Rotkäppchens Erwachen - Renate Neumann - E-Book

Rotkäppchens Erwachen E-Book

Renate Neumann

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Beschreibung

Rotkäppchen springt dem bösen Wolf mit einem Kampfschrei auf den Bauch, Dornröschen wird Roswitha die Große und regiert mit ihrer Liebsten das Land, Aschenpedro heiratet unter dem Jubel des Volkes seinen Prinzen in der Kathedrale ... Die Autorinnen haben mit viel Phantasie und Witz den Märchen der alten Märchenfrauen eine neue, weltoffene Bedeutung gegeben und die tradierten Geschlechterrollen aus den Angeln gehoben. Sie wollen die Kraft und den Zauber der alten Märchen erhalten, ihnen jedoch eine frauenfreundliche und weltoffene Aussage geben. Ein Lesevergnügen für Jung und Alt.

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Gewidmet allen Frauen, die das Leben, die Sprache und die Märchen von Generation zu Generation weitergegeben haben, doch vergessen wurden, und ihren aufmüpfigen und mutigen Enkelinnen und Enkeln.

Inhalt

Rotkäppchen

Dornröschen

Schneewittchen

Die Froschkönigin

Schneeweißchen und Rosenrot

Frau Holle

Falada

Die sieben Raben

Rapunzel

Hänsel und Gretel

Der Wettlauf

Die Eule

Aschenpedro

Die drei Spinnerinnen

Von dem Fischer und seiner Frau

Die weiße Schlange

Hans im Glück

Rumpelstilzchen

Die zertanzten Schuhe

Sterntaler

Die Lebenszeit

Die Brüder Grimm haben die Märchen von den alten Märchenfrauen übernommen, gesammelt und sie dem bürgerlichen Frauenideal und den bürgerlichen Moralvorstellungen des 18. Jahrhunderts angepasst. In unserem Buch wollen wir die Kraft und den Zauber der alten Märchen erhalten, ihnen jedoch eine frauenfreundliche und weltoffene Aussage geben.

Renate Neumann

Marie Luise Braun

Rotkäppchen

In einem Dorf lebte ein kleines, kesses Mädchen, das hatte nicht jede Frau und jeder Mann lieb, die es nur ansahen. Doch sehr lieb hatte es seine Großmutter. Die schenkte ihm ein Käppchen aus rotem Samt, und weil ihm das so gut stand und es nichts anderes mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen.

Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm: »Hier hast du koffeinfreien Kaffee und Streuselkuchen in bester Ökoqualität. Bring das deiner Großmutter. Ihre Frau ist auf Reisen und Großmutter ist allein zu Hause und liegt krank danieder. Da wird sie sich über deinen Besuch sehr freuen und sich an Speise und Trank laben.«

Rotkäppchen packte alles in die Jutetasche und wollte sich auf den Weg machen zur Kranken, die hinter dem Wald wohnte. Die Mutter ermahnte das Mädchen: »Gehe sittsam den geraden Weg und verlasse nicht den direkten Pfad, damit du noch ankommst, bevor es heiß wird.«

Rotkäppchen versprach alles, ergriff seine Tasche und verließ das Haus. Es erreichte den Pfad, der geradewegs durch den Wald zum Haus der Großmutter führte.

Die Sonnenstrahlen tanzten auf den Bäumen hin und her, die Vögel sangen aus voller Kehle und am Wegesrand blühten die Fingerhüte. Rotkäppchen schritt frohgemut voran und freute sich von Herzen.

Da raschelte es im Gebüsch und der große, böse Wolf stand plötzlich vor ihr. Er brummte: »Guten Morgen, Rotkäppchen, wohin des Wegs?«

»Du alter Zausel! Was willst du von mir? Verschwinde!«, fauchte das Rotkäppchen.

Der Wolf säuselte: »Deine Tasche ist so vollgepackt, ist sie nicht zu schwer für dich? Wohin trägst du sie?«

Rotkäppchen entgegnete barsch: »Das geht dich nichts an, geh mir aus dem Weg!«

Der Wolf aber grinste in sich hinein: ›Die Tasche mit den Köstlichkeiten ist sicher für ihre Großmutter bestimmt. Ich kenne meinen Wald und weiß, wo sie wohnt.‹

Er lockte scheinheilig: »Rotkäppchen, auf der Wiese blühen so schöne bunte Blumen. Pflücke doch für zu Hause einen großen Strauß. Deine Mutter freut sich bestimmt.« Hinterhältig dachte er: ›Während Rotkäppchen den Blumenstrauß pflückt, rase ich zum Haus der Großmutter, fresse erst sie und dann das junge, zarte Rotkäppchen.‹

Rotkäppchen erinnerte sich an die Worte seiner Mutter und entgegnete ärgerlich: »Ich pflücke keine Blumen auf der Wiese. Sie wachsen nicht auf meinem direkten Weg.«

Listig schmeichelte der Wolf: »Willst du dir die Blumen nicht einmal ansehen? Sie sind so wunderschön. Ich begleite dich ein Stück, du zartes, süßes Mädchen.«

Rotkäppchen konnte der Versuchung nicht widerstehen. Es lief mit dem Wolf über die Wiese, erblickte die prächtigen Blumen und eilte voller Begeisterung von einer zur anderen, pflückte einen großen Strauß und vergaß den Wolf.

Als der Wolf sah, dass er Rotkäppchen überlistet hatte, drehte er sich wie ein Blitz um und raste geradewegs zum Haus der Großmutter. Er klopfte an ihre Tür.

»Wer ist da?«, keuchte es aus dem Innern des Hauses.

Der Wolf säuselte mit hoher Stimme: »Rotkäppchen ist hier, das bringt dir Kaffee und Kuchen.«

»Drück nur auf die Klinke«, hauchte die Großmutter. »Ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen.«

Mit einem Ruck öffnete der Wolf die Tür, sprang zum Bett der Großmutter und verschlang sie mit Haut und Haaren. Dann zog er Kleider der Großmutter an, setzte ihre Haube auf, legte sich ins Bett und wartete auf Rotkäppchen.

Das hatte inzwischen so viele Blumen gesammelt, wie es nur tragen konnte. Es nahm seine Jutetasche und machte sich auf den Weg zum Haus der Großmutter. Es wunderte sich, dass die Tür weit offenstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor. Es dachte: ›Wie ängstlich ist mir heute zumut und bin doch sonst so gerne bei der Großmutter.‹ Es rief »Guten Morgen!«, bekam aber keine Antwort. Daraufhin ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück. Da lag die Großmutter, hatte die Haube tief ins Gesicht gezogen und sah so wunderlich aus.

»Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren?«

»Dass ich dich besser hören kann!«

»Ei, Großmutter, was hast du für große Augen?«

»Dass ich dich besser sehen kann!«

»Ei, Großmutter, was hast du für große Hände?«

»Dass ich dich besser packen kann!«

»Ei, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul?«

»Dass ich dich besser fressen kann!«

Bevor der Wolf sich auf Rotkäppchen stürzen konnte, erkannte das Mädchen schlagartig, wer vor ihm im Bett lag. Es stieß einen Kampfschrei aus und sprang dem Wolf mit beiden Beinen auf den Bauch. Die Jutetasche flog in die Ecke.

Der Wolf musste schrecklich rülpsen und spuckte die Großmutter aus seinem großen Maul wieder aus. Dabei blieb ihm die Luft weg und er verstarb.

Die Großmutter umarmte ihr Rotkäppchen und lobte es für seine Tapferkeit und Tatkraft. Das Fell des Wolfes wurde ein bequemer Bettvorleger und Großmutter und ihre Liebste hatten nie wieder kalte Füße.

Und weil das noch nicht so lange her sein kann, leben sie heute noch.

Dornröschen

Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: »Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!« Und kriegten immer keins. Da trug es sich zu, als die Königin im Bade saß, dass ein Frosch aus dem Wasser an Land kroch und zu ihr sprach: »Dein Wunsch wird erfüllt werden. Ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter zur Welt bringen.«

Was der Frosch gesagt hatte, das geschah, und die Königin gebar ein Mädchen, das krähte so kräftig in seiner Wiege, dass die Königin und der König vor Freude sich nicht zu lassen wussten. Die Königin pflanzte mithilfe ihres Gärtners mitten im Schlosspark einen Rosenstrauch und der König veranstaltete ein großes Fest. Er lud nicht bloß seine Verwandten, Freunde und Bekannten, sondern auch die weisen Frauen des Landes dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen wären. Es waren ihrer dreizehn in seinem Reiche. Weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, so musste eine von ihnen daheimbleiben. Das Fest ward mit aller Pracht gefeiert und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen das Kind mit ihren Wundergaben: Die eine mit Verstand, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichtum und so mit allem, was auf der Welt zu wünschen ist.

Als elf Frauen ihre Sprüche eben getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, dass sie nicht eingeladen war. Ohne jemanden zu grüßen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme: »Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot umfallen.« Und ohne ein Wort weiter zu sprechen, kehrte sie sich um und verließ den Saal. Alle waren zutiefst erschrocken, da trat die Zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch übrig hatte, und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern ihn nur mildern konnte, so sagte sie: »Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt.«

Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, dass alle Spindeln im ganzen Königreiche sollten verbrannt werden.

An dem Mädchen aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt, denn es war so schön, freundlich und verständig, dass es jede Frau und jeder Mann, die es nur ansahen, liebhaben mussten. Die Königstochter und der Rosenstrauch wuchsen heran. Der Strauch trug herrliche große Blüten in leuchtendem Rot und die hatten einen süßen Duft und messerscharfe spitze Dornen. Niemand außer der Königstochter wagte es, eine Rose zu pflücken, denn sie stachen nur das Mädchen nicht. So oft es konnte, heftete es sich eine Blüte an sein Kleid und hieß deshalb Dornröschen.

Es geschah, dass an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahre alt ward, der König und die Königin auf einer Reise und nicht zu Hause waren. Das Mädchen blieb ganz alleine im Schloss zurück. Da ging es allerorten herum, besah Stuben, Säle und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten Turm. Es stieg die Wendeltreppe hinauf und gelangte zu einer kleinen Türe. In dem Schloss steckte ein verrosteter Schlüssel und als es ihn umdrehte, sprang die Türe auf und da saß in einem kleinen Stübchen die dreizehnte Fee mit einer Spindel und spann emsig ihren Flachs.

»Guten Tag, fleißige Frau«, sprach die Königstochter. »Was macht Ihr da?«

»Ich spinne«, sagte die alte Frau, hob den Kopf und sah Dornröschen an. Sie war so überwältigt von ihrer blühenden Schönheit und ihrem Liebreiz, dass sich ihr Herz zusammenzog und sie zutiefst ihren bösen Spruch bereute. Im selben Augenblick wurde die Prinzessin von dem Fluch erlöst.

Die Fee erhob sich, ging auf Dornröschen zu und sprach: »Zu deinem fünfzehnten Geburtstag schenke ich dir meinen Ring mit der eingravierten Rose.«

Sie streifte ihn der Königstochter über den Finger und er passte genau. Dornröschen freute sich sehr über den Ring und bedankte sich herzlich bei der Fee.

Die weise Frau sprach: »Der Schmuck wird dir Glück bringen. Nimm nur den Mann zum Gemahl, der aufmerksam genug ist und den Ring mit der eingravierten Rose an dir beachtet und zu würdigen weiß. Bitte geh’ jetzt zurück in dein Leben.«

Dornröschen verabschiedete sich überschwänglich von der weisen Frau, stieg die Wendeltreppe hinunter, schritt durch den Hof, und begab sich wieder in das Schloss.

Nachdem das Königspaar von der Reise zurückgekommen war, weihte der König mit seinen Ministern die junge Prinzessin in alle Amtsgeschäfte ein. Sie war verständig und lernte schnell. An hohen Feiertagen veranstaltete sie große Feste, zu denen sie alle Prinzen und Prinzessinnen der benachbarten Reiche einlud. Elegante, mutige, schöne und gebildete Prinzen reisten mit großem Prunk und Gefolge an. Vom Glanz dieser Feste schwärmte das ganze Volk.

Obwohl alle Prinzen Dornröschen den Hof machten und ihr die Hand küssten, übersahen alle den einfachen Ring an ihrem Finger.

Da begab es sich, dass ihre Hofdame Bianca um diese Zeit Geburtstag hatte und Dornröschen ihr für ihre treuen Dienste eine Brosche mit einem roten Rubin überreichte. Erfreut bedankte sich die Hofdame und erfasste die ihr dargereichte Hand. Da sah sie den Ring der Fee mit der eingravierten Rose an Dornröschens Finger. »Welch eine wunderschöne Goldschmiedearbeit«, rief sie aus.

Verwirrt sah die Königstochter auf ihre Hofdame und auf ihren Ring mit der Rose. Sie drehte sich ruckartig um und eilte zum Turm. Sie stieg die Wendeltreppe empor zur kleinen Stube der Fee. Dort drehte sie den Schlüssel im Schloss der Türe um und diese sprang auf. Die Fee saß vor ihrem Webstuhl und webte einen Teppich.

»Guten Tag, weise Frau«, grüßte Dornröschen sie. »Ich muss Euch sprechen. Ich bin froh, dass Ihr noch hier seid.«

»Ich wusste, dass du kommst.« Die Fee lächelte.

Dornröschen berichtete ihr, was mit dem Ring geschehen war. »Ich bin jetzt ratlos«, seufzte sie.

Die weise Fee fragte: »Ist die Hofdame schön?«

»Schön bin ich selber«, erwiderte Dornröschen.

»Ist sie klug?«

»Ja, sehr.«

»Ist sie liebenswert?«

»Über alle Maßen«, schwärmte die Prinzessin.

Da sprach die Fee zu ihr: »Dann mach sie zur Königin deines Herzens und regiere mit ihr dein Reich.«

Und so geschah es. Friede, Wohlstand und Bildung für alle herrschten fortan im Land und Dornröschen ging als »Königin Roswitha die Große« in die Geschichte ein.

Schneewittchen

Es war einmal mitten im Winter und Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rot im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: ›Hätt’ ich ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen.‹ Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum Schneewittchen genannt.

Und wie das Kind geboren war, freute sich die Königin sehr. Die Enttäuschung des Königs aber kannte keine Grenzen. Er wollte das Kind nicht einmal sehen, denn er wünschte sich einen Sohn und Thronfolger. Vor Kummer starb die Königin.

Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und hochmütig und konnte nicht leiden, dass sie an Schönheit von jemandem übertroffen werden könnte. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel, wenn sie vor den trat und sich darin beschaute und sprach:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,

wer ist die Schönste im ganzen Land?«,

so antwortete der Spiegel:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.«

Da war sie zufrieden, denn sie wusste, dass der Spiegel die Wahrheit sagte.

Schneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner und als es sieben Jahre alt war, war es so schön wie der klare Tag und schöner als die Königin. Der König hatte Schneewittchen bis dahin immer noch nicht beachtet und wartete weiter vergeblich auf seinen Thronfolger. Als die Königin wieder einmal ihren Spiegel fragte:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,

wer ist die Schönste im ganzen Land?«,

so antwortete er:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,

aber Schneewittchen ist tausend Mal schöner als Ihr.«.

Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund an, wenn sie Schneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum, so hasste sie das Mädchen. Denn sie hatte dem König noch immer keinen Thronfolger geschenkt. Neid und Eifersucht wuchsen wie Unkraut in ihrem Herzen immer höher, so dass sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr fand. Kein Arzt konnte ihr helfen. Und ihre Schönheit drohte dahinzuwelken. Da rief sie einen Jäger und sprach: »Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will’s nicht mehr vor meinen Augen sehen und der König wird es nicht vermissen. Du sollst es töten und mir seine Leber als Wahrzeichen bringen.«

Der Jäger gehorchte und führte das Mädchen hinaus in den Wald und als er den Hirschfänger gezogen hatte und Schneewittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing es an zu weinen und sprach: »Ach, lieber Jäger, lass mir mein Leben. Ich will in den wilden Wald laufen und nimmermehr heimkommen.« Und weil es so schön war, hatte der Jäger Mitleid mit ihm und sprach: »So lauf hin, du armes Kind.« Bei sich dachte er: ›Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben‹. Und doch war’s ihm, als wär’ ein Stein von seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht zu töten brauchte. Und als gerade ein Frischling dahergesprungen kam, stach er ihn ab, nahm die Leber heraus und brachte sie als Wahrzeichen der Königin. Der Koch briet sie mit Zwiebeln und Äpfeln und das boshafte Weib aß sie mit Genuss und meinte, sie hätte Schneewittchens Leber gegessen.

Nun war das arme Kind in dem großen Wald mutterseelenallein und es ward ihm so angst, dass es alle Blätter an den Bäumen ansah und nicht wusste, wie es sich helfen sollte. Da fing es an zu laufen und lief über die spitzen Steine und durch die Dornen, und die wilden Tiere sprangen an ihm vorbei, aber sie taten ihm nichts.

Es lief, so lange die Füße noch fortkonnten, bis es bald Abend werden wollte. Da sah es ein kleines Häuschen und ging hinein, sich auszuruhen. In dem Häuschen war alles klein, aber so zierlich und rein, dass es nicht zu sagen ist. Da stand ein weiß gedecktes Tischlein mit sieben kleinen Tellern, jedes Tellerlein mit seinem Löffelein, ferner sieben Messerlein und Gäbelein und sieben Becherlein. Das Essen war schon angerichtet und weil Schneewittchen so hungrig und durstig war, aß es von jedem Teller die Hälfte vom Gemüse und vom Brot und trank ein wenig aus jedem Becherlein. Dann sah es sich im Raum um. An der Wand waren sieben Bettlein nebeneinander aufgestellt und schneeweiße Laken darüber gedeckt. Am Fuße des größten Bettchens stand ein Körbchen und darin schlief zusammengerollt eine braun-weiß gestreifte Katze. Als Schneewittchen das Tier erblickte, überfiel es eine solche Müdigkeit, dass es auf dieses Bettchen niedersank, sich Gott befahl und einschlief.

Als es ganz dunkel geworden war, kamen die Herren von dem Häuschen, das waren die sieben Zwerge, die am Tage in den Bergen nach Erz hackten und gruben. Sie zündeten ihre sieben Lichter an und wie es nun hell im Häuschen ward, sahen sie, dass jemand darin gewesen war, denn es stand nicht alles so, wie sie es verlassen hatten.

Der Erste sprach: »Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?« - Der Zweite: »Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?« – Der Dritte: »Wer hat von meinem Brötchen genommen?« – Der Vierte: »Wer hat von meinem Gemüschen gegessen?« – Der Fünfte: »Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?« – Der Sechste: »Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?« – Der Siebte: »Wer hat aus meinem Becherlein getrunken?«

Dann sah sich der Erste um und erblickte Schneewittchen, das lag in seinem Bettchen und schlief. Nun rief er die anderen, die kamen herbeigelaufen, schrien vor Verwunderung auf, holten ihre sieben Lichter und beleuchteten Schneewittchen.

»Ei, du mein Gott!«, riefen sie, »Ei, du mein Gott! Was ist das Kind so schön!«, und hatten so große Freude, dass sie es nicht aufweckten, sondern im Bettchen fort schlafen ließen.

Als es Morgen war, erwachte Schneewittchen, und wie es die sieben Zwerge sah, erschrak es. Sie waren aber freundlich und fragten: »Wie heißt du?« – »Ich heiße Schneewittchen«, antwortete es. »Wie bist du in unser Haus gekommen?«, fragten weiter die Zwerge. Da erzählte es ihnen, dass seine Stiefmutter es hätte wollen umbringen lassen. Der Jäger hätte ihm aber das Leben geschenkt und da wär’ es gelaufen den ganzen Tag, bis es endlich ihr Häuschen gefunden hätte. Die Zwerge sprachen: »Willst du unser Haus versehen, kochen, betten, waschen, nähen und stricken, und willst du alles ordentlich und reinlich halten, so kannst du bei uns bleiben und es soll dir an nichts fehlen.« – »Ja«, sagte Schneewittchen, »von Herzen gern«, und blieb bei ihnen und ihrer Katze. Die strich Schneewittchen um die Beine und schnurrte. Das Mädchen hielt ihnen das Haus in Ordnung. Morgens gingen die Zwerge in die Berge und suchten Erz und Gold, abends kamen sie wieder und da war ihr Essen bereitet. Den Tag über war Schneewittchen allein mit der Katze. Da warnten es die guten Zwerge und sprachen: »Hüte dich vor deiner Stiefmutter, die wird bald wissen, dass du hier bist. Lass niemanden herein!«

Die Königin aber, nachdem sie glaubte, Schneewittchens Leber gegessen zu haben, dachte nicht anders, als sie wäre wieder die Erste und Allerschönste, trat vor den Spiegel und sprach:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,

wer ist die Schönste im ganzen Land?«

Da antwortete der Spiegel:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,

aber Schneewittchen über den Bergen

bei den sieben Zwergen

ist noch tausendmal schöner als Ihr.«

Da erschrak sie, denn sie wusste, dass der Spiegel keine Unwahrheit sprach und merkte, dass der Jäger sie betrogen hatte und Schneewittchen noch am Leben war. Da sann sie aufs Neue, wie sie es umbringen wollte, denn solange sie nicht die Schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Und als sie sich endlich etwas ausgedacht hatte, färbte sie sich das Gesicht und kleidete sich wie eine alte Krämerin und war ganz unkenntlich. In dieser Gestalt ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief: »Schöne Ware feil, feil!«

Schneewittchen guckte zum Fenster heraus und grüßte: »Guten Tag, liebe Frau, was habt Ihr zu verkaufen?«

»Gute Ware, schöne Ware«, antwortete sie, »Schnürriemen in allen Farben«, und holte einen Riemen hervor, der aus bunter Seide geflochten war. Da sah Schneewittchen ihr in die Augen und erschauerte, so kalt war ihr Blick. Das Mädchen schlug die Augen nieder und bemerkte, dass sich seiner Katze das Fell sträubte. Die Frau hielt ihm den in allen Farben schimmernden Schnürriemen entgegen. Schneewittchen war so entzückt von der glitzernden Seide, dass es alle Bedenken vergaß, der Frau die Tür öffnete und die Kostbarkeit kaufte.

»Kind«, sprach die Alte, »wie du aussiehst! Komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren.« Schneewittchen stellte sich vor sie und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren. Aber die Alte schnürte geschwind und schnürte so fest, dass dem Schneewittchen der Atem verging und es für tot hinfiel. »Nun bist du die Schönste gewesen«, sprach die Königin und eilte hinaus.