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Robert Musil: Über die Dummheit E-Book

Robert Musil

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Beschreibung

In seinem 1937 gehaltenen Vortrag "Über die Dummheit" unternimmt Robert Musil eine scharfsinnige Analyse eines überraschend komplexen Phänomens. Der österreichische Schriftsteller und Kulturkritiker nähert sich der Dummheit nicht als simplem Mangel an Intelligenz, sondern als vielschichtigem kulturellem und gesellschaftlichem Phänomen. Mit der für ihn charakteristischen Präzision und seinem feinen Gespür für Ironie untersucht Musil verschiedene Erscheinungsformen der Dummheit – von der "ehrlichen" bis zur "intelligenten" Variante. Er zeigt auf, dass Dummheit paradoxerweise oft in enger Nachbarschaft zu hoher Bildung und Intelligenz anzutreffen ist. Diese essayistische Betrachtung ist sowohl zeitkritische Analyse als auch philosophische Reflexion. Musils Text ist dabei nicht nur eine scharfsichtige Diagnose seiner Zeit, sondern bietet auch für gegenwärtige Generationen erhellende Einsichten in die verschiedenen Gesichter der Dummheit und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen.

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Seitenzahl: 43

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Robert Musil

Über die Dummheit

Copyright © 2024 Novelaris Verlag

1. Auflage

ISBN: 978-3-68931-161-2

Inhaltsverzeichnis

Über die Dummheit

Cover

Table of Contents

Text

Über die Dummheit

Vortrag auf Einladung des österreichischen Werkbunds, gehalten in Wien am 11. und 17. März 1937

Meine Damen und Herren!

Einer, so sich unterfängt, über die Dummheit zu sprechen, läuft heute Gefahr, auf mancherlei Weise zu Schaden zu kommen; es kann ihm als Anmaßung ausgelegt werden, es kann ihm sogar als Störung der zeitgenössischen Entwicklung ausgelegt werden. Ich selbst habe schon vor etlichen Jahren geschrieben: »Wenn die Dummheit nicht dem Fortschritt, dem Talent, der Hoffnung oder der Verbesserung zum Verwechseln ähnlichsähe, würde niemand dumm sein wollen.« Das ist 1931 gewesen; und niemand wird zu bezweifeln wagen, daß die Welt auch seither noch Fortschritte und Verbesserungen gesehen hat! So entsteht allmählich eine gewisse Unaufschieblichkeit der Frage: Was ist eigentlich Dummheit?

Ich möchte auch nicht außer acht lassen, daß ich als Dichter die Dummheit noch viel länger kenne, könnte ich doch sogar sagen, ich sei manches Mal in kollegialem Verhältnis zu ihr gestanden! Und sobald in der Dichtung ein Mann die Augen aufschlägt, sieht er sich überdies einem kaum beschreiblichen Widerstand gegenüber, der alle Formen annehmen zu können scheint: sei es persönliche, wie etwa die würdige eines Professors der Literaturgeschichte, der, gewohnt, auf unkontrollierbare Entfernungen zu zielen, in der Gegenwart unheilstiftend danebenschießt; sei es luftartig allgemeine, wie die der Umwandlung des kritischen Urteils durch das kaufmännische, seit Gott in seiner uns schwer begreiflichen Güte die Sprache des Menschen auch den Erzeugern von Tonfilmen verliehen hat. Ich habe früher schon ein oder das andere Mal mehr solcher Erscheinungen beschrieben; aber es ist nicht nötig, das zu wiederholen oder zu vervollständigen (und anscheinend wäre es sogar unmöglich angesichts eines Hanges zur Größe, den alles heute hat): es genügt, als sicheres Ergebnis hervorzuheben, daß sich die unkünstlerische Verfassung eines Volkes nicht erst in schlechten Zeiten und auf rüde Weise äußert, sondern auch schon in guten und auf jegliche Weise, so daß Bedrückung und Verbot nur dem Grade nach verschieden sind von Ehrendoktoraten, Akademieberufungen und Preisverteilungen.

Ich habe immer vermutet, daß dieser vielgestaltige Widerstand eines sich der Kunstliebe rühmenden Volkes gegen die Kunst und den feineren Geist nichts als Dummheit sei, vielleicht eine besondere Art davon, eine besondere Kunst- und vielleicht auch Gefühlsdummheit, jedenfalls aber so sich äußere, daß, was wir Schöngeistigkeit nennen, zugleich auch eine Schöndummheit wäre; und ich sehe auch heute nicht gerade viele Gründe, von dieser Auffassung abzugehen. Natürlich läßt sich nicht alles auf die Dummheit schieben, wovon ein so vollmenschliches Anliegen, wie es die Kunst ist, verunstaltet wird; es muß, wie besonders die Erfahrungen der letzten Jahre gelehrt haben, auch für die verschiedenen Arten der Charakterlosigkeit Platz bleiben. Aber nicht dürfte eingewendet werden, daß der Begriff der Dummheit hier nichts zu suchen habe, weil er sich auf den Verstand beziehe, und nicht auf Gefühle, die Kunst hingegen von diesen abhänge. Das wäre ein Irrtum. Selbst der ästhetische Genuß ist Urteil und Gefühl. Und ich bitte Sie um die Erlaubnis, dieser großen Formel, die ich Kant entlehnt habe, nicht nur die Erinnerung anfügen zu dürfen, daß Kant von einer ästhetischen Urteilskraft und einem Geschmacks urteil spricht, sondern auch gleich die Antinomien wiederholen zu dürfen, zu denen es führt:

Thesis: Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffe, denn sonst ließe sich darüber disputieren (durch Beweis entscheiden).

Antithesis: Es gründet sich auf Begriffe, denn sonst ließe sich darüber nicht einmal streiten (eine Einstimmung anstreben).

Und nun möchte ich fragen, ob nicht ein ähnliches Urteil mit ähnlicher Antinomie auch der Politik zugrunde liege und dem Wirrsal des Lebens schlechthin? Und darf man nicht, wo Urteil und Vernunft zu Hause sind, auch ihre Schwestern und Schwesterchen, die verschiedenen Weisen der Dummheit, erwarten? So viel über deren Wichtigkeit. Erasmus von Rotterdam hat in seinem entzückenden und heute noch unverbrauchten »Lob der Torheit« geschrieben, daß ohne gewisse Dummheiten der Mensch nicht einmal auf die Welt käme!

* * *

Ein Gefühl von der ebenso schamverletzenden wie gewaltigen Herrschaft der Dummheit über uns legen denn auch viele Menschen an den Tag, indem sie sich freundlich und konspiratorisch überrascht zeigen, sobald sie vernehmen, einer, dem sie Vertrauen schenken, habe vor, dieses Untier beim Namen zu beschwören. Diese Erfahrung habe ich nicht nur anfangs an mir selbst machen können, sondern habe bald auch ihre historische Geltung erfahren, als mir auf der Suche nach Vorgängern in der Bearbeitung der Dummheit – von denen mir auffallend wenige bekannt geworden sind; aber die Weisen ziehen es anscheinend vor, über die Weisheit zu schreiben! – von einem gelehrten Freund der Druck eines im Jahre 1866 gehaltenen Vortrags zugeschickt worden ist, der zum Verfasser Joh. Ed. Erdmann, den Hegelschüler und Hallenser Professor, gehabt hat. Dieser Vortrag, der »Über Dummheit« heißt, beginnt denn gleich damit, daß man schon seine Ankündigung lachend begrüßt habe; und seit ich weiß, daß das sogar einem Hegelianer widerfahren kann, bin ich überzeugt, daß es mit solchem Verhalten der Menschen zu denen, die über Dummheit sprechen wollen, eine besondere Bewandtnis hat, und befinde mich sehr unsicher in der Überzeugung, eine gewaltige und tief zwiespältige psychologische Macht herausgefordert zu haben.