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"In der Nacht, als Ronja geboren wurde, rollte der Donner über die Berge. Ja, es war eine Gewitternacht, dass sich selbst alle Unholde, die im Mattiswald hausten, erschrocken verkrochen …" Mitten im Wald, zwischen Räubern, Graugnomen und Wilddruden, wächst Ronja, die Tochter des Räuberhauptmanns Mattis, auf. Eines Tages trifft sie auf ihren Streifzügen Birk, den Räubersohn aus der verfeindeten Sippe von Borka. Und als die Eltern den beiden verbieten, Freunde zu sein, fliehen Ronja und Birk in die Wälder …
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Veröffentlichungsjahr: 2019
»In der Nacht, als Ronja geboren wurde, rollte der Donner über die Berge. Ja, es war eine Gewitternacht, dass sich selbst alle Unholde, die im Mattiswald hausten, erschrocken verkrochen …«
Mitten im Wald, zwischen Räubern, Graugnomen und Wilddruden, wächst Ronja, die Tochter des Räuberhauptmanns Mattis, auf. Eines Tages trifft sie auf ihren Streifzügen Birk, den Räubersohn aus der verfeindeten Sippe von Borka. Und als die Eltern den beiden verbieten, Freunde zu sein, fliehen Ronja und Birk in die Wälder …
In der Nacht, als Ronja geboren wurde, rollte der Donner über die Berge, ja, es war eine Gewitternacht, dass sich selbst alle Unholde, die im Mattiswald hausten, erschrocken in ihre Höhlen und Schlupfwinkel verkrochen. Nur die wilden Druden liebten Gewitter mehr als jedes andere Wetter und flogen mit Geheul und Gekreisch um die Räuberburg auf dem Mattisberg. Das störte Lovis, die dort lag, um ein Kind zu gebären, und sie sagte zu Mattis:
»Scheuch diese Grausedruden weg, damit es hier still ist, sonst höre ich nicht, was ich singe!«
Es war nämlich so, dass Lovis sang, als sie ihr Kind gebar. Es gehe dann leichter, behauptete sie, und wahrscheinlich werde das Kind auch von heiterer Natur, wenn es bei Gesang zur Welt kam.
Mattis griff nach seiner Armbrust und schoss ein paar Pfeile durch die Schießscharte.
»Trollt euch, ihr Wilddruden!«, brüllte er. »Ich krieg heut Nacht doch ein Kind, begreift ihr das nicht, ihr Scheusale?«
»Hoho, er kriegt heut Nacht ein Kind!«, heulten die Wilddruden. »Wohl ein Gewitterkind, klein und hässlich fürwahr, hoho!«
Da schoss Mattis noch einmal mitten in die Schar, aber sie hohnlachten nur über ihn und flogen mit wütendem Gekreisch über die Baumwipfel davon.
Während Lovis dort lag und sang und ihr Kind gebar und Mattis die Wilddruden bändigte, so gut er es vermochte, saßen unten in der großen Steinhalle seine Räuber am Feuer und schmausten und zechten und lärmten nicht weniger laut als die Druden. Irgendwas mussten sie ja tun, während sie warteten, und alle zwölf warteten nur darauf, was da oben im Turmzimmer geschehen würde. Denn in ihrem ganzen Räuberleben war auf der Mattisburg noch nie ein Kind geboren worden. Am allermeisten wartete Glatzen-Per.
»Kommt denn dieses Räuberbalg nicht bald?«, sagte er. »Ich bin alt und klapprig und bald fertig mit meinem Räuberleben. Es wär schongut, einen neuen Räuberhauptmann zu sehen, bevor es mit mir zu Ende geht.«
Kaum hatte er das gesagt, da öffnete sich die Tür, und hereingestürzt kam Mattis, ganz von Sinnen vor Freude. Mit hohen Jubelsprüngen lief er durch die große Halle und schrie dabei wie närrisch: »Ich hab ein Kind gekriegt! Hört ihr, was ich sage? Ich hab ein Kind gekriegt!«
»Was ist’s denn geworden?«, fragte Glatzen-Per hinten aus seiner Ecke.
»Eine Räubertochter, juchhe und juchhei! Eine Räubertochter. Hier kommt sie!«
Und über die hohe Schwelle schritt Lovis mit ihrem Kind im Arm. Da wurde es mucksstill unter den Räubern.
»Na, jetzt ist euch wohl das Bier in die falsche Kehle gerutscht, was?!«, sagte Mattis.
Er nahm Lovis das kleine Mädchen ab und zeigte es den Räubern, einem nach dem andern.
»Da! Falls ihr das schönste Kind sehen wollt, das je in einer Räuberburg geboren wurde!«
Die Tochter lag in seinem Arm und guckte ihn mit wachen Augen an.
»Der Fratz weiß und versteht schon so allerlei, das sieht man«, sagte Mattis.
»Wie soll sie denn heißen?«, fragte Glatzen-Per.
»Ronja«, antwortete Lovis. »So wie ich es schon seit Langem beschlossen habe.«
»Aber wenn’s nun ein Junge geworden wär?«, meinte Glatzen-Per.
Lovis sah ihn ruhig und streng an. »Wenn ich beschlossen habe, dass mein Kind Ronja heißt, dann wird es auch eine Ronja.«
Sie wandte sich an Mattis.
»Soll ich sie dir jetzt abnehmen?«
Aber Mattis wollte sich noch nicht von seiner Tochter trennen. Er stand da und sah mit Staunen ihre klaren Augen, ihren winzigen Mund, ihren dunklen Haarschopf und ihre hilflosen Hände, und er erschauerte vor Liebe.
»Du Kind, in diesen kleinen Händen hältst du schon jetzt mein Räuberherz«, sagte er. »Ich begreife es nicht, aber es ist so.«
»Darf ich sie auch mal ein bisschen halten?«, bat Glatzen-Per. Und Mattis legte ihm Ronja in die Arme, als wäre sie ein goldenes Ei.
»Hier hast du den neuen Räuberhauptmann, von dem du so lange gefaselt hast. Lass sie aber nicht fallen, denn dann hat deine letzte Stunde geschlagen.«
Aber Glatzen-Per lächelte Ronja mit seinem zahnlosen Mund nur an.
»Irgendwie hat sie noch gar kein rechtes Gewicht«, meinte er verwundert und wog sie ein paarmal in seinen Armen.
Doch da wurde Mattis zornig und riss das Kind wieder an sich.
»Was hast du denn erwartet, du Schafskopf? Etwa einen großen, fetten Räuberhauptmann mit Schmerbauch und Spitzbart, he?«
Damit war allen Räubern klar, dass man an diesem Kind nicht herummäkeln durfte, wollte man Mattis bei guter Laune halten. Und es war wirklich nicht ratsam, Mattis zu reizen. Deshalb begannen sie auch sofort, das Neugeborene zu loben und zu preisen. Ihm zu Ehren leerten sie auch viele Humpen Bier, und das alles freute Mattis. Er ließ sich mitten unter ihnen auf dem Hochsitz nieder und zeigte ihnen immer wieder sein bestaunenswertes Kind.
»Da wird sich Borka die Pest an den Hals ärgern«, sagte er. »Soll er doch ruhig in seiner elenden Räuberhöhle hocken und vor Neid mit den Zähnen knirschen. Ja, potz Pestilenz, das gibt ein Heulen und Zähneklappern, dass sich alle Wilddruden und Graugnomen im Borkawald die Ohren zuhalten müssen, glaubt mir!«
Glatzen-Per nickte zufrieden und sagte mit einem kleinen Glucksen:
»Und ob sich Borka die Pest an den Hals ärgern wird! Denn jetzt lebt die Mattissippe weiter, aber mit der Borkasippe geht’s bergab, ja, schnurstracks zum Donnerdrummel.«
»Genau«, bestätigte Mattis, »schnurstracks zum Donnerdrummel, so sicher wie der Tod! Denn soweit mir bekannt, hat Borka noch kein Kind zustande gebracht. Und wird auch nie eins fertigkriegen.«
In diesem Augenblick gab es einen Donnerknall, wie ihn bisher noch nie jemand im Mattiswald gehört hatte. Sogar die Räuber erbleichten, und Glatzen-Per kippte um, hinfällig wie er war.
Ronja stieß unerwartet ein klägliches kleines Wimmern aus, und dieses Wimmern fuhr Mattis ärger in die Glieder als der Donnerknall.
»Mein Kind weint«, schrie er. »Was tut man, was tut man bloß?«
Aber Lovis stand ganz gelassen da. Sie nahm ihm das Kind weg und legte es an ihre Brust, und dann gab es kein Wimmern mehr.
»Das hat ja wacker geballert«, meinte Glatzen-Per, nachdem er sich etwas erholt hatte. »Ich fress einen Besen, wenn das nicht eingeschlagen hat.«
Ja, gewiss hatte es eingeschlagen, und zwar gründlich. Man sah es, als es Morgen wurde. Die uralte Mattisburg hoch oben auf dem Mattisberg war geborsten, mittendurch. Von den obersten Zinnen bis hinab zum tiefsten Kellergewölbe war die Burg jetzt in zwei Hälften geteilt, und dazwischen lag ein Abgrund.
»Ronja, dein Kinderleben beginnt großartig«, sagte Lovis, als sie mit dem Kind im Arm an der zerschmetterten Mauerkrone stand und die ganze Zerstörung sah. Mattis aber raste wie ein wildes Tier. Wie konnte so etwas der alten Burg seiner Väter geschehen? Doch seine Wut verrauchte meistens schnell, er fand immer einen Grund, sich zu trösten.
»Na ja, dann sind wir wenigstens die vielen Irrgänge und Kellerhöhlen und all das Gerümpel los. Von Stund an braucht sich keiner mehr in der Mattisburg zu verirren. Ihr wisst doch noch, wie es war, als Glatzen-Per sich verlaufen hat und erst nach vier Tagen wieder auftauchte!«
Daran wollte Glatzen-Per nicht gern erinnert werden. Konnte er denn was dafür, wenn es ihm so übel ergangen war! Er hatte ja nur herausfinden wollen, wie riesig und gewaltig die Mattisburg tatsächlich war, und hatte dabei herausgefunden, dass sie groß genug war, sich darin zu verirren. Der arme Kerl, fast halb tot war er gewesen, als er endlich zur großen Steinhalle zurückgefunden hatte. Zum Glück hatten die Räuber so gelärmt und gegrölt, dass er sie von Weitem gehört hatte, sonst hätte er wohl nie zurückgefunden.
»Die ganze Burg haben wir ja doch nie benutzt«, sagte Mat-tis.
»Und wir können in unseren Sälen und Kammern und Turmzimmern ja wohnen bleiben wie bisher. Das Einzige, was mich wurmt, ist, dass wir unseren Abtritt losgeworden sind. Ja, potz Pestilenz, der liegt jetzt drüben jenseits des Abgrunds, und wer es sich nicht verkneifen kann, bis wir einen neuen gezimmert haben, der kann einem leidtun.«
Doch diese Angelegenheit wurde schnell in Ordnung gebracht. Und das Leben auf der Mattisburg ging weiter wie bisher. Nur mit dem Unterschied, dass es dort jetzt ein Kind gab, ein kleines Kind, das Mattis und alle seine Räuber mit der Zeit mehr oder weniger närrisch machte, fand Lovis. Nicht dass es geschadet hätte, dass sie jetzt weniger grob zupackten und sich um ein bisschen mehr Anstand bemühten, aber schließlich musste alles seine Grenzen haben. Und ganz gewiss war es unnatürlich, wenn zwölf Räuber und ein Räuberhauptmann dümmlich grinsten und jubelten, als hätten sie nie ein größeres Wunder auf Erden erlebt, bloß weil ein kleines Kind gerade gelernt hatte, in der Steinhalle herumzukriechen. Gewiss krabbelte Ronja ungewöhnlich flink herum, sie hatte nämlich einen Kniff, sich mit dem linken Fuß abzustoßen, was die Räuber geradezu einzigartig fanden. Aber schließlich und endlich lernen die meisten Kinder kriechen, meinte Lovis, ohne dass darüber laut frohlockt wird und ohne dass ihr Vater deshalb alles stehen und liegen lässt und sogar seine Arbeit vernachlässigt.
»Soll es etwa dahin kommen, dass Borka sogar hier im Mattiswald die Räuberei übernimmt?«, fragte sie grimmig, wenn die Räuber mit Mattis an der Spitze zur Unzeit heimgestürmt kamen, nur weil sie es nicht verpassen wollten, wie Ronja ihren Brei aß, bevor Lovis sie für die Nacht in die Hängewiege legte.
Doch auf solch Geschwätz hörte Mattis nicht.
»Ronjakind, mein Täubchen«, schrie er, wenn Ronja ihm mithilfe des linken Fußes quer durch die Halle entgegengewieselt kam, sobald er die Tür öffnete. Und dann saß er mit seinem Täubchen auf dem Schoß da und fütterte es mit Brei, und seine zwölf Räuber schauten ihm zu. Der Napf mit dem Brei stand ein Stückchen entfernt auf der Herdkante, und da Mattis mit seinen groben Räuberpratzen etwas tollpatschig war, schwappte viel Brei auf den Boden. Außerdem versetzte Ronja dem Löffel hin und wieder einen Schubs, sodass eine Menge Brei in Mattis’ Augenbrauen landete. Als es das erste Mal geschah, lachten die Räuber so dröhnend, dass Ronja erschrak und anfing zu weinen. Doch bald kam sie dahinter, dass sie damit etwas Lustiges entdeckt hatte, und tat es gern immer wieder, was die Räuber mehr ergötzte als Mattis. Aber sonst fand Mattis alles, was Ronja sich einfallen ließ, geradezu einzigartig und sie selbst schlechthin unvergleichlich auf Erden.
Selbst Lovis musste lachen, wenn sie Mattis dort sitzen sah mit seinem Kind auf dem Schoß und Brei in Bart und Augenbrauen.
»Du liebe Zeit, Mattis, wer würde glauben, dass du der mächtigste Räuberhauptmann in allen Bergen und Wäldern bist? Wenn Borka dich so sähe, würde er sich vor Lachen in die Hosen pinkeln.«
»Das würde ich ihm bald austreiben«, antwortete Mattis ruhig.
Borka, das war der Erzfeind, so wie Borkas Vater und Großvater die Erzfeinde von Mattis’ Vater und Großvater gewesen waren. Ja, seit Menschengedenken hatten sich die Borkasippe und die Mattissippe in den Haaren gelegen. Räuber waren sie allesamt seit Urzeiten gewesen und der Schrecken aller ehrbaren Leute, die mit Pferd und Wagen voller Lasten durch die tiefen Wälder ziehen mussten, wo die Räuber hausten.
»Gott steh dem bei, der durch die Räuberschlucht muss«, pflegten die Leute zu sagen, und damit meinten sie den Engpass zwischen dem Borkawald und dem Mattiswald. Dort lagen stets Räuber auf der Lauer. Und ob dies nun Borkaräuber oder Mattisräuber waren, das war gehupft wie gesprungen, das machte für den, der ausgeraubt wurde, keinen Unterschied. Für Mattis und Borka aber machte es einen großen Unterschied. Die beiden Räuberbanden kämpften erbittert um die Beute und beraubten einander dreist, wenn nicht genug Fuhren durch die Räuberschlucht kamen.
Von all dem wusste Ronja nichts, dazu war sie noch zu klein. Sie ahnte nicht, dass ihr Vater ein gefürchteter Räuberhauptmann war. Für sie war er nur der bärtige, gutmütige Mattis, der lachte und sang und schrie und sie mit Brei fütterte. Ihn hatte sie lieb.
Sie wuchs mit jedem Tag und begann so allmählich, die Welt um sich herum zu erforschen. Lange glaubte sie, die große Steinhalle sei die ganze Welt. Und dort fühlte sie sich wohl, dort saß sie so geborgen unter der langen Tafel und spielte mit Tannenzapfen und Steinchen, die Mattis ihr mitbrachte. Und die Steinhalle war wahrlich kein übler Platz für ein Kind. Viel Spaß konnte man dort haben, und viel lernen konnte man dort auch. Ronja gefiel es, wenn die Räuber abends vor dem Feuer sangen. Still hockte sie dann unter dem Tisch und lauschte, und schließlich konnte sie alle Räuberlieder auswendig. Dann fiel sie mit glockenheller Stimme ein, und Mattis staunte über sein einzigartiges Kind, das so schön singen konnte. Auch das Tanzen brachte sie sich selber bei. Denn wenn die Räuber so recht in Schwung kamen, tanzten und hopsten sie wie närrisch durch den Saal, und Ronja guckte es ihnen schnell ab. Bald tanzte und hopste auch sie und machte Räubersprünge zu Mattis’ großem Vergnügen. Und wenn sich die Räuber danach auf den Bänken an der langen Tafel niederließen, um sich mit einem Humpen Bier zu erfrischen, prahlte er mit seiner Tochter.
»Sie ist schön wie eine kleine Drude, gebt’s nur zu! Genauso rank und schlank, genauso dunkeläugig und genauso schwarzhaarig. Noch nie habt ihr so ein hübsches kleines Mädchen gesehen, gebt’s nur zu!«
Die Räuber nickten und gaben es zu. Unterdessen saß Ronja mit ihren Zapfen und Steinchen still unter dem Tisch und spielte, und wenn sie die Räuberfüße in ihren zottigen Fellschlappen sah, spielte sie, dass sie ihre bockigen Ziegen wären. Solche hatte sie im Ziegenstall gesehen, wohin Lovis sie zum Melken mitgenommen hatte.
Aber viel mehr hatte Ronja in ihrem kurzen Leben kaum gesehen. Von dem, was es außerhalb der Mattisburg gab, wusste sie nichts. Aber eines schönen Tages sah Mattis ein – wie sehr es ihm auch missfiel –, dass die Zeit gekommen war.
»Lovis«, sagte er zu seiner Frau, »unser Kind muss lernen, wie es ist, im Mattiswald zu leben. Lass Ronja hinaus!«
»Schau an, hast du das endlich auch begriffen?«, sagte Lovis. »Wenn es nach mir gegangen wäre, dann wäre sie schon längst draußen.«
Und damit hatte Ronja die Erlaubnis, frei herumzustreunen, wie sie wollte. Vorher aber ließ Mattis sie dies und jenes wissen.
»Hüte dich vor den Wilddruden und den Graugnomen und den Borkaräubern«, sagte er.
»Woher soll ich wissen, wer die Wilddruden und die Graugnomen und die Borkaräuber sind?«, fragte Ronja.
»Das merkst du schon«, antwortete Mattis.
»Na dann«, sagte Ronja.
»Und dann hütest du dich davor, dich im Wald zu verirren«, sagte Mattis.
»Was tu ich, wenn ich mich im Wald verirre?«, fragte Ronja. »Suchst dir den richtigen Pfad«, antwortete Mattis.
»Na dann«, sagte Ronja.
»Und dann hütest du dich davor, in den Fluss zu plumpsen«, sagte Mattis.
»Und was tu ich, wenn ich in den Fluss plumpse?«, fragte Ronja.
»Schwimmst«, sagte Mattis.
»Na dann«, sagte Ronja.
»Und dann hütest du dich davor, in den Höllenschlund zu fallen«, sagte Mattis.
Er meinte den Abgrund, der die Mattisburg in zwei Hälften teilte.
»Und was tu ich, wenn ich in den Höllenschlund falle?«, fragte Ronja.
»Dann tust du gar nichts mehr«, antwortete Mattis und stieß ein Gebrüll aus, als säße ihm alles Übel der Welt in der Brust.
»Na dann«, sagte Ronja, nachdem Mattis ausgebrüllt hatte. »Dann falle ich eben nicht in den Höllenschlund. Sonst noch was?«
»O ja«, sagte Mattis. »Aber das merkst du schon selber so allmählich. Geh jetzt!«
Und Ronja ging. Ihr wurde bald klar, wie dumm sie gewesen war. Wie hatte sie nur glauben können, dass die große Steinhalle die ganze Welt wäre? Nicht einmal die gewaltige Mattisburg war die ganze Welt. Nicht einmal der hohe Mattisberg war die ganze Welt, nein, die Welt war viel größer. Sie war so, dass einem der Atem stockte. Natürlich hatte Ronja gehört, wie Mattis und Lovis über das sprachen, was es außerhalb der Mattisburg gab. Vom Fluss hatten sie gesprochen. Aber erst als sie ihn mit seinen wilden Strudeln tief unter dem Mattisberg hervorschäumen sah, begriff sie, was Flüsse waren. Vom Wald hatten sie gesprochen. Aber erst als sie ihn so dunkel und verwunschen mit all seinen rauschenden Bäumen sah, begriff sie, was Wälder waren.
Und sie lachte leise, weil es Flüsse und Wälder gab. Es war kaum zu glauben – wahr und wahrhaftig, es gab große Bäume und große Gewässer, und alles war voller Leben, musste man da nicht lachen!
Sie folgte dem Pfad geradewegs hinein in den wildesten Wald und kam zum Weiher. Weiter durfte sie nicht gehen, hatte Mattis gesagt. Und der Weiher lag dort schwarz zwischen dunklen Tannen, nur die Seerosen auf dem Wasser leuchteten weiß. Ronja wusste nicht, dass es Seerosen waren, aber sie sah sie lange an und lachte leise, weil es sie gab.
Dort am Weiher blieb sie den ganzen Tag und tat vieles, was sie noch nie ausprobiert hatte. Sie warf Tannenzapfen ins Wasser und lachte, als sie merkte, dass sie davonschaukelten, wenn sie nur mit den Füßen plätscherte. So viel Spaß hatte sie noch nie gehabt! Ihre Füße fühlten sich so froh und frei an beim Plätschern und noch froher beim Klettern. Um den Weiher lagen große, bemooste Findlinge zum Hinaufklettern, und dort standen Fichten und Kiefern zum Hangeln. Ronja kletterte und hangelte, bis die Sonne über den waldigen Bergrücken zu sinken begann. Da aß sie das Brot und trank Milch aus der Holzflasche, die sie in einem Lederbeutel mitgenommen hatte. Danach legte sie sich ins Moos, um eine Weile auszuruhen, und hoch über ihr rauschten die Bäume. Sie guckte hinauf und lachte leise, weil es sie gab. Dann schlief sie ein.
Als sie erwachte, war es schon dunkler Abend, und sie sah die Sterne über den Baumwipfeln glühen. Da begriff sie, dass die Welt noch viel mehr war, als sie geglaubt hatte. Aber es betrübte sie, dass man die Sterne nicht erreichen konnte, wie sehr man sich auch danach streckte.
Nun war sie schon länger im Wald, als ihr erlaubt worden war, und sie musste heim, sonst würde Mattis außer sich geraten, das wusste sie.
Die Sterne spiegelten sich im Weiher, alles andere war schwärzeste Dunkelheit. Doch Dunkelheit war Ronja gewohnt. Sie fürchtete sich nicht davor. Wie schwarz waren nicht die Winternächte auf der Mattisburg, wenn das Feuer erloschen war? Schwärzer als alle Wälder. Nein, vor der Dunkelheit fürchtete sie sich nicht.
Gerade als sie gehen wollte, fiel ihr der Lederbeutel ein. Er lag noch auf dem Stein, wo sie beim Essen gesessen hatte, und im Dunkeln kletterte sie jetzt hinauf, um ihn zu holen.
Ihr war, als sei sie dort oben auf dem Stein den Sternen näher, und sie reckte die Arme und versuchte ein paar zu pflücken, die sie im Lederbeutel mit heimnehmen wollte. Doch es gelang ihr nicht, und so nahm sie ihren Beutel und machte sich ans Hinabklettern.
Da sah sie etwas, das sie erschreckte. Überall zwischen den Bäumen glommen Augen, ja, rund um den Stein hatte sich ein Ring aus Augen gebildet, die sie belauerten, und sie hatte es nicht bemerkt. Nie zuvor hatte sie Augen gesehen, die im Dunkeln leuchteten, und sie gefielen ihr gar nicht.
»Was wollt ihr?«, rief sie, bekam aber keine Antwort. Stattdessen kamen die Augen näher. Langsam, Zoll um Zoll, näherten sie sich ihr, und sie hörte ein Gemurmel von Stimmen, wunderlichen, alten grauen Stimmen, die eintönig raunten:
»Graugnomen alle, Mensch hier, Mensch hier im Graugnomenwald! Graugnomen alle, beißt und schlagt zu, Graugnomen alle, beißt und schlagt zu!«
Und plötzlich waren sie alle dicht am Stein, seltsame graue Wesen, die ihr übelwollten. Ronja sah sie nicht, aber sie spürte mit Schaudern, dass sie da waren. Jetzt wusste sie, wie gefährlich sie waren, diese Graugnomen, vor denen sie sich hüten sollte, wie Mattis gesagt hatte. Aber jetzt war es zu spät.
Denn nun begannen sie mit Keulen und Knüppeln oder was sie da hatten, an den Stein zu schlagen. Es dröhnte und hallte und krachte so unheimlich in all der Stille, und Ronja schrie. Jetzt fürchtete sie für ihr Leben.
Als sie schrie, hörten die Gnomen auf zu schlagen. Doch da hörte sie Schlimmeres. Sie begannen, den Stein hinaufzuklettern. Von allen Seiten kamen sie aus der Dunkelheit herbei. Sie hörte ihre Füße scharren und schlurfen, und sie hörte ihr Gemurmel: »Graugnomen alle, beißt und schlagt zu!«
Da schrie Ronja in ihrer Verzweiflung noch lauter und schlug mit dem Lederbeutel wild um sich. Gleich würden sie sich auf sie stürzen, und sie würden sie totbeißen, das wusste sie. Ihr erster Tag im Wald würde ihr letzter sein.
Gerade in diesem Augenblick hörte sie ein Gebrüll, und so wütend konnte nur Mattis brüllen. Ja, da kam er, ihr Mattis, mit allen seinen Räubern, ihre Fackeln leuchteten zwischen den Bäumen, und sein Gebrüll hallte durch den Wald.
»Macht, dass ihr fortkommt, Graugnomen! Schert euch zum Donnerdrummel, bevor ich euch erschlage!«
Und da hörte Ronja das Plumpsen kleiner Körper, die sich vom Stein fallen ließen, und im Schein der Fackeln sah sie sie jetzt, kleine graue Zwerge, die in die Finsternis flohen und verschwanden.
Sie setzte sich auf ihren Lederbeutel und schlitterte den steilen Stein hinab, gleich war auch Mattis da und hob sie hoch und nahm sie in seine Arme. Und sie weinte in seinen Bart, während er sie heimtrug zur Mattisburg.
»Jetzt weißt du, was Graugnomen sind«, sagte Mattis, als sie vorm Feuer saßen und Ronja ihre kalten Füße wärmte.
»Ja, jetzt weiß ich, was Graugnomen sind«, sagte Ronja.
»Aber wie du mit ihnen fertig wirst, das weißt du nicht«, sagte Mattis. »Wenn du Angst hast, wittern sie das von weit her, und erst dann werden sie gefährlich.«
»Ja«, sagte Lovis, »das gilt für so mancherlei. Darum ist man im Mattiswald am sichersten, wenn man sich nicht fürchtet.«
»Das will ich mir merken«, sagte Ronja. Da seufzte Mattis und drückte sie fest an sich.
»Und du hast dir auch alles andere gemerkt, wovor du dich hüten musst?«
O ja, sie wusste es noch. Und während der folgenden Tage tat Ronja nichts anderes, als dass sie sich vor allem Gefährlichen hütete und sich darin übte, keine Angst zu haben. In den Fluss zu plumpsen, davor sollte sie sich hüten, hatte Mattis gesagt, und darum sprang sie am Ufer kühn und keck von einem glatten Stein zum anderen, dort, wo das Wasser am wildesten toste. Schließlich konnte sie sich ja nicht im Wald davor hüten, in den Fluss zu plumpsen. Sollte das Sich-Hüten überhaupt von Nutzen sein, dann musste sie es bei den Stromschnellen und Strudeln und nirgendwo sonst üben. Wollte sie aber zu den Stromschnellen gelangen, musste sie den Mattisberg hinabklettern, der jäh und schroff zum Fluss hin abfiel. Auf diese Weise konnte sie sich gleichzeitig darin üben, sich auch davor nicht zu fürchten. Beim ersten Mal war es schwer, da packte sie eine solche Angst, dass sie die Augen zumachen musste. Doch nach und nach wurde sie immer wagemutiger, und bald kannte sie alle Spalten und Ritzen, wo ihre Füße Halt fanden und sie sich mit den Zehen festkrallen konnte, damit sie nicht rücklings in den Fluss stürzte.
Welch ein Glück, dachte sie, dass ich eine Stelle gefunden habe, wo ich mich davor hüten kann, in den Fluss zu plumpsen, und mich gleichzeitig üben kann, keine Angst zu haben!
So vergingen ihre Tage. Ronja hütete sich und übte eifriger, als Mattis und Lovis ahnten, und schließlich wurde sie so geschmeidig und stark und furchtlos wie ein gesundes kleines Tier. Sie fürchtete sich weder vor den Graugnomen noch vor den Wilddruden, weder davor, sich im Wald zu verirren, noch in den Fluss zu fallen. Aber noch hatte sie nicht damit begonnen, sich vor dem Höllenschlund zu hüten, doch das wollte sie bald tun. Die Mattisburg hatte sie nun bis hinauf zur Mauerkrone erforscht. Sie fand sich in allen öden Sälen zurecht, wo außer ihr niemand je seinen Fuß hinsetzte, und sie verirrte sich nicht in den vielen unterirdischen Gängen, dunklen Höhlen und Kellergewölben. Die geheimen Gänge der Burg und die geheimen Pfade des Waldes, jetzt kannte sie sie alle und fand sich überall zurecht. Am liebsten aber war sie im Wald, und dort streunte sie den lieben langen Tag herum.
Wenn aber der Abend kam und die Dunkelheit zog herauf und das Feuer brannte im Kamin in der Steinhalle, dann kehrte sie heim, müde von all dem Sich-Hüten und Sich-Üben des Tages. Zu dieser Zeit kamen auch Mattis und seine Räuber von ihren Raubzügen zurück, und Ronja saß mit ihnen vorm Feuer und sang mit ihnen ihre Räuberlieder. Von ihrem Räuberleben aber wusste sie nichts. Sie sah zwar, wie sie des Abends mit Lasten auf den Pferderücken heimgeritten kamen, mit vielerlei Waren in Säcken und Lederbeuteln und Kisten und Kästen. Doch woher sie all dies hatten, sagte ihr keiner, und es kümmerte sie ebenso wenig, wie sie danach fragte, woher der Regen kam. In der Welt gab es so vieles, das hatte sie ja gemerkt.
Bisweilen hörte sie, wie von den Borkaräubern geredet wurde, und dann fiel ihr ein, dass sie sich auch vor ihnen hüten sollte. Bisher aber hatte sie noch keinen getroffen.
»Wenn Borka nicht so ein Hundsfott wäre, könnte er mir fast leidtun«, sagte Mattis eines Abends. »Die Landsknechte des Vogts jagen ihn im Borkawald, und dieser Borka hat keine ruhige Stunde mehr. Bald räuchern sie ihn wohl aus seinem Räubernest aus, jaja, aber er ist nun mal ein Hosenschisser, also macht es nichts, aber immerhin!«
»Alle Borkaräuber sind Hosenschisser, die ganze Rotte«, sagte Glatzen-Per, und darin stimmten ihm alle zu.
Ein Glück, dass die Mattisräuber so viel besser sind, dachte Ronja. Sie sah ihnen zu, wie sie da an ihrer langen Tafel saßen und ihre Suppe schlürften. Bärtig waren sie und schmutzig und streitsüchtig und wild. Doch keiner sollte ihr kommen und sie Hosenschisser nennen! Glatzen-Per und Tjegge, Pelje und Fjosok, Jutis und Joen, Labbas und Knotas, Turre und Tjorm, Sturkas und Klein-Klipp, sie alle waren ihre Freunde und würden für sie durch Feuer und Wasser gehen, das wusste sie.
»Da lobe ich mir unsere Mattisburg«, sagte Mattis. »Hier ist man sicher wie der Fuchs in seinem Bau und der Adler in seinem Horst. Sollten hier irgendwelche Hornochsen von Landsknechten Streit suchen, ja, dann fahren sie allesamt zum Donnerdrummel, und das wissen sie!«
»Schnurstracks zum Donnerdrummel mit einem Furz«, bekräftigte Glatzen-Per zufrieden. Und alle Räuber gaben ihm recht und lachten bei dem bloßen Gedanken daran, wie schwachköpfig einer sein musste, der versuchen wollte, in die Mattisburg einzudringen.
Uneinnehmbar von allen Seiten lag sie dort auf ihrem Felsen. Nur an der Südseite wand sich ein schmaler, kleiner Reitpfad den Berg hinab und verschwand unten im Wald. Aber auf den anderen drei Seiten hatte der Mattisberg sturzsteile Hänge, welcher Schwachkopf würde sich da ans Klettern wagen, glucksten die Räuber. Denn sie wussten ja nicht, wo Ronja sich übte, keine Angst zu haben.
»Und kommen sie etwa den Reitpfad herauf, dann ist an der Wolfsklamm Schluss«, sagte Mattis. »Denn da versperren wir ihnen den Weg mit großen Feldsteinen. Oder auch auf andere Art, was das anlangt!«
»Auch auf andere Art, was das anlangt«, bestätigte Glatzen-Per und kicherte bei dem Gedanken daran, auf welche Art man den Landsknechten in der Wolfsklamm Einhalt gebieten würde. »Dort hab ich mein Lebtag so manchem Wolf den Garaus gemacht«, fügte er hinzu. »Aber jetzt bin ich zu alt und mache nur noch meinen Flöhen den Garaus, hoho, jaja!«