uns, ein Zustand, der mit Christin quasi nie zustande kommt. Eigentlich redet sie immer. Ihr hoher Kaffeekonsum, der vermutlich irgendwann ihr Ende sein würde (und wenn wir ehrlich sind, auch meines), trägt sicher dazu bei.

»Anyways, was machst du gerade?«, schiebt sie ungewohnt schüchtern in die Leere in dem Versuch, sie zu füllen.

»Versuchen, nicht zu verrecken. Ich weiß nicht, ob mein Nacken je wieder nicht knacksen wird … Das hier ist pure Folter. Aber der Großteil der Strecke ist geschafft.«

Ich lasse meinen Kopf gegen die Nackenstütze fallen und stiere an die Decke. In den Schlitzen der Lüftung klebt etwas Undefinierbares. Die Luft im Bus steht förmlich. Obwohl es längst Nacht ist, ist es trotzdem warm, und ausgerechnet dieser Greyhound scheint keine funktionsfähige Klimaanlage zu besitzen. Ich drehe mit meiner freien Hand an der Armatur über meinem Sitz herum, aber nichts tut sich.

»Freust du dich? Du musst mir ganz viele Bilder schicken und alles, das ist klar, oder?«

Ich nicke und schiebe ein schnelles Ja hinterher. Bisher gibt es noch keine Funktion, die Mimik und Gestik in Geräusche umwandelt. Das hat mein übermüdeter Geist wohl vergessen.

»Natürlich freue ich mich. Mir geht es gut.« Glaube ich. »Wirklich.«

Christin soll sich nicht zu viele Sorgen machen. Sonst wird sie noch morgen in einen Flieger steigen und hierherkommen und das kann ich nicht verantworten. Deshalb möchte ich ihr nicht sagen, dass ich nicht genau weiß, ob es mir gut geht. Ich bin immer noch dabei zu heilen und ich hoffe, dass sich das Loch in meiner Brust mit Wüstenluft und Sonnenaufgängen füllt.

»Eins habe ich auf jeden Fall nicht vermisst«, füge ich wehleidig hinzu. »Die verfluchte Hitze!«

Christins Wasserfalllachen bricht über mich herein. Ich spüre, dass sie mir meinen Gemütszustand nicht vollends abkauft. Sie ist schon immer viel zu gut darin gewesen, meine Stimmung zu lesen. Manchmal frage ich mich, ob sie, was das angeht, hellseherische Fähigkeiten besitzt. Ironischerweise ist sie gleichzeitig verdammt schlecht darin, sich selbst zu verstellen.

Wieder Stille. Zum zweiten Mal heute.

Leise flüstern meine Gedanken mir Zweifel ins Ohr. Werden Christin und ich uns auseinanderleben, jetzt, wo uns nicht mehr nur ein paar U-Bahn-Stationen, sondern ein ganzer Ozean und ein gutes Stück nordamerikanisches Festland trennen?

»Christin?«

»Ja?«

»Ich vermisse dich jetzt schon. So sehr.«

Christin macht ein Geräusch, Schlucken oder Schluchzen. Vielleicht beides.

»Ich dich doch auch, du Depp. Extrem. Um ehrlich zu sein: Ich weiß nicht, wie ich auch nur eine Woche hier in diesem Chaos ohne dich überleben soll. Aber wir müssen einfach ganz viel telefonieren! Glaub mir, ich ruf dich sogar mitten in der Nacht an! Also, sowohl in meiner als auch in deiner Nacht, du weißt schon.« Sie gibt sich zwar gut gelaunt und versucht, die Situation aufzulockern, aber ihre Stimme ist belegt.

»Was habe ich nur getan, um so heftig bestraft zu werden?« Meine Stimme ist an Theatralik nicht zu überbieten.

»Strafe? Strafe? Das ist doch keine Strafe. Das ist ein Segen. Ein Segen! Außerdem werde ich dich, sobald es geht, besuchen kommen, wie wir es ausgemacht haben!«

Da ist wieder die Christin, die ich kenne. Sie geht dazu über, mich auf den neuesten Stand zu bringen. Welchen neuen Tratsch sie aus unserem ehemaligen Abi-Jahrgang mitbekommen hat. Wer mit wem auf Instagram Pärchen-Bilder gepostet hat, die Entwicklungen der wirklich, wirklich wichtigen Dinge im Leben. Ich höre nur noch mit halbem Ohr zu, werfe hier ein Hm und da ein entrüstetes Echt jetzt ein.

Und so vergeht die Zeit. Christin plappert, unterhält mich und leistet mir Gesellschaft, während im Bus das sanfte Leuchten meines Bildschirms die einzige Lichtquelle und meine gelegentlichen kurzen Antworten die einzigen Geräusche sind. Bis auf das Schnarchen der Dame neben mir, die endlich wieder ins Reich der Träume übergewechselt ist. Draußen zieht die Welt vorbei. Die scheinbar endlosen Weiten der Sonora-Wüste und dahinter, die von der Dunkelheit grau gezeichneten Berge, die tagsüber in einem wunderbaren Rostrot erstrahlen.

Ich erlaube mir für einen Moment, meine Vergangenheit hinter mir zu lassen und im Jetzt zu existieren – mit jeder Pore, jedem Atemzug den Augenblick auszukosten. Einfach zu entspannen und die Blicke über die Wüste schweifen zu lassen, die mich schon als Kind in ihren Bann gezogen und nie wieder losgelassen hat.

Christin fühlt sich trotz des Ozeans zwischen uns plötzlich ganz nahe an. Wenn ich die Augen schließe, kann ich mir vorstellen, sie bei mir zu haben, dass ich nur meine Hand ausstrecken muss, um sie zu berühren. Ich stelle mir vor, wir sitzen im Weekend, unserem Lieblingscafé, und haben beide wie immer viel zu viel Kaffee getrunken.

Doch Christin ist nicht hier. Ich bin hier und sie ist dort.

 

Als Christin und ich unser Telefonat beenden, wird die Sonora bereits von den ersten Vorboten der Morgendämmerung begrüßt und der Nachthimmel hellt auf.

Ohne sie am Hörer spüre ich erst das volle Ausmaß dessen, wie sehr ich mein Leben und die Menschen in Deutschland bereits vermisse. Die meisten Menschen, jedenfalls. Ich bin noch nicht mal angekommen und ein kleiner, aber spürbarer Teil möchte bereits umdrehen.

Verdammt. Mir ist klar, dass es nicht immer leicht werden würde. Doch vielleicht habe ich das Ganze etwas unterschätzt. Die Sache mit dem Heimweh, der Sehnsucht und dem Gefühl des Alleinseins, das ich in diesem Bus inmitten von Fremden verspüre. Es ist schon eigenartig: Manchmal sind es die Momente, in denen einen die meisten Menschen, die meisten Schicksale und Geschichten umgeben, in denen man sich am einsamsten fühlt.

Als ob man in einer Ankunftshalle an einem Flughafen gefangen wäre und man wartet und wartet und wartet, dass jemand einen abholen kommt. Doch da sind keine Eltern, die dich umarmen, keine Partner oder Partnerinnen, die dich küssen. Da sind keine Bekannte oder Leute aus dem Freundeskreis, die dich fahren. Da ist niemand, zumindest für dich. Man ist alleine, alleine in dieser eigenartig stillen Blase gefüllt mit den eigenen Gedanken.

Nichts ist schlimmer als ein leerer Kopf voll mit lauten Gedanken.

Meine Hand wandert wie von selbst in meinen Rucksack und greift nach dem Fotoalbum, das mir meine Familie und Christin zusammen zum Abschied geschenkt haben. Behutsam streiche ich über das raue Material des Einbands und schlage das Büchlein auf. Gleich auf der ersten Seite strahlt mir eine Polaroid-Aufnahme von Christin und mir entgegen. Sie ist an meinem achtzehnten Geburtstag entstanden. Unsere Wangen glühen von dem Wein, den wir getrunken haben, und unsere Augen glänzen vor Freude. Das Bild ist überbelichtet. Beinahe kann ich spüren, wie ihre Locken an meinem Kinn kitzeln und wie mein Rücken schmerzt, weil ich mich so weit bücken muss, um gemeinsam mit ihr aufs Bild zu passen. Es ist perfekt unperfekt und das ist genug. Christin pflegt zu sagen, Polaroids seien keine Bilder, sondern auf Film gebannte Momente.

Für mich ist ihr Abschiedsgeschenk alles. Ein Stück Lieblingsmenschen zum Mitnehmen. Erinnerungen, abgeheftet und sortiert.

Gedankenverloren blättere ich durch die mit Stickern und Zeichnungen und allerlei glitzerndem Zeug verzierten Seiten, die unverkennbar Christins Handschrift tragen, und Stück für Stück drängen die Erinnerungen die Leere in mir zurück. Ich sehe meine Eltern und mich auf der Abiturfeier, nachdem meine Freunde und ich unsere Zeugnisse erhalten haben. Mami drückt mich fest an sich, die mit Freudentränen gefüllten Augen glitzern im Blitzlicht der Kamera. Die legendären Picknicks im Englischen Garten, mit denen meine Freunde und ich unsere Sommer versüßt haben, Christin, die im Eisbach schwimmt, oder wie wir gemeinsam mit Simon, ihrem Ex-Freund, der immer seinen Golden Retriever dabeihatte, Frisbee spielen. Unsere Seminarfahrt nach Sorrent, Reisen mit meinen Eltern, Familienbesuch in Mexico City bei meiner Abuela.

Doch als ich die Bilder vom letzten CSD erreiche, klappe ich das Album entschieden zu. Nur weil ich heile, ist nicht alles vergessen und vorbei. Nicht ganz zumindest. Es jagt mir feine Nadeln ins Herz, die Person zu sehen, die ich damals war. Wie ich glücklich und verliebt in die Kamera strahle und mich einfach von ihm manipulieren habe lassen.

Gesund lieben will gelernt sein.

 

Die Reise muss doch noch ihren Tribut gefordert haben, denn ich merke, wie tief ich geschlafen habe, als mich jemand unsanft wachrüttelt. Kurz glaube ich, ich bin in Deutschland und es ist Mama, die mich aufweckt, doch es ist nur der Busfahrer, der mich mit erhobenen buschigen Augenbrauen beäugt. Noch im Halbschlaf gefangen, fühle ich mich verwundbar unter seinem Blick, wie ein Reh auf freier Flur. Mir ist, als könnte er in mich hineinsehen: Die Gedanken, die Schmerzen, die Hoffnungen. Der Bus hat sich geleert und das stete Brummen des Motors ist verstummt. Sonnenstrahlen fallen durch die schmierigen Fenster und werfen fleckige Lichtfelder auf meine Sachen. Das Fotoalbum ruht auf dem freien Sitz neben mir, ohne dass ich mich erinnern kann, es abgelegt zu haben.

»Wenn Sie nicht eine Extrarunde zurück nach Phoenix fahren wollen, würde ich Ihnen empfehlen auszusteigen.«

»Eine Extrarunde?«, frage ich perplex, immer noch nicht in der Welt der Lebenden angekommen.

Der graue Bart zuckt, als der Busfahrer den Mund verzieht. »Sollten Sie wirklich eine Extrarunde drehen wollen, brauchen Sie natürlich ein Ticket. Versteht sich.«

Hektisch schiebe ich das Fotoalbum wieder in meinen Rucksack. Der Busfahrer streckt sich ächzend, um an meinen Koffer in der Ablage zu gelangen.

»Ist das alles, was Sie haben?« Der Busfahrer wirft einen misstrauischen, beinahe mitleidigen Blick auf den Hartschalenkoffer in Handgepäckgröße und den Rucksack, den ich mir über die Schulter werfe. Ich reise mit leichtem Gepäck – meine Seele schleppt dank Julian schon genügend von der schweren Sorte mit sich herum.

»Ja. Vielen Dank fürs Schütteln, äh, Wecken. Und für den Koffer natürlich«, stammle ich, eloquent wie eh und je.

Der Busfahrer nickt nur abwesend und beobachtet mit gerunzelter Stirn, wie ich den Gang zwischen den leeren Reihen entlanghaste und beinahe über meinen Koffer stolpere. Ich benötige mehrere Versuche, um den Knopf richtig zu drücken, mit dem sich die Türen zischend vor mir auffalten.

Dann stehe ich draußen. Den Koffer in meiner rechten Hand, den Rucksack lose über meine linke Schulter gehängt. Ich nehme nur am Rande wahr, wie sich die Türen hinter mir wieder mit einem Zischen schließen und der Bus mit stotterndem Motor seine Reise zurück nach Phoenix antritt.

Jetzt bin ich da, wirklich da. Hier, an diesem Ort, der mir gleichzeitig so vertraut und doch fremd geworden ist.

Sunset Creek.

Das Hupen eines Autos erinnert mich daran, dass ich noch immer auf der Straße stehe. Ich rette mich auf den Gehsteig und lasse den Moment auf mich wirken. Es ist das erste Mal, dass ich wirklich den Boden Arizonas betrete – klar, ich musste das Terminal am Flughafen für den Busbahnhof verlassen, aber dort war nur Beton und Stahl und es war dunkel, das zählt nicht.

Die Sonne hat noch lange nicht ihren Zenit erreicht, doch brennt trotzdem auf meiner Haut, schließlich ist hier die Durchschnittstemperatur im Sommer fünfundzwanzig Grad Celsius höher als im kühlen Bayern. Ich nehme einen tiefen Atemzug. Beinahe meine ich, den feinen Staub zu schmecken, den der warme Wind in die Luft trägt. An der sandigen Straße reihen sich ebenerdige, lehmfarbige Gebäude, die mit ihren flachen Dächern und großen Fenstern komplett anders anmuten als die typischen Münchner Stadtbauten mit ihren bunten Farben und ihren zahlreichen Balkonen. Palmen wechseln sich mit den Straßenlaternen ab und wiegen sich leicht in der sanften Brise, die beinahe liebkosend mit meinen Locken spielt – fast, als würde der Wind mich willkommen heißen.

Es fühlt sich an, als wäre unser Umzug nach Deutschland gestern gewesen – gleichzeitig wirkt meine Zeit in Arizona wie eine verblasste Erinnerung, eine schlampige Skizze, an der sich jemand mit einem Radiergummi zu schaffen gemacht hat, lückenhaft und unvollständig. Wenn ich mich nicht irre, ist meine alte Schule nur wenige Blocks entfernt. Nicht dass ich ausgerechnet meine alte Schule gerne wiedersehen würde – nach dem, was passiert ist, wäre das wohl der letzte Ort, den ich aufsuchen würde. Ich schiebe die Erinnerungen bestimmt zur Seite, sperre sie zurück in die Zelle, die ich vor all den Jahren speziell für sie geschaffen habe.

Die Straßen sind bis auf wenige Autos leer, es ist vormittags, die meisten arbeiten und Sunset Creek ist keine Großstadt wie Phoenix, wo sich zu jeder Uhrzeit endlose Schlangen Stoßstange an Stoßstange millimeterweise vorwärtsbewegen. Groß genug für eine kleine Uni und um eine gewisse Anonymität zu wahren, nicht groß genug, um auf den meisten Landkarten aufzutauchen.

Der Busbahnhof befindet sich am Rand der Stadt, aber die WG, die zukünftig mein Zuhause sein würde, liegt am anderen Ende. Zu Fuß brauche ich dafür sicher eine halbe Stunde und um ehrlich zu sein, will ich mich einfach nur in ein Bett werfen und mindestens eine Woche durchschlafen. Deshalb bestelle ich mir ein Uber.

Während ich warte, gebe ich erst meinen neuen Mitbewohnenden eine Vorwarnung, dass ich bald ankommen würde, und dann Christin und auch meinen Eltern Bescheid, die wahrscheinlich gerade auf der Arbeit sind, dass ich Sunset Creek sicher erreicht habe. Mami macht sich ansonsten Sorgen, sie macht sich immer Sorgen. Hätte mein Vater sich nicht auf meine Seite geschlagen, hätte sie mich gar nicht gehen lassen. Du bist doch erst einundzwanzig, hat sie gesagt. Du kannst doch nicht auswandern und deine Familie hinter dir lassen. Wir mussten sie erst daran erinnern, dass sie mit einundzwanzig mit einem weißen Mann durchgebrannt ist und Mexiko durch Arizona ersetzt hat, bevor wir schließlich nach Deutschland, ins Land der Kälte, ausgewandert sind und unsere gesamte Familie auf einem anderen Kontinent gelassen haben. Ich hingegen gehe doch nur zurück nach Hause. Letztendlich hat sie sich umstimmen lassen – wenn auch widerwillig. Abuela lebt in Mexico City, aber Tía Camilla und ihre Familie wohnen immer noch in Tucson. Und egal, was für ein Beef Mami und ihre Schwester haben, Tía Camilla würde mich immer auffangen, sollten die Dinge im Argen liegen.

Es dauert nicht lange, da kommt ein Auto um die Straßenecke geschossen und nimmt mit dem Außenspiegel fast einen Pfosten mit. Das Uber hält mit quietschenden Reifen direkt vor meiner Nase. Augenblicklich frage ich mich, ob und wie viele Unfälle dieser Fahrer bereits produziert hat. Ich sollte froh sein, es nicht zu wissen.

Das Fenster auf der Beifahrerseite wird heruntergelassen. Ein schmierig aussehender Typ sieht mich über eine tief auf der Nase sitzende Sonnenbrille hinweg an, eine Zigarette hängt betont lässig aus dem Mundwinkel. Eine dichte Geruchswolke aus Zigarettenrauch und Schweiß drückt durch das halb geöffnete Fenster. Widerlich.

»Cooper. Liam Cooper.« Ich fühle mich wie ein Kadett bei der Musterung. »Sind Sie das Uber, das ich bestellt habe? Nähe Campus?«, frage ich, nur um sicherzugehen.

Der Fahrer betrachtet mich, als hätte ihn jemand gefragt, ob ein Wasserfall aus Wasser besteht. »Siehste hier noch jemanden auf ’nen Uber warten, Junge?«

Mit glühenden Wangen schüttele ich den Kopf. Der Uberfahrer beäugt mich immer noch.

Sympathisch.

»Na los, worauf wartest du … Pack dein Zeug rein, hab ja nicht den ganzen Tag Zeit.« Die Zigarette nimmt er zum Sprechen nicht aus dem Mund, sondern wippt bei jedem Wort mit. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder an Ort und Stelle brechen soll.

Ich öffne die Tür zur Rückbank und werfe meinen Rucksack auf den freien Mittelsitz, bevor ich in den Wagen klettere. Der Fahrer beobachtet mich beharrlich. Kurz bleibt sein Blick an dem Pride-Pin hängen. Missmutige Falten spalten seine Stirn.

»Du hast Glück.«

»Was?«

»Tunten müssen bei mir normalerweise laufen. Aber heute ist mein guter Tag.«

Gerade schreit alles in mir, ihm den Gefallen zu tun. Aber es ist weit und ich bin es leid, Platz freizumachen, der mir genau wie allen anderen zusteht. Also bleibe ich mit stoisch gerecktem Kinn sitzen. Ertrage seine angeekelten Blicke. Gestehe ihm keine Antwort zu.

Kurz meine ich, er will etwas nachschieben. Einen Kommentar, eine weitere Beleidigung, irgendetwas. Doch stattdessen dreht er sich um und spuckt in hohem Bogen aus dem Fenster. Bei dem Geräusch zucke ich vor Abscheu zusammen. Dann setzt sich das Auto mit einem ruckartigen Hüpfer in Bewegung, ehe ich mich anschnallen kann.

Ich versuche nach außen ruhig zu wirken, selbstbewusst, als könnte er mir nichts anhaben, während ich innerlich am liebsten aus dem Auto springen würde und mich für meine Standhaftigkeit verfluche.

Ich schreibe Christin mit unruhigen Fingern eine kurze Nachricht: Wenn ich mich nicht in einer halben Stunde melde, solle sie mich in der Wüste Arizonas suchen. Spaten nicht vergessen.

Wider aller Erwartungen spuckt mich das Uber trotzdem wohlbehalten an meinem Ziel aus, auch wenn mir der Geruch üble Kopfschmerzen verpasst hat. Ich zeige ihm meine Zahlungsbestätigung in der App.

Dann stehe ich vor einem sandsteinfarbenen Haus, das ich bisher nur auf Fotos gesehen habe. Es ist größer als die ebenerdigen Bauten im Viertel des Busbahnhofs und hat sogar drei Stockwerke. Im Erdgeschoss befindet sich ein Coffeeshop, über dessen Eingang ein Schild mit Rocking Beans prangt. Das Logo zeigt eine E-Gitarre spielende Kaffeebohne und große Fenster offenbaren einen hellen, modern eingerichteten Gastraum, wo gerade eine Gruppe junger Erwachsener in meinem Alter gemütlich ihren Kaffee trinkt. Die Tür schwingt auf, einige Menschen, den T-Shirts mit den großen SCU-Emblemen und den unter den Arm geklemmten Laptops zufolge Studierende, verlassen plaudernd den Shop. Das Klackern der Eiswürfel in ihren Iced Coffees höre ich über die lauten Stimmen und das Gelächter hinweg, das für einen Wimpernschlag nach draußen drängt. Ein großes Plakat in der Glastür preist eine Band Night an, daneben wirbt ein Flyer für eine LGBTQIA+-Jugendgruppe, die im Rocking Beansihre Treffen abhält. Instinktiv fühle ich mich sicherer – es tut gut zu wissen, dass dieser Ort ein Safe Space ist, vor allem nach meiner Uber-Erfahrung. Mein Blick wandert nach oben zu den Fenstern im Obergeschoss, hinter denen sich mein neues Zuhause befindet.

Der Eingang zum Treppenhaus versteckt sich in einer unscheinbaren Gasse zwischen zwei Gebäuden, neben dem Personaleingang des Coffeeshops. Die Tür ist nicht abgesperrt. Stille und der kühle Schatten des Treppenhauses begrüßen mich, eine willkommene Abwechslung zur strahlenden Wärme vor der Tür.

Matteo und Zuri, meine neuen Mitbewohnenden habe ich bereits in nächtlichen Videocalls kennenlernen dürfen, doch jetzt, wo ich ihnen gleich persönlich gegenüberstehen werde, breitet sich in mir ein Gemisch aus Nervosität, bis in die Zehen kribbelnder Vorfreude und panischer Angst aus. Vergleichbar mit der Anspannung kurz vor einem Date.

Ich stehe außer Atem vom Erklimmen der Stufen vor der Wohnungstür und will klopfen. Das Summen meines Handys unterbricht mich und ich halte in der Bewegung inne.

Eine neue Nachricht, unbekannte Nummer, auch wenn ich genau weiß, wer der Absender ist, wie bei jeder der anonymen Nachrichten, die mich in regelmäßigen Abständen erreichen. Alles steht für einen Augenblick still, wie jedes Mal, wenn er schreibt, und vermeintlich vergangener Schmerz holt mich wieder ein. Stärker als die Tage zuvor.

Die Nachricht ist kurz, nur wenige Worte. Willst du mich für immer ignorieren, fragt das gesichtslose Profil. Egal, wie oft ich ihn blockiere, Julian findet immer Wege, mich wieder zu erreichen.

Aber heute werde ich mich ihm nicht ergeben, nicht, wenn ich endlich lerne, auf eigenen Beinen zu stehen. Heute werde ich stehen, nicht fallen. Schreien, nicht weinen. Kämpfen, während Erinnerung um Erinnerung versucht, mir den rettenden Halt zu entziehen.

Heute bekommt er keinen Platz mehr in meinem Kopf. Denn jetzt folge ich meinen Träumen, meinen Zielen – was auch immer kommen mag. Und so drücke ich die Nachricht weg, gebe mir einen Ruck und klopfe laut und kräftig. Selbstbewusster, als ich wirklich bin. Mit einem Klirren in meinem Kopf stelle ich mir vor, wie die letzten Reste von Julians Fesseln von meinen Knöcheln bröckeln.

Kein Zurück, Liam Cooper. Willkommen daheim.

Kapitel 2 – Liam

Wonderland (Taylor’s Version) – Taylor Swift

 

Ich höre Stimmen und ein dumpfes Geräusch durch die Haustür, bevor sie gerade, als ich noch mal klopfen will, schwungvoll aufgerissen wird und ich nach vorne stolpere.

Ein von der Sonne gebräunter Junge in meinem Alter strahlt mich mit blitzenden Zähnen an. Ein Lächeln, das mir bereits von unseren Videochats bekannt ist und mir ab dem ersten Moment ein gutes Gefühl gegeben hat. Seine Haare sehen aus, als sei er eben in einen Sturm geraten – aber auf die gute Weise.

Matteo.

Sofort werde ich in eine feste Umarmung gezogen. Er duftet gut. Mehr bringt mein perplexer Kopf nicht zusammen, und einen Moment, bevor ich um Luft bitten will, löst er sich wieder von mir.

Hinter ihm nähert sich wesentlich weniger stürmisch eine zweite Person in dem engen Flur. Das muss Zuri sein. Zum ersten Mal sehe ich mehr als nur ihre schwarzen Locs, die ihr auf einer Seite tief ins Gesicht hängen. Ich erkenne erst jetzt einzelne blaue und violette Locs, die sich wie Adern durch die Frisur ziehen, auf der anderen Seite sind ihre Haare komplett rasiert. Zusammen mit ihren Lippenpiercings, den zerrissenen Baggy-Jeans und einem nietenbesetzten Crop-Top gibt es ihr einen rebellischen Look. Auch in ihrem Bauchnabel entdecke ich ein weiteres Piercing. Optisch ist sie das genaue Gegenteil des Sonnenscheins vor ihr. Sie grüßt mich mit einem Peace-Zeichen und einem Hi.

»Liam! Wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr!«, sagt Matteo, nachdem er sich von mir gelöst hat, und greift nach meinem Koffer.

»Es gab … kleinere Unannehmlichkeiten«, antworte ich ausweichend.

Matteo scheint die Tatsache, dass ich keine wirkliche Antwort gab, entweder nicht zu bemerken oder geflissentlich zu ignorieren. Er packt mich an einem Arm und zieht mich hinter sich in die Wohnung. Mein Koffer holpert über die Schwelle. Vorbei an Zuri und an einigen Türen, bevor er schließlich vor einem offenen Durchgang stoppt. Ein Vorhang versperrt die Sicht auf das, was dahinterliegt. Er dreht sich zu mir um und ein verschwörerisches Grinsen umspielt seine Lippen. »Augen schließen, ich führe dich!«

Ich tue, wie mir geheißen wird, und kneife meine Augen so fest zusammen, dass es beinahe schmerzt. Matteos Finger graben sich in meinen Arm und ich spüre an einem feinen Kratzen im Gesicht, wie wir den Vorhang passieren.

Wackeligen Schrittes lasse ich mich von Matteo durch die Dunkelheit leiten. Wir kommen zum Stehen. Ich kann spüren, wie Matteo aufgeregt vor und zurück wippt.

»So, jetzt kannst du die Augen öffnen!«

Ich brauche kurz, um mich an das Licht in dem hellen Raum zu gewöhnen. Nach und nach nehmen die Schemen wieder Gestalt und Farbe an und die verschwommenen Schlieren festigen sich zu einer offenen, loftartigen Wohnküche. An der Wand hinter der Couch ist ein riesiges Banner befestigt, auf dem in großen Lettern Herzlich willkommen! geschrieben steht, mit ein paar Ausrufezeichen mehr als nötig und umrahmt von einem bunten Regenbogen. Auf dem Esstisch steht ein Kuchen, bunter als ein Malkasten, so überladen mit Streuseln und Deko, dass ich beim Betrachten schon einen Zuckerschock bekomme.

Der Traum eines jeden Kindergartenkindes. Der Albtraum meiner Zähne.

Statt einer zweiten Couch ist eine Hängematte durch den Raum gespannt. Ein Flachbildschirm hängt an der Wand, drum herum ist die Wand übersät mit den verschiedensten Bildern. Eine Bogenlampe und unzählige Zimmerpflanzen runden das Bild ab. Es ist hell, es ist grün, es ist … wunderschön. Viel schöner als auf den Fotos.

»Bevor wir feiern, hier noch der offizielle Teil. Dein eigener Schlüssel liegt in deinem Zimmer. Edward, der Pick-up unserer WG, ist unter Rücksprache für alle nutzbar, Benzinkosten werden fair aufgeteilt. Essen muss entweder beschriftet werden oder ist automatisch zur Jagd freigegeben. Unser letzter Mitbewohner musste das auf die harte Tour lernen, also sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

»Die Regeln sind hart, aber es sind die Regeln«, ergänzt Zuri. Ihre Stimme ist melodisch und weich und mag so gar nicht zu ihrem toughen Äußeren passen.

Matteo kratzt sich an der Schläfe.

»Ach ja, falls du dich gerne auf Dating-Apps rumtreibst … Sexdates sind uns egal. Aber bitte, bei Gott, seid leise, und sorg dafür, dass die Typen vor dem Frühstück verschwunden sind. Wenn du das hinbekommst, ist alles easy.«

»Tu ich nicht, keine Angst.«

Ich habe eine kurze Grindr-Phase gehabt, nach der Trennung von Julian, aber nachdem ich bei der ersten Verabredung vor einem Mann, der mindestens zwanzig Jahre älter war als ich, stand, statt einem Typen in meinem Alter, wie es im Profil stand, ist mir die Lust an dem Ganzen schnell vergangen. Außerdem habe ich einfach gemerkt, dass One-Night-Stands nichts für mich sind. Nennt mich einen Romantiker, aber ich brauche Verbindung. Echte Intimität und Vertrauen. Keinen Fremden, um Druck abzubauen.

Beide sehen mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Wirklich!«, beteuere ich entrüstet.

»Das sagen sie alle«, raunt Matteo und wackelt anzüglich mit den Augenbrauen.

»Wirklich alle«, fügt Zuri trocken hinzu.

Bevor ich protestieren kann, macht sich Matteo an den Schränken an dem frei stehenden Küchenblock zu schaffen. Er zieht ein unterarmlanges Messer aus einer der Schubladen und schickt sich an, drei Stücke von dem Kuchen abzuschneiden.

»Wie auch immer.« Matteo klatscht schwungvoll das erste Stück Kuchen auf einen Teller. »Jetzt ist es Zeit, deine Ankunft zu feiern. Den Rest bekommst du schon noch mit.«

Zuri tritt zu mir an den runden Esstisch und schiebt mir den Teller hin. Als Matteo sich zum Waschbecken dreht und das Messer reinigt, streckt Zuri sich zu mir und senkt die Stimme verschwörerisch. »Pass bloß auf. Er experimentiert schon wieder seit Tagen mit den verschiedensten Geschmacksrichtungen und Kombinationen. Mach dich auf ein … besonderesErlebnis gefasst.« Mit einem kurzen Blick versichert sie sich, dass Matteo wirklich nicht zuhört. »Einfach den Kuchen loben und lächeln, damit bin ich bei seinen Kreationen schon immer gut gefahren. Und wenn er dir Nachschlag andrehen will, sag einfach, du bist satt.«

Sie rückt von mir ab und setzt sich an den Tisch, als Matteo sich wieder uns zuwendet und ihrem Beispiel folgt, genau wie ich. Die Stücke als überdimensioniert zu bezeichnen, ist noch eine Untertreibung. Auch von innen ist der Teig in den verschiedensten Farben gefärbt. Trotz Zuris Warnung und der … interessanten Gestaltung grummelt mein Magen laut.

Ich nehme die erste Gabel und bete, dass die Warnung sich als unberechtigt entpuppt. Leider ist jede Hoffnung vergebens. Matteo ist es gelungen, gleichzeitig viel zu viel Zucker zu verwenden als auch den Kuchen zu … versalzen? Zuris Blick nach zu urteilen, teilt sie meine Not. Ich setze ein begeistertes Lächeln auf. Gleichzeitig erwäge ich, vorsichtshalber den Bestatter meiner Wahl anzurufen. Man kann ja nie wissen.

Zuri schluckt sichtlich mit Mühe.

»Schmeckt … aufregend«, lobt sie. Ich nicke zustimmend und Matteo strahlt, als hätten wir ihm zum Kuchen des Jahrhunderts gratuliert.

Aufregend ist eine viel zu nette Bezeichnung für dieses kulinarische Erlebnis, dennoch kämpfe ich mich tapfer durch das ganze Stück.

»Vermisst du Deutschland schon sehr?«, fragt Matteo, nachdem er sich ein weiteres Stück in den Mund geschoben hat. Ihm scheint es zu schmecken.

Ich brauche einen Augenblick Bedenkzeit. Vermisse ich Deutschland wirklich schon?

»Ja und nein. Ich vermisse die Menschen …«, manche zumindest, »… aber ich freue mich vor allem, endlich wieder hier zu sein.«

»Und wir erst!«, meint Matteo. »Ich glaube, wir werden viel Spaß zusammen haben. Hast du einen Lieblingsort in der Stadt?«

Er befeuert mich mit einer Frage nach der anderen zu meiner Reise und Deutschland, Zuri hingegen hört nur zu und wirft hier und da etwas ein.

Matteo erinnert mich ein wenig an Christin, wie ich zunehmend bemerke. Die beiden würden sich super verstehen, stelle ich mit einem feinen Stechen im Herzen fest, als mir bewusst wird, dass die beiden sich nicht so schnell kennenlernen würden. Immerhin leben Christin und ich nun mehrere Zeitzonen auseinander.

Ich gebe mir Mühe, den endlosen Strom an Fragen zu stillen, aber die Müdigkeit und der fehlende Schlaf kriechen durch meine Glieder. Da ich nicht unhöflich sein will, unterbreche ich Matteo nicht, aber die Sehnsucht nach einem Bett zerreißt mich beinahe und meine Antworten werden zunehmend kürzer und einsilbiger.

»Ich denke, Liam wird ein bisschen Zeit für sich brauchen«, unterbricht sie Matteo und zwinkert mir unter einer blauen Strähne zu. »Die Reise war sicher anstrengend und wir haben in den nächsten Tagen noch genug Gelegenheit, uns besser kennenzulernen.«

Ich lächle sie dankbar an. Sie hat etwas an sich … eine gewisse Stärke, die in ihrer Ruhe liegt.

»Oh, ja klar. Ruh dich aus. Ich wollte dich nicht überfordern.« Matteos Wangen könnten eine ausgefallene Ampel ersetzen, zumindest eine rote. Er kratzt sich verlegen am Hinterkopf.

Matteo nimmt meinen Koffer und die beiden führen mich zu meinem Zimmer. Noch ist es karg und schlicht. Beinahe wie eine leere Leinwand, die nur darauf wartet, bemalt zu werden. Bei dem Gedanken ans Malen schlägt mein Herz Saltos vor Vorfreude.

Das Bett ist an die Wand geschoben und schon bezogen. Es ist so positioniert, dass man direkt aus dem Fenster sehen kann, wenn man sich mit dem Rücken an die Wand lehnt. Ein weißer Schreibtisch steht vor dem Fenster und ein Kleiderschrank beansprucht eine Ecke für sich. Automatisch überlege ich, wo ich meine Malsachen aufbauen kann. Das Licht, das durch das große Doppelfenster fällt, erhellt das ganze Zimmer. Dahinter breitet sich nach Süden die Landschaft aus. Ich kann weit über die Wüste sehen, bis zu den Rockiesin der Ferne. Wie früher, von der Schaukel in unserem alten Garten. Meine Finger kribbeln vor Tatendrang, als ich an all die Projekte denke, die ich hier für mein Portfolio an der SCU schaffen will.

»Gefällt es dir?« Matteos Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Die beiden stehen in der Tür und beobachten mich. Ich habe sie beinahe vergessen.

»Es ist wunderbar«, hauche ich. »Danke, für alles.«

»Ruh dich aus«, sagt Zuri. »Wenn du etwas brauchst, wir sind für dich da.« Dann fällt die Tür zu und ich bin allein, wirklich allein, das erste Mal seit fast drei Tagen.

Ich lasse den Koffer Koffer sein und werfe mich so, wie ich bin, aufs Bett. Nachdem ich kurz Christin und meine Eltern auf den neuesten Stand gebracht habe, erlaube ich mir, die Augen zu schließen und für einen Moment durchzuatmen. Eigentlich sollte ich noch nicht schlafen, um den Jetlag zu reduzieren, aber ich brauche die Erholung so dringend, dass mir das egal ist.

Ein leises Geräusch signalisiert mir, dass jemand geantwortet hat. Christin. Sie hat ein GIF geschickt, Donald Duck, der aufgeregt auf der Stelle trappelt. Ich schalte den Bildschirm aus, lehne mich zurück und sehe an die Decke, während die Leere zurückkriecht.

Die abfälligen Blicke des Uberfahrers, als er den Pride-Pin auf meinem Rucksack entdeckt hat, seine harschen Worte, schwirren durch meinen Kopf, wieder und wieder.

Ich bin okay mit dem, wer ich bin und dem, was ich bin.

Aber diese Momente der Abneigung, des Hasses, so kurz und so selten sie sein mögen, rütteln an mir, nagen an meiner Seele, meinem Selbstbewusstsein und meiner Würde und öffnen der Angst die Türen. Was, wenn es das nächste Mal nicht bei einem Blick, einer Beleidigung bleibt? Vor allem, wenn ich wieder nicht nachgebe?

Solche Situationen verursachen, dass ich mich am liebsten wieder in dem Schrank verstecken würde, aus dem ich als Jugendlicher, beinahe noch ein Kind, herausgekrochen bin. Schüchtern und unsicher, ob das Licht außerhalb der schützenden Dunkelheit nicht zu hell sein würde. Sie reißen an den Mauern meines Selbstbewusstseins, als wäre es nicht mehr als ein Kartenhaus, kurz davor einzustürzen.

Vielleicht bin ich das: ein Kartenhaus aus Gedanken und Gefühlen und Selbsthass und Selbstliebe, das ich jeden Tag ausbauen und verstärken muss.

Mit einem Wort, einem Kommentar, einem Blick können Menschen meine Festung aus Karten zum Wackeln bringen. Doch keiner kann sie einreißen, erinnere ich mich und verstärke sie weiter.

Nie mehr.

Kapitel 3 – Liam

Out of the Woods (Taylor’s Version) – Taylor Swift

 

Gleich an meinem zweiten Tag nehmen mich Zuri und Matteo mit auf ein Frühstück in das Rocking Beans, in dem Matteo nebenbei arbeitet. Das Café gibt auch von innen genau die Cozy-Vibes, die sein Äußeres verspricht. Das Sonnenlicht erreicht selbst die hintersten Ecken und versorgt die zahlreichen Pflanzen, die teilweise in Töpfen von der Decke hängen und teilweise auf und um den Tischen verteilt sind. Es ist warm, aber auf die angenehme Art – dafür sorgt die Klimaanlage, die im Hintergrund surrend ihre Arbeit verrichtet, kaum hörbar über den Klängen von Fleetwood Macs The Chain. Auf Sideboards an den Wänden stehen unzählige alte Vinyl-Platten. Im Vorbeigehen entdecke ich die Red Hot Chili Peppers, AC/DC und die Rolling Stones. Rock ist zwar nicht genau mein Fall, aber die Bands zählen zu den Lieblingen meines Vaters.

Matteo und Zuri führen mich zielstrebig zu einem auf einem Podest erhöhten, kniehohem Tisch, der von Sofas und Sesseln umgeben ist.

»Hier hat man die beste Aussicht«, erklärt Matteo und lässt sich grinsend fallen. Erst als ich mich genauer umsehe, entdecke ich die Scheinwerfer und Lautsprecher, die links und rechts von unserem Podest an den Wänden montiert sind.

»Ist das die Bühne?«

Matteo tauscht einen verstohlenen Blick mit Zuri aus. »Er hat es schneller gecheckt als du damals.«

»Klappe«, kontert Zuri, aber es klingt aus ihrem Mund beinahe … liebevoll?

Eine Benachrichtigung auf meinem Handy lenkt mich ab. Magst du telefonieren, fragt Christin. Ich rechne kurz in meinem Kopf nach – in Deutschland dürfte es gerade abends sein, sie will also sicher bald ins Bett gehen. Bevor ich antworten kann, tritt ein groß gewachsener Mann zu uns auf die Bühne. Er trägt eine grüne Schürze mit Rocking-Beans-Logo, darunter ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt, das seinen muskulösen Körperbau betont. Schwarze Ranken ziehen über seinen Arm bis zu den Handgelenken, an dem silberne Metallarmbänder hängen. Die schwarzen Haare hat er stylisch mit Gel zerwühlt.

»Mat, Bro! Heute ist doch dein freier Tag – solltest du nicht gerade dein Leben genießen?«, fragt er und tauscht mit Matteo eine kompliziert aussehende Folge an Handshakes aus, bevor er Matteo schließlich aus seinem Sessel und in eine kumpelhafte Umarmung zieht. Zuri verdreht daneben die Augen und formt Bro mit den Lippen. Matteo landet wieder in seinem Sitz.

»Zuri, alles fit? Bereit für deinen nächsten Gig?« Auch sie bekommt über den Tisch hinweg einen Fist Bump.

»Das ist Minh, er leitet den Laden hier!«, erklärt Matteo, ein wenig außer Atem. »Minh, Liam. Liam, Minh. Liam ist unser neuer Mitbewohner – er ist gerade aus Deutschland hierhergezogen.«

»Na, wenn das so ist. Minh Nguyễn, freut mich«, sagt er und reicht mir fest die Hand. Ich bin dankbar, dass er keine ähnlichen Shakes von mir erwartet wie von Matteo. »Welcome to the USA! Der erste Kaffee geht aufs Haus – ich bin mir sicher, du kannst ihn brauchen.«

Das kann ich tatsächlich – der Jetlag treibt immer noch seine Spielchen mit meinem Biorhythmus.

»Bist du heute ganz alleine hier?« Matteo späht mit gerunzelter Stirn zur Theke, doch auch ich kann nichts erkennen. Minh seufzt.

»Ja, Cassie hat mich einfach auflaufen lassen – sie hat gekündigt. Noch komme ich gut zurecht, aber nachmittags könnte es eng werden.«

»Mist«, flucht Matteo, doch dann fällt sein Blick auf mich und sein Gesicht hellt sich auf. Minh sieht im gleichen Moment zu mir.

»Liam, du suchst nicht zufälligerweise einen Job?«

Ich schaue in Minhs gepierctes Gesicht und bin erst mal sprachlos. Ich hatte eine schlechte Nacht – Scheißjetlag –, bin in Gedanken immer noch halb in München und von Einleben kann überhaupt nicht die Rede sein, aber ich habe ein Jobangebot.

»Äh, ja, wieso nicht?«, antworte ich. Cool. So kann ich mir nebenbei ein wenig Geld verdienen.

»Nice, Bro«, meint Minh und klopft mir auf die Schulter. »Mein Boy Matteo hat morgen Schicht hier – wenn du magst, kannst du mit ihm anfangen!«

»Klingt gut«, sage ich – und freue mich wirklich. Mit dem Job kann ich Matteo sicher noch besser kennenlernen.

»Jetzt will ich euch aber nicht weiter mit Geschäftlichem ablenken. Was darf ich euch bringen?«

»Wie immer«, sagt Matteo und lehnt sich zurück.

»Wie immer«, sagt Zuri und streicht sich ihre Haare hinter die Schulter. Die Locs sind heute nicht blau und violett, sondern grün und gelb. Wahrscheinlich sind es Clip-ins.

»Ähm, ich nehme einen Cappuccino mit Haferdrink und … was habt ihr denn zu essen?«, frage ich. Unter der Aufmerksamkeit aller bin ich überfordert und ich hatte noch keine Zeit, mich auf der Karte umzusehen. »Kannst du mir etwas empfehlen?«

»Heute haben wir als Special unsere beliebten Smoothie-Bowls – alle vegan.« Minh deutet auf das Menü hinter dem Tresen, was ich von hier aus aber nicht gut erkennen kann. Aber bei dem Gedanken an eine bunte Schale voller Obst und Nüssen läuft mir das Wasser im Munde zusammen.

»Zu meinen Lieblingen gehört der Mango Tango Twist«, fährt er fort. »Wenn du etwas mit mehr Wumms magst, kann ich dir den Choco-Cherry Power Chord anbieten. Der haut rein, schmeckt aber fantastisch.«

»Habt ihr auch etwas mit Beeren?«

»Klar! Dann ist der Berry Riff Delight genau das Richtige für dich!«

»Das hört sich fantastisch an!« Mein Magen grummelt bereits in freudiger Erwartung.

»Sweet – macht’s euch gemütlich und gebt mir zehn Minuten.« Damit verschwindet er hinter die Theke, wo bereits einige Kunden warten.

»Kommt er zurecht?«, frage ich Matteo verunsichert. Am Tresen stehen zwei Mädels und wenn es später voll werden soll, muss er sich ganz schön spurten, um alle bedienen zu können.

»Er ist Minh. Er schafft das schon.«

»Jetzt geh schon und greif ihm unter die Arme«, meint Zuri und stupst Matteo an. »Der Arme ertrinkt sonst gleich unter Bestellungen und ich habe Hunger.«

»Okay, okay, ich geh ja schon. Du hast Glück, dass ich selbst gerade mehrere Kojoten verschlingen könnte.«

»Das klappt aber nur, wenn die Kojoten dich nicht fressen«, kontert Zuri.

Ich pruste.

»Haha, sehr witzig«, schmollt Matteo, doch seine Mundwinkel zucken verräterisch. Ohne sich zu uns umzudrehen, zeigt er Zuri auf dem Weg zu Minh hinter seinem Rücken den Stinkefinger. Er bindet sich eine der Schürzen um und kurze Zeit später ist er voll und ganz in seinem Element.

Ich beobachte ihn ein wenig und stelle mir vor, gemeinsam mit ihm das Obst zu schneiden und den Kaffee zu machen. Sofort wird mir warm vor Aufregung. Dann erinnere ich mich an das, was Minh zu Zuri gesagt hat.

»Was meinte Minh mit bereit für deinen Gig?«

»Ich singe in einer Alternative Band«, erklärt Zuri. Auf einmal scheint die Pflanze neben ihr von besonders großem Interesse zu sein, denn Zuri spielt wie von selbst mit ihren Blättern, ohne sie jedoch zu beschädigen.

»Cool!« Mit ihrer rauchigen, dunklen Stimme kann ich mir das wirklich super vorstellen.

»Wirklich?«

»Und wie! Spielt ihr hier?«

Jetzt entspannt sich ihre Haltung wieder ein wenig und sie lässt von der Pflanze ab. Ihr Gesicht leuchtet vor Freude und ihre samtbraunen Wangen bekommen einen pinken Unterton. »Manchmal. Nächste Woche spielen wir hier wieder bei der Band Night – wenn du magst, kannst du gerne vorbeikommen.«

»Auf jeden Fall!«

Mein Handy summt auf dem Tisch. Es ist wieder Christin.

Ich bin gerade Brunchen, tippe ich. Ich weiß nicht, ob wir heute telefonieren können.

»Meine beste Freundin«, erkläre ich, als ich Zuris fragenden Blick registriere. »Christin.«

»Sie lebt noch in München, oder?«

Ich nicke und versuche die plötzliche Welle an Traurigkeit zurückzudrängen, die mich aus dem nichts überschwemmt.

»Das ist sicher nicht einfach für euch.«

»Nein … nicht wirklich.«

»Sollen wir ein Bild für sie machen?«

Augenblicklich hellt meine Stimmung ein wenig auf – das ist eine tolle Idee! Ich nicke und öffne die Kamera-App. Wir rutschen zueinander und lächeln gemeinsam in die Kamera, bevor ich mehrmals auf den Auslöser drücke. Vielleicht ist es nur Einbildung, trotzdem habe ich den Eindruck, dass ich trotz meines Lächelns auf den Bildern traurig aussehe.

Dennoch schicke ich Christin eins der besseren Bilder mit dem Kommentar Miss you und auch meinen Eltern leite ich die Nachricht weiter.

»Danke«, sage ich und meine es wirklich so. Ich weiß jetzt schon, dass ich dieses Bild von meinem ersten richtigen Tag hier auf jeden Fall ausdrucken und aufheben werde.

Zuri lächelt. Erst jetzt sehe ich die kleinen Lachfalten, die sich dabei um ihre sattbraunen Augen und ihre Mundwinkel bilden.

»Kein Ding.«

»Essen ist fertig«, trällert Matteo. Ich habe gar nicht gemerkt, wie Minh und er an unseren Tisch getreten sind. Beide tragen Tabletts mit Schalen und Tassen und Gläsern, die beinahe gefährlich voll wirken. Es duftet himmlisch – die feinen, bitter-herben Noten des Kaffees gepaart mit den fruchtigen Aromen meiner Smoothie-Bowl. Vor Zuri landet ein wackeliger Pancake-Turm, während auf Matteos Teller Waffeln liegen. Mir fällt beinahe die Kinnlade hinunter, als ich die Smoothie-Bowl sehe – der Smoothie selbst ist verlockend violett. In ordentlichen Linien reihen sich Joghurt, Beeren, Bananenscheiben und Chia-Samen, gemeinsam mit Haferflocken.

»Lasst es euch schmecken«, sagt Minh. »Und danke für deine Hilfe, Bro!«

»Danke für deine Hilfe, Bro«, flüstert Zuri.

»Klappe«, murmelt Matteo wieder.

Ich versuche mein Prusten mit einem Löffel Smoothie-Bowl zu ertränken. Und zum ersten Mal fühlt sich Arizona wieder ein wenig wie zu Hause an.

 

Meine ersten Schichten habe ich wie abgesprochen mit Matteo und wir haben beide tierisch Spaß. Wir scherzen und lachen (vor allem, wenn ich scheitere). Er versucht mich in die hohe Kunst des Kaffeemahlens einzuführen, erklärt mir die Grundlagen der riesigen Siebträgermaschine und wie ich mit dem Dampfstab umgehe. Nachdem mir jedoch die Milch beim Schäumen in alle Richtungen explodiert, darf ich vorerst nur die Spülmaschine einräumen und Bestellungen aufnehmen. Auch die restliche Crew scheint offenherzig und nett zu sein – Minh kenne ich ja bereits und dann gibt es noch Ellie, sie ist ebenfalls in unserem Alter, hilft aber nur an zwei Vormittagen in der Woche.

An meinem freien Tag habe ich die Gegend um die Uni herum unsicher gemacht, nicht nur um mich auf das Campusleben vorzubereiten, wenn es so weit ist, denn dort ist auch ein Fachgeschäft für Künstlerbedarf, bei dem ich mich mit den Grundlagen eingedeckt habe. Ursprünglich wollte ich nur einen Block, einige Stifte und Pinsel sowie einen Aquarellkasten mitnehmen, am Ende war ich dennoch dankbar, mit dem Pick-up gefahren zu sein. Der alte Edward ist zwar ein in die Jahre gekommener Gebrauchtwagen, hat aber eine große Ladefläche, auf die mein ganzer Einkauf passt: Immerhin sind zusätzlich noch eine billige Staffelei, einige Leinwände in verschiedenen Größen und verschiedene Ölfarben in meiner Einkaufstasche gewandert. Das war sicher nicht mein letzter Besuch in dem Laden. Die restliche freie Zeit zwischen meinen Schichten im Café nutze ich, um in meinem Zimmer zu zeichnen und zu malen, so auch jetzt.

Ich sitze auf dem Boden, der Zeichenblock auf meinem Schoß, und skizziere mit ruhigen Bewegungen die Wüste am Morgen, Kakteen vor einem Sonnenaufgang. Eine einfache Landschaftsskizze, nur zur Übung. Ich nutze die Skizze, um mich von dem Fakt abzulenken, dass mir, seit ich hier bin, die Inspiration für richtige Kunst aus irgendeinem Grund abhandengekommen ist. Im Hintergrund läuft eine Playlist voller Lo-Fi-Taylor-Swift-Covertracks, mein Kopf nickt wie von selbst zu der Melodie von Out of the Woods, die durch die entspannenden Beats hindurchtönt. Ich setze den Stift ab, um meine Hand kurz auszuschütteln, und lasse meinen Blick dabei durch den hellen Raum schweifen. Ich habe mein Zimmer mit den wenigen persönlichen Gegenständen eingerichtet, die ich aus Deutschland mitgenommen habe. Einige Bilder, die ich mit Wäscheklammern an eine Schnur an die Wand gehängt habe, eine Schneekugel aus München. Kitschiger Touristenkram, aber es hilft gegen das Heimweh.

Das Fotoalbum liegt auf meinem Nachtkästchen, griffbereit für Momente, in denen ich mein altes Leben vermisse. Ich öffne es selten – die abgeschnitten Stellen lassen mich wieder nur an Julian denken, der nicht einen weiteren Gedanken wert ist. Aber alleine es bei mir zu haben, vorsichtig über den Umschlag zu streichen, reicht aus, um mich die Liebe meiner Freunde und Familie spüren zu lassen. In der Mitte des Raums steht die Staffelei, auf ihr eine leere Leinwand, die auf die richtige Inspiration wartet. Die erste Woche verging wirklich schneller als erwartet.

Ich höre Matteo aufgeregt diskutieren, Zuri antwortet ruhiger, wie es für sie üblich ist. Durch die geschlossene Tür kann ich keinen von beiden verstehen. Gerade als ich beschließe, dem Aufruhr auf den Grund zu gehen, reißt Matteo die Tür auf.

»Liam, wir gehen heute feiern!«, ruft er und grinst mich dabei so anzüglich an, dass sogar ein Pornostar seine Ruhe verlieren würde.

»Wie wäre es mit Klopfen?«, sage ich trocken.

Zuri schiebt sich mit einem Seufzen an Matteo vorbei. »Was Matteo eigentlich sagen will: Wir wollen noch was trinken gehen und würden uns wirklich freuen, wenn du mitkommen würdest. Immerhin bist du jetzt schon eine Woche bei uns – das muss doch gefeiert werden! Und dann siehst du auch mal etwas anderes als das Rocking Beans.«

»Auch wenn das Rocking Beans natürlich die beste Adresse der Stadt ist«, beeilt Matteo sich zu sagen.

Ich mache die Musik aus und überlege kurz. Eigentlich bin ich ziemlich müde, aber die beiden sehen mich so hoffnungsvoll an … da kann ich kaum Nein sagen. Außerdem ist es sicher keine schlechte Idee, die Orte Sunset Creeks besser kennenzulernen, die mir als Teenager verwehrt gewesen sind.

»Also gut, ich komme mit«, willige ich ein.

Matteo knufft Zuri aufgeregt in die Seite.

»Ich sag doch, dass Liam uns nicht im Stich lässt.«

Zuri verdreht die Augen – und zieht einen Zehndollarschein aus der Tasche.

»Moment mal – habt ihr Wetten abgeschlossen, ob ich mitkomme?«

»Bleibt nur noch zu klären, wer den Fahrdienst macht«, sagt Matteo und ignoriert meine Frage geflissentlich, während Zuri leise kichert. Dann legt er schnell den Zeigefinger auf seine Nasenspitze.

Auch Zuri tippt schneller ihre Nase an, als ich mich fragen kann, was das überhaupt soll. »Ich fahr auch nicht. Ich habe zwar nichts zu tun, aber ich habe einfach keinen Bock.«

Erwartungsvoll sehen beide mich an. Erst jetzt verstehe ich. Ich kenne das Spiel von früher: Derjenige, der als Letztes den Finger an die Nase legt, muss die Aufgabe erledigen.

Offensichtlich bin das ich.

»Keine Angst, ich wollte sowieso nur eine Cola trinken«, erkläre ich mit einem Grinsen. Matteo jubelt und gibt Zuri ein High Five, das sie nur mit der Hälfte seines Enthusiasmus erwidert.

Herzlichen Glühstrumpf. So wie es aussieht, habe ich einen Ausflug vor mir.

»Wirf dich in Schale«, sagt Matteo. »Der Abend will genutzt werden!«

 

Eine halbe Stunde später sitzen wir zu dritt in Edward. Als fairer Verlierer fahre ich – eigentlich ist mir das jedoch ganz recht, da mir eh nicht nach Alkohol ist. Dafür lotst mich Matteo vom Beifahrersitz durch die Straßen und gibt dabei sein Bestes, die robotische Stimme eines Navis zu imitieren, wobei er sich für meinen Geschmack zu leicht von Zuri und der Musik im Radio ablenken lässt. Deswegen, und wegen einer überproportionalen Menge an Baustellen, müssen wir mehrmals Route wechseln.

Ich folge einem Umleitungsschild in eine Seitenstraße, weg von den großen Kernadern, die Sunset Creek durchziehen. Zunehmend ändert sich das Stadtbild um uns, zuerst nur durch Kleinigkeiten – mehr Unrat auf den Gehsteigen, die Wände voller mit Walltags und Graffiti. Dann immer deutlicher. Statt Häuser zieren zunehmend einstöckige Bungalows und Trailer die Straße, einer heruntergekommener als der andere, dazwischen erkenne ich auch das eine oder andere halb zerfallene Wohnmobil, das dem Anschein nach trotzdem noch genutzt wird. Eingeschlagene Fenster hinter Gittern, verbogene Gartenzäune, sofern es denn überhaupt welche gibt. Müll, der sich vor den Türen türmt. Dazwischen leere Flaschen und verbeulte Autos.

Manche Bewohner scheinen dennoch den Versuch zu wagen, ihr Eigenheim optisch aufzuwerten, indem sie ein paar Blumen in ihren kleinen Vorgärten pflanzen, doch selbst diese Tupfen Farbe kommen gegen die Tristesse ihrer Umgebung nicht an.

»An diesen Ort kann ich mich gar nicht erinnern. Ich glaube nicht, dass ich mit meinen Eltern je hier war«, murmle ich mit einem flauen Gefühl im Magen und gehe vom Gas runter, sodass wir vorsichtig durch die Straßen tuckern. Ein Hund bellt in der Ferne, ein anderer antwortet. Ich habe Sunset Creek als diese perfekte Stadt im Herzen behalten. Wie konnte ich all die Jahre ihre Schattenseiten nicht sehen?

»Vermutlich aus gutem Grund«, meint Zuri.

Vor einer Haustür lehnt eine Frau mit verfilzten Haaren und einem ausgeleierten Tanktop und zieht an einer Zigarette, die sie mit zitternden Fingern umklammert. Zu ihr gesellt sich ein Mann, nur mit einer mit Fettflecken verzierten kurzen Stoffhose bekleidet, über deren Bund sich eine haarige Wampe schiebt. Beide halten in ihren Gesprächen inne, als wir vorbeifahren, folgen uns mit ihren Blicken, in denen eine Mischung aus Resignation, Abfälligkeit und Stumpfheit liegt.

Im Radio läuft ein fröhlicher Popsong, ein latein-amerikanischer Hit, der nach einem Sommer Popularität sicher jedem zum Hals raushängen wird. Die beschwingte Musik beißt sich mit der Atmosphäre des Viertels, wirkt komplett deplatziert.

»Am Ende der Straße rechts und dann immer geradeaus«, weist Matteo mich an. Ich folge seinen Anweisungen und wenige Minuten später haben wir den tristen Teil Sunset Creeks hinter uns gelassen und ich kann wieder leichter atmen.

Schließlich landen wir vor einem Gebäude, dessen Fassade mit Holz verkleidet ist. Verwitterte Fensterläden zieren die matten Fensterscheiben, Eisenakzente durchbrechen das Holz. Über der weiten Doppeltür, die mit Schnitzereien akzentuiert das Bild einer Saloontür trägt, ist eine Zielscheibe befestigt, daneben ein großer, leuchtender Neonschriftzug: Bull’s Eye. Das ist der Name der Bar.

Eigentlich ist die ganze Wild-West-Optik überhaupt nicht mein Vibe, aber Matteo und Zuri wirken beinahe verdächtig aufgeregt, zumindest lassen ihre verstohlenen Blicke und Matteos Grinsen mich Böses erahnen. Dennoch versuche ich mich auch an einem Lächeln.

»Wieso genau sind wir eigentlich ausgerechnet hier?« Ein wenig merkwürdig kommt es mir schon vor, extra für eine Bar so weit zu fahren.

»Um deine erste Woche hier gebührend zu feiern«, wiederholt Zuri, was ich eh schon weiß.

»Wart’s ab«, kündigt Matteo an und drückt die Holztüren auf. »Meistens ist hier tote Hose, aber heute …«

Der Geruch von Schweiß und Bier drängt uns so penetrant entgegen, dass ich instinktiv die Nase rümpfe. Innen ist es brechend voll, Menschen stehen überall, viele von ihnen tragen Cowboyhüte und die Tische und Nischen an den Wänden sind ebenfalls alle dicht besetzt. Hinter der Traube, die sich Schulter an Schulter um die Theke quetscht, kann man die Bartender kaum erkennen. Es ist laut und stickig und eng – und dann setzt Countrymusik ein. Live, wie ich sehe. Eine kleine Band performt leicht erhöht auf einem Podest gegenüber der Bar. Auf einmal kommt Leben in die Menge und aus der vorher undefinierten Masse bilden sich klare Linien, während ein Mann mit Cowboyhut Ansagen in ein Mikrofon singt. Ist das … eine Tanzfläche?

»Heute ist Linedance«, bestätigt Matteo meine Erkenntnis. »Und dann ist immervoll.«

»Hijole«, murmle ich. O mein Gott.

Ich würde am liebsten wieder umdrehen, doch Matteo hat wohl einige freie Plätze erspäht. Ich muss an mich halten, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

»Warte!«, ruft Zuri. Sie nimmt mich bei der Hand und zieht mich durch die Menge. Schließlich entdecken wir Matteo an einem kleinen, runden Tisch, der ein wenig verdeckt vom Rest des Raumes in einer Nische steht. Kaum, dass wir uns gesetzt haben, springt Matteo wieder auf und sieht uns erwartungsvoll an.