Rot wie Schnee - Tim Nicolas Zwick - E-Book

Rot wie Schnee E-Book

Tim Nicolas Zwick

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Beschreibung

Mord im verschneiten Landhaus Ein eiskalter Hauch von Agatha Christie in der Pfalz Die nebelverhangenen Täler des verschneiten Pfälzer Walds bieten eine ungewöhnliche Kulisse für die Einweihungsfeier, zu der Wanda und Felix in ihr abgelegenes altes Herrenhaus eingeladen haben. Zu den Gästen zählt auch der in Ungnade gefallene Psychotherapeut Ares Rot. Als ein Sturm die Feiergesellschaft einschließt, geschieht plötzlich ein Mord. Misstrauen und Angst bestimmen von da an das Handeln der Gruppe, denn jemand aus ihrer Mitte hat die Tat begangen. Mit psychologischem Geschick versucht Ares Rot herauszufinden, wer es war. Welche Rolle spielt die mysteriöse Wanda, die unbedingt in den Raunächten feiern wollte? Was hat das verschwundene Kind der ebenfalls anwesenden Vorbesitzer des Hauses mit dem Mord zu tun? Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, gegen den Schneesturm und gegen den eigenen Verstand …

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Seitenzahl: 325

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Tim Nicolas Zwick

Rot wie Schnee

Tim Nicolas Zwick, geb. 1987 in Dahn in der Pfalz, ist Schriftsteller, Gesundheitsmanager, systemischer Coach und Theaterspieler. Nach seinem Pädagogik-Diplom an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz lebt und arbeitet er jetzt in Mannheim. Neben dem Theater und den Krimis sind Brettspiele seine geheime Leidenschaft. Rot wie Schnee ist sein Erstlingswerk und zugleich der Auftakt einer Reihe um seinen ungewöhnlichen Ermittler Ares Rot.

Tim Nicolas Zwick

Rot wie Schnee

Krimi aus der Pfalz

Originalausgabe

© 2024 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von © raland - stock.adobe.com

Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-704-9

E-Book-ISBN 978-3-95441-715-5

Für Elke und Meike, die schon an mich geglaubt haben, als ich es noch nicht getan habe.

Silence

Oh, I remember the silence

On a cold winter day

»Christmas Truce«, Sabaton

Inhalt

Prolog

1

ALFRED

2

ARES

AGATHA

ARES

3

Startherapeut weiter im freien Fall

4

AGATHA

ARES

AGATHA

ARES

5

FELIX

WANDA

FELIX

WANDA

FELIX

6

ALFRED

HANNELORE

7

KATHRIN

ULF

8

AGATHA

ARES

9

FELIX

KATHRIN

10

ANDI

11

AGATHA

12

HANNELORE

13

FELIX

14

ULF

15

FELIX

16

ANDI

17

EMMA

18

ALFRED

19

WANDA

ARES

WANDA

ARES

WANDA

ARES

WANDA

ARES

AGATHA

20

KATHRIN

ULF

KATHRIN

21

ARES

22

HANNELORE

23

CAROLA

24

ARES

26

ANDI

27

AGATHA

28

ARES

29

EMMA

30

WANDA

31

KATHRIN

32

HANNELORE

33

ARES

34

AGATHA

35

ARES

36

ARES

37

AGATHA

38

ARES

39

EMMA

40

KATHRIN

41

ARES

42

ARES

KATHRIN

ARES

43

ULF

44

ALFRED. FRÜHER AM ABEND.

45

HANNELORE

46

CAROLA

47

ARES

48

ARES

Prolog

Produktionsfehler. So hatten die Eltern Flipper genannt. Flipper war der Plüschaffe, den sie von Großmutter Helmi geschenkt bekommen hatte. Vanessa wusste nicht genau, was das Wort bedeutete, und es war ihr auch egal.

Produktionsfehler. Produktionsfehler?

Es war so ein Erwachsenenwort. Völlig irrelevant, wenn man mit dem Plüschaffen über das riesige Gelände rannte, Treppen herabsauste oder ihn auf die Schaukel hinter dem Haus setzte und ihn so hoch schaukelte, bis er in hohem Bogen durch die Luft flog und dann irgendwann völlig verdreht und mit abstehenden Gliedmaßen aufkam. Ob das bei Menschen auch so wäre, wenn sie bei einer Schaukel aus großer Höhe absprangen und dann hart aufkamen? Mit »Produktionsfehler« war wahrscheinlich das eine Knopfauge gemeint. Der grün-braun gestreifte Knopf, der als Auge diente, war wohl bei der Verarbeitung zu heiß geworden und hing angeschmolzen und etwas schief an dem Stoffkopf des kleinen Affen. Je nach Blickwinkel schielte Flipper oder hatte eine Delle im Kopf.

Das tat der Liebe des Mädchens für ihren Affen keinen Abbruch.

Auch an diesem so besonderen Tag war sie wieder mit Flipper unterwegs. Es schneite schon den ganzen Tag große, wirbelnde, märchenhafte Flocken, und zum Abend hin war die ganze Welt in ein verspieltes, wunderschön strahlendes Weiß getaucht. Das Mädchen hatte schon den Großteil des Nachmittags in seinem Zimmer gespielt und stand jetzt am Fenster und genoss den Blick aus dem zweiten Stock. Sie konnte die großen Nadelbäume sehen, den zugeschneiten Garten, den Wald voller Magie und die verschneiten Wipfel in der Ferne hinter dem mächtigen Holzzaun, der ihr Zuhause begrenzte. Ein paar wilde Schneeflocken tanzten vor ihrem Fenster auf und ab.

Wie schmeckt eine Schneeflocke?

Wie gerne hätte sie versucht, eine der wirbelnden Flocken mit der Zunge zu fangen. Sie hatte schon Schnee vom Boden probiert, aber Flocken in der Luft schmeckten sicher anders.

Sie überlegte und warf nachdenklich Flipper in die Luft und fing ihn wieder auf. Hoch und wieder auffangen, hoch und wieder auffangen. Hoch … Hinter dem Schlafzimmer ihrer Eltern war ein kleiner Balkon. Ihre Eltern nannten ihn Erker.

So ein komisches Wort. Erker Erker Erker Erker. Erkerberkerlerkerschmerker. Hihi.

Sie wusste, dass sie nicht dorthin durfte, der Balkon war alt und brüchig. Das Mädchen schüttelte den Kopf, und die Gedanken verschwanden wieder.

Die Schneeflocken tanzten vor ihrem Fenster, und Flippers ungewöhnliches Auge schaute sie von der Seite an. Ihr Gesicht zerknautschte, während sie überlegte. Hoch warf sie ihren Affen und fing ihn wieder auf. Ihre Mutter war gerade weg, ihr Vater sollte aufpassen, aber der war schon eine Weile im Wohnzimmer, hatte schon lange nicht mehr nach ihr gesehen. Hoch flog Flipper und wieder herunter. Die Schneeflocken schienen sie zu rufen.

Tanz mit uns, kleines Kind, tanz mit uns. Nur ein Tänzchen, es wird auch niemand merken. Tanz. Tanz. Tanz! TANZ!

Mit Flipper in der Hand tapste sie kurz darauf auf ihren nackten Zehenspitzen aus ihrem Zimmer und zwei Zimmer weiter zum Elternschlafzimmer. Ihre kleine Hand öffnete die große, schwere, weiß gestrichene Holztür. Manchmal war das Elternschlafzimmer abgeschlossen, aber heute, an diesem ach so besonderen Tag war es das nicht. Zwischen dem Bett und dem großen Schrank, dessen Wuchtigkeit sie immer etwas ängstigte, führte ein Durchgang zu einem Fenster und einer Balkontür, die auf den Erker führte.

Der Bereich vor der Balkontür knarzte etwas, das wusste sie. Letzten Winter hatte es hereingeregnet, und das Parkett war an dieser Stelle aufgequollen. Ihre Eltern hatten sich furchtbar gestritten, wer denn schuld war, und seitdem knarzte und knackte dieser Bereich, wenn man darauf trat.

Mama hatte geweint.

Das Mädchen wusste sehr gut, wo die knarzende Stelle anfing, blieb davor kurz stehen und streckte die linke Hand – die rechte musste ja Flipper halten – weit aus, drehte den Griff und öffnete die Balkontür. Die Tür ging langsam und unendlich zäh, wie gegen einen Widerstand, nach innen auf. Der kalte Wind fuhr ins Zimmer, erfasste das grüne dicke Winterkleidchen des Mädchens und ließ es flattern. Ihre langen blonden Locken wurden ihr aus dem Gesicht nach hinten geweht. Der Winter hatte Kraft dieses Jahr. Eine Kraft, die nicht wohlwollend war.

Mit einem beherzten Satz sprang sie über die knarzende Stelle und landete zielsicher auf dem kleinen Erker. Der Balkon hatte nur einen sehr kleinen Bereich zum Stehen. Mit ausgestreckten Armen hätte sie sich darauf nicht drehen können, das hatte sie in der Vergangenheit schon versucht. Daraufhin hatten ihre Eltern sehr geschimpft und ihr verboten, jemals wieder allein auf den Erker zu gehen.

Auch da hatte Mama geweint und war ihr den ganzen Tag auf Schritt und Tritt gefolgt, hatte sie immer wieder umarmt. Das war merkwürdig gewesen.

Die Schneeflocken tanzten vor ihr. Sie spürte weder Kälte noch Kraft, war gebannt von den wirbelnden Glücksflocken, die von der früh sinkenden Abendsonne angestrahlt wurden und in allen Farben glänzten und glitzerten. Sie hüpfte hoch, um eine mit der Zunge zu fangen, und jauchzte laut auf vor Freude.

Oh! Sie schmecken so luftig. Ist die Flocke da oben riesig!

Das Kind stand jauchzend direkt an das Geländer gepresst und wollte die besonders große erhaschen.

Da!

Sie hatte ihre linke Hand, so weit sie konnte, ausgestreckt, die Finger zitterten, es fehlte nur noch ein Stückchen bis zu dieser einen ach so besonderen Schneeflocke vor ihren Augen.

Fast. Faaaaaaast.

Wenn sie sich ein wenig über das Geländer reckte, würde sie diese eine so besondere erreichen. Nur noch ein klein wenig. Sie drückte Flipper mit der rechten Hand fest an ihre Brust und lehnte sich noch etwas weiter nach vorne. Ihr linker Fuß verließ den Boden, dann der rechte, sie lag fast waagerecht auf dem dünnen Eisengeländer auf. Es hielt sie gut, war stark und stabil. Da war die Schneeflocke! Sie fiel auf ihre Hand und blieb liegen.

Jaaaaa.

Reines pures Glück erfüllte das Kind. Die Schneeflocke lag groß und glitzernd in ihrer Hand, während sie langsam anfing zu schmelzen. Mit einem Glänzen in den Augen und Freude im Herzen bemerkte das Mädchen nicht, wie sich ihr Gewicht langsam, aber unausweichlich nach vorne verlagerte. Immer weiter und weiter veränderte sich ihr Schwerpunkt. Als das Mädchen es bemerkte, war es zu spät, ihre Reaktion kam zu langsam. Sie kippte nach vorne über und fiel. Fiel und fiel. Fiel schneller und schneller. Sie ruderte mit den Armen, ohne Flipper loszulassen, schrie und schrie und kam schließlich mit einem harten Schlag auf dem eisigen Erdboden auf.

Weine nicht, Ma.

Der Affe lag auf ihrer Brust. Die Schneeflocken tanzten.

1

ALFRED

Der alte Mann ging langsam, leise stöhnend, eine Hand an die Hüfte gepresst, die breite, leicht verfallene Steintreppe herunter. Zu jeder anderen Jahreszeit würde er Moos und Unkraut zwischen den gesprungenen Steinen sehen. Zu dieser Jahreszeit nicht. Obwohl er diese Treppe und diese Steine seit Jahrzehnten kannte, bewegte er sich sehr vorsichtig und prüfte mit dem rechten Fuß immer erst, bevor er sein ganzes Gewicht darauf verlagerte und dann mit einem schmerzhaften Stöhnen seine Hüfte abknickte und sein linkes Bein nachzog. Der Winter war da, und er war gekommen, um zu bleiben.

Einen Sturz konnte er sich nicht erlauben, dafür war er einfach zu alt.

Und zu kaputt.

Er seufzte tief. Wer weiß, ob er aus dem Krankenhaus noch einmal herauskommen würde. Sein Sohn suchte schon lange einen Grund, ihn in ein Pflegeheim abzuschieben.

Denk nicht so über dich, Alfred, schalt ihn seine Frau Gertrud in Gedanken. Sie hatte es immer gehasst, wenn er solche negativen Gedanken hatte. Das Leben hat uns viel gegeben. Wir sollten dafür dankbar sein. Und uns nicht über die Dinge aufregen, die wir verloren haben, hörte er wieder ihre Stimme. Verloren. Er hatte sie vor fast drei Jahren verloren. Krebs. Doch noch immer hörte er ihre Stimme, sprach auch manchmal in langen oder auch kurzen Nächten mit ihr. Wer sollte es ihm verübeln?

Solange er noch arbeitete, war er etwas wert. Und seine Arbeit war gut. Seine Hände waren nicht mehr so kräftig wie früher, und zum Jäten des Unkrauts, welches er früher einfach ausgerissen hatte, brauchte er jetzt Werkzeug. Aber er war Gärtner mit Leib und Seele. Er kannte jeden Baum, jeden Strauch auf diesem großen Gelände, bei Gott, die meisten Pflanzen hatte er höchstpersönlich als Samen in die Erde gedrückt.

Langsam wandte sich Alfred nach links und ging in Richtung seines Anbaus, seiner Wohnung. Genau genommen gehörte der Anbau zum Haus, und damit gehörte er natürlich auch den Eigentümern des Hauses, aber Alfred wohnte dort seit bald vierzig Jahren, und damit gehörte er dahin.

Mein Zuhause.

Das alte Herrenhaus war von Landgraf Ludwig IX. gebaut und mal als Jagdhaus, mal als Sommerresidenz oder Vergnügungsmöglichkeit genutzt worden. Im Zuge der ständigen Besitzerwechsel hatte es seinen Sinn verloren, verwitterte und wurde in den Sechzigern restauriert. Restauriert, um als Haus für etwas zu reiche Menschen angeboten zu werden. Irgendwann kamen ein Anbau und ein Gärtnerpaar hinzu.

Jetzt nur noch ein einzelner Gärtner, kein Paar mehr.

Es war Neumond, die Nacht war rabenschwarz, obwohl es erst kurz nach siebzehn Uhr war. So schwarz, dass sie sich nicht nur auf die Augen, sondern auch auf die Ohren zu legen schien. Nur wenige Geräusche drangen an Alfreds Ohr. Er ließ seinen Blick über das wuchtige Gebäude schweifen. Vor einem halben Jahr hatten es neue Eigentümer erworben, ein junges Paar. Er fand sie nett. Sie waren sehr gastfreundlich, obwohl sie beide nicht aus der Gegend hier kamen.

Keine Hinterpfälzer.

Der Mann war ihm etwas zu unmännlich mit seinem mopsigen Aussehen, seinem merkwürdigen, stammelnden Sprechstil und den Pausbäckchen, und er fand auch ihre raspelkurzen Haare unpassend, aber sie waren sehr nett und lobten jedes Beet, das er in Ordnung gebracht, und jeden Strauch, den er geschnitten hatte.

Anders als die Vorbesitzer.

Alfred arbeitete gern für die neuen Besitzer. Aber er durfte nie vergessen, dass er ein Angestellter war und ihnen das riesige Haus gehörte. Das hatte er bei den vorigen Besitzern und denen davor gelernt. Fleißig arbeiten und nicht alles sagen, was man wusste. Dann hatte man ein gutes Leben. Er hatte ein paar Besitzer kommen und gehen sehen; früher hatte er öfter den Mund aufgemacht, und es war nie gut für ihn gewesen.

Er hatte vor über dreißig Jahren die Vor-Vor-Vorbesitzerin stöhnend in der Hecke mit dem Postboten erwischt und nie ein Wort darüber verloren.

Fleißig arbeiten und nicht alles sagen, was man weiß. Ein gutes Motto, mein lieber Alfred.

Ach, Gertrud, er vermisste sie, auch wenn ihre Stimme in seinem Kopf tröstlich für ihn war.

Er kam langsam um die Ecke des Hauses und hatte seinen Anbau fast erreicht. Hier war es noch dunkler.

So müssen sich Taube und Blinde fühlen.

Er zog eine Taschenlampe von seinem mit reichlich Werkzeug versehenen Gürtel ab und knipste sie an. Auch beim Haus war es still, nur ein leicht bläuliches Licht drang aus dem zweiten Stock herunter. Das blaue Licht kam vom Fernseher. Er wusste, dass die junge Frau oft tagelang auf der Couch lag und in den Fernseher starrte.

Warum auch nicht, wenn es ihr Spaß macht, hörte er wieder Gertrud. Wenn du groß geerbt hättest, würdest du jetzt da oben auf der Couch liegen und fernsehen.

Damit hatte sie nicht recht, und das wusste sie auch. Er hatte genug Geld, um in Rente zu gehen, sich irgendwo eine kleine Wohnung in den Dörfern oder im Elsass zu kaufen und seinen Lebensabend auf der Couch vor der Glotze zu verbringen. Aber das würde er nicht tun. Das wussten sie beide. Alfred würde alles dafür geben, so lange hier zu arbeiten, bis er starb. Er blickte wieder nach oben. Die neuen Besitzer hatten in ihrem Wohn-Ess-Bereich ein paar Zwischenwände einreißen lassen, er hatte Felix dabei gut helfen können. Es hatte seine Zeit gedauert, und ein großer Teil des Schutts lag immer noch neben seinem Anbau, aber er hatte es hinbekommen und war sehr stolz darauf.

Ich habe den Großteil der Arbeit gemacht, den Schutt fast allein hier rausgetragen.

Seine Taschenlampe in der Hand flackerte kurz und ging aus. Zweimal, dreimal schlug er mit der Hand darauf, während er in der Dunkelheit stehen blieb. Langsam drang die Kälte sogar durch seinen dicken, grob gesteppten Mantel. Er hatte gelesen, dass es auf dem Land bis zu zehn Grad kälter werden konnte als in den großen Städten. Die großen Städte hatte er immer gehasst. Diese Mengen an Menschen, der Lärm, die Straßenbahnen, die Hochhäuser. Er brauchte seinen Wald, seine wenigen Menschen, die er alle seit Jahrzehnten kannte, den kleinen Gemischtwarenladen an der Ecke mit den paar Regalen, der selten besetzten Kasse und den Postkarten auf Französisch, die er nicht verstand.

Zeit läuft hier anders.

Er brauchte es, morgens die Nase in den Wind zu stecken, den Blick in den Pfälzer Wald, und zu wissen, ob es heute regnen würde oder ob er gießen müsste.

Mit einem Blinken ging die Taschenlampe wieder an und ließ ihren Lichtkreis über den Schutthaufen kreisen, den er neben seinem Anbau aufgeschüttet hatte.

Die Tage musst du das echt wegräumen, Alfred, das kann so nicht bleiben.

»Ich weiß, mein Schatz, ich weiß«, murmelte er sich in den kratzigen Bart und trat mit der Fußspitze gegen einen Betonbrocken. Er wollte sich schon abwenden, als plötzlich etwas aus dem Brocken herausfiel. Etwas Kleines. Etwas, das da nicht hingehörte. Langsam beugte er sich nach vorne und leuchtete darauf. Seine Hand zitterte leicht, die Schwingungen übertrugen sich auf den Lichtkreis, dieser tanzte und vibrierte.

Diese Kälte.

Seine Nackenhaare stellten sich auf. Jetzt sah er es.

Als er erkannte, was es war, lief er kreidebleich an und huschte, so schnell er konnte, zu seiner Haustür. Mit zitternden Fingern öffnete er sie, drückte sich ungelenk hinein und warf die Tür ins Schloss. Diesmal konnte er sein Zittern nicht mehr auf die Kälte schieben, also versuchte er es auch nicht.

Schnell bekreuzigte er sich drei Mal, während ihm der Schweiß aus allen Poren trat.

Oh mein Gott, Alfred, oh mein Gott, hörte er Gertruds Stimme. Du weißt, was das war, oder? Du weißt, was das bedeutet? – Ja, ich weiß, Gerdi, ich weiß es. – Wir dürfen es niemandem sagen, Alfred. Niemandem!

»Ja, ich weiß«, antwortete Alfred der Stimme in seinem Kopf. »Fleißig arbeiten und nicht alles sagen, was ich weiß«, murmelte er nickend. Als ob er sich selbst überzeugen müsste.

Sein Blick schweifte über seine kleine Küche. Das war sein Zuhause, seine Heimat. Und noch nie, in all den vierzig Jahren, in denen er diesen Anbau Wohnung nannte, hatte er sich so ängstlich gefühlt wie in diesem Moment. Das da draußen konnte nur eins bedeuten, eine schreckliche Wahrheit. Und morgen, oh Gott, morgen war die Einweihungsfeier. Die neuen Besitzer hatten sich über ein halbes Jahr nach dem Einzug endlich aufgerafft, eine Einweihungsfeier für enge Freunde und Familie zu geben.

Menschen werden herkommen. Und unter ihnen hat jemand ein dunkles Geheimnis.

Seine Hand fing wieder an zu zittern.

Diesmal war es definitiv nicht die Kälte.

2

ARES

»Ich versteh immer noch nicht ganz, warum ich bei der Feier dabei bin. Warum hast du mich mitgenommen?«, fragte der große Mann, während sein wolfsgrauer Wintermantel seine Beine umflatterte. Die Farbe fand sich auch in seinem schlecht gestutzten Bart und seinen Haaren wieder. Aus ersten grauen Haaren war im letzten Jahr ein deutlich sichtbarer, grausilberner Schimmer geworden, auf dem sich jetzt auch erstes Weiß zeigte. Das Weiß passte zu dem schicken dicken weißen Pullover, der durch den offenen Wintermantel gut zu sehen war. Das war sein Kompromiss aus Eleganz und Wärme. Der Winter hatte nach dem Heiligen Abend deutlich angezogen, leichter Schneefall hatte in den letzten Stunden eingesetzt. Auch die Luft war so kalt, dass sich kleine Wolken bei jedem Wort und jedem Atemzug vor ihren Mündern bildeten. Eine erste dünne Schneeschicht war mittlerweile liegen geblieben, die Winterschuhe der beiden hinterließen eine gut sichtbare Spur auf der frischen Schneedecke hinter ihnen. Seine Schritte hinkend, ihre Schritte eher klein und trippelnd.

Jeder Blick zurück ist immer nur eine schmerzhafte Erinnerung.

Er kannte sie. Sobald sie bei ihrem Ziel angekommen wären, würde sie, direkt nachdem sie die Gastgeber begrüßt und ihre Jacke ausgezogen hätte, in ihre Pumps schlüpfen. Dann, wenn sie direkt neben ihm stand, würde er auch wieder mehr von ihrem Gesicht sehen und nicht nur ihren schwarzen Mittelscheitel, auf den er gerade schaute.

Locken. Wie kann es sein, dass es jedes Jahr bei ihr mehr Locken werden? In der Klinik wurde sie Momo gerufen, in Anlehnung an die lockige Filmfigur.

Aber ich nenne sie Aga.

Langsam hinkte er weiter, sie schritt in seinem Tempo mit. Das Hinken war angeboren, ein Hüftfehler. Ares hatte noch nie richtig laufen können und würde es auch nie können. Gerade bei Kälte, die in dieser ländlichen Gegend, seiner Heimat, noch viel mehr biss, war es besonders schlimm.

AGATHA

»Das weißt du«, antwortete sie auf seine Frage, während sie weiter ihrem Ziel entgegenliefen. »Du bist immer meine Rettung bei stinklangweiligen geselligen Abenden. Und mit dir dabei ist es einfach lustig, und ich bin nicht so merkwürdig.«

Er fing an zu lachen. Leichte Atemwolken stiegen von seinem Mund auf.

»Du bist Ärztin, Professorin – eine sehr gute nebenbei bemerkt. Du forschst gegen Krebs, bist eine Koryphäe auf deinem Gebiet, deutschlandweit geschätzt, von Vertretern aller Wissenschaftsriegen für deine emotionslose Rationalität gefürchtet, und du hast Angst vor einem geselligen Abend bei Freunden?«, foppte er sie. »Ich dachte, außer vor Gefühlen hast du vor nichts Angst?«

Nach bald zwei Jahrzehnten voller Freundschaft, wenn auch eher seltenem Kontakt, konnte er sich das erlauben. »Außerdem sind die geselligen Abende und der Small Talk unfair«, fuhr er fort. »Wenn eine Ärztin und ein Therapeut zusammenarbeiten, kann niemand eine Chance haben.«

Sie ging schweigend neben ihm, hatte sein Zucken bei dem Wort »Therapeut« gespürt.

Sie wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte, und deshalb war ein Mensch gestorben. Ein junger Mensch, ein Mädchen. Danach war er in Selbstmitleid und Nachtwanderungen versunken, während die Presse ihn zerrissen und die Anwaltskosten ihm sein Vermögen aus der Tasche gezogen hatten.

Die Hochgelobten fallen immer noch am tiefsten.

Sein Geld, deutlich weniger Geld als früher, verdiente er durch die wenigen Kontakte, die er noch hatte.

Verstohlen blickte sie herüber, ihre dicken Locken schwangen bei der Bewegung mit. Er hatte nichts mehr gesagt, schweigend liefen sie nebeneinanderher, noch zwei Kurven, hinaus aus dem kleinen Dorf Ludwigswinkel, etwas den Hügel hinauf, und sie sollten beim Herrenhaus sein. Durch sein Hinken kamen sie nur langsam voran.

Die letzten zwei Jahre hatten Spuren bei ihm hinterlassen, sie sah es ihm an. Nach der Geschichte vor Gericht hatte ihn auch noch Svenja, seine langjährige Partnerin, verlassen, war in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ausgezogen. Seine schwarzen Augen blitzten gewohnt aufmerksam durch die Gegend, er beobachtete gerne und scharfsinnig. Aber seine Wangen wirkten eingefallen, und die Ringe unter den suchenden Augen zeigten ihr, dass sein Schlaf bei Weitem noch nicht so gesund war, wie er sein sollte.

Waren die Augen noch suchend oder schon zwanghaft kontrollierend, um Sicherheit zu gewinnen? Wie viele schlechte Nächte übersteht selbst ein Ares Rot, ohne Schaden zu nehmen?

Sie hatte ihm nach dem Verlust der Praxis mehrfach angeboten, ihm zu helfen, sei es mit Geld, sei es mit Gesprächen oder Hilfe bei dem Gerichtsverfahren. Er hatte alles abgelehnt.

Solange er andere Probleme löst, muss er nicht seine eigenen angehen.

Agatha trippelte grübelnd neben dem großen Ares her. Ihre Locken wirbelten im stärker werdenden Schneefall und fielen auf ihren etwas zu weit sitzenden schwarzen Hosenanzug. Ares. Was für ein Name. Seine Eltern hatten ein Faible für griechische Namen, seine Schwester hieß Ariadne. Der Vater war Dozent für Griechisch an der Universität in Frankfurt gewesen.

Sie machte sich Sorgen um Ares.

Diesen Abend wirst du brauchen, mein Freund. Danach geht’s dir besser. Ich verspreche es dir.

Sie kannte ihn seit der Oberstufe, war zur elften Klasse nach Landau gewechselt, um nach der Trennung der Eltern mit ihrem Vater mitzuziehen, dort war sie auf Ares getroffen. Doch trotz der langen Zeit der Freundschaft hatte sie manchmal das Gefühl, einen Fremden anzusehen.

»Weißt du, manche Menschen ziehen Kraft aus ihren Geheimnissen. Manche werden von ihren Geheimnissen unterdrückt und unter ihnen begraben«, sagte sie.

Stille.

ARES

Er dachte nach.

Ares war von Agathas Themenwechsel nicht überrascht. Oft wurde ihm nachgesagt, dass er Gedanken lesen konnte.

Blödsinn, niemand kann Gedanken lesen.

Aber durch aufmerksame Beobachtung, Wissen über Mimik und Gestik und durch Menschenkenntnis wusste er oft mehr von den Menschen, als sie selbst von sich wussten. Das hatte ihm eine schöne Karriere, eine noch schönere Praxis und eine noch viel schönere Portion Arroganz eingebracht. Letztere führte zum Verlust seiner schönen Karriere und seiner noch schöneren Praxis.

Ihm war aufgefallen, dass Agatha ihn immer wieder verstohlen beobachtet hatte, nachdem sie ihn von dem kleinen Bahnhof in Hinterweidenthal abgeholt hatte und mit ihm ins Taxi eingestiegen war. Ihr Ziel war schwer zu erreichen. Der kleine Bahnhof wurde nur von Regionalzügen angefahren, mit stellenweise stundenlangen Wartezeiten. Und von dort aus brauchte man ein Auto oder ein Taxi, um in die kleinen umliegenden Dörfer zu kommen. Das wusste und kannte er von Agathas Heimat. Er selbst kam aus Landau, hatte sich aber früh in diese ländliche Ecke der Pfalz verliebt und auch hier seine Praxis eröffnet. Die Adresse der Einweihungsparty lag selbst für die sehr verlassene Hinterpfalz noch weit abgelegen, daher hatte das Organisationstalent Agatha, glücklicherweise früh genug, ein Taxi angefordert.

Schon bei der Fahrt durch die Wälder nach Ludwigswinkel hatte Agatha immer wieder skeptisch aus dem Fenster geblickt. Wenn diese Straße zuschneite, wurden die kleinen Dörfer hier von der Welt abgeschnitten.

Der Taxifahrer, ein grober, glatzköpfiger Mensch namens Andi, hatte sie nur bis zum Ortsrand von Ludwigswinkel gebracht. Er wollte bei seiner Frau sein, bevor die Straßen zugeschneit waren. Oder wie er es sagte: »Das wird heute runtermachen, glaubt mir. Morgen seht ihr die Welt nicht mehr. Da musst du dich schon sehr nah an deine Alte drücken, damit ihr nichts abfriert.« Danach hatte er deutlich zu viel Geld für die Fahrt kassiert.

Und ich war zu sehr mit meinem Selbstmitleid und mit meinem Fleck auf dem Pullover vom schlechten Bahn-Sandwich beschäftigt, um hier etwas zu sagen. Sie hätte jemand anderen mitnehmen sollen.

Mit der Hand versuchte er, den Fleck zu verdecken.

Dann reagierte er so, wie er immer auf Versuche, ihn zu lesen und seine Geheimnisse zu ergründen, reagierte. »Es tut mir sehr leid, dass es mit Boris nicht funktioniert hat«, sagte er in die kalte Abendluft hinein.

Sie blickte ihn erstaunt an. »Was? Wie kommst du darauf? Ich habe kein Wort von Boris gesagt!«

Agatha hatte ihm erst vor knapp drei Wochen bei einem ihrer regelmäßigen Telefonate von Boris erzählt, als es ernster wurde, hatte ihm sogar ein Bild von ihm geschickt. Sie hatte kein Wort davon gesagt, dass er nach einem Streit gestern Abend gegangen war und wohl auch nie wiederkommen würde.

Er blieb stehen, musterte sie und nahm eine Hand aus der Manteltasche. Die darauf fallenden Schneeflocken schmolzen auf seiner Haut, und die Wassertropfen liefen in feinen Linien über seine dozierende Hand.

3

Startherapeut weiter im freien Fall

Dahn, 5. Januar 2023

Das nächste Kapitel im Drama um den im ganzen Dahner Tal bekannten Startherapeuten Ares Rot, 44. Nach seinem kometenhaften Aufstieg scheint jetzt ein ebenso schneller Abstieg zu folgen.

Als Kind der Stadt, in Dahn geboren, in Landau aufgewachsen, eröffnete er hier seine Psychotherapiepraxis in bester Lage neben dem Haus des Gastes. Dies markierte nicht nur einen Meilenstein in seiner Karriere, sondern sorgte – auch dank der Berichterstattung in der Presse – für Euphorie in Dahn und Umgebung, wo es wie überall auf dem Land eine eklatante Unterversorgung mit Therapieplätzen gibt. Ares Rot, mit einem Diplom in Psychologie und einem Master in Klinischer Psychologie im Gepäck, erwarb sich schnell einen Ruf als kompetenter Therapeut. Der systemische Ansatz, wenngleich noch unbekannter als die klassische Verhaltenstherapie, wurde mit positivem Feedback aufgenommen, die Kurse für Resilienz und Achtsamkeit waren innerhalb kürzester Zeit ausgebucht.

Der Weg schien also vorgezeichnet, doch nach dem gewaltsamen Tod der jungen Lina Nagel wenden sich Freunde und Klienten reihenweise ab.

Lesen Sie für nur 1,99 Euro alle Hintergründe und welche Rolle Rot in diesem grausamen Verbrechen spielte.

4

AGATHA

Sie kannte diese Bewegung, die dozierende Hand, wie sie sie nannte. Er arbeitete immer mit seiner rechten Hand, wenn er seine Beobachtungen in Hypothesen und seine Hypothesen in fundierte Deduktion umsetzte.

Gleich würde er etwas über ihren Nagellack sagen oder über ein Etikett an ihrem Kleid oder über ihr Parfüm. Würde aufzählen, was er alles beobachtet hatte und wie er darauf kam, dass es mit Boris zu Ende war. Er wäre brillant, und sie könnte etwas Nettes sagen. Er würde, vielleicht seit Wochen zum ersten Mal, ein paar freundliche Worte hören, und es wäre ein schöner Moment zwischen ihnen beiden.

Er hob seine rechte Hand, ließ sie etwas kreisen, eine Falte lief über sein Gesicht, und er steckte die Hand wieder weg.

Agatha seufzte innerlich, verlangsamte unbewusst ihren Schritt. Das hatte sie befürchtet. Er würde sich nicht helfen lassen. Diese Gabe, dieses Beobachten und dann dieses arrogante Deduzieren hatten ihn in diese Lage gebracht, und jetzt verhinderte es, dass jemand ihm helfen konnte.

Jemand, der es gut mit ihm meint. Jemand wie ich.

»Erzähl mir noch mal, bei wem sind wir jetzt genau?«, fragte er stattdessen.

»Hat dein Gedächtnis etwa auch gelitten, neben deiner Beobachtungsgabe, mein Großer? Ist das schon das Alter? Männliche Gehirne altern ja bekannterweise schneller.« Eine weitere kleine Provokation von ihr. Es war ihr wichtig, dass er wieder zu seinem alten Weg zurückkehren würde.

Ich brauche den alten Ares heute Nacht.

Keine Reaktion von ihm, langsam hinkte er um die letzte Kurve. Das alte Herrenhaus konnten sie noch nicht sehen, mussten dazu noch die kleine Hügelkuppe überqueren. Sie ließen die letzten Lichter der Häuser und Straßenlaternen von Ludwigswinkel hinter sich und umhüllten sich mit der aufziehenden Dunkelheit. Die Geräusche der Nacht und des Waldes nahmen zu. Das Rauschen des Windes in den Wipfeln, irgendwo knackte ein gefrorener Ast in der Dunkelheit. Der Mensch macht sich die Erde untertan, aber die Nacht in der Pfalz kehrte die Vorzeichen um. Das kleine Dorf Ludwigswinkel hatte nur knapp achthundert Einwohner, die alle zwischen der kleinen weißgrauen Kirche und dem Sägmühlweiher ihre Häuser hatten. Dazu ein kleiner Gemischtwarenladen, eine Feuerwehr, neun Ferienwohnungen und ein Gasthaus. Letzteres, genau wie die Ferienwohnungen, hauptsächlich für die Touristen aus und nach Frankreich und die Wanderer im Pfälzer Wald.

Irgendwie muss man ja Geld verdienen. Und nicht jeder kann in die weite Welt hinaus, studieren und in den Städten Geld verdienen.

Sie blickte nach vorne, ihre Schritte wippten erwartungsfroh. Ein altes Herrenhaus aus alten Zeiten, ein riesiges Grundstück, der schwarze Pfälzer Wald, Schneefall, eine Einweihungsparty, das war der Stoff für die besonderen Abende. Und es würde ein besonderer Abend werden, da war sie sich sicher.

Da er immer noch schwieg, beantwortete sie seine Ursprungsfrage: »Wir sind bei der Einweihungsparty von Felix und Wanda. Sie wohnen eigentlich schon über ein halbes Jahr im Haus, und dank der Erbschaft von Wandas kürzlich verstorbenem Vater in Estland wäre auch eine große Party im Sommer kein Problem gewesen. Aber du weißt ja von Wandas Krebserkrankung und ihrer Einstellung zum Thema Struktur, Planung und Verlässlichkeit. Das hat dann halt mal ein halbes Jahr gedauert. Kennt man ja.«

Nicht so hart, Liebes. Du sollst nicht so hart über deine Freunde sprechen, nicht mal denken!

ARES

Ah, diese Wanda. Ares erinnerte sich an einige Telefonate mit Agatha zum Thema Wanda. Aga hatte ihn anfangs ein paarmal angerufen, als Wandas Krebsdiagnose noch recht frisch war. Die Vorstellung, ihre Freundin so jung zu verlieren und nichts dagegen tun zu können, quälte sie enorm.

Was macht ein so kluger Mensch wie sie, wenn all die kühle Rationalität und das Wissen nichts mehr nutzen?

Einmal hatte sie sogar nachts, offenbar betrunken, angerufen. An diesem Tag hatte es ein Gespräch mit dem Oberarzt in der Klinik gegeben. »Sie hat eine Chance von unter einem Prozent«, hatte sie weinend gelallt. »Sie wird sterben. Sterben, Ares! Meine beste Freundin! Ich kann das nicht. Sie wird sterben!«

Lockenwippend lief sie jetzt langsam neben ihm, der Weg wurde steiler. »Es kommen nur wenige Gäste, der Gärtner, die Vorbesitzer und wohl auch Felix’ Mutter.«

Die Bitterkeit in ihrer Stimme hatte sich vertieft. Ares wusste, dass die Freundschaft der drei – Agatha, Felix und Wanda – aufgrund von Wandas Erkrankung keine einfache gewesen war die letzten Jahre. Agatha und Felix hatten sich nach der Schulzeit kennengelernt. Beide liebten es auszugehen, sich schick zu machen, Theater oder andere kulturelle Veranstaltungen zu besuchen. Beide hatten ein großes Herz für Kinder und für Tiere, spendeten regelmäßig Geld und halfen bei Charity-Aktionen mit. Während Agatha in der Wissenschaft Karriere gemacht hatte, war Felix seinem Herzen gefolgt, hatte sich gegen München und seine Mutter gestellt und arbeitete heute mit Kindern mit Behinderung in einem Bauernhofprojekt, nur wenige Dörfer entfernt. Im Laufe der vielen Jahre Freundschaft waren sie das ein oder andere Mal am Rande einer Beziehung entlanggeschippert, aber es hatte nie ganz gereicht, um zusammenzukommen. Und irgendwann war die Zeit dafür abgelaufen.

Ihr Beziehungsschiff hat noch in der Werft Schlagseite bekommen, es kam Wasser rein, und es ist auf Grund gelaufen. Ein schönes Bild, das ich Agatha niemals so sagen darf.

Und dann war da Wanda. Sie schlief gerne, viel und lange, war sehr emotional, im Guten wie im Schlechten, liebte es, stundenlang auf der Couch zu liegen, Chips zu futtern und sich über Serien im Fernsehen aufzuregen.

Er wusste nicht, wie genau sie es geschafft hatten, aber die drei waren im Laufe der Zeit eng zusammengewachsen, hatten gemeinsam Hochs und Tiefs bewältigt.

So hätte die Geschichte auch ohne große Wellen des Lebensflusses weitergehen können. Felix arbeitete auf seinem Bauernhofprojekt, Wanda war halbtags Assistenz in einem Steuerbüro, Agatha machte Karriere in der Wissenschaft, am Wochenende gab es abwechselnd einen kulturellen Theaterabend mit sozialen Themen für Felix und Agatha oder einen Filmabend mit einem Mystikfilm für Wanda zu Hause.

Doch wie so oft schlägt das Leben zu, wenn man es am wenigsten erwartet. Bei Wanda wurden nach wochenlangen Bauchschmerzen Metastasen im Bauchraum gefunden. Sie hatte Krebs. Krebs, welcher schon gestreut hatte. Die Wellen des Lebensflusses schlugen über den dreien zusammen und drückten sie unter Wasser.

Das war eine ganz schlimme Zeit gewesen.

Ares sammelte sich. »Sie haben einen Gärtner? Und sie haben den Gärtner eingeladen? Und die Vorbesitzer auch? Wer macht denn so was? Haben sie keine Freunde? Und seine Mutter? Das klingt nach noch weniger Spaß, als ich eh schon befürchtet habe.«

Er schaute sie an, sie runzelte die Stirn, dann fingen beide an zu lachen. Langsam hob er seine rechte Hand aus der Jackentasche und zog mit ihr Kreise in der Luft.

AGATHA

»Es waren die Flecke in der Armbeuge und der Nagellack«, fing er an. »Du trägst normalerweise sehr unauffälligen, hautfarbenen Nagellack, und heute sind die Nägel rot. Du hast sie schon gestern lackiert, das sehe ich daran, dass sie an zwei Stellen schon wieder abgebrochen sind. Wir wissen beide, wie unachtsam du mit deinen Nägeln bist, also hast du sie für ein besonderes Event am gestrigen Tage angemalt und nicht für heute. Du hast mich in einem recht späten Zug bestellt, ich gehe davon aus, dass du nicht wolltest, dass ich noch in deine Wohnung komme, sondern wir direkt den Weg hierhergehen müssen. Ich sollte wohl nicht sehen, dass dort viel Unordnung herrscht, vielleicht noch Sachen von Boris herumstehen, aber neben all den Sachen kein Boris herumsteht. Darüber hinaus riechst du leicht nach Rauch. Du rauchst nur selten und nur, wenn du unter großem Stress stehst. Dein Hosenanzug ist neu, hat aber Make-up- und Nagellackspuren. Du warst nervös und unachtsam. Boris und du hattet gestern eine Aussprache, du hattest Sorge davor. Daher auch der Nagellack, daher der neue Hosenanzug in Schwarz. Du warst im Angriffsmodus. Du wolltest etwas verändern, es zum Guten drehen. Aber es funktionierte nicht, der Versuch ging ins Leere, und Boris ging. Danach hast du sehr viel geraucht und sehr wenig geschlafen. Wenn jemand Augenringe und eine schlechte Nacht erkennt, dann ich. Es ist richtig schiefgegangen. Es ist aus zwischen euch. Das tut mir sehr leid für dich.«

So nah dran.

»Shit.« Sie schaute ihn mit offenem Mund an. »Das kam überraschend.« Ihr Blick folgte einer wirbelnden Schneeflocke. »Ja, es ist aus mit Boris«, sagte sie. »Es war der Spruch mit den alten Männergehirnen, oder?«

Er lächelte verschmitzt. »Es war definitiv der Spruch mit den alten Männergehirnen. Aber es war auch ohne meine ganze Beobachtungsgabe klar. Wenn das mit Boris gut laufen würde, hättest du ihn heute Abend dabei und nicht mich. Dafür braucht es nun wirklich keinen Ares Rot.«

Sie machte einen kleinen Hüpfer.

Sehr gut, sehr gut.

Sie würde diese Seite heute an ihm brauchen, das Scharfsinnige, das Deduktive. Er musste an sich glauben, damit die Pläne, die sie hatte, auch so realisiert werden würden.

Sie hakte sich bei ihm ein. »Komm, alter Mann, die letzten paar Meter schaffen wir auch noch.«

Diese Straße fühlt sich immer an wie das Ende der Welt.

Sie war sehr froh, sich so unbeschwert bei ihm einhaken zu können. Sie waren gute Freunde, sie waren nie mehr gewesen, sie würden auch nie mehr sein, das war beiden klar, und beide waren damit sehr glücklich.

Beide blieben gleichzeitig stehen, als sie die Kuppe überwunden hatten und das alte Haus vor ihnen lag. Beide ließen sie staunend und schweigend den imposanten Anblick auf sich wirken.

Was wohl mehr Ehrfurcht auslöst? Das, was ich sehen kann? Oder das, was ich nicht sehen kann?

Das ehemalige Herrenhaus war ein großer, steinerner Bau, verwinkelt, mehrstöckig, Altbau. Die Größe verlieh ihm eine Wuchtigkeit, welche an vielen Stellen durch Verspieltheit, kleine Erker, merkwürdige Kurven und eine Farbenvielfalt einer gefühlten Leichtigkeit wich.

Die Außenmauer war an manchen Stellen weiß verputzt, durch die braunen Wurzeln abgestorbenen Efeus »verziert«, an anderen Stellen unverputzt grau, stellenweise sogar mattrötlich, je nachdem welche Steine verwendet worden waren.

Die roten Sandsteine der Hinterpfalz. Traumhaft.

Ihr Weg führte sie in einen großen, rund angelegten Innenhof, der einladend in den riesigen Garten ging. Aber das war nicht ihr Ziel heute. Sie würden die große, steinerne Treppe erklimmen und vor dem eindrucksvollen Eingangstor zum Stehen kommen.

Das Dach des alten Hauses war mit dunkelgrauen, fast schwarzen Schindeln gedeckt, welche langsam von dem liegen bleibenden Schnee weiß überdeckt wurden. Der Innenhof und die große Tür waren ausgeleuchtet, aber schon wenige Meter hinter dem Lichtkreis verschwamm der Blick, konnte die winterliche Dunkelheit nicht durchdringen. Die Fantasie, angestachelt durch diesen Ort, die Geräusche und Gerüche, machte das Gebäude noch eindrucksvoller. Es könnte in den Schatten eine Piratenhöhle beinhalten oder eine entführte Prinzessin. Oder irgendwo in diesem Gebäude saß gerade ein grauhaariger Erfinder über einem alten Pergament und entwickelte ein neues Fluggerät.

Solche Gebäude haben Geschichte, sie leben auf ihre Art und Weise. Es kitzelt unsere Fantasie, geht in einen Austausch mit ihr.

Ihr Blick wanderte über die Front und die Fassade, aus dem Lichtkreis heraus zu der Umgebung. Der Garten musste riesig sein. Auch hier übernahm nach wenigen Metern die Dunkelheit die Herrschaft und machte eindrucksvoll klar, dass dies ihr Reich war. Dort, wo sie etwas sehen konnten, bemerkten sie, mit wie viel Liebe zum Detail überall kleine Hecken, Büsche, Bäume und Beete angelegt waren. Die Beete waren mit Tannenzweigen abgedeckt, um sie gegen die Kälte zu schützen, die Hecken waren perfekt in Form geschnitten, ein steinerner Weg lief wie von der Hand eines Riesen sanft hingetupft durch den Garten und verschwand links und rechts von ihnen hinter dem Haus.

ARES

Ares konnte sich vorstellen, wie das Haus und insbesondere der Garten an einem Sommertag aussehen mussten, wenn alles blühte, wenn der Efeu und die Hecken zusammen mit vielen Blumen und Kräutern das Ganze in ein funkelndes und farbenfrohes Juwel verwandelten.

»Sie leben hier echt abgeschieden, aber auf dieses Kleinod wäre Gott in Frankreich neidisch.« Agathas etwas belegte Stimme brach das magische Schweigen. Sie wusste nicht, wie lange sie das Gebäude und den Garten angestarrt hatten.

Ares nickte. Langsam gingen sie weiter, ließen den mächtigen, alt aussehenden Holzzaun, welcher nur für den Weg unterbrochen war, hinter sich und erreichten den Innenhof mit einem Brunnen im Zentrum.

Leider ohne Wasser gerade. Das Plätschern muss sich toll anhören.

Während sie langsam auf die Steintreppe zuschritten, hatte Ares auf einmal das dumpfe Gefühl einer bösen Vorahnung. Ein leichter Schauer lief über seinen Nacken, als ob zwischen den Hecken oder hinter den Bäumen jemand lauern und sie verschlingen würde, wenn sie es wagten, dieses Juwel zu betreten.

Ist es ein Frevel, etwas so Magisches zu betreten? Und wenn ja, welche Strafe steht darauf?

Etwas benommen schüttelte er den Kopf und setzte den ersten Fuß auf die Steintreppe. Das hier war eine eigene kleine Welt. Eine eigene kleine Welt mit eigenen Regeln und eigenen Gesetzen. Er hatte das Gefühl, dass er nicht wusste, nach welchen Regeln hier gespielt wurde.

Es endet nie gut, wenn man ein Spiel spielt, dessen Regeln man nicht kennt.

Ares hielt Agatha die Tür auf, während er versuchte, sein schlechtes Gefühl zu ignorieren.

In weiter Ferne schlug eine Kirchturmuhr.

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FELIX

F