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Der erste Roman aus dem erfolgreichen Universum von League of Legends, einem der beliebtesten Computerspiele aller Zeiten! Eine epische Geschichte von Magie, Rache und einem Imperium am Rande des Ruins – für alle Fans des Netflix-Hits »Arcane«. Camavor ist ein schroffes Land mit einer brutalen Geschichte. Wohin die Ritter des Imperiums auch ziehen, folgt ihnen Blutvergießen. Doch die junge Kalista, loyale Beraterin und Generalin ihrer Familie, sieht eine andere Zukunft für das Land. Als ihr selbstverliebter Onkel Viego zum König gekrönt wird, schwört sie, seine Zerstörungswut aufzuhalten. Aber ihre Pläne werden durchkreuzt, als Viegos Frau Isolde bei einem Anschlag mit einem namenlosen Schrecken vergiftet wird. Als sich Isoldes Zustand stetig verschlechtert, verfällt Viego in Trauer und Wahn, und droht Camavor mit sich in den Abgrund zu reißen. Kalista geht ein verzweifeltes Wagnis ein: Sie sucht die lange verlorenen Gesegneten Inseln, auf denen sie hofft, die Rettung der Königin zu finden. Doch im Herzen der Gesegneten Inseln wuchert finstere Korruption. Ein rachsüchtiger Wächter will Kalista in seine grausamen Intrigen verstricken. Sie muss sich zwischen ihrer Loyalität zu Viego und ihrem Sinn für Gerechtigkeit entscheiden – denn selbst im Angesicht absoluter Dunkelheit kann eine ehrenvolle Tat ein Licht entzünden, das die Welt rettet. »Eine mitreißende Geschichte mit jeder Menge Champions aus dem Spiel und deshalb DAS Buch für alle League-of-Legends-Fans.« Jona Schmitt aka JustJohnny Anthony Reynolds, Principal Writer bei Riot Games, erzählt in »Ruination« die Geschichte von König Viego und seiner Generalin Kalista und darüber, wie weit wir für die, die wir lieben, gehen würden. Seit der erfolgreichen Netflix-Serie »Arcane« erfreut sich das League-of-Legends-Universum wieder einer großen Beliebtheit. Wie die Serie erfordert auch der erste League-Fantasyroman kein Vorwissen. Und wer sich – ob aus Streaming oder Gaming – bereits in den Welten von LoL auskennt, wird einige Namen und Orte wiedererkennen.
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Seitenzahl: 585
Anthony Reynolds
Ein League-of-Legends-Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Kristina Koblischke und Maike Hallmann
Knaur eBooks
Widmung
Stammbaum
Motto
Prolog
Teil eins
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Teil zwei
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Teil drei
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Epilog
Danksagung
Illustrationen der Charaktere
Kalista
Viego
Erlok Grael
Ryze
Hecarim
Jenda’kaya
Vennix
Soraka
Für Beth, meine Liebe und mein Leben
»Alle Nationen stürzen, zerfallen und versinken in Vergessenheit, ausnahmslos. Und in ihrem letzten Todesringen reißen sie oft noch andere mit sich in den Untergang.«
Die Geschichte des Kaiserreichs, Band VI – Tyrus von Helia
Erlok Grael stand abseits seiner Altersgenossen und erwartete die Auswahl.
Sie hatten sich in einem kleinen Freilicht-Amphitheater versammelt, einem Bau aus strahlend weißem Marmor und goldgefassten Schlusssteinen. Helia trug seinen Reichtum stolz zur Schau, als wolle es der Brutalität des Lebens jenseits der Gesegneten Inseln trotzen.
Die anderen scherzten und lachten gedämpft miteinander, die gemeinsame Aufregung schweißte sie noch enger zusammen, aber Grael stand still und alleine da, den Blick gebannt nach vorne gerichtet. Niemand sprach ihn an oder schloss ihn in die leisen Späße mit ein. Kaum jemand bemerkte überhaupt seine Anwesenheit; ihre Blicke glitten über ihn hinweg oder um ihn herum, als existiere er nicht. Und genauso war es für die meisten von ihnen auch.
Grael kümmerte das nicht. Er verspürte kein Bedürfnis, sich mit den anderen über sinnlose Nichtigkeiten auszutauschen, empfand auch keinen Neid auf ihre jugendliche Kameradschaft. Heute erwartete ihn sein Moment des Triumphes. Heute würde er in den inneren Kreis aufgenommen, um seinen Platz als Lehrling in den geheimen oberen Rängen der Gemeinschaft des Lichts anzutreten. Und das hatte er sich mehr als verdient. Niemand der anderen Anwesenden konnte ihm auch nur annähernd das Wasser reichen. Sie mochten zwar alle von Reichtum und Adel abstammen, während er nur einen Stammbaum von ungebildeten Schweinebauern hatte, aber niemand war so talentiert oder der Auszeichnung so würdig wie er.
Die Meister kamen. Nacheinander stiegen die ehrwürdigen Männer und Frauen die Haupttreppe hinunter und brachten das Flüstern der erwartungsvollen Schar zum Verstummen. Grael sah ihnen zu, in seinen Augen brannte ein hungriges Licht. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, hatte den Geschmack des Ansehens und Ruhms, mit dem er bald überschüttet werden würde, schon fast auf der Zunge und dachte an all die Geheimnisse, in die er nun eingeweiht werden würde.
Die Meister reihten sich auf den letzten Stufen des Amphitheaters auf und blickten mit feierlichen Mienen auf die unter ihnen versammelten Adepten. Schließlich, nach einer überlangen Pause, um die Spannung zu erhöhen, räusperte sich ein aufgeblasener, krötenähnlicher Mann mit blasser, feucht wirkender Haut – Altmeister Bartek – und begrüßte die Abschlussschüler. Seine Rede war langatmig und troff vor Gewichtigkeit und selbstgefälligen Anmerkungen, und Graels Blick wurde glasig.
Endlich kam der Zeitpunkt, an dem die Meister auswählen würden, welche der Adepten sie als Lehrlinge unter ihre Fittiche nehmen würden. Es waren diese Männer und Frauen, die den vorherrschenden Disziplinen und Abordnungen der Gemeinschaft vorstanden. Sie repräsentierten die Arkanen Wissenschaften, die verschiedenen Schulen der Logik und Metaphysik, die Gesegneten Archive, die Astro-Wahrsager, das Hermetische Oratorium, die Esoterische Geometrie, die Sucher und andere Forschungszweige. Alle dienten, auf die eine oder andere Weise, dem übergeordneten Ziel der Gemeinschaft – dem Zusammenführen, Erforschen, Katalogisieren und Verwahren der mächtigsten arkanen Artefakte, die jemals erschaffen wurden.
Es war eine verheißungsvolle Versammlung der brillantesten Köpfe der Welt, aber Erlok Grael konzentrierte sich nur auf eine Einzige von ihnen: Hierarchin Malgurza, die Herrin des Schlüssels. Falten durchzogen ihre dunkle Haut, und ihr einst ebenholzschwarzes Haar war fast vollkommen ergraut. Malgurza war eine Legende unter den Adepten von Helia. Sie erschien nicht jedes Jahr zur Auswahlzeremonie, aber wenn sie es tat, geschah es stets, um einen neuen Lehrling in den inneren Kreis aufzunehmen.
Der Stab der Auswahl wurde nach vorne gebracht. Da sie die Meisterin mit dem höchsten Ehrenrang war, wurde er Hierarchin Malgurza als Erste überreicht. Als sie ihn mit ihrer knorrigen Hand ergriff, lief ein Raunen durch die Schülerschaft. Malgurza würde tatsächlich heute einen Lehrling auswählen, und die Andeutung eines Lächelns legte sich auf Graels schmale Lippen. Die alte Frau ließ den Blick über die versammelten Anwärter schweifen, die allesamt die Luft anhielten.
Wessen Name jetzt auch immer fiel, man würde Großes von ihm erwarten, denn der- oder diejenige wurde Teil eines geheiligten, erlesenen Kaders, der eine ehrenhafte Zukunft versprach. Erlok Graels Finger zuckten erwartungsvoll. Das hier war sein Moment. Gerade wollte er schon einen halben Schritt vortreten, als die Hierarchin endlich sprach, ihre Stimme rau wie in Eichenfässern gereifter Branntwein.
»Tyrus von Hellesmor.«
Grael blinzelte. Eine Sekunde lang dachte er, es müsse ein Fehler passiert sein, bevor das harsche Bewusstsein der Ablehnung ihn traf, als hätte ihm jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet.
Der Auserwählte stieß einen begeisterten Schrei aus, während ein Flüstern und Keuchen durch die Menge ging. Der frisch ernannte Lehrling trat unter wildem Schulterklopfen vor und rannte die Stufen des Amphitheaters hinauf, um seinen Platz hinter Hierarchin Malgurza einzunehmen, ein breites Lächeln auf dem selbstgefälligen Gesicht.
Äußerlich zeigte Grael keine Reaktion, doch in ihm war es gefährlich still geworden.
Der Rest der Zeremonie verstrich in einem dumpfen, unwirklichen Nebel. Der Auswahlstab ging durch die Hände der Meister und Meisterinnen, ein Name nach dem anderen fiel. Und mit jedem Namen schrumpfte die Menge der Hoffnungsvollen um Grael herum, bis nur noch er alleine dastand. Die Mauer aus Meistern und ehemaligen Kameraden blickte von oben auf ihn herab, wie eine Reihe Geschworener vor der Verkündung des Todesurteils.
Jetzt zuckten seine Hände nicht mehr. Scham und Hass rangen in ihm miteinander wie zwei Schlangen im Todeskampf. Mit einem endgültig klingenden Schnappen wurde der Stab wieder in der zeremoniellen Schatulle verschlossen und von der in goldene Roben gehüllten Dienerschaft davongetragen.
»Erlok Grael«, verkündete Bartek mit einem Lächeln im Blick. »Kein Mitglied der Meisterriege hat Euch für sich beansprucht, die Gemeinschaft ist jedoch stets mildtätig. Euch wurde ein Platz zugesprochen, der Euch, so unsere Hoffnung, etwas dringend benötigte Bescheidenheit und zumindest ein Mindestmaß an Empathie lehren wird. Dann wird vielleicht, nach einiger Zeit, ein Mitglied der Meisterriege gnädig genug sein, Euch aufzunehmen und –«
»Wo?«, unterbrach ihn Grael, was entrüstetes Raunen und Zungenschnalzen hervorrief, aber das war ihm egal.
Bartek blickte über seine Knollennase auf ihn herab. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, als sei er versehentlich in etwas Widerliches getreten. »Ihr werdet als Unterassistent der Hüter der Thresholds dienen«, verkündete er mit einem boshaften Glitzern in den Augen.
Seine Altersgenossen grinsten, und unterdrücktes Lachen wurde laut. Die Thresher, wie die Schülergemeinschaft sie verächtlich nannte, waren die Niedersten der Niederen, sowohl im übertragenen Sinne als auch wortwörtlich, denn sie bewachten und patrouillierten die tiefsten Tiefen der Gewölbe unterhalb Helias. Ihre Reihen bestanden aus denjenigen, die sich den Zorn der Meister zugezogen hatten, sei es durch schwere politische Fehltritte oder andere Vergehen, und all den anderen, die die Gemeinschaft aus dem Weg haben wollte. Unten in der Dunkelheit konnte man sie vergessen. Sie waren ein Witz. Ein Schandfleck.
Barteks herablassende Rede ging noch weiter, aber Grael hörte seine Worte nicht mehr.
In jenem Moment schwor er sich, dass dieses Schicksal nicht sein Ende sein würde. Er würde den Hütern dienen und sicherstellen, dass man seinen Wert erkannte, sodass kein einziger dieser jämmerlichen, wichtigtuerischen Meister oder seiner eingebildeten Kameraden ihn noch verleugnen konnte. Er würde ein Jahr dienen, vielleicht zwei, und dann würde er seinen rechtmäßigen Platz im inneren Kreis antreten.
Sie würden ihn nicht brechen.
Und er würde die Beleidigung im Gedächtnis behalten.
Es war dunkel und kühl in der Halle des Heiligen Gerichts, und Kalista genoss die Atempause von der sengenden Hitze des camavorischen Sommers vor den Türen. Sie trug ihre eng sitzende Zeremonierüstung und einen Helm mit hoch aufragendem Federbusch, hatte Haltung angenommen und wartete auf das Urteil.
An ihrer Seite kniete der schlanke, junge Erbe des Silberthrons, und obwohl er nicht mehr der Sonne ausgesetzt war, schwitzte er, und sein Atem ging flach und schnell.
Sein Name war Viego Santiarul Molach vol Kalah Heigaari, und er wartete darauf, ob man ihn zum König krönen oder ob dieser Tag sein letzter sein würde.
Absolute Herrschaft oder der Tod. Dazwischen gab es nichts.
Er war Kalistas Onkel, aber für ihn war sie eher wie eine ältere Schwester. Sie waren zusammen aufgewachsen, und er hatte immer zu ihr aufgeblickt. Er war nicht dazu bestimmt gewesen, der nächste König zu werden. Nur der unerwartete Tod von Kalistas Vater – des alten Königs Erstgeborener und Erbe – hatte dazu geführt, dass Viego plötzlich Thronerbe wurde.
Die kalten Wände des Sanktuariums dämpften den Lärm der Menge vor den Türen. Ein Kreis aus namenlosen Priestern stand im Dämmerlicht um sie herum, die ausdruckslosen Porzellanmasken unter den Kapuzen ihrer Roben in Schatten gehüllt. Der Rauch, der aus ihren Weihrauchfässern aufstieg, war süßlich und beißend, ihr geflüsterter Gesang zischelnd monoton.
»Kal?«, hauchte Viego.
»Ich bin hier«, erwiderte Kalista an seiner Seite mit leiser Stimme.
Er sah zu ihr auf. Sein edles Gesicht war schmal und gut aussehend, und doch wirkte er in diesem Moment jünger als seine einundzwanzig Jahre. In seinen Augen lag ein panischer Ausdruck, wie in denen eines Tieres im kurzen Augenblick der Entscheidung zwischen Kampf und Flucht. Auf seiner Stirn prangten drei rote Striche aus Blut, die in einem Punkt genau zwischen seinen Augenbrauen zusammenliefen. Normalerweise zeichnete man nur Tote mit dem blutigen Trident, um ihnen die Reise ins Jenseits zu erleichtern und sicherzustellen, dass die Verehrten Ahnen sie erkannten. Das Symbol stand für die Tödlichkeit dessen, was vor ihm lag.
»Erzähl mir noch mal von den letzten Worten meines Vaters«, flüsterte Viego.
Kalista versteifte sich. Den Löwen Camavors hatte man den alten König genannt, sein Ruf war Furcht einflößend gewesen – im Kampf ebenso wie auf dem Schlachtfeld der Politik. Aber auf dem Sterbebett hatte er nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem starken Kriegerkönig gehabt, der seine Feinde in Angst und Schrecken versetzt hatte. In jenen letzten Stunden war sein Körper ausgezehrt und dürr gewesen, all seine Macht und Lebenskraft hatten ihn verlassen. Allein in seinen Augen lag noch ein letzter Schimmer der Macht seiner jüngeren Jahre, doch es war nur das letzte Glimmen eines heruntergebrannten Holzscheits, ein kurzes Flackern, bevor die Dunkelheit ihn verschlang.
Mit letzter Kraft umklammerte er Kalistas Arm, seine Finger glichen eher den Krallen eines Geiers als menschlichen Händen. »Versprich es mir«, krächzte er mit dem Feuer der Verzweiflung. »Der Junge ist nicht zum Herrscher gemacht. Ich gebe mir selbst die Schuld dafür, aber du bist es, die die Konsequenzen tragen muss, Großtochter. Versprich mir, dass du ihn führen wirst. Ihn beraten. Ihn im Zaume halten, wenn es sein muss. Beschütze Camavor.Das ist jetzt deine Pflicht.«
»Ich verspreche es, Großvater«, antwortete Kalista. »Ich verspreche es.«
Viego sah erwartungsvoll zu ihr auf. Der gedämpfte Lärm der Menge draußen schwoll an und ab wie das Brechen ferner Wellen.
»Er sagte, du würdest ein wahrer König werden«, log Kalista. »Dass du selbst seine großen Taten in den Schatten stellen würdest.«
Viego nickte und versuchte, Trost in ihren Worten zu finden.
»Es ist nichts falsch daran, Angst zu haben«, versicherte sie ihm, und ihre strenge Haltung entspannte sich etwas. »Du wärst ein Narr, wenn du keine Angst hättest.« Sie zwinkerte ihm zu. »Ein noch größerer Narr, meine ich.«
Viego lachte, doch es klang zu laut in der riesigen Halle, und in seiner Stimme lag ein Anflug von Hysterie. Die Priester starrten ihn finster an, und der Thronerbe riss sich zusammen. Er strich sich eine widerspenstige Strähne seines gelockten Haars hinter das Ohr, fiel erneut in Schweigen und starrte in die Dunkelheit.
»Du darfst nicht zulassen, dass die Angst dich beherrscht«, sagte Kalista.
»Wenn die Klinge mein Leben fordert, bist du es, die hier als Nächste kniet, Kal«, flüsterte Viego. Er dachte einen Moment lang darüber nach. »Tatsächlich wärst du ein weitaus besserer Herrscher als ich.«
»Sprich nicht davon«, zischte Kalista. »Du bist von den Ahnen gesegnet, durch deine Adern fließt eine Macht, die dein Vater nicht besaß. Du bist würdig. Wenn die Nacht anbricht, wirst du zum König gekrönt werden, und all das hier ist nur noch Erinnerung. Die Klinge wird nicht dein Leben fordern.«
»Aber wenn –«
»Die Klinge wird nicht dein Leben fordern.«
Viego nickte langsam. »Die Klinge wird nicht mein Leben fordern«, wiederholte er.
Die Atmosphäre veränderte sich, und der andauernde Gesang der Priester wurde schneller. Ihre Weihrauchfässer schwangen hin und her und verströmten ihren Inhalt. Ein Lichtstrahl fiel durch die kristallene Linse in der Mitte der hohen Kuppel, als die Sonne sich endlich direkt über ihnen in Position begab. Staub und aufsteigende Schwaden des mit süßlichem Duft geschwängerten Rauchs tanzten im hellen Licht, das … absolut nichts offenbarte.
Dann erschien die Klinge des Königs.
Heiligkeit war ihr Name, und Kalista stockte der Atem, als ihr Blick auf die in der Luft schwebende Waffe fiel. Das riesenhafte Schwert existierte nur in den spirituellen Hallen der Ahnen, es sei denn, der rechtmäßige Herrscher Camavors rief es herbei oder die Priester beschworen es, um ein Urteil über einen neuen Monarchen zu fällen.
Jeder König Camavors trug die Silberkrone, einen kriegerischen dreigezackten Kronreif, der perfekt zur langen Reihe der kriegerischen Herrscher passte, aber Heiligkeit war das wahre Symbol des Throns. Die Vorherrschaft der Person, die Heiligkeit führte, war unbestritten, und die Klinge des Königs zu besitzen bedeutete, mit der Seele an sie gebunden zu sein – wenn auch nicht jeder Erbe des camavorischen Thrones das Bindungsritual überlebte.
Kalista wusste, dass dies keine unbestimmte, erfundene Bedrohung war. Im Laufe der Geschichte hatten Dutzende Thronerben hier in der Halle des Heiligen Gerichts ihr Ende gefunden. Aus gutem Grund wurde die Klinge auch Seelentöter genannt und von Camavors Erben und Feinden gleichermaßen gefürchtet.
Die Menge draußen war still geworden. Die Menschen verharrten in leiser Erwartung, bereit, ihren neuen Herrscher willkommen zu heißen oder sein Dahinscheiden zu betrauern. Entweder würden die Türen aufgestoßen und Viego in ganzer Herrlichkeit ans Licht treten, die Klinge in der Hand, oder die Glocke über dem Sanktuarium würde einen einzigen, schwermütigen Ton anschlagen, um sein Ende zu verkünden.
»Viego«, sagte Kalista. »Es ist Zeit.«
Der Kronprinz nickte und kam auf die Beine. Die Klinge schwebte vor ihm, wartete darauf, dass er sie ergriff. Und doch zögerte er noch immer. Er starrte sie an, fasziniert und voll Schrecken. Die Priester sahen ihn finster an, die Augen hinter den ausdruckslosen Masken weit aufgerissen, und drängten ihn wortlos, zu tun, was sie ihm geboten hatten.
»Viego …«, zischte Kalista.
»Du wirst bei mir sein, nicht wahr?«, flüsterte er drängend. »Ich glaube nicht, dass ich es alleine kann. Herrschen, meine ich.«
»Ich werde bei dir sein«, beruhigte ihn Kalista. »Ich werde an deiner Seite stehen, wie ich es immer getan habe. Ich verspreche es.«
Viego nickte ihr zu und wandte sich wieder an Heiligkeit, das bewegungslos im Lichtstrahl schwebte. Nur wenige Sekunden, und der Augenblick wäre vorbei. Die Zeit des Urteils war gekommen.
Der Gesang der Priesterschaft erreichte einen wahnhaften Höhepunkt. Rauch kräuselte sich um die heilige Klinge wie die Leiber zahlloser sich windender Schlangen. Ohne weiteres Zögern trat Viego vor und ergriff das Schwert mit beiden Händen am Heft.
Seine Augen wurden groß, und seine Pupillen zogen sich schlagartig zusammen.
Dann öffnete er den Mund und begann zu schreien.
»Wie anders hätte die Welt sein können, hätte diese Klinge ihr Ziel gefunden …«
Wächterschafts-Werkmeisterin Jenda’kaya
Teuerste Isolde, Schwester meines Herzens,
wenn Ihr diesen Brief erhaltet, werdet Ihr Alovédra bereits verlassen haben und nur noch Tage von Santoras entfernt sein.
Es enttäuscht mich, dass unsere Anstrengungen, eine diplomatische Lösung zu finden, nicht erfolgreich waren, aber verzagt nicht – schon der Gedanke an eine Verhandlung ohne Blutvergießen wäre zu Zeiten der Herrschaft meines Großvaters nicht einmal in Erwägung gezogen worden. Es ist ein Fortschritt, und Euer leidenschaftlicher Apell, Camavor müsse die Wirtschaftskraft seiner Bündnispartner erhalten und es vermeiden, sich weitere Feinde zu schaffen, war überzeugend. Wäre Viego nicht so erpicht darauf, seine Herrschaft mit einem Sieg auf dem Schlachtfeld zu untermauern, hätte er den Argumenten der Priesterschaft und der Ritterorden vielleicht nicht einmal Gehör geschenkt.
Viego schätzt Euren Rat außerordentlich, und Euer positiver Einfluss auf ihn wird die schlimmsten Exzesse der Ritterorden in Schach halten. Er ist in der kurzen Zeit seit Eurer Hochzeit so sehr gewachsen! Schon jetzt hat er Veränderungen bewirkt, die ich mir nie erträumt hätte. Die nächtliche Öffnung der Küchen der Ost-Baracken zur Versorgung der Armen und Bedürftigen – die, wie ich weiß, auf Euer Drängen hin erlassen wurde – hat ihm zu großem Ansehen unter den weniger Begünstigten Alovédras verholfen, und ich bin noch immer voll Erstaunen darüber, dass es Euch gelungen ist, Viego zu überreden, einen Sitz im Rat einem gewählten Vertreter des niederen Standes zu überlassen.
Eure Reise hierher nach Santoras, so nah am bevorstehenden Konflikt, bereitet mir immer noch Sorge, aber ich verstehe Eure Argumente. Tatsächlich wäre die Welt ein weitaus besserer Ort, besäße der Rest von Viegos Hofstaat auch nur einen Bruchteil Eures Einfühlungsvermögens, Eurer Weisheit und Eures Mitgefühls. Es besteht kein Zweifel daran, dass Santoras fallen wird, wie so viele andere Stadtstaaten und Nationen zuvor, aber ich glaube, Ihr habt recht: Eure Anwesenheit wird dafür sorgen, dass die Bevölkerung Santoras nach dem Kampf nicht hingerichtet wird.
Die Großmeister wird der Befehl, die Stadt nicht zu brandschatzen, verärgern – sie sind reich geworden, indem sie ihre Kassen mit gestohlenen Reichtümern besiegter Feinde gefüllt haben –, aber sie werden es nicht wagen, sich Viego zu widersetzen. Natürlich wird es trotzdem zu Gewalt und Plünderungen kommen. Es wäre verblendet, etwas anderes zu glauben. Aber ich denke, dies ist der Anbruch einer neuen Ära Camavors, einer Ära, die auf der Förderung des Handels und der Verbesserung der Lebensumstände auch der standeslosen Camavorer fußt, statt hinter der Fassade »hehrer Ziele« auf gewaltsame Eroberung und Blutvergießen zu sinnen.
Es wird Zeit brauchen, die veraltete und grausame Eroberungskultur der Ritterorden aufzubrechen, aber mit Eurer Hilfe bin ich mir sicher, dass wir Viego dazu bringen können, sie ein für alle Mal zu beenden. Was vielleicht einst als edles Streben begann, ist durch Gier korrumpiert worden, und es ist höchste Zeit, dass dieses furchtbare Treiben ein Ende hat. Ihr habt die schlimmsten Seiten dieser Tradition am eigenen Leibe erfahren; kein Kind sollte mitansehen müssen, wie sein Heimatland geplündert und sein Volk hingerichtet wird, wie Ihr es erleben musstet. Es gibt nichts, was diese Grausamkeit wiedergutmachen könnte, aber wir können sicherstellen, dass so etwas nicht noch einmal geschieht.
Euer Einfluss auf die zukünftige Größe Camavors wird in die Geschichte eingehen, dessen bin ich mir sicher. Ihr bringt das Beste in Viego hervor. Mit Euch blicke ich voll Zuversicht in die Zukunft.
Eure teuerste Freundin und Verbündete,
Kalista
Kalista vol Kalah Heigaari, Feldherrin des camavorischen Heeres, Speer des Silberthrons und Nichte des Königs, riss sich den Helm vom Kopf. Sie holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand durch ihr langes, schweißnasses Haar.
Die Sonne brannte auf sie herab, unbarmherzig und gnadenlos. Es war eine sengende Hitze, die in ihren Lungen brannte, aber langsam begann sich ihr Puls wieder zu beruhigen. Erst jetzt, als der Rausch des Kampfes nachließ, spürte sie das Stechen und den Schmerz der Wunden, von denen sie sich nicht erinnern konnte, sie sich zugezogen zu haben. Ihr Kopf fühlte sich schwer an, und in ihren Ohren klingelte es. Hatte sie einen Schlag auf den Kopf abbekommen? Möglich, aber während der Schlacht hatte ein solches Durcheinander geherrscht, dass sie es nicht mit Sicherheit wusste.
Ihre Arme waren schwer wie Blei, ihr Rücken schmerzte. Alles, was sie wollte, war auf den Boden zu sinken und die Augen zu schließen, aber sie tat es nicht. Kein Soldat wollte sehen, wie die Feldherrin sich ihrer Erschöpfung hingab. Also blieb sie stehen und betete zu den Ahnen, dass ihre Beine nicht einfach unter ihr nachgeben würden.
Die staubige Ebene war übersät von Tausenden Körpern. Dort, wo der Kampf am heftigsten getobt hatte, türmten sie sich auf den Linien, an denen die Truppen aufeinandergestoßen und gestorben waren. Die meisten lagen bewegungslos da, aber nicht alle. Überlebende beider Lager zuckten und stöhnten. Aber gesiegt hatten die Camavorer. Während also ihre Verwundeten geborgen, ihre Verletzungen versorgt werden würden, hatte das Töten der Kämpfer und Kämpferinnen von Santoras bereits begonnen.
Jenseits des Schlachtfelds sahen die Frauen und Töchter, Ehemänner und Söhne der Gefallenen von den Zinnen der abfallenden Sandsteinmauer ihrer Stadt zu. Kalista meinte fast, ihr Weinen hören zu können. Innerhalb der Mauern herrschte wahrscheinlich Panik. Ihr König hatte alles aufs Spiel gesetzt, indem er sich Camavor entgegengestellt hatte, aber nun war er tot und seine Stadt erobert.
Weit hinter Kalista, auf einer Anhöhe, die das Schlachtfeld überblickte, stand der verhängte Pavillon, von dem aus ihr König zusah, seine Gemahlin an der Seite. Viegos Wunsch war es gewesen, hier unten zu stehen, zu kämpfen, mit der mächtigen Klinge Heiligkeit in der Hand das Heer anzuführen. Schließlich entstammte er einer Reihe von Kriegerkönigen, und sein Vater war der legendäre Löwe von Camavor. Seit anderthalb Jahren war Viego nun König, und er brannte darauf, seine Macht unter Beweis zu stellen, vor seinen Verbündeten wie vor seinen Kritikern.
Vor dem Kampf hatte er die Ratschläge seiner Berater und Generäle abgetan, die ihn gedrängt hatten, aus der Entfernung zuzusehen, weitab der Gefahr. Doch als diese abgezogen waren, hatte Kalista ihn gestellt.
»Du bist der König und hast noch keinen Erben«, hatte Kalista, die langsam die Geduld verlor, durch zusammengebissene Zähne hervorgestoßen.
»Ich bin es leid, im Schatten meines Vaters zu stehen«, hatte Viego gefaucht. Er war für den Kampf gekleidet, in glänzend schwarzer, goldumrandeter Rüstung. »Ich bin ein ebenso starker Krieger, wie er es war. Ich will, dass dieser Sieg mir gehört.«
»Das wird er auch, egal, ob du mit auf dem Schlachtfeld stehst oder nicht«, erwiderte Kalista. »Die Geschichtsbücher werden es als einen Sieg König Viegos verzeichnen. Es spielt keine Rolle, ob du kämpfst.«
»Für mich schon«, hatte er hitzig zurückgegeben.
Niemand sonst würde sich trauen, in diesem Tonfall mit ihm zu sprechen, aber schon als Kind hatte er stets ihre Bestätigung gesucht, und in gewisser Weise tat er das immer noch.
Doch diesmal ließ er sich nicht umstimmen. Gerade hatte er den Mund geöffnet, um zu widersprechen, als Königin Isolde eine Hand auf seinen Arm legte. »Kalista ist weise, mein Liebster«, hatte sie gesagt. »Bleib an meiner Seite. Bitte. Du musst nichts beweisen.«
So sanft ihre Worte auch klangen, Isolde wohnte beeindruckende Stärke inne. Viego hatte geseufzt und schließlich nachgegeben. »Es ist wohl nur der Stolz, der den Wunsch in mir weckt, zu kämpfen«, hatte er gesagt und die Hand seiner Königin mit der seinen ergriffen. »Ich will tun, was du wünschst, meine Liebe.«
Auf dem staubigen, heißen Schlachtfeld, inmitten der Toten und Sterbenden, reckte Kalista ihren Speer in die Luft, um das Königspaar in der Ferne zu grüßen.
»Das sollte sich besser mal jemand ansehen«, sagte eine Stimme, ein tiefer, grollender Bariton. Kalista wandte sich um und entdeckte Ledros, ihren zuverlässigsten und fähigsten Hauptmann. Er war ein Hüne von Mann, überragte den nächstgrößten Mann der Heerschar Camavors um fast zwei Köpfe, und sein von der Sonne dunkel gebräuntes Gesicht war von einem Gewirr blasser Narben überzogen. Wie bei allen standeslosen Fußsoldaten der Heerschar bestand seine Rüstung aus wenig mehr als einem Brustharnisch aus gehärtetem Leder, einem unscheinbaren Bronzehelm und ledernen Beinplatten. Sein großer hölzerner Schild war zersplittert, und als er ihn von seinem Arm löste, zerfiel er in Stücke. Es war ein gewaltiger Arm, so dick wie anderer Männer Oberschenkel. Er war mit Blut bespritzt, aber nur wenig davon war seines.
Kalista starrte ihn an und versuchte zu verstehen, was er meinte. Er deutete auf die Seite ihres Kopfes, und sie hob die Hand an die Schläfe. Stirnrunzelnd betrachtete sie ihre blutigen Fingerspitzen. Dann warf sie einen Blick auf ihren Helm, den sie lose in ihren tauben Fingern hielt, und sah den seitlich eingekerbten Riss. Axthieb. Er konnte sie nur gestreift haben, sonst läge sie jetzt bei den anderen Leichen im Staub. Sie hatte Glück gehabt, und Ledros wusste das.
»Es ist nichts, Hauptmann«, sagte sie.
Ledros hielt ein Büschel Haare in der Hand, an denen als grausige Trophäe ein abgetrennter Kopf baumelte. Der Herrscher von Santoras. Es war der Tod dieses Kriegerkönigs, der den Kampfgeist des feindlichen Heeres gebrochen hatte. Und als die ersten Soldaten und Soldatinnen die Flucht ergriffen, war das Ende absehbar gewesen. Auf dem Schlachtfeld war die Angst eine ansteckende Krankheit, und die Entschlossenheit einer Armee konnte schnell ins Wanken geraten. Der Tod eines einzigen Mannes konnte eine ganze Gefechtslinie zerschlagen, genau so, wie ein einzelner Kiesel eine Lawine auslösen konnte.
»Das war ein guter Kampf«, sagte Kalista.
Der feindliche König hatte den Ruf eines unübertroffenen Schwertkämpfers gehabt, und bei dem, was Kalista gesehen hatte, war dieser Ruf auch nicht übertrieben gewesen. An der Spitze seiner Elitetruppe hatte er ihre rechte Flanke angegriffen und gekämpft wie ein Halbgott, alles, was sich ihm in den Weg stellte, fiel. Die Reihen Camavors hatten nachgegeben und drohten aufzubrechen, bis Ledros sich durch das Gefecht gekämpft hatte, um ihm entgegenzutreten.
Es bestand kein Zweifel daran, dass der König ein talentierter Krieger gewesen war … er war nur nie zuvor auf einen Gegner wie Ledros getroffen.
»Der Bastard hat sich anständig gewehrt«, grunzte Ledros.
»Nicht anständig genug, wie mir scheint«, merkte Kalista an. »Die Ritterorden werden außer sich sein vor Wut, dass Ihr ihnen die Chance genommen habt, diese Ehre für sich zu beanspruchen.«
Wie immer sprach sie ihn mit dem Respekt an, den er verdiente, auch wenn andere ihm das ob seiner niederen Geburt verwehren mochten. Ledros grinste. Seine Züge waren zu breit und massig, als dass man ihn als gut aussehend hätte bezeichnen können, aber er hatte ein ehrliches Gesicht. In ihm steckte nicht ein Fünkchen Arglist, ein Charaktermerkmal, das man allzu selten fand. »Das macht den Sieg umso süßer«, sagte er mit einem schalkhaftem Glitzern in den Augen.
Kalista schnaubte. Es war ein würdeloses Geräusch, aber außer Ledros und den anderen ihr loyal ergebenen Soldaten und Soldatinnen war niemand da, der es hören konnte. Sie war vielleicht von hoher Geburt, aber sie hatte sich stets im gemeinen Korps wohler gefühlt als in der Gesellschaft anderer Adliger mit ihren Schmeicheleien, den Lügen und Intrigen. Die Politik am Hof von Camavor war genauso gefährlich wie jedes Schlachtfeld, voller Finten, plötzlichen Angriffen und verzweifelten letzten Gefechten, aber Kalista trat ihren Feinden schon immer lieber im Kampf entgegen. Dort konnte man wenigstens sehen, wer eine Klinge hielt.
Staubwolken in der Ferne zeigten an, in welche Richtung der zerschlagene Rest der gegnerischen Armee geflohen war. Sie würden nicht weit kommen. Drei der großen Ritterorden waren neben dem Heer aufmarschiert, um Santoras zu besiegen – die Ritter der Azurblauen Flamme, der Eiserne Orden und die Ritter des Schwarzen Geweihs –, dazu noch eine Handvoll kleinere Orden. Ihnen war der Ruhm eines entscheidenden, siegreichen Eingreifens verwehrt worden, als das feindliche Heer zusammengebrochen war, noch bevor sie sich richtig in den Kampf einbringen konnten, also würden sich die Ritter jetzt damit vergnügen, den Überlebenden nachzusetzen.
Kalista schob die Erschöpfung beiseite und lief durch die Reihen des Heers, Ledros an ihrer Seite. Sie wollte, dass die Kämpferinnen und Kämpfer ihre Feldherrin sahen. Regelmäßig blieb sie stehen, um Einzelnen Lob auszusprechen, zu scherzen oder ihr Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. Sie kniete neben den Verwundeten, hielt die Hände der Sterbenden und malte denen, die bereits verschieden waren, den blutigen Dreizack auf die Stirn, während sie ihnen für ihre Tapferkeit dankte – die Worte klangen hohl in ihren Ohren, aber denjenigen, die noch lebten, um sie zu hören, schienen sie Trost zu spenden. Den jüngeren Mitgliedern des Heeres erzählte sie, dass sie nun Veteranen sein, den wirklichen Veteranen mit ihren düsteren Blicken nickte sie zu. Porzellanmasken tragende Priester liefen auf dem Schlachtfeld umher und schlugen sanft mit den Fingerspitzen auf die gespannten Häute ihrer Trommeln, um den Geistern der Toten zu helfen, den Weg zu den Verehrten Ahnen zu finden.
Wo immer sie hinkamen, schlug man Ledros auf die Schulter. Selbst diejenigen, die nicht mitangesehen hatten, wie er den gegnerischen König erschlug, hatten davon gehört. Jeder Soldat, jede Soldatin des Heeres betrachtete ihn mit Ehrfurcht und Respekt. Er war ihr Talisman. Kalista fürchtete sich vor dem, was geschehen würde, sollte er jemals im Kampf fallen, denn er war das wahre Herz der Heerschar.
Die Sonne stand bereits tief, als Kalista und Ledros durch die Gruppen der Kämpfer schritten. Ihre Kehle war ausgedörrt und staubig, und sie nahm den Wasserschlauch, den ihr einer ihrer Offiziere anbot, dankbar an.
Nun, da der Schrecken des Kampfes verblasste, herrschte Siegesstimmung im Heer. Sie hatten den Tag überlebt, und sie hatten gesiegt. Sie würden ihre Frauen, Männer und Kinder wiedersehen, und allein das ließ den nächsten Morgen wunderschön erscheinen.
Lauter Jubel für Ledros brandete auf, und er reckte pflichtgemäß seine blutige Trophäe in die Höhe, damit sie alle sehen konnten. Kalista sah die Röte auf seinen Wangen und lächelte. So groß er auch war, so unbezwingbar in der Schlacht und in der Lage, einem Ansturm schwerer Kavallerie ohne auch nur den Hauch von Angst entgegenzutreten, diese Art von Bewunderung machte ihn nervös. Sie fand es liebenswert.
Ledros fing ihren Blick auf. Helft mir, baten seine Augen, aber das spornte sie nur noch mehr an. Sie legte eine Hand auf seine starke Schulter – weit über ihrem eigenen Kopf – und hob ihren Speer.
»Ledros!«, schrie sie. »Königsbezwinger!«
Er starrte fassungslos zu ihr hinab, und sie lachte über seinen Gesichtsausdruck.
Das Heer brüllte seine Zustimmung und skandierte Ledros’ Namen. Jetzt waren alle auf den Beinen und stießen ihre blutigen und verbeulten Waffen in die Luft. Erst als der Tumult wieder nachließ, bemerkte Kalista den schwer bewaffneten Reiter in der Nähe, der sie still beobachtete. Prachtvoll thronte der Ritter in reich verzierter Rüstung und einem glänzenden violetten Mantel aus feinstem Samt auf den Schultern auf einem in Eisen geschlagenen Streitross beeindruckender Größe.
Hecarim, Großmeister des Eisernen Ordens. Mein Verlobter.
Hastig nahm sie die Hand von Ledros’ Schulter. Der Jubel, der gerade noch geherrscht hatte, war verstummt. Stille hatte sich ausgebreitet. Der mächtige Hauptmann wandte sich Hecarim zu und senkte in pflichtbewusster Ehrerbietung den Blick, genauso wie alle anderen Heeresmitglieder. Kalista tat es ihnen nicht gleich. Sie war von königlichem Geblüt und senkte den Blick für niemanden als den König.
Hecarims Gesichtszüge waren stolz und edel, kultiviert und aristokratisch, und er ließ seinen gebieterischen Blick über die Menge schweifen. Einen Moment lang blieb er an Ledros hängen, bevor er sich auf Kalista richtete. Sein lockiges, schulterlanges Haar war dunkel, seine olivfarbene Haut makellos. Seine Augen hatten das tiefe Grün des Ozeans, und sie brannten mit einer Intensität, die gleichzeitig anziehend und gefährlich war.
Er saß ab und glitt mit einem Scheppern seiner Rüstung elegant zu Boden. Auch er war groß und breitschultrig. Nicht Ledros-groß, aber wer ist das schon? Eine Knappin eilte herbei – die Tochter eines Adligen, der reich genug war, ihr einen Platz an der Seite Hecarims zu kaufen – und nahm das Streitross am Zügel. Das Tier schnaubte und stampfte mit dem eisenbeschlagenen Huf auf, Wildheit im Blick. Einen Moment lang schien es, als wolle der Rappe das Mädchen beißen, aber ein scharfes Wort seines Meisters regelte die Angelegenheit.
»Lady Kalista«, sagte Hecarim und senkte den Kopf, wenn auch sein Blick den ihren hielt.
»Mylord Hecarim«, erwiderte Kalista und nickte leicht mit dem Kinn.
Die Stille dehnte sich aus, während sie darauf wartete, dass er das Wort ergriff. Unter der Rüstung lief ihr eine Schweißperle über den geschundenen, muskulösen Rücken. Ihre Hochzeit sollte stattfinden, noch bevor das Jahr vorüber war, aber dies war erst das dritte Mal, dass sie miteinander sprachen. Die Atmosphäre zwischen ihnen war also verständlicherweise etwas angespannt, schließlich waren sie kaum mehr als Fremde. Dutzende Umstehende sahen zu und lauschten, aber wenn sie ehrlich war, war sie sich vor allem der Anwesenheit Ledros’ bewusst, der bewegungslos wie eine Statue an ihrer Seite stand.
Als hätte er ihre Gedanken gespürt, sah Hecarim erneut zu Ledros hinüber, sein Blick blieb am abgetrennten Kopf hängen, den ihr Hauptmann noch immer in der Hand hielt. Kalista fragte sich, ob er etwas über standeslose Sklavensoldaten sagen und ihm so die Ehre dieses Sieges absprechen würde. Stattdessen lächelte er. Es war ein warmes Lächeln, und es erhellte sein Gesicht.
»Würdet Ihr mich auf einen Spaziergang begleiten, Mylady?«, fragte Hecarim.
»Selbstverständlich«, antwortete sie.
Er drehte sich um und bot ihr seinen Arm an. Kalista reichte ihren Speer an einen Diener, trat an seine Seite und legte ihre Hand sanft auf seine verzierte Armschiene.
Wir müssen einen seltsamen Anblick abgeben. Ein vergnüglicher Nachmittagsspaziergang durch den Park hätte wohl besser zu einem verlobten Paar gepasst, aber hier waren sie und schritten mitten durch die Toten und Sterbenden. Hecarims Aufzug war makellos, und Kalista war sich der Tatsache, dass sie von Blut, Staub und Schweiß bedeckt war, nur allzu bewusst.
»Sagt nie, ich brächte Euch nicht an die hübschesten aller Orte«, murmelte Hecarim, ein Lächeln in der Stimme. »Wenn Ihr Glück habt, zeige ich Euch das nächste Mal ein Massengrab. Oder wir spazieren durch einen Sumpf. Natürlich nur in Anwesenheit angemessener Anstandsbegleitung.«
Kalista war erleichtert zu sehen, dass er offenbar Humor besaß. Sie fühlte, wie die Anspannung zwischen ihnen ein wenig nachließ, und sah zu ihm auf. Wie hatte er es angestellt, so perfekte Zähne zu bekommen?, fragte sie sich gedankenverloren.
»Es ist schön, Euch lächeln zu sehen, Mylady«, sagte er sanft.
Sie sah sich um. »Es überrascht mich, dass ich dazu in der Lage bin«, gab sie zu, »in Anbetracht der Umstände.«
»Ihr habt heute einen überzeugenden Sieg errungen. Ein Sieg, der in die Geschichte eingehen wird.«
»Im Namen des Königs, Ehre sei mit Ihm.«
»Natürlich.«
Die Mitglieder des Heeres standen stramm und salutierten, als sie vorübergingen.
»Sie verehren Euch wirklich, nicht wahr?«, bemerkte Hecarim.
»Sie schätzen eine Feldherrin, die sie nicht wie Abschaum behandelt.«
Hecarim grunzte. Kalista war sich nicht sicher, ob er belustigt war oder ob er über diesen Gedanken noch nie wirklich nachgedacht hatte. Tatsächlich hatten das nur sehr wenige Adlige.
»Es gibt Stimmen, die befürchten, Ihr habt zu viel Macht über das gemeine Volk«, sagte er nachdenklich.
»Weil ich sie nicht wie die Schafe zur Schlachtbank führe?«
»Weil es so viele sind«, erwiderte Hecarim und kratzte sich am Kinn. »Die Vergangenheit hat bereits Volksmonarchen gesehen, die durch die Erhebung der niederen Massen an die Macht gekommen sind.«
Kalista lachte. »Jeder, der glaubt, ich habe vor, den Silberthron an mich zu reißen, ist ein armseliger Narr«, sagte sie. »Ich habe kein Verlangen danach, zu herrschen, und ich verabscheue Politik. Ich halte mich lieber ans Schlachtfeld.«
Hecarim lächelte. Bei den Ahnen, er ist ein gut aussehender Mann.
»Und Ihr führt Eure Truppen gut«, sagte er. »Aber bei einem Mangel anständiger Gerüchte gibt es viele, die das Bedürfnis verspüren, welche zu erfinden. Allerdings ist es wohl auch den Gerüchten zumindest nicht abträglich, Euren besten Sklavensoldaten zum Königsbezwinger zu erklären.«
Kalista runzelte die Stirn. »Ich kümmere mich tatsächlich nicht um das, was hinter meinem Rücken geflüstert wird«, stellte sie klar. »Der Hof ist eine Schlangengrube.«
Hecarims Gesichtsausdruck wurde ernster, und es war, als habe sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Er blieb stehen und wandte sich Kalista zu, wobei er ihre Hände mit den seinen ergriff. Es war das erste Mal, dass sie einander wirklich berührten.
»Ich bitte um Entschuldigung, edle Dame«, sagte er aufrichtig. »Es lag nicht in meiner Absicht, Euch Unbehagen zu bereiten. Ich bin nur gekommen, um sicherzugehen, dass Ihr unversehrt seid, und um Euch zu Eurer strategischen Meisterleistung heute zu gratulieren.«
Kalista spürte, wie sich ihre Wangen rot färbten. »Vielen Dank«, murmelte sie.
Hecarim ließ ihre Hände los, und sie liefen schweigend weiter, bis sie wieder dort ankamen, wo sie losgelaufen waren. Die Dienerin des Ritters hielt noch immer sein schnaubendes, ebenholzschwarzes Ross, und sie sah erleichtert aus, ihm die Zügel zurückgeben zu können.
»Ich muss Euch verlassen, Mylady. Der König hat befohlen, die Stadt nicht zu brandschatzen, und ich möchte sicherstellen, dass diesem Erlass auch Folge geleistet wird«, sagte Hecarim. »Innerhalb der Stadtmauern wird ein Festmahl zum Zeichen des Triumphes ausgerichtet. Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, an meiner Seite zu sitzen?«
»Die Ehre wäre ganz die meine, Mylord.«
Mit einem letzten strahlenden Lächeln bestieg Lord Hecarim sein gewaltiges Pferd. Er drehte es auf der Hinterhand herum, dann ritt er davon, die Dienerschaft in seinem Gefolge hinter ihm herwirbelnd wie Blätter im Wind. Er ritt, als sei er im Sattel geboren, und sein wildes Streitross und er wirkten wie aus einem Guss.
Seine Ritter jubelten, als ihr Großmeister sich ihnen wieder anschloss. Ihr Horn, auch der Eiserne Bote genannt, ertönte, und auf das Signal hin ritt der Orden geschlossen in Richtung der eroberten Stadt.
Eine Staubwolke erhob sich hinter ihnen in die Luft, und Kalistas Miene verfinsterte sich. Die Stadt Santoras war der Zerstörung entkommen, aber ganz gleich, was Hecarim sagte, es würde Plünderungen geben; so war es immer nach dem Kampf. Und sie wusste, man würde jeden, der es wagte, sich zu widersetzen, brutal erschlagen.
Ledros spuckte auf den Boden.
»Reiten kann er ja«, sagte er. »Das muss man ihm lassen.«
Was arrangierte Ehen anging, hatte Kalista wenig Grund zur Beschwerde.
Sie hatte immer gewusst, dass sie sich ihren Ehemann nicht würde aussuchen können. Als Großtochter des alten Königs und Nichte des neuen, Viego, war immer klar gewesen, dass ihre Hochzeit aus politischer Berechnung stattfinden würde. Es hatte sie nie besonders betroffen gemacht. Es war einfach der Lauf der Welt. Sie hatte sich schon früh damit abgefunden, mit irgendeinem dicken alten Adligen verheiratet zu werden, und als Viego ihr seinen Wunsch mitgeteilt hatte, sie mit Hecarim zu verheiraten, war sie freudig überrascht gewesen.
Selbstverständlich gab sie sich keinerlei Illusionen hin. Ihre Verlobung diente allein dem Machtgewinn … aber als sie beim Siegesmahl auf dem Hauptplatz Santoras’ neben Hecarim saß, hatte sie das Gefühl, die Ahnen wären ihr wohlgesinnt.
Hecarim war nur wenige Jahre älter als sie, und sein Aufstieg im Eisernen Orden war von beeindruckender Geschwindigkeit gewesen. Er war der jüngste Großmeister aller Zeiten und hatte sich bereits ein ganzes Bündel Siege und Auszeichnungen gesichert. Der Eiserne Orden war der mächtigste Ritterorden des Reiches, sowohl was sein politisches Gewicht als auch was seine militärische Stärke betraf … ganz zu schweigen von seinem Reichtum. Hunderte von Jahren praktisch unaufhörlicher Eroberungsfeldzüge hatten dafür gesorgt, dass die Schatzkammern der Festung des Eisernen Ordens vor Gold, wertvollen Juwelen und magischen Artefakten überquollen.
Die Nacht war bereits vor einigen Stunden hereingebrochen. Die Tische waren überladen mit Speisen, das Bier und der Wein flossen in Strömen. Es war klar, dass das Fest bereits vorbereitet worden sein musste, noch als die beiden Armeen auf der Ebene vor der Stadt gegeneinander anbrandeten. Zweifellos war das hier als Siegesfeier des santoranischen Königs geplant gewesen. Kalista bemerkte die Angst innerhalb der Dienerschaft, auch wenn sie versuchten, es zu verbergen. Diejenigen, die sie jetzt bedienten, hatten ihre Meister erschlagen.
»Danke«, wandte sie sich an einen jungen Diener, der einen voll beladenen Teller vor ihr abstellte, aber er wirkte erschreckt über die Ansprache und ergriff die Flucht.
Es war schon jetzt ein ausgelassenes Fest. Die feiernden Camavorer brüllten sich über die Tische hinweg zu, während sie auf den Sieg anstießen. Es gab Musik, und eine Tanztruppe katzengestalter Vastayaner zeigte ihr Können und malte magische Wirbel schillernden Lichts in die Dunkelheit, während sie sich mit unmenschlicher Eleganz drehten, sprangen und Salti schlugen.
Viego und seine junge Königin hatten sich dem Fest noch nicht angeschlossen, aber Wort geschickt, man solle ohne sie beginnen, und die Adligen befolgten seinen Befehl mit Nachdruck. Kalista fand es geschmacklos, zu essen und zu trinken, während die Einwohner der Stadt in ihren Häusern kauerten und um ihr Leben fürchteten, und tat nur so, als äße sie. Sie würde bleiben, solange es die Etikette gebot, aber keinen Augenblick länger. Natürlich wäre es für die Stadt noch viel, viel schlimmer ausgegangen, hätte Viego keine Zurückhaltung befohlen, aber das war den vielen Menschen, die heute ihre Lieben verloren hatten, kaum ein Trost.
Sie trug noch immer ihre Rüstung, auch wenn man sie gereinigt hatte. Für ein Bad hatte die Zeit nicht gereicht, aber man hatte ihr Hände und Gesicht gewaschen und ihr langes, ebenholzschwarzes Haar eingeölt. Sie trug es offen, wie sie es bis zum Tag ihrer Hochzeit tun würde. Danach würde man es zu Zöpfen flechten, um die Verknüpfung ihres Lebens mit dem Hecarims zu symbolisieren. Ihr Speer lehnte neben ihr am Tisch, nie außer Reichweite.
Es waren fast einhundert Menschen anwesend, alle adligen Geblüts. Die meisten waren Ritter, wenn auch ein paar Mitglieder der Aristokratie ihr im Heer als Offiziere dienten. Diese waren naturgemäß an den Tischen ganz am Rand der Gesellschaft platziert worden. Der Dienst in der Heerschar brachte wenig Ruhm und noch weniger Gold; es waren die Ritterorden, in denen man zu Reichtum und Ansehen kam. Kalista war sich des Privilegs, das ihr als Teil der königlichen Familie zuteilwurde, wohl bewusst, aber sie sagte sich gerne, dass sie auch ohne diesen Vorteil zum Militär gegangen wäre. Gewiss, sie hätte lieber mit ihren Soldaten und Soldatinnen draußen vor der Stadtmauer gefeiert als inmitten der Kriegerelite Camavors, aber hier wollte Viego sie haben, also war sie hier.
Hecarim saß zu ihrer Linken. Er war ein aufmerksamer und charmanter Verehrer, und die Unterhaltung mit ihm war leicht und angenehm. Unmittelbar um sie herum saßen die anderen Anführer der Ritterorden, die Viego und die Armee nach Santoras begleitet hatten: Lord Ordono von den Rittern der Azurblauen Flamme – groß gewachsen und ernst – und Lady Aurora, eine klassische Schönheit und Großmeisterin des Ordens des Schwarzen Geweihs. Letztere war eine laute und direkte Frau mit einem furchterregenden Ruf. Kalista hatte sie vom ersten Moment an gemocht.
Ihnen gegenüber am Tisch saß der Großmeister des Goldenen Schilds, einem der kleineren Ritterorden. Er war mittleren Alters und untersetzt, mit kleinen Schweinsäuglein und einer hässlichen Narbe quer über dem Gesicht. Zudem war er ziemlich betrunken.
»Es scheint, als hättet Ihr das Unerreichbare erreicht, Lady Kalista«, sagte er mit schwerer Zunge.
Kalista seufzte innerlich, da sie nicht das geringste Verlangen verspürte, sich mit ihm zu unterhalten, und bedachte ihn mit einem gütigen Lächeln, das nicht ihre Augen erreichte. »Wie das, Großmeister Siodona?«
»Ihr habt den niederen Pöbel zu einer passablen Armee geformt«, sagte er. Mit unsicherer Hand erhob er seinen Becher, ein Teil des Inhalts schwappte über den Rand. »Darauf trinke ich, denn so etwas hielt ich nie für möglich. Auch nicht, dass sich jemand dafür interessieren würde. Schon gar nicht jemand königlichen Geblüts.«
»Ich habe schon immer gerne den Erwartungen widersprochen.«
Die meisten Mitglieder des Hofes waren fassungslos, dass sie die Heerschar befehligte. Sie jedoch empfand es nicht als anmaßend, ihr Talent für militärische Taktik anzuerkennen, und war der Meinung, dass sie mit ihrer Übernahme der Rolle als Feldherrin des großen stehenden Heers Camavors der Nation am besten dienen konnte. Der Rest des Adels hielt das Führen standesloser Soldaten für wenig ehrenwert, aber warum sollte es sie kümmern, was die nutzlose Aristokratie von ihr hielt?
»Aber warum das Heer?«, fuhr Siodona fort. »Jeder edle Orden würde sich geehrt fühlen, Euch an seiner Seite zu haben. Warum dieses Gesindel anführen?«
»Dieses Gesindel hat heute die Schlacht gewonnen«, merkte Kalista an. »Außerdem, ich bin da, wo ich Camavor am besten dienen kann. Ganz Camavor. In der Vergangenheit wurde die Heerschar allzu oft nur als Pfeilfänger eingesetzt, um den Angriff des Gegners abzuschwächen.«
»Sie sind nun mal von niederem Stand«, sagte Siodona und wischte sich über den Mund.
»Sie sind Camavorer und verdienen es, nicht nur als entbehrlich betrachtet zu werden. Ich glaube, dass die Heerschar weitaus mehr sein kann. Und ein starkes Heer kann dazu beitragen, ein starkes Camavor zu bewahren.«
Großmeister Siodona grunzte, als sein Becher nachgefüllt wurde. »Die Ritterorden sorgen für ein starkes Camavor«, entgegnete er. »Dort liegt die wahre Macht. Schon immer.«
Kalista verbarg ihre Abneigung gegen Siodona nur schlecht. »Die Ritterorden sind nicht Camavor«, erklärte sie. »Es gab Zeiten, zu denen mehrere Orden ihre Eide gebrochen oder sich geweigert haben, einem neu gekrönten Monarchen die Treue zu schwören. Ich glaube, die Ritter des Goldenen Schilds haben während der Herrschaft meines Vorfahren König Seuros gegen die Krone gekämpft, war es nicht so?«
»Da hat sie Euch erwischt«, sagte Lady Aurora grinsend.
Siodona starrte sie finster an. »Das ist dreihundert Jahre her«, knurrte er. »Mein Orden hat für den Silberthron geblutet, mehr als die meisten. Wir haben uns dem König noch am Tag der Krönung verpflichtet. Das ist mehr, als man von anderen sagen kann.« Er warf einen bedeutungsvollen Blick zu Hecarim.
Der Eiserne Orden hatte Viego nicht unmittelbar die Treue geschworen. Das war nicht ungewöhnlich, aber es war auch nicht gerade ein Zeichen von Vertrauen in den neuen König, vor allem, da der Eiserne Orden stets der treueste Verteidiger des Throns gewesen war. Sie hatten eine ganze Woche gebraucht – und das Versprechen, Kalista Hecarim zur Frau zu geben –, bevor der Orden bereit gewesen war, den Eid zu leisten.
Die Adligen, die in ihrer Nähe saßen, verbogen sich die Hälse, um zu sehen, ob Hecarim den Köder schlucken würde, aber er lachte nur leise und tupfte seinen Mund mit einer Seidenserviette ab.
Kalista hob begütigend die Hand. Siodona weiter zu reizen, würde niemandem helfen, auch wenn es amüsant war. »Niemand zieht die Ehre des Goldenen Schilds in Zweifel«, sagte sie. »Mein Punkt ist nur, dass Camavor weise daran tut, eine starke, loyale Armee sein Eigen zu nennen, unabhängig und als Ergänzung der Ritterorden, lang sei ihr Dienst.«
Siodona grunzte Hecarim an. »Und dem stimmt Ihr bei?«
Hecarim zuckte mit den Achseln. »Wenn ein starkes Heer heißt, dass weniger meiner eigenen Leute sterben, warum sollte ich dann etwas dagegen haben?«
Siodona winkte verächtlich ab. »Wenn Ihr nicht mit ihr verlobt wäret, würdet Ihr etwas anderes sagen. Und der Befehl des Königs, die Stadt nicht zu plündern? Bah! Macht diesen Krieg kaum der Mühe wert!«
Hecarims Lächeln wurde kalt, wenn auch sein Tonfall leicht blieb. »Trinkt ein Glas Wasser, Meister Siodona«, sagte er laut, »sonst wacht Ihr morgen mit schmerzendem Kopf und einer Handvoll Ehrenduelle mit all denen auf, die Ihr heute Abend beleidigt habt.«
Die Umsitzenden lachten leise auf. Sie hatten sich eine Art Publikum zugelegt, schließlich gierte die Aristokratie immer nach höfischen Dramen. Zwei Großmeister beim Kräftemessen war eine Delikatesse, der nur wenige von ihnen widerstehen konnten. Siodona schnaubte und griff nach seinem Becher, ohne Hecarims Vorschlag, auf Wasser umzusteigen, zu beachten.
Kalista wusste zu schätzen, wie geschickt Hecarim die Aufmerksamkeit von ihr weggelenkt hatte. Er schenkte ihr ein Zwinkern, das nur sie sehen konnte. Das Politikspiel beherrscht er eindeutig besser als ich. Ganz offenbar war es mehr gewesen als nur sein starker Arm, der ihn so schnell zum Anführer seines Ordens hatte aufsteigen lassen, nachdem der vorige Großmeister im Kampf gefallen war.
Den Eisernen Orden durch eine Eheschließung an den Thron zu binden, war ein schlauer Schachzug. Zuerst hatte sie vermutet, dass der Vorschlag vom gerissenen obersten Berater des Königs gekommen war, doch jetzt fragte sie sich, ob vielleicht Hecarim selbst ihn unterbreitet hatte. Verwegen genug war er jedenfalls, um mit einem solchen Vorschlag an den König heranzutreten. Und wenn er es gewesen war, so war sie sich nicht sicher, ob sie das Ausmaß seiner Ambitionen beeindrucken oder eher vorsichtig machen sollte. Von beidem etwas, entschied sie.
Bevor sie die Möglichkeit hatte, noch länger darüber nachzudenken, ertönte ein Ruf über dem Lärm des Festes. »König Viego von Camavor und Königin Isolde! Lange mögen sie herrschen!«
Die anwesenden Adligen erhob sich gleichzeitig, um das Paar zu begrüßen.
Flankiert von der königlichen Garde und dicht gefolgt von der stets gegenwärtigen Gestalt des königlichen Leibwächters Vaask, betraten Viego und Isolde zu einem Trompetentusch den Hof. Der junge König schritt eifrig aus, ein breites, gewinnendes Lachen auf dem Gesicht, während seine Frau elegant an seinem Arm voranzuschweben schien. Sie waren unendlich vernarrt ineinander, und Kalista freute sich sehr für sie. Viego hatte in seinem Leben nicht viel Liebe erfahren.
Als Kind hatte er alles bekommen, wonach er verlangte … außer der Liebe seiner Eltern. Seine Mutter war im Kindbett gestorben, und sein Vater – bei Viegos Geburt bereits ein alter Mann – hatte ihm bis zum Tod seines ältesten Sohns keinerlei Beachtung geschenkt, und selbst danach war seine Aufmerksamkeit kalt, herrisch und erdrückend gewesen. Wenige Monate später war auch der alte König verstorben, und so hatte Viego nur wenig Vorbereitung auf die Herrschaft erfahren.
Kalista liebte Viego wie einen Bruder und hätte ihn jederzeit gegen alles verteidigt, aber selbst ihr war klar, dass er ein verwöhnter Bengel gewesen war, der zu einem eingebildeten jungen Mann herangewachsen war, der es nicht gewohnt war, dass ihm irgendetwas verwehrt wurde. Nichtsdestoweniger kannte sie ihn besser als alle anderen. Er hatte ein gutes Herz und empfand alle Gefühle sehr tief, im Guten wie im Schlechten. Mit der richtigen Führung, so glaubte sie, könnte er ein guter König werden, wenn er ein wenig reifer geworden war.
Zunächst war Kalista genauso schockiert von Viegos impulsiver Heirat wie alle anderen Adligen, und auch mehr als nur ein bisschen besorgt. Isolde stammte nicht aus einer alten, ehrenhaften Familie, und die Verbindung brachte Camavor weder politische Macht noch Wohlstand ein – sie stammte nicht einmal aus Camavor, sondern war eine Schneiderin von niederer Geburt aus einer eroberten Nation. Aber Kalista hatte ihre Einstellung schnell geändert, als sie die beiden zusammen gesehen hatte.
Viego liebte Isolde so abgöttisch, wie er nichts und niemanden in seinem Leben je geliebt hatte. Zum ersten Mal stellte er eine andere Person über seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Er hörte ihr zu und schätzte ihre Meinung weit mehr als die seines Beraterstabs oder sogar die Kalistas. Und auch wenn die neue Königin keine höfische Ausbildung erfahren hatte, so war sie über die Maßen intelligent und besaß ein instinktives Verständnis für Menschen und die Politik des Hofes. Und, was vielleicht noch wichtiger war, sie war gütig und bedacht und wirkte mäßigend auf Viegos impulsive und ichbezogene Entscheidungen. Endlich hatte Kalista eine Verbündete – jemanden, der ihr helfen konnte, Viego zu zügeln, und der in der Lage war, Camavor Beständigkeit zu schenken.
Nun wuchs er endlich in seine Rolle als Herrscher hinein, und der heutige Auftritt – denn es war ein Auftritt, ein meisterhaft geplanter noch dazu – zeigte einen ersten Ausblick auf den mächtigen und geliebten König, der er werden könnte. Er verströmte Charisma und Selbstvertrauen und hatte den perfekten Moment für ihr Erscheinen gewählt. Die Menge war bereits gut beseelt, sowohl vom Wein als auch vom Sieg, aber bis auf den rotgesichtigen Siodona war niemand schon so betrunken, dass er rührselig oder streitlustig gewesen wäre.
Viego war königlich, aber nicht übertrieben gekleidet – ein prahlerischer Aufzug wäre am Hof in Alovédra passend gewesen, aber nicht hier, direkt nach der Schlacht. Er trug seinen glänzend schwarzen Kürass über der Brust, um zu zeigen, dass auch er ein Krieger war, auch wenn er nicht an der Schlacht teilgenommen hatte. Die gezackte Königskrone saß auf seiner Stirn, aber sein Schwert, die gigantische Klinge, die das wahre Symbol seiner Herrschaft war – Heiligkeit –, fehlte unübersehbar.
Isolde, Viegos Königin, war ihrerseits eine Erscheinung sittsamer Schönheit. Ihr Gesicht formte ein perfektes Oval, ihre blauen Augen waren groß und voller Ausdruck. Ihr Kleid, das sie selbst genäht hatte, bestand aus zahllosen Schichten Samt und Seide. Fließend hüllte es sie ein wie die Blätter einer zarten Blüte. Statt zu versuchen, ihr fremdländisches Erscheinungsbild mit traditionell camavorischer Tracht zu verdecken, hatte Isolde den Schritt gewagt, ein Kleid zu schneidern, das es sogar noch betonte. Der Effekt wurde durch die geschickte Schmuckauswahl der Königin noch verstärkt – ein Netz zarter Silberketten mit eingewobenen Saphiren, ganz anders als alles, was die Damen bei Hofe trugen, auch wenn Kalista annahm, dass viele den Stil schon bald nachahmen würden.
Isolde war jeder Zoll die bezaubernde fremdländische Königin. Inmitten der grobschlächtigen Ritter und Adligen in ihren Rüstungen und Kettenhemden wirkte sie zart wie eine Blume, wertvoll wie ein Juwel. Und trotzdem konnte Kalista die Verachtung und Ablehnung hinter dem Lächeln vieler der Umsitzenden erkennen. Sie hassten es, dass Isolde von niederer Geburt war; sie hassten es, dass sie nicht aus Camavor stammte.
Ohne etwas davon zu bemerken, schritten Viego und Isolde an den Tisch, der am Kopf des Hofes für sie aufgestellt worden war. Viego half seiner Königin, Platz zu nehmen, küsste ihr die Hand und wandte sich dann an die Anwesenden.
»Brüder und Schwestern Camavors«, verkündete er, seine Stimme sanft wie Samt und laut genug, um von allen gehört zu werden, »heute macht Ihr Euer Königreich stolz! Macht die Verehrten Ahnen stolz! Und Ihr macht mich stolz!« Viego hielt einen Kelch in der Hand und er hob ihn hoch. »Heute Abend trinke ich auf Euch!« Die Zuhörer brachen in begeisterten Jubel aus, und Hunderte Kelche wurden in die Luft gereckt, dass der Wein nur so schwappte. Viego leerte seinen eigenen und warf ihn zur Begeisterung der Menge hinter sich. »Bringt mir noch einen!«, brüllte er lachend.
Viego machte Anstalten, sich zu setzen, aber Isolde beugte sich zu ihm und sagte etwas, wobei sie ihm die Hand auf die Brust legte. »Ach ja, danke, meine Liebe. Beinahe hätte ich es vergessen!«, rief er, auch wenn Kalista wusste, dass dem nicht so war. »Der Grund, aus dem wir überhaupt erst nach Santoras gekommen sind!«
Er klatschte in die Hände, und ein ehrfürchtiges Schweigen legte sich über den Platz, als ein Zirkel aus Priestern vortrat, die Köpfe gesenkt, die Gesichter hinter ihren ausdruckslosen Porzellanmasken verborgen. Hinter ihnen trugen vier Leibeigene eine offensichtlich sehr schwere goldene Truhe auf den Schultern. Sie stellten ihre Last auf dem gepflasterten Boden ab und zogen die Stangen darunter hervor, die sie zum Tragen verwendet hatten, bevor sie sich verbeugten und unauffällig entfernten. Lächelnd trat Viego nach vorne und fuhr mit der Hand über die verzierte Oberfläche. Theatralisch hielt er inne, bevor er die Verschlüsse mit lautem Klicken aufschnappen ließ und die Truhe langsam öffnete. Die gesamte Versammlung lehnte sich nach vorne, um mehr zu sehen.
Kalista applaudierte in Gedanken. Er wusste, wie man sein Publikum beherrscht, was sie nicht für eine schlechte Sache hielt, ganz und gar nicht. Es war eine notwendige Fähigkeit für jeden erfolgreichen Herrscher.
Viego zog den Moment in die Länge, seine Augen weiteten sich, und er pfiff durch die Zähne. »Hierfür brauchen wir mehr Licht«, verkündete er. Seine wohlklingende Stimme war leise, aber alle hörten, was er sagte. Sie hingen an seinen Lippen.
Königin Isolde förderte eine Glaskugel zutage, klein genug, um problemlos in eine geöffnete Hand zu passen. Viego nahm sie ihr mit einem Lächeln aus den Fingern und hielt sie an die Lippen. Er hauchte ein Wort darauf, dann warf er sie leicht in die Luft. Ungefähr zehn Armspannen über ihm blieb sie schweben und begann, von innen heraus zu leuchten. Ihr fahles Licht ergoss sich über den König und die goldene Truhe.
Viego sah mit zusammengekniffenen Augen hinauf zur Kugel. »Nun, das ist ganz sicher nicht hell genug.« Er ließ den Blick über die Gesichter in der Menge schweifen. »Wo ist mein geschätztester Berater? Nunyo Necrit, tretet bitte vor, wenn Ihr noch nicht zu betrunken seid! Euer König bedarf Eures Talents!«
Gelächter folgte dem Berater, als er sich einen Weg durch die Menge suchte. Sein Gesicht faltig wie altes Leder, und seine Augen lagen tief in ihren dunklen Höhlen. Er mochte alt sein, aber das Alter hatte seine Intelligenz nicht geschmälert. Schon in guten Zeiten trug er einen ernsten Gesichtsausdruck zur Schau und lächelte selten, aber als er jetzt auf seinen König zuschritt, wirkte sein immerwährend finsterer Blick noch düsterer als sonst. Ganz offensichtlich schätzte er es nicht, dass sein einzigartiges Talent als Taschenspielertrick eingesetzt werden sollte, um betrunkene Adlige zu unterhalten, aber trotzdem befolgte er pflichtbewusst den Befehl.
Viego beugte sich vor und flüsterte seinem Berater ins Ohr. Nunyo verzog das Gesicht und erwiderte etwas in scharfem Tonfall. Dann wandte er den Blick nach oben zur leuchtenden Kugel. Tonlos formten seine Lippen unerkennbare Worte, und in seinen Augen erschien ein magisches Glitzern. Er streckte die Hand aus, und die Kugel schoss in die Nacht hinauf wie eine Sternschnuppe, die ihren Kurs umkehrt und zurück in den Himmel fliegt. Dabei wurde das Licht, das sie ausstrahlte, so hell, dass alle Anwesenden auf dem Platz sich abwandten, weil sie Angst hatten, sonst zu erblinden.
Innerhalb weniger Herzschläge war es, als wäre eine neue Sonne entstanden, deren kaltes Feuer über Santoras brannte und alles im Umkreis mehrerer Meilen in strahlendes, weißes Licht tauchte.
»Bravo! Bravo!«, rief Viego, während seine Königin begeistert die Hände zusammenschlug. »Habt meinen Dank, geschätzter Nunyo, das ist viel besser. Tatsächlich viel besser.«
Der alte Berater entfernte sich, noch immer mit finsterem Blick.
»Heute, meine Freunde, machen wir die Gründer unserer großen Nation stolz!«, fuhr Viego fort. Er ging vor den Adligen auf und ab, Glaube und Leidenschaft brannten in seinem Blick. »Unser Gründungspaar, die Zwillinge Camor und die edle Avora lächeln heute auf uns herab! Auf ganz Camavor!« Jetzt stand er wieder vor der goldenen Truhe. »Und nun präsentiere ich Euch, meine Freunde, ohne weitere Umstände«, rief er und griff hinein, »den Kelch von Mikael!«
Mit diesen Worten hob er das heilige Artefakt hoch über seinen Kopf. Der Kelch war mit einem Deckel versehen, seine Oberfläche mit Runen und uralten Symbolen verziert. Die Luft um ihn herum schien leicht zu schimmern, als sei er von einem Hitzeschleier umgeben. Bewunderndes und ehrfürchtiges Gemurmel erhob sich unter den versammelten Rittern.
»Unsere edle Queste, dieses heilige Artefakt zu befreien, ist vollendet! Als der verehrte Camor im Sterben lag, durchbohrt vom schwarzen Pfeil Astors, rettete ihn seine Schwester Avora. Wir alle kennen die Geschichte. Aber erst kürzlich wurde uns bekannt, dass sie ihn mit diesem Artefakt hier rettete! Sie führte den Kelch an seine Lippen, und seine Wunden heilten! Und jetzt, nach so vielen Jahrhunderten, ist er zu uns zurückgekehrt!«
Wieder wurde Jubel laut, lauter als zuvor. Als Kalista sich umsah, bemerkte sie mit Schrecken die hungrige Habgier in den Augen der versammelten Adligen.
Wie lange ist unser Brauch der edlen Questen schon so verkommen? Wie lange hat es gedauert, bis unser hehres Streben nichts weiter war, als eine praktische und fadenscheinige Ausrede, zu plündern und zu rauben? Zu töten, fruchtbares Land für sich zu beanspruchen und unsere Nachbarn zu bestehlen? Wie lange, bis man angefangen hatte, die Tradition dazu zu missbrauchen, jeden Stadtstaat, jede Nation anzugreifen, die dem Königreich Camavor Wohlstand und Ansehen einbringen würde?
Kalistas wohlmeinendste Annahme war, dass es ein paar Generationen gedauert hatte, bevor Camors Ideal der Questen unwiderruflich verdorben war. Wenn sie zynisch gestimmt war, fragte sie sich, ob es schon mit Camor selbst begonnen hatte. Schließlich war er ein Kriegsherr gewesen und hatte mit Heiligkeit in der Hand ihre geliebte Nation auf den Gräbern seiner Feinde aufgebaut.
Die heutige Schlacht war nicht anders gewesen. Santoras war lange ein unabhängiger Stadtstaat südöstlich von Alovédra gewesen, gerade noch außerhalb der sich ständig ausdehnenden Grenzen Camavors. Im Laufe der Geschichte hatten sie zahllose Male als Verbündete gekämpft, und vom Handel zwischen ihnen hatten beide profitiert. Und doch hatte es nur der Erklärung eines einzigen Priesters bedurft, es sei der Wille der Ahnen, irgendein altes Erbstück arkaner Macht zurückzuholen – zu beschützen, wie man es nannte –, das sich innerhalb der Stadtmauern befand, um das Bündnis aufzukündigen.
Das Gefühl der Zufriedenheit, das sie ob des heutigen Sieges empfunden hatte, schmeckte plötzlich schal, und sie stimmte nicht in den gierigen Jubel mit ein. Das hier muss ein Ende haben.