Rückkehr nach Utopia - Elisabeth Maria Rothfeld - E-Book

Rückkehr nach Utopia E-Book

Elisabeth Maria Rothfeld

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Beschreibung

Die junge Eva flüchtet auf die Insel und wagt einen Neubeginn. Bis sie jedoch das Richtige für sich findet, muss sie erst noch ihr inneres Selbstverständnis wiederentdecken, was schwieriger als geplant ist. Jedoch das Schicksal meint es gut mit ihr, stellt ihr die weise Katze Urrh, den einfühlsamen Schamanen Miguel und die alte Othilia zur Seite. In ihren Träumen reist Eva in vergangene Welten, wo sie von der Veleda - jener Orakelpriesterin, die einst an den Externsteinen wirkte - in die Geheimnisse vom Mysterium des Mensch-Seins eingeweiht wird. So löst sich Eva im Laufe eines Sommers aus alten Verstrickungen und Abhängigkeiten, betritt einen Weg, auf dem sie richtungsweisende Unterstützung findet. Sie macht sich frei und begibt sich in ein erweitertes Bewusstsein, weiß endlich, was sie will. Mit ihrem feinfühligen Wortspiel lädt die Autorin - den Leser, die Leserin - dazu ein, für sich selbst auch zwischen den Zeilen zu lesen und ureigene Erkenntnisse für ein selbstbestimmtes Leben zu erfahren, anzunehmen und umzusetzen.

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Für meine

Brüder und Schwestern.

Inhalt

Gedicht - Botschaft an Eva

Prolog

1

Ankunft auf der Insel

2

Im heiligen Hain

3

Der erste Tag

4

Ihwar begegnet der Veleda

5

Eingewöhnung

6

Festmahl der Ostara

7

Arbeitssuche

8

Ostaras Quelle

9

Das alte Friesenhaus

10

Das Göttliche und der Mensch

11

Nachts im Zimmer

12

Ihwars erste Prüfung

13

Tagträume

14

Ihwar und die Energie der Drachenschlange

15

Evas Mann

16

Sowilo - Das Kind der Sonne

17

Midsommer

18

Litha – Die Sommersonnenwende

19

Krafttierreise

20

Finstere Visionen der Veleda

21

Krieg und Liebe

22

Am Runenfelsen

23

Kutschfahrt mit Othilia

24

Die Nebel zur Anderswelt

25

Der Tod

26

Yule –Die Nacht der Wintersonnenwende

27

Abschiedsbrief

28

Imbolc - Der zweite Mond

29

Evas Traum

30

Rückkehr nach Utopia

Glossar

Bücher, die mir am Herzen liegen

Lyrischer Anhang

Epilog

Gebet des Mensch-Seins

Über die Autorin

Kontaktdaten

Pressetext tao.de

Botschaft an Eva

Da sprach die Schlange zum Menschen: „Lass dir Zeit zum Wachsen. Lass dir Zeit dich immer wieder zu häuten, aber verpasse nicht den richtigen Moment.

Wenn dir deine alte Hülle mal wieder zu eng geworden ist, dann halte nicht daran fest, sonst wird sie dir zum Panzer. Deine ureigenen Kräfte und dein starrer Wille machen sie dann stählern und du wirst sie nicht mehr los. Und wenn du dann vorankommen willst, frei sein möchtest, geht es nur mit schmerzhafter Gewalt.

Drum lass es nicht soweit kommen. Leg deine alte Hülle immer wieder ab, mit Weisheit im Sinn, im rechten Moment, ganz selbstverständlich.

So reife heran, zu dem, der du schon immer warst.“

Freiburg, 31.12.2013 (noch im Jahr der Schlange)

Prolog

„Ich könnte ein Buch schreiben, die Geschichte von der Zukunft, die längst begonnen hat“, so dachte ich vor einigen Jahren, „das alte Wissen einbeziehend, die Rituale der Naturvölker und auch die Art und Weise, wie sich die Moderne entwickelt hat.“

Von der Erkenntnis der Dummheit wollte ich schreiben; der Dummheit der Energiegewinnung, der Blindheit der Massen, die der Einbahnstraße des Vergessens zum Opfer gefallen sind, vom Knebel der Manipulation und vielem mehr.

Und ich wollte von einer Zeit schreiben, die schöner ist als unsere heutige; wo nach und nach die Menschen bewusster werden, wo bald alles, was auf Erden geschieht, sinnvoll ist.

Die Autos fahren mit Wasser; nur eine angemessene Geschwindigkeit ist erforderlich, wir haben wieder Zeit. Und alle Produkte, besonders unsere technischen Errungenschaften, sind völlig recycelbar.

Lebensmittel, die wirklich Lebenskraft geben, sind in ausreichender Menge vorhanden. Weil das Wesentliche wiederentdeckt wurde, steht jedem Menschen alles zur Verfügung, was zu einem glücklichen Leben gehört.

Ärzte heilen, weil sie ganzheitliche Methoden anwenden und so auch das Wesen des Menschen einbeziehen.

Kinder werden fröhlich und glücklich geleitet. Das Lernen über ihr wahres Sein - so auch das Herausfinden eines passenden Berufs - sind wie ein Spaziergang im Sonnenschein.

Die Liebe und das Verständnis, die Gemeinschaft und der Wunsch, das Glück mit anderen zu teilen, haben oberste Priorität.

Es gibt schöne Filme, die von dem erzählen, was wir uns alle wünschen und sie machen Mut, weiter danach zu streben.

Das Angebot, das Leben zu bereichern, ist vielseitig und auf seine Art und Weise für jeden stimmig. Die Menschen lachen viel, singen, tanzen und genießen ihre Zeit auf Erden.

Die Alten erzählen aus ihrem Leben, erinnern sich, lassen wieder an ihren Erfahrungen teilhaben und helfen so der Jugend.

Körperlich sind alle fit, Sport wird zum Vergnügen. Wenn eine Gruppe ein Spiel verliert, dann hadert sie nicht, sondern erfreut sich am Sieg der anderen.

Es herrscht Frieden, weil die Weisheit des Lebens hier auf Erden wiedererwacht ist.

Die Menschen verstehen die Zusammenhänge und haben auch Kontakt zu anderen Welten. Es gibt jedoch keine Vermischung unter den Sternenvölkern, jede Seiensweise hat ihre eigenen Aufgaben.

Jedoch erkennen und respektieren wir uns als Brüder und Schwestern, so auch hier.

Die Erwachsenen sind auf Ehen mit nur einem Partner oder auf wechselnde Beziehungen vorbereitet und leben das, was ihnen entspricht. Dabei gibt es keinen Schmerz. Besondere Rituale und Zeremonien haben sie reifen lassen und helfen ihnen, entsprechend ihrer Entscheidung, zu sein.

Die Kinder respektieren die Erwachsenen. Die Alten respektieren die Jungen und jeder geht, entsprechend seines Alters und seinen Fähigkeiten, seinen Weg.

Auf Erden herrschen Achtsamkeit und bedingungslose Liebe.

Nun ist es aber nicht dieses Buch geworden, welches das beschreibt, was wir leben möchten, sondern es ist die Geschichte der Vorbereitung dessen geworden, was wir uns vielleicht alle erinnern.

Es ist das Besinnen unserer Wurzeln, das Finden von dem, was wir als Basis für unser aller Leben brauchen.

Es ist der erste Schritt, der Schritt in die Bewusstheit, dieser erste Schritt, der von uns allen getan werden muss. Denn ohne, dass die Menschheit ihn tut, schaffen wir es nicht, ins Neue-Mensch-Sein zu kommen.

Im Wechselspiel der Zeit begegnen sich zwei Frauenschicksale. Ihwars Geschichte, aus den Tiefen der Vergangenheit, erzähle ich Dir in der Gegenwartsform, die von Eva, aus dem Jetzt, in der Vergangenheitsform. Ein Widerspruch? Durchaus nicht, nur ein Stilmittel, das erlaubt, mit der Zeit, so wie mit einem Blatt im Wind, zu spielen.

So weit das Leben dieser beiden Frauen auch auseinander zu liegen scheint, so nahe sind sie sich. Denn alles ergibt sich gleichzeitig, ist miteinander verwoben. Beide Frauen haben dasselbe Thema; Parallelen über Parallelen werden sichtbar.

Die eine hat die Eule als Krafttier, die andere die Katze als Begleitung; hilfreiche Wesen, die mit ihren Botschaften Orientierung und Weisheit bringen.

Die eine hat alles vergessen, Ahnungen und Visionen quälen sie, zwingen dazu, ins Vertrauen auf die innere Wahrheit zu kommen. Die andere kann sich klar erinnern, hat ihre Entscheidungen bewusst getroffen und doch muss auch sie ihr Leben neu entdecken, den Ort und die Menschen finden, zu denen sie gehört.

Ein Buch für die Menschen der Neuen Zeit, die von einem zum anderen hetzen, oft gezwungen sind, etwas zu erfüllen, das nicht mehr ihr eigen zu sein scheint.

Eine Lektüre, die zum Träumen einlädt, zum Innehalten, zum sich wieder selbst Verstehenlernen begleitet; ein Werk, das zur Bewusstwerdung jener Kostbarkeiten inspiriert, die tief im menschlichen Sein verborgen liegen.

Ein Buch, das Zuversicht und Freude in unser aller Herzen bringen möchte und zur liebevollen Achtsamkeit zwischen den Menschen, zu sich selbst, zu den Tieren, Pflanzen und allem, was Mutter Erde uns schenkt, auffordert.

Ich wünsche Dir, dass Du Dich wiederentdecken kannst und Dir erlaubst, mit Freude und Stolz - zum Wohle aller - dieses Leben zu genießen.

Zur Herbst-Tag- und Nachtgleiche im September 2015

Auch heute haben diese Worte unverändert Gültigkeit. Eines möchte ich jedoch ergänzen und Dir von Pu Kawe (Vater Kristall) erzählen.

Am 11.11.2017 folgte ich einer Einladung zum Externstein. Ich kannte diesen Naturheiler aus dem Norden von Thailand nicht, wusste nur von seiner Friedensmission im deutschsprachigen Raum.

Als der Zeitpunkt unserer Begegnung näher rückte, steigerte sich meine Vorfreude. Und als ich dann vor ihm stand, hörte ich mich unter Freudentränen sagen: „Endlich bist du hier.“ Mein Urvertrauen war wiedererwacht und als Pu Kawe - nach der Zeremonie unserer kleinen Gruppe - davon erzählte, was wir gemeinsam vollzogen hatten, begann ich zu verstehen.

Am Externstein war die Macht der Weißen Drachen für lange Zeit gebannt. Nun kann sich wieder die Harmonie zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen entfalten und zur Heilung dieses Ortes - und darüber hinaus - beitragen.

War ich Jahre zuvor einer mir unbewussten Vorahnung gefolgt, als ich vom Felsen der Drachenschlange schrieb?

Im Jahr des Drachen, 2024

Elisa

Für im Text kursiv geschriebene Worte findet sich eine Erklärung im Glossar. Außerdem gibt es dort weitere Verständnishilfen.

Kapitel 1

Ankunft auf der Insel

Eva stand, noch immer nach Atem ringend, am Strand. Sie war den ganzen Weg vom Anleger bis hierher, ans Ende der Welt, gerannt. Ihren Rucksack hatte sie einfach zurück gelassen, unachtsam im Stich gelassen. Was, wenn ihre wenige Habe inzwischen gestohlen war? Wenigstens ihre Papiere und ihr Geld hatte sie im kleinen Täschchen an ihrem Gürtel. Erleichtert nahm sie es fest in die Hände. Später würde sie noch einmal zum Hafen gehen müssen, um ihren Gepäckschein einzulösen.

Warum hatte sie sich denn nur so beeilt? Was war denn das wieder für ein Panikanfall gewesen? Ja, jetzt erinnerte sie sich an den Mann. Er hatte sie süffisant angelächelt und sich während der Überfahrt mehrmals in ihre Blickrichtung gestellt. Als er sich dann bei der Gepäckausgabe auch noch an sie heran gedrängelt und ihr vertraulich an die Schulter gefasst hatte, hatte sie vollends die Fassung verloren und war nur noch geflüchtet.

Sie müsste noch vieles lernen, sonst lief sie Gefahr, immer wieder gejagt zu werden. Und das wollte sie auf keinen Fall. Aber darüber würde sie sich später Gedanken machen können. Später, ach, daran wollte sie gar nicht denken.

Jetzt war sie erst einmal am Ende eines weiten Weges angekommen. Hier konnte sie nicht weiter, hier setzte ihr die Landschaft ein klares Stopp. Blinzelnd stand sie und die letzten Sonnenstrahlen erwärmten nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr wild pochendes Herz.

Was war nur mit ihnen geschehen? War es ihre Schuld gewesen, dass ihr Mann immer ungehaltener und brutaler geworden war? Wo war der geblieben, den sie im letzten Herbst geheiratet hatte?

Sie hatte sich immer mehr eingesperrt gefühlt, und der goldene Käfig, den er um sie baute, hatte immer mehr Gitterstäbe bekommen. Das goldene Armband mit den groben Kettengliedern, das er ihr zu Weihnachten als Überraschung ums Handgelenk gelegt hatte, hatte ihr für einen Moment den Atem genommen und die Vorahnung der Gefangenschaft noch verstärkt. Es wäre nur noch eine Frage der Zeit gewesen und er hätte sie ganz in der Hand gehabt.

Deshalb hatte sie auch Angst vor einer Schwangerschaft bekommen und heimlich Verhütungsmaßnahmen ergriffen, obwohl sie sich nach einem Kind sehnte. Aber nicht von ihm, dem Mann, der ihr in den letzten Wochen ihres Zusammenlebens immer fremder geworden war.

Vergessen war die Zeit ihres Kennenlernens, da war er stolz auf seine blonde Eva mit der wallenden Mähne gewesen. Da hatte er mit seiner schönen Frau angegeben und keinen Moment verpasst in dem er nicht zum Ausdruck brachte, dass sein Evchen jetzt den Himmel auf Erden haben würde. Er war zärtlich und sanft gewesen und ihr Zusammensein schenkte ihnen die prickelnde Erotik, die Eva sich immer gewünscht hatte.

Keine Geldsorgen mehr, ganz im Gegenteil. Er war großzügig gewesen, wollte sein Vermögen für sie verschwenden. Stolz erzählte er allen, dass jetzt seine Villa am Stadtrand der Großstadt, seine kleine Yacht auf dem Fluss und das Wochenendhaus in der Toskana auch ihr gehörten.

Eva hatte es imponiert und sie war hoch erfreut gewesen, als sich das Wochenendhaus auch noch als stattlicher Landsitz geoutet und ihnen einen wunderschönen Rahmen für ihre Flitterwochen geboten hatte.

Jedoch schien das Verhalten ihres Mannes immer unehrlicher zu werden. Die gute Gina hatte Eva bei ihrer Ankunft so seltsam angesehen; und sie hatte zum ersten Mal jenen Stich im Herzen gespürt, der sich zukünftig immer häufiger zeigen sollte. Und Eva begann sich zu fragen, ob seine strahlende Freundlichkeit nur Blendwerk war, und sie einem trügerischen Schein erlegen war.

Gina hatte alles getan, um ihren Chef und dessen neue Frau zu verwöhnen, und in Evas Beisein war er auch zuvorkommend und humorvoll geblieben. Aber Eva erinnerte sich, dass sie einmal sehr früh wach geworden war und gehört hatte, wie er Gina rügte. Er tobte, nur weil sie die Küche nicht so verlassen hatte, wie er das von ihr wünschte. Eigentlich wollte er nur ein Glas Wasser trinken, hatte die Karaffe mit dem frischen Quellwasser auf dem Terrazzoboden zerschmettert und sich in einen Wutanfall hinein gesteigert. Eva hatte so getan, als wenn sie noch schliefe, aber es keimte etwas in ihr, was sich nur einige Monate später in nackte Überlebensangst steigern sollte.

Nach und nach - seitdem sie verheiratet war - hatten sich fast alle Menschen, die ihr einmal nahe gestanden hatten, aus ihrem Leben davongeschlichen. Irgendwie verstand sie nicht warum, wollte sich nicht damit abfinden. Aber auf ihre Versuche hin bekam sie nur höfliche Floskeln und fadenscheinige Ausreden zur Antwort. „Hat das mit ihm zu tun, spinnt er längst ein Netz aus Intrigen?“

Sie wollte wenigstens den Kontakt zu ihrer Freundin behalten und begann deshalb ein Versteckspiel. Wenn sie sich mit ihr treffen wollte, tat sie das inzwischen heimlich und löschte sofort die SMS ihrer Verabredung.

Neulich hatte er sie fast erwischt und sie musste mit Erschrecken feststellen, dass er ihr gefolgt war. Zum Glück war sie gerade zur Toilette gegangen, als er ihr Stammcafé betrat. Geistesgegenwärtig hatte ihre Freundin ein angeregtes Gespräch mit einem anderen Gast begonnen und sich an dessen Tisch gesetzt. Der Wirt hatte ihnen die bestellten Cappuccini gebracht und alle hatten verstohlene Blicke auf den aggressiven Mann gerichtet. Ihre Freundin hatte sich ins Zeug gelegt und mit dem fremden Gast geflirtet, der wohlwollend mitspielte. Als Eva ihren Mann hörte, war sie durch die Hintertür davongelaufen. Sie hatte seine schneidende Stimme kaum erkannt und konnte nicht fassen, was er da vor all den Leuten über sie behauptete.

Voller Angst war sie in den Park gelaufen und hatte sich auf einer versteckt stehenden Bank ausgeheult. Ihr Handy hatte immerzu geklingelt und sie stellte es aus. Eva wurde bewusst: „Wenn er mich so verzweifelt hört, dann hat er sein Ziel erreicht.“ Und sie hatte beschlossen, sich fortan zu verstellen und eine Rolle zu spielen, vielleicht die schwerste ihres Lebens.

Doch ihr Mann hatte gespürt, dass er sie nicht unter Kontrolle halten konnte und war in seiner ganzen Art immer rücksichtsloser geworden. Die zärtlichen Momente ihres Liebesspiels waren vorbei. Ohne Rücksicht auf ihre Gefühle und Bedürfnisse benutzte er Eva. Er hatte sie zwar noch nicht vergewaltigt oder geschlagen, aber die Angst davor schnürte ihr die Kehle zu und Eva befürchtete, irgendwann daran zu ersticken.

Was sollte denn nur werden? Sie konnte nicht bei ihm bleiben.

Nach und nach war ein Plan in ihr gereift, und sie organisierte heimlich ihre Flucht. Sie kaufte Kleidung, bezahlte mit seiner Visa-Card, dann gab sie die Kleidungsstücke mit einer Ausrede zurück und ließ sich den Betrag dafür in Bar auszahlen. Ihr eigenes Konto war inzwischen aufgelöst worden, obwohl sie darauf anfänglich jeden Monat eine ansehnliche Summe Geld überwiesen bekommen hatte. Für diesen Luxus hatte sie ihre Arbeit aufgeben müssen, um ganz für ihn da sein zu können, und seitdem die Tage mit unnützen Beschäftigungen vertan.

Schon zu der Zeit hatte sie, einer Vorahnung folgend, heimlich immer wieder kleinere Beträge abgehoben und in ihrer Kosmetikbox versteckt. Doch ihr wurde bewusst, wie leichtsinnig das war. Sie musste noch vorsichtiger sein. Nachdem sie den Erste-Hilfe-Kasten in ihrem Auto präpariert hatte, fühlte sie sich etwas sicherer. Inzwischen hatte sie einen Betrag zusammen, der ihr erst einmal für ein paar Wochen eine eigenständige Versorgung ermöglichen würde.

In den letzten Tagen hatte sie dann ihre wichtigsten Sachen aus dem Haus geschmuggelt. Gestern hatte sie sogar die Haushälterin angelogen; ihr mitgeteilt, dass sie erst einen Termin bei ihrer Ärztin habe und später zum Shoppen in der City bleiben würde. Sie solle mit dem Abendessen nicht auf sie warten und könne früh Feierabend machen, hatte Eva sie informiert. Unterwegs würde sie eine Kleinigkeit essen, und ihr Mann hätte ja heute Abend eine geschäftliche Verabredung.

Eva hatte geplant, dass er dadurch erst nachts bemerken würde, dass sie nicht mehr da war.

Mit ihrem Auto war sie dann in die entgegengesetzte Richtung ihres Reiseziels gestartet. Nicht direkt zum Meer, zu dem sie wollte, war sie gefahren, sondern 300 km gen Süden. In einem Parkhaus hatte sie ihr Auto abgestellt und es würde erst in den nächsten Tagen auffallen, dass es nicht mehr abgeholt würde. So hatte ihr Mann eine falsche Spur, der er folgen könne.

Eva war erhobenen Hauptes an der Überwachungskamera vorbeigegangen, hatte gelächelt und eine ablehnende Handbewegung gemacht. „Bestimmt wird er diese Bilder zu Gesicht bekommen“, hatte sie sich triumphierend in Gedanken gesagt.

Der Zug hatte sie in die nächste Großstadt gebracht, und dort war sie zum Friseur gegangen. Eine Eva mit einem dunkelbraunen Kurzhaarschnitt würde nicht gesucht werden. Im Supermarkt hatte sie noch eine Brille erstanden. Im Hotel gab sie sich mit ihrem Mädchennamen aus und legte ihren alten Reisepass vor. Dass sie anders aussah als auf dem Foto hatte keine Beanstandung gefunden. In der heutigen Zeit war es nichts Ungewöhnliches, seinen Typ zu verändern. Morgen würde sie Richtung Norden in die Nähe des Meeres fahren und als Rucksacktouristin auf eine der Inseln übersetzen.

Verwundert über ihre eigene Zivilcourage und stolz auf ihren Einfallsreichtum war sie nach einem tiefen Seufzer erleichtert eingeschlafen. Eine trügerische Ruhe war das gewesen, denn mitten in der Nacht war sie aus dem Schlaf hochgeschreckt. Harte Schläge an der Zimmertür hatten sie geweckt und sie fürchtete sich sofort vor ihrem Mann, der sie anscheinend so schnell gefunden hatte. Sie hatte am ganzen Körper gezittert und die Bettdecke bis über die Nase gezogen. Aber dann hatte sie die friedliche Stille im Haus erkannt und gewusst, dass es nur ein Albtraum gewesen war.

Aber sie hatte keinen Schlaf mehr gefunden, war die Geschehnisse des Tages wieder und wieder, Schritt für Schritt, durchgegangen und stellte sich immer wieder die Frage: „Habe ich einen Fehler gemacht?“

War der Traum eine Warnung gewesen, war ihr Mann ihr schon auf den Fersen und würde sie bald finden? Voller Angst mahnte sie sich zur Ruhe, warf sich von einer Seite auf die andere und musste all ihre Kraft zusammennehmen, um nicht zu verzweifeln.

Ja, sie hatte eine Chance, glaubte daran; Eva wollte nicht mehr zu ihm zurück, um keinen Preis, und beschloss, noch vorsichtiger zu sein. Beim Frühstück würde sie erzählen, dass sie sich auf ihren Wanderurlaub in den Bergen freue und weiter nach Italien reisen wolle.

Er durfte keine Möglichkeit haben, sie zu finden, sie musste schlauer sein als er.

Kreischende Möwen rissen sie aus ihren Gedanken. Ihre Schreie drangen in sie ein, brachen ihren Panzer auf, der sich wie eine Zwangsjacke um sie gelegt hatte. „Bin ich unserer kurzen Ehe, einem Gefängnis aus Lüge, Hass und psychischer Gewalt, tatsächlich entronnen, habe ich wirklich alles hinter mir gelassen?“

Energisch wischte Eva ihre Tränen ab. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie weinte. Waren da doch noch Angst und Hilflosigkeit oder fühlte sie nur die Trauer um ihre verlorene Liebe, die sich jetzt wie ein unaufhaltsamer Wasserfall aus ihrem Innern entlud?

Nach einer langen Weile fühlte sie sich erleichtert und durch die letzten Reste ihrer Tränen blinzelte sie auf. Mit unbewusstem Blick schaute Eva aufs Wasser und verfiel dem gleichmäßigen Kommen und Gehen der kleinen Wellen. Neugierig schienen sie Eva zu begrüßen, liefen glitzernd auf dem goldenen Sand heran, um sich sofort wieder zu entfernen. Jedoch ohne Eile und nicht weit, nur ein ganz kleines Stückchen, um im nächsten Moment zu ihr zurück zu kommen. Es schien, als wenn sie Eva die vielfältigen Farben der letzten Sonnenstrahlen brächten und ihr tröstend zuflüsterten: „Alles ist gut, Eva. Alles ist gut.“

Ja, die Wellen hatten Recht, das Leben ist schön und sie würde es schaffen, ein neues und freudvolleres Kapitel in ihrem Lebensbuch aufzuschlagen.

Entschlossen stand Eva auf und schüttelte sich den Sand von ihrer Kleidung. Gerade tauchten die letzten Reste der orangeroten Sonnenscheibe ins Meer.

Und als sie sich abwandte, stieg über der Dünenkette der volle Frühlingsmond auf. Sonne und Mond zeigten Eva, wie sanft und schön dieses Wechselspiel zwischen Tag und Nacht vollzogen werden kann, wie nahe Abschied und Neubeginn beieinander liegen.

Riesengroß und rötlich schimmernd lächelte er zu ihr hinab. Dankbar breitete Eva die Arme aus und sog gierig die friedliche Szenerie ein. „Nie mehr werde ich vor einem Menschen Angst haben, nie mehr Unterdrückung zulassen. Ich verspreche, dass ich frei bin und bereit dazu, eine glückliche Frau zu sein.“

Und wie zur Besiegelung streifte eine schneeweiße Katze vertrauensvoll um Evas Beine. Ihr Schnurren klang etwas seltsam, mehr wie „urrr, urrr“, jedoch erfreute es Eva.

Glücklich schaute sie dem schönen Tier nach, das den Schwanz Richtung Himmel gestreckt mit kraftvollen, weiten Sprüngen zielsicher voraus in Richtung der Hotels lief.

Kapitel 2

Im Heiligen Hain

„Wo bin ich? Hier mitten im Wald und es ist stockdunkel, ich kann nur ein paar Sterne zwischen den Baumwipfeln funkeln sehen. Irgendwie ist mir diese Schwärze vertraut, ja scheint fast behaglich, aber diese Geräusche machen mir Angst.“

Da raschelt es im Unterholz, ganz nah, da kracht ein Ast, etwas weiter entfernt. „Schleicht sich jemand an?“ „Uhhuu, uhhuuu.“ Grausen überstreift ihren Körper, Verzweiflung greift nach ihr. „Hilfe, wie bin ich denn bloß hierher gekommen?“

Aber zögern hilft nicht, sie muss weiter gehen, weiter, um aus diesem schaurigen Wald herauszukommen. „Raus und nach Hause“, flüstert sie, „aber wo ist das und wo bin ich hier nur?“

Einzelne Steine auf ihrem Weg zwinkern ihr zu, es sind nur kleine weiße Felsbröckchen, aber ihre Fantasie lässt sie erstarren. „Sind es die blicklosen Augen eines Ungeheuers, das urplötzlich aufgetaucht, mir bestimmt gleich ein Leid antun wird?“ Zitternd stolpert sie weiter, Tränen in den Augen.

„Große Göttin, Gütige Mutter, ist das schrecklich; hoffentlich träume ich nur. Ich träume, ganz bestimmt ist dies nur ein Albtraum, nur eine furchtbare Illusion“, flüstert sie und versucht, sich Mut zu machen. „Ich muss mich nur anstrengen um aufzuwachen und dann bin ich wieder bei meiner Sippe.“

„Aber“, erschrickt sie, „ich weiß nicht mehr, wer ich bin, woher ich komme; wo ist meine Heimat?“

Nichts antwortet ihrem Bangen, nur Schwärze breitet sich weiter aus, die auch in ihrem Innern alles zu verdunkeln scheint. Und nichts, aber auch gar nichts kommt ihr zu Hilfe.

Haltlos stolpert sie vorwärts: „Weiter, nur weiter.“ Sie strauchelt, stürzt über ein noch furchtbareres Ungeheuer. „Nein, es ist nur ein kräftiger Ast.“ Sie ergreift ihn, aber erschaudert, als sie das weiche Moos auf der Rinde ertastet, das wie ein nasses Fell anmutet; sofort lässt sie los und flüchtet weiter.

„Weiter, nur weiter, ich muss hier raus, sonst bringt mich dieser Albtraum noch um meinen Verstand.“

Aber nur ein paar unsichere Schritte und sie stürzt erneut und sinkt in einen Laubhaufen ein. Was ist das für ein Gefühl, dass ihr den Boden unter den Füßen wegreißt? Sie kann nicht mehr aufstehen, verzweifelt bleibt sie liegen und muss sich ihrem Schicksal ergeben. „War es das? Kann ich nichts mehr tun, nur noch meinen Tod erwarten?“

„Nein, ich bin dieser Nacht nicht hilflos ausgeliefert und ich will leben.“ Vorsichtig tastet sie sich zurück, ergreift erneut den Ast, drückt ihn an sich und fühlt sich schon viel stärker. Dort drüben kann sie schemenhaft einen Baumstamm erkennen. Besonnen geht sie darauf zu und setzt sich.

Erleichtert atmet sie auf, besinnt sich einen Moment: „Ich bin nicht einsam, etwas Liebevolles ist bei mir.“ Aber neben ihr hat auch die Angst Platz genommen und sie spürt, diese Gesellschaft gibt ihr keinen Trost. Und irgendwas schleicht sich an, regt sich ganz nahe, kriecht auf sie zu, sie erfasst es mit all ihren Sinnen. Der Untergrund scheint sich zu bewegen, schwankt sanft und lässt sie schwindeln. „Tut sich der Waldboden gleich auf, wird er mich verschlingen?“

Jedoch, da ist auch wieder dieses behagliche Gefühl, diese Vertrautheit, die ihr Mut macht. „Was kann ich tun, sag es mir!“, krächzt sie mit zitternder Stimme. „Was rätst du mir?“

Angestrengt lauscht sie auf eine Antwort, die zwar aus ihrem Innersten kommt, jedoch von Ferne zu flüstern scheint: „Finde es selbst heraus, bewahre deine Würde, vertraue dem Guten um dich, dann wirst du den Bann brechen und sich das Rätsel lösen.“

Immer wieder schaut sie hinter sich, starrt in die schwarze Nacht, aber auch wenn sich ihre Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt haben, wirklich erkennen kann sie nichts.

Schauder überschütten sie; Schwindel, der ihr den Atem nimmt, zerrt an ihr; und immer wieder knackt und knistert es in ihrer Nähe, immer wieder schreckt sie hoch. „Große Göttin, Gütige Mutter, bitte steh mir bei, bitte rette mich.“

Doch da ist nur dieser alles durchdringende Ruf, dieses unheimliche „Uhhuu, Uhhuuu“, das sie noch tiefer in den Wald zu locken scheint.

„Was ist das nur, was ist denn das nur für ein Wesen? Ich habe so etwas noch nie gehört, schön und gleichzeitig schrecklich. Springt es mich gleich an und macht meinem Leben ein jähes Ende? Oder werde ich verletzt werden und mein Blut versickert langsam im Waldboden?“

Mit starkem Griff klammert sie sich an ihren Ast. „Ich atme, ich lebe. Komm, komm, beruhige dich, atme tief ein und aus und dann wird alles gut. So wie in einem stillen Sein, wenn alles schweigt und mein Körper zu schweben beginnt. Einatmen, ausatmen, alles ist gut. Einatmen, ausatmen, alles ist gut.“

Und langsam spürt sie eine tröstende Wirkung, wird ihr ein bisschen heimeliger, gar wohliger. „Nur immer schön konzentriert bleiben, einatmen, ausatmen“, ermahnt sie sich.

Es klappt, geschafft, wenn es da nur nicht diese andere Stimme in ihr gäbe.

„Wo bist du denn nur hin gelaufen, was soll denn das, was machst du denn hier? Warum treibst du dich im stockfinsteren Wald herum; du bist ja selbst schuld, warum bist du nicht in deinem Nachtlager geblieben?“

Nur kann sie sich nach wie vor nicht erinnern, woher sie kommt, und das schlechte Gewissen ist ihr kein guter Berater.

„Bin ich denn einen weiten Weg gelaufen? Ich bin so müde, meine Füße schmerzen und ich fühle mich hier fremd. Ist denn der Ort, von dem ich komme, ein ganz anderer? Gibt es denn dort auch solch finstere Wälder?“

Aber so sehr sie sich auch anstrengt, Klarheit zeigt sich nicht. Sie spürt nur, irgendwas hatte sie hierher gebracht, hatte sie gerufen, gelockt, nur was?

Plötzlich ist es wieder da, dieses unheimliche „Uhhuu, Uhhuuu“ und jetzt ganz nah. Nackte Angst umklammert sie. „Das musste ja so kommen“, sie hält ihren Atem an, sieht ein riesiges Etwas auf sich zustürzen. Es ist vorbei, sie schließt die Augen und erwartet ihren Tod.

Aber nichts geschieht, der Augenblick scheint kein Ende zu nehmen. Langsam beruhigt sich das laute Pochen ihres Herzens und auch um sie herum wird es ganz leise, ihr Körper nimmt nur noch den milden Windhauch wahr. Und doch, etwas scheint zu sein, sie fühlt sich beobachtet, nicht auflauernd, sondern ganz friedlich. „Wer ist da?“, flüstert sie.

Vorsichtig öffnet sie ihre Augen und kann viel mehr erkennen als zuvor. Die Silhouetten der Bäume zeichnen sich vor dem nun helleren Hintergrund ab, sie bilden in ihrem Wachstum Skulpturen, scheinen wie Zauberwesen aus einer anderen Welt, die jetzt über die Berglandschaft zu tanzen beginnen. Erste Frühlingsblumen haben das Laub auf dem Waldboden durchdrungen und schimmern ihr aus einem Teppich von Tausenden Sternchen zu; es scheint, als wenn sie vom Himmel gefallen wären.

Bizarre Wolkenfetzen schweben über den Waldboden, weiße Nebelschwaden, die nun die Dunkelheit erhellen. Ganz sanft löst sich die Nacht auf und ein diffuses Licht nimmt dem Wald seinen Schrecken. „Es sind die Boten der Helligkeit“, weiß sie, und als sie auf sie zukommen und umhüllen, lässt sie sie mit ihrer feuchten Kühle durch sich hindurchfliegen. Ein gespenstisches Szenario, und sie beginnt zu frösteln, aber es hat eine solche Zärtlichkeit, dass Angst und Schrecken vergessen sind. „Es sind friedliche, sanfte Wesen, die mir nicht Unglück, sondern Liebe bringen“, weiß sie nun. Und dankbar folgt sie ihnen mit ihrem Blick bis hoch hinauf in die Baumwipfel.

Da ist sie. Vergessene Worte dringen wie ein Lichtstrahl in ihr Herz, geben der Gewissheit Raum. „Wenn du dem weißen Adler unter den Eulenvögeln begegnest, er zu dir spricht, dann bist du ...“

Was war das für ein Fetzen der Erinnerung, wer hatte sie mit diesen zuversichtlich scheinenden Worten unterwiesen und wie hatte die Botschaft geendet? Sie überlegt, aber so sehr sie sich auch anstrengt, es bleibt im Verborgenen.

Jedoch der Spuk ist vorbei, sie spürt eine große Freude, die sie erfüllt. Die riesige Eule erscheint ihr so vertraut, als wenn sie nach unendlich langem Suchen eine alte Freundin wiedergefunden hätte. Sie weiß zwar nicht, was nun geschehen soll, aber sie ist voller Zuversicht.

Bewegungslos sitzt sie da, ganz still verharrend, geduldig abwartend, beobachtend und dann zwinkert sie Ihwar mit einem ihrer großen Nachtaugen wissend zu.

Zärtlichkeit durchströmt Ihwar und sie sieht wie ein sanfter Windhauch die weißen Federn bauscht, hört es im trockenen Laub rascheln und in den Zweigen säuseln.

„Ist es nur der Wind? Vernehme ich ihre Stimme?“

Kapitel 3

Der erste Tag

Erstaunt riss sie die Augen auf und stellte fest, dass ihr die Umgebung völlig fremd war, und dann kam die Erinnerung. Ach ja, sie hatte ja gestern eingecheckt, war auf der Insel angekommen und hatte sich als Rucksacktouristin für ein paar Tage dieses Zimmer gemietet.

Was war denn das nur für eine seltsame Nacht gewesen, was war denn geschehen, hatte sie ihr Bett verlassen? Hatte sie einen Spaziergang gemacht? Sie konnte sich nicht erinnern, nur Ahnungen von Dunkelheit hatten sich in ihr Erwachen geschlichen. Bestimmt hatte ihr Verstand nur versucht, die Anspannung der letzten Wochen abzustreifen und ihr eine Szenerie beschert, die ihr jetzt völlig unwirklich erschien.

Eva war hier auf der Insel und nun war entschlossenes Handeln gefragt. Was wollte sie tun? Sie würde sich an den Strand setzen, würde die Natur beobachten, und dann hoffentlich wissen, was sie als nächstes in Angriff nehmen müsste.

Doch erst einmal würde sie ihre Erleichterung genießen und sich darin bestärken, dass sie es geschafft hatte, diesen ersten wichtigen Schritt in ihr neues Leben getan zu haben. Diese Erkenntnis erfüllte sie mit Stolz.

Noch etwas verschlafen versuchte sie etwas abzuschütteln, an das sie sich nur stückchenweise erinnern konnte. Wo war sie gewesen, Furchterregendes in einem Wald, den es hier auf der Insel nicht gab? Ratlos war sie, aber wusste doch, dass sie sich mit ihren Gedanken und ihrem weiteren Vorhaben ganz, ganz stark gegen das stemmen musste, was sie in der Vergangenheit so müde gemacht hatte.

Sie würde zum Wasser gehen, würde den Frühlingstag genießen. Die Sonne schien zum Fenster herein und Eva freute sich, dass sie keine Wolken auf der stahlblauen Fläche ausmachen konnte. Optimale Bedingungen, um die Insel zu erkunden. Genau passend, um in der Natur zu sein, den freien Himmel über sich zu haben und sich von den schon warmen Sonnenstrahlen verwöhnen zu lassen.

„Erst einmal so tun, als ob ich Ferien habe, wirkliche Ferien, frei von meiner Ehe.“ Sie war sich bewusst, dass sie jetzt Schritt für Schritt ihr neues Leben aufbauen musste. Ihr Geld würde nur ein paar Wochen reichen und es war wichtig, eine Arbeit zu finden. Nur welche denn? Die Saison hatte noch nicht begonnen und vielleicht war es ja von Vorteil, sich jetzt schon mal umzuhören. In einem der vielen Hotels oder einer der Pensionen, irgendwo würde sie bestimmt eine Anstellung finden. Vielleicht an der Rezeption, vielleicht im Buchungsbüro? Sie wollte zuversichtlich sein, obwohl ihr ein Grummeln im Bauch immer wieder Übelkeit verursachte.

Als sie vor das Hotel trat, nachdem sie das köstliche Frühstück kaum angerührt hatte, fiel ihr auf, was für einen Frieden diese Insel ausstrahlte. Es gab zwar viele Menschen, die ihrer Tagesbeschäftigung nachgingen, aber es gab keine Autos und Eva hörte den Wind, wie sie das selbst in ihrem Garten am Stadtrand schon lange nicht mehr erlebt hatte.

Es würde eine schöne Zeit werden hier auf der Insel am Rande der Welt. Naturverbunden, immer wieder könnte sie sich in ihrer Freizeit hier umschauen und wer weiß, was die Zukunft sonst noch brächte. Vielleicht würde sie auch Menschen treffen, mit denen sie freundschaftliche Verbindungen knüpfen könnte. „Zuversicht, immer nur Zuversicht“, versprach sich Eva.

Ja, es würde vielleicht nicht so leicht werden, wie sie sich das wünschte, aber sie war davon überzeugt, dass sie fähig war, sich neuen Situationen anzupassen.

Das hatte sie sich bewiesen, nachdem sie beginnen musste, ihrem Mann ein falsches Spiel zu bieten, damit er sie nicht durchschaute und von ihrer Flucht abhalten konnte.

Jetzt, wo sie erst einmal Urlaub hatte, zelebrierte sie mit ihren Gedanken: „Ja, ich, Eva, bin gestern auf meiner Ferieninsel angekommen. Ich habe Urlaub vom Stress des Lebens, kann meine Vergangenheit hinter mir lassen und fange jetzt, in diesem Augenblick, damit an, etwas Neues aufzubauen.“

Die Sonne kitzelte sie an der Nase und streichelte ihr zärtlich über die blassen Wangen. „Ja, es wird eine schöne Zeit werden“, versprach sie sich.

Eine kreischende Möwe, die in ihre Nähe geflogen war, riss sie aus ihren Gedanken. Der Sand unter ihren Schuhsohlen erschwerte ein bisschen ihren Weg und sie freute sich schon auf den Sommer, wo sie barfuß in den ankommenden Wellen gehen konnte. Jetzt würde sie sich erst einmal ein paar Gummistiefel besorgen, damit sie ganz unbefangen und nicht so vorsichtig sein müsste. Denn jetzt nasse Füße zu bekommen, wo es doch noch kühl war, das könnte eine Grippe zur Folge haben. Und Krankheit, Krankheit konnte sie jetzt auf gar keinen Fall gebrauchen.

„Ach, was denke ich schon wieder“, sprach Eva zu sich selbst. „Jetzt bleib doch mal beim Positiven und fang mal an das zu formulieren, was du wirklich willst; denn das Vergangene ist Vergangenheit.

Die Schrecken der Vergangenheit sind vorbei; sie ist nicht mehr.

Die Zukunft mit ihrer Angst, eine Illusion; sie ist noch nicht.

Nur die Kostbarkeit des Augenblicks ist wahr;

zum Sein im Hier und Jetzt.“

Daran sollte sie sich halten und wollte immer daran denken.

In ihrer Meditationsgruppe hatte sie immer wieder versucht, sich zu entspannen, ihren Körper loszulassen und sich nur auf den Moment zu konzentrieren, zu üben, im Hier und Jetzt zu sein. Es war ein sehr abstraktes Vorhaben gewesen und so richtig einlassen konnte sie sich auf die Totale des Augenblicks auch heute noch nicht. Jedoch, sie hatte dieses Zitat in ihrem Gedächtnis verankert und wenn Zweifel sie quälen würden, wollte sie sich darauf besinnen.

In den letzten Wochen hatte sie sich immer wieder zur Disziplin zwingen müssen. Besonders als eine Übelkeit von ihr Besitz ergriffen hatte, und sie schon anfing, Angst zu bekommen, doch noch schwanger geworden zu sein. Aber dann wurde ihr klar, es war nicht ein Kind, sondern die Angst vor der Zukunft, die in ihr gewachsen war und ihren Körper traktierte.

„Also, frohen Mutes, immer zuversichtlich sein.“ Und wenn sie sich schon mit Zukunftsgedanken plagte, dann damit, was werden sollte. Eine schöne Zukunft aufbauen, erst einmal in Gedanken und sie dann auch laut aussprechen. Sie war hier sowieso alleine und konnte das tun, was sie in diesem Moment für richtig empfand.

Weit und breit war kein Mensch zu sehen, nur Möwen und Austernfischer flogen kreischend über ihrem Kopf, segelten mit dem Wind, ließen sich auf dem Rand des Strandes nieder und ruhten sich, auf einem Bein stehend, umspült von dem seichten Wasser der ausrollenden Wellen, aus.

Strandläufer, eine kleine Schar Vögel, rannten beständig im Kollektiv hin und her; weg vom Spülsaum, und sobald sich das Wasser zurückgezogen hatte, drängten sie auf dem feuchten Sand, hinter ihm her. Es schien Eva wie eine Mutprobe; fast wie ein Necken, eine kesse Herausforderung, wie diese winzigen Tiere die Gewalten des Meeres zum Spiel herausforderten. Es sah, trotz der unterschiedlichen Kräfteverhältnisse, lustig aus. Denn wenn das Wasser sie zu überspülen drohte, flogen sie mit Leichtigkeit auf und brachten sich in Sicherheit. Eva musste lachen.

„Immer wieder, unermüdlich, ist das eine schöne Sache.“ Das zeigte Eva, dass auch sie sich immer wieder neu einer Situation anpassen könnte. „Ich kann weglaufen, ich kann zurückgehen, ich kann selbst entscheiden und das fühlt sich gut an. Ja, ich bin wieder die Herrin meines Lebens. Ja, jetzt gestalte ich mein Leben selbst und hadere nicht mehr mit meinem Schicksal.“

Mit gesenktem Blick ging Eva weiter, beobachtete aufmerksam die vielen kleinen Kostbarkeiten auf dem welligen Sand. Der ganze Strand war voll von Muscheln und kleinen Steinen. Ach ja, gestern war ja Vollmond gewesen und da hatte sich die letzte Flut in der Nacht bis zur Dünenkette erstreckt. Das war immer so bei Springflut, so hieß dieses Naturphänomen, dass sie noch aus ihrer Kindheit kannte. Jetzt war Ebbe und das Niedrigwasser hatte sich wieder bis zum Spülsaum zurückgezogen. „Morgen muss ich unbedingt eine Plastiktüte mitnehmen“, dachte Eva.

Plötzlich empfand sie Glück, Glück über all das, was sie hier umgab. Mit leichten Schritten, sanft vom Wind angeschoben, begann sie zu rennen, hatte fast das Gefühl, getragen zu werden. Erst als sie kaum noch Luft bekam, hielt sie inne und nahm wieder den Sand unter ihren Füßen wahr.

Eva kannte die verschiedenen Muscheln. Die Herzmuscheln mit ihrer harten Schale, auch Austern, die länglichen Scheidenmuscheln, die vielfarbigen Tellermuscheln und die Miesmuscheln, auf denen sich Seepocken, die sich auf allem, was ihnen einen festen Untergrund bot, ansiedelten. Und Holzstückchen, Seesterne, Vogelfedern, schön geschliffene Glassplitter und kleine Kieselsteine lagen dort. Aber leider auch die lästigen, runden Teerklümpchen, die, wenn man hinein getreten war, nur schwer wieder abzulösen waren. Und Fadenalgen, die grün schimmerten, Blasentang, der dunkel glänzte, fast als wäre er aus Gummi. All dies hatte sich in einer endlosen Kette auf dem Spülsaum angesammelt. Dazwischen entdeckte Eva kleine Krabben und Seeigelkapseln, die eines gemeinsam hatten, alle waren leicht zerbrechlich und mussten mit absoluter Vorsicht behandelt werden.

Das hatte Eva bei ihrem ersten Aufenthalt am Meer als kleines Mädchen erfahren müssen. Sie war fasziniert gewesen von den Kugeln, die mit ihren kleinen Pusteln, die wie aufgetupfte Punkte aussahen, fantasievolle Ornamente zeigten. Damals hatte sie ihre Beute in die Jackentasche gesteckt und dann, als sie sie stolz zeigen wollte, erkennen müssen, dass alles zerbröselt war und nur noch ein undefinierbares Durcheinander zum Vorschein kam. Sie war untröstlich gewesen, aber ihre Eltern hatten sie ermutigt, am nächsten Tag einen neuen Versuch zu machen und ihr eine kleine Schachtel gegeben. Sie hatte viele, zarte Funde hineingelegt und mit nach Hause genommen. Immer wieder hatte sie sie hervorgeholt und von den schönen Wochen geträumt. Doch irgendwann waren sie wieder aus ihrem Leben verschwunden.

„Seltsam, das ist der Lauf der Dinge. Wichtiges geht verloren, wenn es mit der Zeit in Vergessenheit gerät, wird bedeutungslos und verschwindet fast unbemerkt aus dem Blickfeld“, dachte Eva.

„Ein lehrreiches Beispiel. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, diese Schachtel jemals wegzugeben. Ich war zwar noch ein kleines Kind, aber auch heute, als erwachsene Frau, muss ich in vielem erst noch akzeptieren lernen, dass irgendwann wichtige Dinge oder Menschen nicht mehr da sind. Das Leben geht trotzdem weiter und ich muss mich immer wieder dem Neuen stellen, loslassen, ohne so manch Vertrautes auskommen.

So ist es wohl auch mit meinem Mann. Er war mit mir und war mir so wichtig geworden, dass ich dachte, er bleibt. Vieles haben wir miteinander erlebt, war gut und richtig gewesen. Vieles habe ich genossen und ist noch in meinem Herzen verborgen. Und ich schwöre, ich werde es mir erhalten.

Aber die traurige Entwicklung unserer Beziehung mit dem abrupten Ende unserer Ehe, ja, auch das war mein Leben. Ich muss es zurücklassen und sollte nicht mehr darüber nachgrübeln, sollte keine Gedanken mehr daran verschwenden. Ich habe mich entschieden und ich bin mir ganz sicher, es ist vorbei und ich werde nicht mehr zu ihm zurückkehren.“

Und irgendwann, wenn sie sich trauen würde, aus ihrer Deckung wieder aufzutauchen, würde sie sich ihm stellen. Eva würde um die Scheidung bitten, nein, sie würde nicht bitten, sie würde die Scheidung einfordern. Und wenn er ihr dann mit Vermögensentzug drohen würde, würde sie darüber nur lächeln. Er könnte sein Geld behalten, sie war autonom, sie war fähig, für sich alleine zu sorgen.

Und wer weiß, vielleicht würde das Schicksal gütig mit ihr sein und sie liebevoll in eine Richtung weisen, in der sie eine richtige Familie haben würde. Einen liebevollen Partner, der an ihrer Seite stünde, aufrichtig, sie unterstützend. Der Kinder mit ihr wollte, nicht nur aus Prestige, sondern weil er mit Herz und Freude Vater sein wollte. Weil er die Vorstellung hätte, etwas Wunderbares weiterzugeben. Die Kostbarkeit des Lebens so zu gestalten, dass es lohnenswert und freudvoll wäre, eine Familie zu gründen und zu erhalten.

Aber jetzt war sie alleine und auch von ihrer Freundin hatte sie sich nicht verabschiedet. Sie hatte Angst gehabt, dass ihr Mann sie unter Druck setzten würde, ihr nicht glaubte, nicht zu wissen, wo Eva jetzt sei. Sie hatte ihr nur eine SMS geschickt. „Mir geht es gut, fange neu an, melde mich später, ich liebe dich.“ Und dann hatte sie die Karte aus ihrem Handy genommen und in den Müll geworfen. So hoffte sie, keinerlei Anhaltspunkte über ihren jetzigen Aufenthaltsort zu hinterlassen.

Später würde Eva sich mit ihr aussprechen, später würde sie ihr erklären, warum sie so gehandelt hatte. Und später würde sie vielleicht wieder ihre liebste, beste Freundin an ihrer Seite haben. Wer weiß, vielleicht würden sie gemeinsam ein Projekt planen, vielleicht würden sie in einer Gruppe wohnen, in der jede von ihnen ihren Platz hätte.

Und wenn nicht, dann war Eva wenigstens dankbar, diese Freundin gehabt zu haben. Diese Frau, die ihr immer wieder Mut gemacht und sie immer wieder daran erinnert hatte, dass sie, Eva, eine ganz besondere Frau war, und nicht die Sklavin eines wohlhabenden Ehemanns.

Ihre Freundschaft war schwer auf die Probe gestellt worden, so hatte Eva zumindest noch vor kurzem empfunden. Es war für sie befremdend gewesen, dass ihre Freundin so hart über den Mann, den sie liebte, gesprochen hatte. Leider musste Eva ihr nach und nach Recht geben und einsehen, dass sie das richtige Gespür gehabt hatte. Nun drängte sich die quälende Frage auf, ob auch die Vertrautheit und Liebe zu ihr zerbrechen würde.

„Ach, was mache ich mir denn für Gedanken? Schon wieder bin ich am Grübeln“, ermahnte sich Eva. „Meine Freundin, die wird mich verstehen, die hat mich immer verstanden.“

Seit ihrem ersten Schultag waren sie miteinander liebevoll verbunden gewesen und hatten sich über so manche Hürde bis zum Erwachsenenleben gegenseitig hinweggeholfen. Sie hatten sich immer wieder darin bestärkt, das Richtige zu tun. Hatten einfach weitergemacht, größere und kleinere Entscheidungen getroffen, das Leben genossen.