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Wie klein die Erstklässler sind, wenn man schon in die zweite Klasse geht! Mimi fühlt sich großartig. In der zweiten Klasse ist alles noch besser als in der ersten und man muss sogar schon ein Lineal benutzen. Roberta schämt sich trotzdem, auf dem Schulhof mit Mimi zu reden, aber die ist ja auch noch größer und schon in die vierte Klasse. Trotzdem will Mimi Robertas Freundin bleiben und hilft ihr, den alten Enok zu beobachten. Roberta ist sich nämlich sicher, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Obwohl er ein Schuhgeschäft hat, mag er gar keine Schuhe und verhält sich auch sonst ganz merkwürdig. Die beiden Detektivinnen legen sich auf die Lauer. Biografische Anmerkung Viveca Lärn wurde 1944 als Tochter des Journalisten und Zeichners Hubert Lärn in Göteborg geboren. Nach einer Karriere als Journalistin bei verschiedenen schwedischen Zeitungen beschloss sie im Jahr 1983, sich vollständig dem Schreiben von Büchern zu widmen. Seit ihrem ersten Kinderbuch aus dem Jahr 1975 hat sie insgesamt 40 Kinderbücher veröffentlicht. Berühmt wurde sie vor allem durch die Mimmi-Buchserie, die mit dem Buch "Mimmi und das Monster im Schrank" eingeleitet wurde. Viveca Lärn wurde mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter der Astrid Lindgren-Preis, die Nils Holgersson-Plakette und Expressens Heffaklumb.
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Seitenzahl: 151
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Deutsch von Angelika Kutsch
Zeichnungen von Eva Eriksson
Saga
Liebes neues rotes Tagebuch,
ich taufe dich mit Pfefferminztee
auf den Namen Botilda.
Jetzt taufe ich dich. Spritz, spritz.
Und von nun an heißt du Botilda.
Morgen fängt die Schule wieder an. Papa hat versprochen, mit mir zusammen ein Lineal zu kaufen. Wenn man in die zweite Klasse kommt, braucht man ein rosa Lineal mit weißen Wolken drauf.
Oh, es klingelt gerade. Tschüs, Botilda.
Es war Roberta. Ein Glück, daß ich zur Tür gegangen bin. Wenn Papa aufmacht, vergißt Roberta immer, ihm guten Tag zu sagen. Sie rennt einfach an ihm vorbei und hinein in mein Zimmer. Darüber ärgert sich Papa jedesmal.
»Beeil dich!« rief Roberta, kaum, daß ich geöffnet hatte. »Wir müssen was ganz Wichtiges tun, und es ist schrecklich eilig.«
»Das geht nicht«, sagte ich. »Papa und ich wollen gleich ein Lineal für mich kaufen.«
Roberta rollte mit den Augen und legte ihre Hand auf meine Stirn. »Hast du Fieber?« fragte sie. »Die Schule fängt doch erst morgen an. Willst du dir die ganzen Sommerferien verderben und jetzt ein Lineal kaufen?«
Papa freute sich überhaupt nicht, als ich sagte, ich wolle mit Roberta weggehen statt mit ihm ein Lineal zu kaufen.
»Aber Roberta und ich haben was ganz Wichtiges vor«, sagte ich. »Das Lineal können wir ein andermal kaufen. Wir wollen uns doch nicht die Sommerferien verderben.«
Papa sah erstaunt aus, aber dann setzte er sich hin und fing an, in einem seiner geliebten Kataloge zu blättern. Es sind lauter Zwiebeln drin abgebildet. Solche, die man im Herbst in die Erde steckt, und im Frühling kommen Tulpen heraus. Obwohl wir keine Erde haben. Trotzdem liest Papa alles über Zwiebeln.
Ich lief hinter Roberta her, und sie blieb erst vor Enoks Schuhgeschäft stehen. Dort legte sie mir die Arme um den Hals und blies warme Luft ins Ohr. Ich glaub, es war das linke. Oder vielleicht das rechte. Man grüßt mit der rechten Hand. Also war es das linke Ohr? Oder doch das rechte?
Was für einen Schreck ich kriegte, Botilda, als ich einen Augenblick lang glaubte, ich hätte während der langen Sommerferien vergessen, wie das mit rechts und links ist! Was würde meine Lehrerin dazu sagen?
Ich machte die Augen zu und versuchte mir vorzustellen, wie sie aussieht. Es ging nicht! Es ist wirklich schrecklich, wenn man so lange Ferien hat. Wenn meine Lehrerin nun mal die Straße entlangkam, und ich erkannte sie nicht wieder!
Sie würde sagen: »Guten Tag, kleine Mimi!«
Und ich würde nicht antworten, denn ich darf nicht mit fremden Leuten reden. Furchtbar!
Jetzt stampfte Roberta mit dem Fuß auf.
»Was ist los mit dir, Mimi?« schrie sie. »Du hörst mir ja gar nicht zu! Dabei ist es so wichtig.«
»Oje«, antwortete ich. »Sag’s noch mal. Ich hab grad an meine Lehrerin gedacht.«
Roberta seufzte, aber dann drückte sie ihren Mund wieder gegen mein Ohr. Es war ganz bestimmt das rechte.
»Wir müssen Enok beobachten«, sagte sie. »Er ist sehr merkwürdig. Wir wollen ihm nachschleichen.«
Enok! Dann hätte ich ebensogut mit Papa ein Lineal kaufen können. Womöglich sind die Lineale morgen ausverkauft. Dann ist es Robertas Schuld.
»Enok«, sagte ich, »das ist doch nur ein alter Mann, der Schuhe verkauft.«
»Enok«, quietschte Roberta, »ist überhaupt kein gewöhnlicher alter Mann. Ich hab ihn beobachtet. Er macht undurchsichtige Sachen. Gestern hat er seinen Laden mitten am Tag geschlossen, und dann ist er mit seiner Angel um die Ecke da verschwunden.«
»Vielleicht wollte er angeln gehen«, sagte ich böse.
»Der See liegt aber in der anderen Richtung«, sagte Roberta.
»Es ist wirklich blöd, wenn man sich mit so einer Nuckelflasche aus der ersten Klasse wie dir abgeben muß.«
»Ich komme morgen in die zweite Klasse«, sagte ich.
Es war ein tolles Gefühl im Bauch, zweite Klasse zu sagen.
»Wir schleichen Enok nach«, sagte Roberta, »nur du und ich.«
Es ist nicht zu fassen, wie nett sie ist!
Es ist gerade sechs Uhr morgens, und ich kann nicht wieder einschlafen, obwohl ich es schon viermal versucht hab. Um zehn beginnt die Schule, und ich hab vor vier Sachen Angst:
Wenn meine Lehrerin nicht mehr meine Lehrerin ist, sondern eine andere – vielleicht eine Punkerin mit viereckigen Nasenlöchern. Das hab ich heut nacht geträumt.
Wenn alle anderen Lineal und Papier auf dem Tisch haben und ich nicht.
Wenn der Hausmeister mich nicht wiedererkennt und Linda mit »Hallo, Mimi!« begrüßt.
Wenn alle anderen große weiße richtige Zähne gekriegt haben in den Sommerferien.
Der Schulanfang war wunderbar. Du hättest dabeisein sollen, Botilda. Wir sollen Schönschrift und alles mögliche lernen. Björn Axelsson hat vorne riesengroße Zähne gekriegt. Wie Zuckerstückchen. Er hat sich auf den Bauch geklopft und gesagt, daß er diesen Sommer viel Eis gegessen hat. Davon sind seine Zähne so groß geworden.
»Wieviel Eis?« hat Linda gefragt.
Das wußte Björn nicht. Er stellte sich eine Weile auf die Hände. Aber Linda hat bloß die Nase kraus gezogen.
Sie hat ein besonderes Notizbuch von ihrem Papa gekriegt, und in dem hat sie jedes Eis aufgeschrieben, das sie im Sommer gegessen hat.
Die Lehrerin fragte, ob wir in den Ferien auch viel Eis gegessen haben.
Da meldete Linda sich. »Ich hab jeden Tag Eis gegessen, außer am 24. Juni«, sagte sie. »Da hatte ich Bauchschmerzen.«
Wie leicht es war, »Hier« zu sagen, als wir aufgerufen wurden! Ich bekam nicht mal einen Schluckauf.
Lindas Mama und Papa saßen in ihren besten Kleidern am Fenster und lächelten. Sonst waren keine Mamas und keine Papas da.
Meine Mama wollte eigentlich auch kommen. Aber ich wollte es nicht, obwohl sie sich ihre blauen langen Hosen und den blauen Pullover und die gewöhnlichen blauen Schuhe angezogen hatte. Damit sieht sie ja fast aus, wie eine richtige Mama aussehen sollte.
»Ich bin doch keine Nuckelflasche aus der ersten Klasse, Mama«, hab ich gesagt.
»Ich weiß«, sagte sie seufzend und zog wieder ihr Lieblingskleid mit dem Tigermuster an.
Unsere Lehrerin war so süß. Sie hat im Sommer lauter Sommersprossen auf den Backen und an den Händen bekommen. Sommerferien müssen langweilig sein, wenn man Lehrerin ist. Dann hat man gar nichts zu tun. Wenn ich Lehrerin werde, dann werd ich während der Sommerferien Schwimmlehrerin. Ich langweile mich bestimmt nicht. Aber vielleicht werde ich auch Bäcker. Bäcker oder Hirnchirurg, das ist die Frage.
Ich mußte einen Haufen komischer Papiere mit nach Hause nehmen. Auf einem stand der Essensplan der Schulküche für die Woche. Wir sollten zweimal Hühnerfrikassee und dreimal Leber essen. Wenn es Leber gibt, bin ich wahrscheinlich krank. Furchtbar krank. Verflixt krank. Hast du gemerkt, daß ich geflucht habe, Botilda? Man ist schließlich nicht mehr so eine Nuckelflasche aus der ersten Klasse. Aber ich hab sie gesehen. Huh. Die Nuckelflaschen, mein ich. Sie standen auf dem Schulhof herum. Kaum zu glauben, wie klein die sind. Wie Erdnüsse.
Aber den Hausmeister hab ich nicht gesehen. Hoffentlich ist er nicht gestorben.
Himmel, macht das einen Spaß, in die zweite Klasse zu gehen. Aber es ist schrecklich, wie ich im Augenblick fluche. Mama hat mir Fluchen verboten. Aber Papa darf das, komischerweise. Mama sagt, ihn hat sie schließlich nicht erzogen.
Gestern ist unser Fernseher kaputtgegangen (wieder mal), und da hat Papa gleich mehrere Flüche losgelassen. Er hat mindestens zweimal das Wort mit »Sch« am Anfang gesagt.
Heute war die Schule erst um zwanzig vor zwei aus. Es ist herrlich, so lange in die Schule zu gehen. Dann ist man richtig müde und hungrig, wenn man nach Hause kommt. Mama lag noch im Bett, denn sie ist erst von der Arbeit gekommen, als ich heute morgen wegging. Ich will nie Serviererin werden wie sie.
»Ich nehm mir ein Butterbrot!« hab ich Mama zugerufen. »Roberta wartet draußen auf mich.«
»Wir müssen uns ein Notizbuch anschaffen und alles aufschreiben, was Enok tut«, sagte Roberta, als ich auf die Straße kam. »Komm, wir gehen rauf zu dir und holen Geld.«
Aber wir kriegten kein Geld. Mama war wieder eingeschlafen. Sie tat jedenfalls so. Ihre Augenlider waren fast kariert, so fest hat sie sie zugekniffen. Wir gingen wieder nach unten.
»Du«, sagte Roberta, »deine Mama ist ein Geizkragen. Jetzt können wir Enok nicht auf die Schliche kommen. Vielleicht macht er ganz schreckliche Sachen, und wir können sie nicht aufschreiben.«
»Vielleicht kriegen wir von deiner Mama Geld«, sagte ich.
Roberta rollte mit den Augen. »Die arbeitet doch. Aber wir können ja mal zu ihr gehen.«
Das wollte ich lieber nicht. Wo Robertas Mama arbeitet, riecht es so nach Zahnarzt. Sie ist nämlich Zahnärztin.
»Ich kann nicht«, sagte ich. »Der Weg ist zu weit, und ich hab mir den Zeh verstaucht.«
»Selbst schuld«, schrie Roberta. »Ich hab tausend Freunde, die besser sind als du!« Und dann rannte sie weg.
Ich mag nicht mit Roberta verkracht sein. Aber diesmal war es bestimmt für immer.
Ich lief nach Hause und warf mich aufs Bett und weinte so, daß meine Kuschelmöwe Alfons ganz nasse Flügel kriegte. Wie schrecklich alles war! In der ersten Klasse ist es viel schöner gewesen.
Plötzlich steckte Mama den Kopf zur Tür herein. »Mimi, hast du meine Schlüssel gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf. Mama sah verwundert aus.
»Ich dachte, du wärst draußen und spielst mit Roberta«, sagte sie.
»Nicht, daß ich wüßte«, antwortete ich.
Sie merkte nicht mal, daß ich weinte, so verschlafen war sie. Ich könnte mich wahrscheinlich totheulen, ohne daß es jemand merkt.
Da klingelte das Telefon. Wenn das nun ...
»Ich geh ran!« schrie ich und stürzte in den Flur. Dabei warf ich einen Hocker voll Kleider um, aber ich war jedenfalls als erste am Telefon. Es war Roberta!
»Ist dein blöder Zeh wieder heil?« fragte sie.
»Bestens«, antwortete ich.
»Ich hab ein Notizbuch beschafft«, sagte sie.
»Du bist toll, Roberta«, sagte ich.
»Wir treffen uns in vier Minuten vor Enoks Laden«, sagte sie und legte den Hörer auf.
Ich umarmte Mama und tanzte mit ihr um den umgefallenen Hocker.
Papa liest wieder in seinem Samenkatalog, und ich schreib Geheimnisse in mein Tagebuch.
Roberta und ich haben uns in Enoks Laden geschlichen. Ich war zum erstenmal in meinem Leben ohne Mama oder Papa oder Tante Anna in einem Schuhgeschäft. Das war aufregend.
»Was sagen wir, wenn Enok uns fragt, was wir wollen?« flüsterte ich Roberta zu.
»Still«, zischte sie. »Du mußt ganz eiskalt tun.«
Ich versuchte es.
Im Laden waren zwei alte Tanten, die nebeneinander auf zwei Stühlen saßen. Auf dem Boden rund um ihre Füße lagen Schuhe in einem riesigen Durcheinander. Die eine Tante sah aus, als ob sie sehr energisch wäre. Sie hielt eine große Tasche auf dem Schoß und trug schmutzige weiße Schuhe.
Die andere Tante guckte ganz unglücklich. Sie hatte braune Strümpfe an, die Falten schlugen, und an dem einen Zeh hatte sie ein kleines Loch im Strumpf.
Enok lag auf Knien vor den Tanten und schwitzte. Seine Brille hing an einem Band um seinen Hals, aber jetzt setzte er sie sich auf die Nase. Gleichzeitig versuchte er, einen braunen Mokassin auf den Fuß der Tante mit dem Loch im Strumpf zu schieben.
»Das sind sehr schöne bequeme Mokassins«, sagte Enok.
»Das fanden wir doch eben, nicht wahr?«
»Sie sind unpraktisch, wenn es regnet«, sagte die Tante bekümmert. »Sie kriegen Flecken.«
»Aber meine liebe Ruth«, sagte die andere Tante. »Ich habe meine Mokassins nun schon vier Jahre, und da ist noch kein einziger Flecken drauf.«
»Bist du denn schon mal damit im Regen gewesen?« fragte die traurige Tante.
Enok zog ihr den Mokassin vom Fuß und hielt ein Paar gelbe Schuhe hoch.
»Wenn man richtige Qualität wünscht«, sagte er, »kann man an diesen Schuhen nicht vorbeigehen. Echtes Büffelleder! Ein sehr strapazierfähiger, guter Wanderschuh.«
Plötzlich sah die traurige Tante fast fröhlich aus. Sie streckte die Hand nach einem Paar weinroten, etwas verstaubten Schuhen aus.
»Die hier gefallen mir«, sagte sie. »Wirklich sehr hübsch und bequem. Genau mein Stil. Darf ich die mal probieren?«
Enok wischte sich die Stirn ab. Dabei rutschte ihm die Brille von der Nase und baumelte wieder an der Schnur.
»Aber das sind doch Ihre eigenen Schuhe!« rief er.
»So ein Glück«, sagte die Frau und zog sich die Schuhe an.
»Und billig! Die behalt ich.«
Die beiden gingen. Enok seufzte tief und fing an, die Schuhhaufen zu sortieren. Plötzlich bemerkte er uns.
»Hallo, Mädchen«, sagte er müde. Er lächelte nicht mal. »Was möchtet ihr denn? Hoffentlich keine Schuhe probieren!«
»Nein, nein«, sagte Roberta. »Wir wollten bloß wissen, wie spät es ist.«
»Ach so«, sagte Enok. »Das ist aber komisch. Warum habt ihr nicht auf die große Uhr am Marktplatz beim Uhrgeschäft geschaut?«
Er warf den Schuhen aus gelbem Büffelleder einen bösen Blick zu und hängte sie an zwei Haken.
»Weißt du denn nicht, wie spät es ist?« fragte Roberta.
Sie hat vielleicht Mut!
»Doch«, sagte Enok, »es ist fünf vor halb vier. Das weiß ich deshalb so genau, weil ich jeden Tag um drei Uhr Cornflakes mit Milch esse. Und das hatte ich gerade getan, als die beiden Frauen kamen. Sie probieren immer genau zwanzig Minuten lang Schuhe an.«
Roberta stieß mich in die Seite. Ich fiel fast in ein Regal mit echten Fellpantoffeln aus Lappland.
»Vielen Dank«, sagte sie.
Dann liefen wir auf die Straße und blieben nicht eher stehen, bis wir sicher waren, daß Enok uns nicht mehr sehen konnte. Es könnte ja sein, daß er uns aus einem seiner Schaufenster nachschaute.
Roberta rutschte unter die gelbe Bank im Park. Das ist unser geheimer Treffpunkt. Sie nahm ein kleines weißes Notizbuch und einen Kugelschreiber aus der Tasche und schrieb:
»Enok: Jeden Tag um drei Cornflakes mit Milch. Sehr interessant.«
Dann schlug sie das Buch zu. »Jetzt gehen wir Ball spielen.«
Gestern abend konnte ich nicht einschlafen. Ich mußte erst über Enok nachdenken. Vielleicht hatte Roberta recht. Irgendwas ist komisch mit ihm. Er scheint Schuhe gar nicht zu mögen. Und er selbst trägt nie richtige Schuhe. Keine braunen Schuhe mit kleinen Löchern wie unser Hausmeister in der Schule, keine Turnschuhe wie Papa und keine Schnürschuhe.
Im Sommer hat er komische Sandalen und Strümpfe an. Und im Winter geht er in Fellpantoffeln. Manchmal, wenn ich ihn mit seiner Angel zum Fischen gehen seh, trägt er grüne Gummistiefel mit Schleifen an den Knien. Niemals wirklich richtige Schuhe.
Mama kam herein und setzte sich zu mir auf die Bettkante. Es kommt so selten vor, daß sie abends mal frei hat und mir gute Nacht sagen kann. Das ist dann besonders schön.
»Woran denkst du?« fragte sie. »Denkst du daran, daß du jetzt in die zweite Klasse gehst?«
»Nein, ich denk an Enok«, antwortete ich.
»Als ich in die zweite Klasse ging«, sagte Mama, »da fühlte ich mich schon richtig groß. Am ersten Tag trug ich ein Kleid aus Kordsamt. Es war braun. Und außerdem hatte ich Pflaster auf den Knien. Ich war richtig stolz darauf, daß ich zum Ende der Sommerferien so oft hingefallen war. Meine ersten Sommerferien ...«
»Was meinst du, Mama, mag Enok Schuhe?« fragte ich.
»Wieso – Enok?« fragte Mama. »Klar mag er Schuhe. Er hat doch ein Schuhgeschäft. Warum fragst du das?«
»Ich glaub nicht, daß er Schuhe mag«, sagte ich. »Erinnerst du dich, als du im Frühling die hochhackigen Schuhe aus Schlangenleder gekauft hast? Er hat dich richtig böse angeguckt.«
Mama dachte eine Weile nach. »Du hast recht«, sagte sie schließlich. »›lch begreif nicht, wie jemand solche Schuhe anziehen kann‹, hat er gesagt. So was sagt man doch nicht, wenn man Schuhe verkaufen will.«
»Und dann hat er noch gesagt, daß sie bald kaputtgehen werden, weil sie in Kalmar hergestellt wurden.«
»In Kalmar?«
»Ja, Kalmar. Erinnerst du dich nicht?«
»Nein, es war Taiwan«, sagte Mama. »Er hat gesagt, daß sie keine guten Schuhe machen in Taiwan.«
»Ein starkes Stück«, sagte ich. »Wenn das nun mal jemand aus Kalmar gehört hätte!«
»Schlaf jetzt«, sagte Mama, »vergiß die Schule nicht. Was habt ihr morgen?«
»Wir fangen mit Abraham an«, sagte ich.
»Oh«, sagte Mama. »Als ich klein war, kannte ich einen Jungen, der hatte eine Schildkröte, und die hieß Abraham Svensson ...«
Dann sagte sie nichts mehr und blieb sitzen und starrte zum Fenster, obwohl das Rollo runtergezogen war. Und als ich eben aufgewacht bin, da war sie weg.
Als ich heute zur Schule kam, war die ganze Klasse auf dem Schulhof versammelt, und kein Mensch redete von Abraham. Alle trugen Gummistiefel und Tüten mit Pausenbrot, und einige hatten Mützen auf. Nur ich hatte meine gewöhnlichen Schuhe an und kein Pausenbrot. Ich dachte, ich müßte tot umfallen, so sehr schämte ich mich.
Da kam unsere Lehrerin. Sie trug ein komisches Riesentaschentuch auf dem Kopf und einen großen Korb mit Pausenbroten. Sie starrte mich wie alle anderen an.
»Hast du vergessen, daß wir heute Wandertag haben?« fragte sie. »Hast du deiner Mutter nicht den Zettel gegeben?«
Dann mußten alle auf mich warten, während ich wieder nach Hause lief.
Niemand war da. Ich rief durch den Briefkastenschlitz, aber keiner machte auf. Da mußte ich runterlaufen zu Perssons, die unseren Schlüssel haben. Frau Persson öffnete die Tür. Sie hatte Lockenwickler im Haar und einen grünen Morgenmantel an und hielt ihren blöden Hund fest, der immer auf mich los will. Nach einer ganzen Weile brachte sie endlich unseren Schlüssel, und ich raste rauf zu unserer Tür. Zuerst paßte der Schlüssel nicht, und die ganze Zeit, während ich im Schlüsselloch herumstocherte, brüllte ich: »Wir sind zwanzig Leute. Und Papa und Albin stehen draußen!« Das schrei ich immer, wenn ich allein nach Hause komme, damit jeder Angst kriegt. Es könnte ja ein fremder finsterer Typ drinnen in unserer Wohnung sein.
»Papa und Albin«, schrie ich, »wartet im Treppenhaus. Ich mach mir nur zwei Butterbrote für den Wandertag.«