Sammelsurium - Eberhard Rosenke - E-Book

Sammelsurium E-Book

Eberhard Rosenke

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Beschreibung

Das Buch enthält, wie der Titel "Sammelsurium" besagt, skurrile kurze Hörspiele, Dialog und, Kurzgeschichten, aber auch Gedichte, philosophische Dialoge und Texte sowie einige Leserbriefe, z.T. ais Diskussionen mit anderen Lesern.

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Inhalt

Dialoge

Wunder oder Mord (1963)

Eine Eigenart von Kartoffelpuffern (1964)

Das Experiment (1971)

Totensonntag (1973)

Beim Arzt (1970)

Geschichten

Grigault der Entsetzliche (1955)

Orgelkonzert (1960)

Amtsärztliches Attest (1961)

Musikalisches Abenteuer (1963)

Protokoll eines peinlichen Vorfalls (1963)

Vom Sinn des Lebens (1963)

Von der Gefährlichkeit des Denkens (1965)

Ein Nachruf (1965)

Das Geheimnis des Todes (1964)

Mit rechten Dingen (1964)

Happening (1967)

Zwei Bewerbungen (1967)

Weihnachtsfeiertag (1968)

Die Rübe (1968)

Der Traum (1968)

Vielleicht das letzte Wochenende (1969)

Bewußtseinserweiterung (1969)

Ein Gefühl von Freiheit (1970)

(

Ent)Täuschung (1971)

Fragment eines Menschen

Psalmen

Alltags-Limericks

Gedichte

Philosophische Aufsätze

Abenteuer (1974)

Anmerkungen zur Praxis (1959)

Was ist das: Sozialismus? (1973)

Wissenschaft und Glauben

Über die objektive Realität

Das Universum, die Objektivität und ich (1973)

Philosophische Probleme der modernen Mathematik

Erklärung durch Gesetz und Theorie (1964)

Ein Satz Wittgensteins

Sinnestäuschungen oder Sein und Schein

Vom Sehen des Sehens

Der Detektiv

Das wissenschaftliche Weltbild

Fehler

Objektivität – Metaphysik – Poesie

Philosophische Dialoge

Rückfragen

Zukunftsfragen

Aufgeklärt

Wissenschaft

Gibt es etwas, das kein System ist? (1972)

Objektivität - Erleben - Erkennen

Maschine - Organismus – Poesie (1974)

Zufall - Schicksal – Götter

Diskussionen in Briefen

Erich Fromm und die Abrüstung

Wissenschaft und Realität

Mehr Staub als Sterne

Erst im Kopf entsteht der Klang

Leserbriefe

Die unglaubwürdige Gesellschaft

Die wunderbaren Jahre

Solidarität

Der Todestrieb in der Geschichte

Sozialismus als schöne Vision

In letzter Stunde

Raktenstationierung

Sowjetische Aufrüstung

Christen und Atomkrieg

Politik und Moral

Friedenspreis

Technik bändigen

Wortmüll

Frauensprache

Sprachpurismus?

Dreimal Opernregie

Dialoge

Wunder oder Mord (1963)

Ein Auto nähert sich und hält. Die Tür schlägt zu. Jemand klingelt an der Gartenpforte

FRAU KOLKE: Ich bin hier im Garten - die Tür ist auf. (Schritte nähern sich) Ah, guten Abend, mein Junge, schön, dass du mich besuchen kommst. Warte, ich mach dir etwas zu essen.

FRITZ: Guten Abend, Mutter. Bitte mach dir keine Mühe. Wenn du einen Schluck Kaffee für mich hättest...

FRAU KOLKE: Den kannst du haben. Die Kanne ist noch halb voll, da unter der Kaffeemütze. Du kannst meine Tasse nehmen. Aber sag mal: du kommst ja ganz außer der Reihe? Sonst besuchst du mich doch immer donnerstags. Ist etwas passiert?

FRITZ: Nein, ich komme gerade von einer Konferenz. Wir haben große Sorgen wegen des Arbeitskräftemangels und sind dabei, den Betrieb umzuorganisieren. Na ja, das gibt Arbeit. Donnerstag werde ich nicht kommen können.

FRAU KOLKE: Schade, mein Junge, und ich dachte, du besuchst deine alte Mutter außerplanmäßig. Beinahe wärest du vergeblich gekommen. Ich wollte eigentlich zu einem Vortrag gehen. Dr. Anklam spricht über die Gestalt und Bewegung der Erde. Aber der Abend war so schön, da bin ich hiergeblieben.

FRITZ: Ja, ein schöner Abend. Ich wollte, ich hätte Zeit und könnte auf so etwas achten. Wer ist denn der Kerl da auf der Straße? Ist das nicht Baum?

FRAU KOLPE: Warum er wohl so rennt?

FRITZ: Betrunken ist er. Ich habe ihn mit Ludwig aus der Kneipe kommen sehen. Da, sieh dir das an! Er umarmt einen Baum, schüttelt ihn.

FRAU KOLPE: Ich möchte bloß wissen, warum du ihn nicht leiden kannst. Gib doch mal das Opernglas her. Er sieht aus, als hätte er etwas Besonderes erlebt, einen Mord etwa, oder ein Wunder.

FRITZ: Ach, der ist einfach betrunken.

FRAU KOLPE: Schon seit der Schulzeit kannst du ihn nicht leiden.

FRITZ: Das stimmt. Er hatte so etwas Unberechenbares, Unordentliches an sich. Man wußte nie, woran man mit ihm war.

BAUME: Hihihi.

FRAU KOLPE: Was war das?

FRITZ: Das war Baume. Er rennt ins Haus. Seine Frau wird sich freuen.

Eine Tür kracht zu

ERNA: Mein Gott, habe ich mich erschrocken. Hast du wieder getrunken? Wie schmutzig du bist.

BAUME: Ich bin matt zum Umfallen. Hast du Kaffee da?

ERNA: Warte, ich setze Wasser auf. (Küchengeräusche) Daß du wieder getrunken hast, gefällt mir gar nicht. Du weißt doch, was du mir versprochen hattest.

BAUME: Ich weiß. Und du weißt, daß ich mich auch daran halte. Aber heute... Ich fühlte mich ganz kaputt, und da hat Ludwig mich überreden können ...

ERNA: Ich bin im Bilde, du brauchtest eine Medizin.

BAUME: Hihihi.

ERNA: Was ist dir? Worüber lachst du?

BAUME: Ich lache nicht, ich klappere mit den Zähnen. Ich fürchte, ich bin wahnsinnig.

ERNA: Sowas kommt vom Trinken.

BAUME: Nein, nein, soviel habe ich ja gar nicht getrunken. Ich habe etwas Gräßliches erlebt. Ich weiß nur nicht, ob ich es wirklich erlebt habe.

ERNA: Komm, wasch dir erstmal die Hände.

BAUME (die Hände waschend): Als wir aus dem Wirtshaus kamen, gingen Ludwig und ich zu dem großen Feld, das ist der kürzeste Weg nach Hause. Aber als wir vor der weiten und dunklen Fläche standen, da sagte der Ludwig zu mir ... (Wasserkessel pfeift)

ERNA: Das Kaffeewasser, einen Moment.

BAUME (lauter): ... da sagte Ludwig in seiner trocknen Art: „Laß uns um das Feld herumgehen. Weißt du, die Erdkruste ist hier dünn wie eine Eierschale, ich habe sie knistern gehört.‟

ERNA: So, hier ist der Kaffee. Dem Ludwig hätte ich so etwas gar nicht zugetraut. Er hat doch sonst keine Phantasie.

BAUME: Nur in betrunkenem Zustand. Darum trinkt er ja so gern. Ah, das tut gut, das ist Balsam. Vielen Dank. Ich habe gleich zu ihm gesagt, daß er besoffen ist.

ERNA: Peter!

BAUME: Dann ging ich los. Im Hintergrund waren ein paar Laternen zu sehen, nach denen richtete ich mich, dort war die Straße. Ludwig hielt mich fest und redete auf mich ein: „Du mußt bedenken, wie alt die Erde ist und wie sie beansprucht wird, und du weißt, daß ich ziemlich schwer bin ...“

ERNA: Das stimmt, er wiegt bestimmt zwei Zentner.

BAUME: Ich bin einfach weitergegangen und habe das Gerede nicht beachtet. Er ist mir dann auch nachgekommen. Wir folgten einem dieser Pfade, die sich ständig verzweigen.

ERNA: Ich begreife nicht, worauf du mit der Geschichte hinauswillst. Was ist so gräßlich?

BAUME: Kommt gleich. Wir gingen durch die Dunkelheit, ich voran, Ludwig etwa drei Meter zurück. Der Weg war sandig und ausgetreten. Plötzlich hörte ich ein merkwürdiges, knirschendes Geräusch und drehte mich um. Und was sehe ich da? Was glaubte ich zu sehen?

ERNA: Ich weiß es nicht.

BAUME: Ludwig versank stumm und starr, mit aufgerissenen Augen, in der Erde. Im letzten Moment warf er sich vor, krallte sich in den lockeren Sand - vergeblich. Weg war er.

ERNA: Und dann?

BAUME: Dann raste ich los, immer geradeaus.

ERNA: Du hättest ihm lieber helfen sollen. Vielleicht hättest du ihn aus dem Loch herausziehen können.

BAUME: Aus welchem Loch? Es gab kein Loch. Das ist ja das Unheimliche daran. Die Stelle sah hinterher genauso aus wie vorher. Als wenn Ludwig ins Wasser gefallen wäre.

Schäbiges, hallendes Dienstzimmer

JANSON: Das wollen Sie erlebt haben? Das glauben Sie doch selbst nicht!

BAUME: Jetzt glaube ich es natürlich nicht mehr, Herr Inspektor, aber an jenem Abend habe ich es geglaubt. Und Ihre beiden Polizisten, die plötzlich aus dem Schatten der Bäume traten, die haben mir auch geglaubt. Als ich ihnen die Geschichte erzählte, da haben sie gleich ein Protokoll aufgenommen.

JANSON: Reine Routinesache. Sie glauben also nicht mehr, was Sie erzählt haben? Sehr vernünftig. So können wir uns der Wahrheit zuwenden.

BAUME: Welcher Wahrheit?

JANSON: Der Wahrheit über das Verschwinden und den Verbleib von Ludwig. Was wissen Sie darüber? Kramen Sie ein bißchen in Ihrem Gedächtnis! Sie haben sich beide gemeinsam auf den Heimweg gemacht, aber Ludwig ist nicht zu Hause angekommen.

BAUME: Ich kann nichts Konkretes dazu sagen, rein nichts.

JANSON: Herr Baume - Sie haben als letzter mit Ludwig gesprochen, Sie sind auch der letzte, mit dem zusammen Ludwig gesehen worden ist, nämlich beim Betreten des Feldes. Zwei Männer betreten ein Feld, und nur einer verläßt es, schreiend und verstört. Was ist geschehen?

BAUME: Mein Herr, Sie sind doch ein nüchtern denkender Mensch. Trotzdem scheinen Sie meine Erzählung von gestern ernstzunehmen.

JANSON: Allerdings, die Erzählung ist aufschlußreich.

BAUME: Aber erlauben Sie, die Geschichte ist unsinnig, weil sie jeglicher Erfahrung widerspricht. Erde ist keine Flüssigkeit, und sie zerbricht auch nicht unter dem Gewicht eines Menschen. Und wenn doch, dann bleiben Löcher zurück. Es war sowas wie weiße Mäuse, was ich gesehen habe.

JANSON: Sie verstehen mich falsch. Natürlich ist Ihr Bericht absurd. Er erklärt zwar auf einfache Weise das Verschwinden von Ludwig, aber ich als Polizist kann diese Erklärung nicht anerkennen, weil sie allen bisherigen Erfahrungen widerspricht. Nein, ich halte Ihren Bericht deshalb für aufschlußreich, weil er vermuten läßt, daß auf dem Feld etwas Außergewöhnliches geschehen ist. Die Frage ist nur: Was ist geschehen?

BAUME: Mit anderen Worten - Sie halten mich für eine verdächtige Person. Hahaha. Aber ich kann Ihnen wirklich keine nutzbringende Antwort geben.

JANSON: Sie nehmen die Sache offenbar auf die leichte Schulter. Aber Sie haben kein Alibi und können auch nicht glaubhaft sagen, was Sie zur Tatzeit gemacht haben.

BAUME: Sie haben schon recht, Inspektor. Ich kann nichts zu meiner Entlastung sagen. Aber hätte ich mich wohl so auffällig benommen, wenn ich Ludwig umgebracht hätte?

JANSON: Diese rhetorische Frage haben mir schon viele Verbrecher gestellt. Darauf antworte ich, daß die meisten verbrecherischen Taten zugleich als dumm und schlau bezeichnet werden können. Das heißt, Sie können die Polizei sowohl aus Dummheit wie aus Schlauheit aufmerksam gemacht haben.

BAUME: Tja, aber wo ist das Tatwerkzeug? Wo ist die Leiche?

JANSON: Das werden wir schon herausfinden. Sie sind jedenfalls unter Verdacht und dürfen die Stadt nicht verlassen.

BAUME: Meinetwegen. Beweisen Sie, daß ich der Mörder bin. Schaffen Sie die Leiche her.

Schreibmaschinengeklapper. Dann Herausdrehen des Papiers

JANSON: So, das wäre das Protokoll deiner Aussage. Lies es noch einmal durch und unterschreibe bitte hier unten. Ich schlage vor, wir gehen noch auf ein Bier und unterhalten uns dabei weiter.

Aufbruch. Die Tür, die Treppe, die Straße

FRITZ: Er war mir schon immer irgendwie zuwider, weil er ein unordentlicher Mensch ist. Ich traue ihm auch einen Mord zu. Sogar meine Mutter ... JANSON: Ich denke, Sie mag Baume gut leiden?

FRITZ: Das schon, aber als wir ihn an dem fraglichen Abend beobachteten, sagte sie: „Der sieht aus, als hätte er ein Wunder erlebt, oder einen Mord.“ Kannst du ihn nicht verhaften?

JANSON: Abneigung zählt nicht. Nur Fakten zählen.

FRITZ: Reichen denn die Verdachtsgründe nicht aus?

JANSON: Daß er dir gelegentlich gesagt hat: „Den Ludwig könnte ich umbringen“, genügt nicht. Das sagt jeder mal. Und die Schulden, die er bei Ludwig hat, naja ...

FRITZ: Aber Mord ist die einzig vernünftige Erklärung. Ludwig hat die Stadt nicht verlassen, aber in der Stadt ist er auch nicht.

JANSON: Ich muß ihm den Mord nachweisen. Ich brauche eine Handhabe gegen ihn.

FRITZ: Die Leiche.

JANSON: Richtig, die Leiche. Es wäre unklug, Baume zu verhaften, solange wir nicht wissen, wo die Leiche ist. Auf dem Feld ist sie nicht, ich habe es absuchen lassen.

FRITZ: Sieh mal, da vorn geht Baume.

JANSON: Schnell weg! Hier um die Ecke. Er darf uns nicht zusammen sehen.

FRITZ: Warum denn nicht?

JANSON: Das erkläre ich dir beim Bier. Gehen wir hier entlang, ein kleiner Umweg schadet nicht.

FRITZ: Meinetwegen.

JANSON: Wenn er der Mörder ist, muß er einen Komplizen haben, einen Autobesitzer.

FRITZ: Autobesitzer?

JANSON: Ja. Die Leiche ist offensichtlich weggeschafft worden, was nur mit einem Auto unbemerkt möglich ist. Welche seiner Bekannten haben ein Auto?

FRITZ: Keine Ahnung, das heißt - ich habe ein Auto.

JANSON: Du? Du - du scheidest natürlich aus. Aber es gibt jemanden: Dr. Anklam, sein Schwager.

FRITZ. Der Wissenschaftler? Der die öffentlichen Vorträge hält? Unmöglich. Ein hochgebildeter Mann. Meine Mutter schätzt ihn sehr.

JANSON: Es gibt auch Verbrecher, die hochgebildet sind. Meinst du, Akademiker sind bessere Menschen?

FRITZ: Ich glaube schon. Denke nur an ihr Wissen, an ihr Denkvermögen, ihre Vernunft.

JANSON: Du glaubst wohl, Wissen mache gut. Irrtum! Ich meine sogar, daß den Wissenden und Denkenden leichter der Boden unter den Füßen schwindet, weil die Versuchungen größer sind.

FRITZ: Ich wußte gar nicht, daß du ein Wissensfeind bist.

JANSON: Quatsch. Bin ich nicht. So, gehen wir hier hinein. (Kneipenlärm. Ein Tisch. Sie setzen sich) Auf Dr. Anklam bin ich aufmerksam geworden, weil er mit Baume befreundet ist und zur Tatzeit kein Alibi hat.

FRITZ: Nun erzähle mal, warum Baume uns nicht zusammen sehen sollte.

JANSON: Ach ja. Paß auf: Ich brauche unbedingt die Leiche. Der Weg zur Leiche führt über Baume. Er muß uns zu ihr führen. Das heißt: wir müssen ihn veranlassen, uns hinzuführen. Ich habe folgenden Plan...

Leise Radiomusik, Baumes Wohnung

ERNA: Ich habe dich etwas gefragt.

BAUME: Ja - was ist? Entschuldige; ich dachte nach.

ERNA: Du denkst sehr viel nach in letzter Zeit. Du liest nicht mehr, du legst keine Patiencen mehr, du denkst nur noch nach.

BAUME: Dazu habe ich auch allen Grund. Ich suche nach einer vernünftigen Erklärung, die mir nützt, aber es gibt keine. Die einzige vernünftige Erklärung ist die von Janson.

ERNA: Du nimmst diese blödsinnige Geschichte zu ernst. Daß dich die Polizei verdächtigt, bloß weil du zufällig der letzte Mensch warst, mit dem Ludwig gesehen worden ist - also ich finde das albern!

BAUME: An irgendjemanden muß sich die Polizei schließlich halten. Es ist nur logisch, daß ich dieser Jemand bin.

ERNA: Du bist kein Mörder.

BAUME: Es spricht aber einiges dafür. Ich zermartere mir den Kopf, aber vergeblich. Mein Gedächtnis ist ein leerer schwarzer Kasten.

ERNA: Wenn du dich an nichts erinnern kannst, dann wird nicht viel gewesen sein. Man mordet nicht so nebenbei.

BAUME: Aber ich weiß, daß etwas Gräßliches geschehen sein muß. Und vorgestern traf ich Fritz Kolpe.

ERNA: Den dicken Mann?

BAUME: Er wollte mich erpressen.

ERNA: Erpressen?

BAUME: Ja, er sagte, daß es ihm schwerfalle, einen guten Freund wie Ludwig zu vergessen. Wenn ich aber daran interessiert sei, ließe er mit sich reden.

ERNA: Ist denn das die Möglichkeit! Was sind das bloß für Menschen!

BAUME: Er habe mich beobachtet, wie ich Ludwig totgeschlagen und die Leiche versteckt habe. Er wisse, wo sie ist.

ERNA: Rede doch keinen Unsinn. Sag mal - ist das dein Ernst? Woher weiß er überhaupt von der Sache?

BAUME: Tja, woher, wenn nicht aus eigenem Augenschein. Das frage ich mich auch.

ERNA: Er wird es gerüchteweise erfahren haben. Selber beobachtet - das ist ja lächerlich!

BAUME: Es ist nicht lächerlich, sondern zum Weinen. Er wußte jedenfalls die Einzelheiten. Am Sonnabend will er herkommen und ein kleines Geschäftchen, wie er es nannte, mit mir abschließen. Ich habe zugesagt. Vielleicht hilft das meinem Gedächtnis auf die Sprünge. Aber wenn die Psychologen recht haben, dann hilft es nicht, weil ich die Erinnerung an das unangenehme Erlebnis verdrängt habe.

ERNA: Das sind doch alles nur Spekulationen! Und die haben nur Gewicht, wenn man dich schon für den Mörder hält, wenn man keine Zweifel mehr hat. Ich jedenfalls glaube nicht, daß du ein Mörder bist. (Weinend) Wenn du doch bloß mit diesem dämlichen Trinken Schluß machen würdest.

BAUME: Hör auf zu heulen. Denk lieber nach, wo die Leiche geblieben sein könnte. Könnte ich sie vergraben haben?

ERNA: Ohne Spaten? Wie oft soll ich es noch sagen: du hast damit nichts zu tun! Die Polizei hat das Feld bestimmt genau abgesucht. Und zum Wegschaffen der Leiche war keine Zeit.

BAUME: Aber Kolpe kann sich seine Behauptungen nicht aus den Fingern gesaugt haben.

ERNA: Vielleicht hat er selber den Ludwig ermordet, wo er alles so genau weiß.

BAUME: Das traue ich ihm eigentlich nicht zu. Aber du hast schon recht - was sollte ich mit der Leiche gemacht haben!

ERNA: Sprich mit meinem Bruder darüber. Er kommt zum Abendessen zu uns.

BAUME: Der große Wissenschaftler? Ja, der soll sagen, ob Menschen in der Erde versinken können, ohne Spuren zu hinterlassen.

Ein paar Stunden später

ANKLAM: Das ist unmöglich, Schwager.

BAUME: Unmöglich, lieber Doktor?

ANKLAM: Genauer gesagt: äußerst unwahrscheinlich.

BAUME: Das ist etwas anderes.

ANKLAM: Soll ich dir die Wahrscheinlichkeit ausrechnen? Die Zahl, die dabei herauskommt, kannst du gar nicht aussprechen, so klein ist sie. Deshalb sagte ich „unmöglich“.

BAUME: Erlaube, aber ausrechnen kannst du da gar nichts. Wie willst du das denn anstellen? Und selbst wenn es ginge: es ist ein unendlich großer Unterschied zwischen „unwahrscheinlich“ und „unmöglich“.

ANKLAM: Es ist allerdings nicht gesagt, daß morgen die Sonne aufgeht, aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß sie nicht aufgeht. Sich darüber Gedanken zu machen ist genau so sinnlos wie über deiner Frage nachzugrübeln.

BAUME: Ich sehe nicht ein, warum ich mir nicht über unnütze Dinge Gedanken machen soll...

ANKLAM: ... Ich habe nichts dagegen...

BAUME: ... und außerdem sammle ich seit drei Wochen Zeitungsausschnitte. In dieser Zeit sind vier Personen in unserer Gegend als verschwunden gemeldet worden.

ANKLAM: Sie werden schon noch aufgefunden werden. Die Meldungen wären dir unter anderen Umständen kaum aufgefallen.

BAUME: Das ist immer so. Erst wenn man fragt, fällt einem etwas auf...

ANKLAM: ... oder umgekehrt.

BAUME: Ja, das kann auch sein. Ins Nichts werden sich die Verschwundenen nicht aufgelöst haben, aber vielleicht sind sie in die Erde eingesunken. Ich habe sowas selbst gesehen.

ANKLAM: In betrunkenem Zustand.

BAUME: Immerhin bekam ich einen Schock und gehe seitdem ungern über das Feld.

ANKLAM: Der Schock kann auch andere Ursachen haben.

BAUME: Nehmen wir doch mal das Unwahrscheinliche an.

ANKLAM: Diese Annahme steht im Widerspruch zu den anerkannten und all-gemeingültigen Naturgesetzen.

BAUME: Ja - und?

ANKLAM: Was heißt „ja und“? Also gut, nehmen wir das Unwahrscheinliche an. Kennst du den genauen Ort ermitteln, wo Ludwig in der Erde versunken sein soll? Versinkt an jener Stelle jeder beliebige Mensch? Und zu jeder beliebigen Zeit? Kurzum, dieser sonderbare Ort muß untersucht werden.

BAUME: Und wenn an jener Stelle nur manchmal Menschen oder andere Dinge versinken?

ANKLAM: Dann mußt du die Bedingungen angeben können, unter denen das passiert.

BAUME: Und wenn ich deine Fragen nicht bejahen kann?

ANKLAM: Dann lassen sich deine Behauptungen nicht nachprüfen und die alten Gesetze bleiben in Kraft.

BAUME: Aber ich habe den Vorgang doch wirklich erlebt!

ANKLAM: Lieber Schwager - wirklich ist, was nachgeprüft werden kann.

BAUME: Erregt denn sowas nicht deine wissenschaftliche Neugierde? Reizt dich nicht die Chance, eingefleischte Naturgesetze aus den Angeln zu heben?

ANKLAM: Finde den Ort und gib mir dann Bescheid.

Das kahle, hallende, schäbige Dienstzimmer

FRITZ: Ich glaube, daß der Plan gelingen wird. Ich habe alles so gemacht, wie du es wolltest. Baume war ganz konfus.

JANSON: Sehr schön. Du hast ihm also zu verstehen gegeben, daß du Bescheid weißt. Gut. Ich lasse jeden seiner Schritte überwachen. Er wird bestimmt versuchen, die Leiche wegzuschaffen, wenn er weiß, wo sie ist.

FRITZ: Er oder sein Komplize. Gestern war übrigens Dr. Anklam bei ihm. Meine Mutter erzählte es mir.

JANSON: Ich weiß. Auch er wird beschattet, wie alle, mit denen Baume zusammentrifft. Du natürlich auch.

FRITZ: Ich? Warum ich?

JANSON: Warum schon! Zu deiner eigenen Sicherheit!

FRITZ: Ach so. Ja, hoffentlich wird der Fall bald aufgeklärt. Im Ort munkelt man bereits von der Unzuverlässigkeit der Erdkruste. In der Fabrik gibt es Leute, die behauptet haben sollen, sie wären selber schon eingebrochen. Stell dir vor, was das bedeutet!

JANSON: Womöglich steckt Baume dahinter.

FRITZ: Man müßte das nachprüfen. Es wird höchste Zeit, Klarheit zu schaffen. Dem Gerede muß ein Ende gesetzt werden, denn davon hängt auch unsere Produktion ab. Wir verlieren dadurch noch mehr Arbeitskräfte. Die Leute bekommen Angst, in unserer Gegend zu leben.

JANSON: Spätestens Sonnabend wissen wir mehr. Dann schlagen wir zu.

Im Café

JANSON: Guten Tag, Herr Doktor, was für ein Zufall. Darf ich mich zu Ihnen setzen?

ANKLAM: Gern, Herr Janson. Nehmen Sie Platz. Herr Ober, noch einen Kaffee.

JANSON: Meinetwegen. Also - was halten Sie von der Geschichte?

ANKLAM: Von welcher Geschichte?

JANSON: Sie sind doch Baumes Schwager.

ANKLAM: Ach die Geschichte meinen Sie. Ja, was wollen Sie hören?

JANSON: Ihre Meinung als Wissenschaftler.

ANKLAM: Als Wissenschaftler habe ich dazu keine Meinung. Meine Meinung als Wissenschaftler bezieht sich nur auf die Wissenschaft. Ich kann Ihnen höchstens meine Meinung als Philosoph anbieten, als Philosoph mit wissenschaftlichen Kenntnissen. Ah, da kommt der Kaffee.

JANSON (rührt um, trinkt): Gut, als Philosoph, ist mir auch recht. Wissen Sie, Ihr Schwager neigt neuerdings wieder dazu, seine alte Geschichte für wahr zu halten. Von seinem Standpunkt kann ich das gut verstehen. Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

ANKLAM: Ja. Und als Philosoph, als Betrachter, habe ich zu ihm gesagt: was du annimmst, ist nicht unmöglich.

DANSON: Sprechen Sie jetzt als Philosoph oder als Schwager?

ANKLAM: Als Philosoph. Denken Sie daran, daß die Menschen vor ein paar hundert Jahren davon überzeugt waren, daß die Sonne um die Erde kreist. Dann kamen Wissenschaftler, die Experimente machten und Berechnungen anstellten, und sie fanden das Umgekehrte heraus. Seitdem kreist die Erde um die Sonne.

JANSON: Was niemand bezweifelt.

ANKLAM: Auch diese Ansicht ist heute überholt. Heute ist es eigentlich gleichgültig, ob man sagt, die Sonne kreise um die Erde oder die Erde drehe sich um die Sonne. Je nach den Rechnungen, die auszuführen sind, nimmt man dieses oder jenes an, jeweils das für die Berechnung einfachste Modell.

JANSON: Schön und gut. Aber ich wollte eigentlich von Ihrem Schwager sprechen und nicht über Sonne, Mond und Sterne.

ANKLAM: Ich wollte Ihnen nur die Relativität der Wissenschaft vor Augen führen. Sie ist nichts, an das man sich klammern könnte.

JANSON: Gut, gut. Sie sagten also zu Ihrem Schwager: „Was du behauptest, ist nicht unmöglich“. Ihrer Meinung nach hat also Ihr Schwager die Wahrheit gesagt?

ANKLAM: Meine persönliche Meinung spielt hier keine Rolle, denn sie entbehrt aller Beweiskraft.

JANSON: Auf Beweise kommt es mir jetzt nicht an. Was läßt sich schon beweisen! Aber Sie müssen doch eine persönliche Meinung haben. Sie sind doch ein urteilsfähiger Mann.

ANKLAM: Meine Meinung ist privat und unmaßgeblich.

JANSON: Na schön, wie Sie wollen. Meiner Meinung nach behauptet Ihr Schwager Unsinn. Und so denkt wohl jeder halbwegs normale Mensch. Und diese Meinung gilt solange, bis das Gegenteil erwiesen ist. Diese Meinung stützt sich nämlich auf Erfahrungen, die bisher nicht getäuscht wurden. Eine gegenteilige Erfahrung hat bisher nur Ihr Herr Schwager gemacht.

ANKLAM: Er ist der einzige, den wir kennen.

JANSON: Also ist er der einzige.

ANKLAM: Dennoch kann er die Wahrheit gesagt haben. Ein kleines Beispiel: Gestern meinten die Leute ihr Leben auf einer großen Scheibe zu verbringen, während heute niemand daran zweifelt, auf einer im leeren Raum kreisenden Kugel zu leben. Beides ist relativ. Wer will sagen, was die Menschen morgen für wahr halten?

JANSON: Die Leute leben solange auf einer Scheibe, bis ihnen jemand zeigt, daß das nicht stimmt. Zu solch einem Beweis reicht die Behauptung eines einzelnen nicht aus. Im übrigen - darüber brauchen wir uns wohl keine Gedanken zu machen.

ANKLAM: Vielleicht doch. Denn bisher hat sich ja noch niemand die Mühe gemacht, die Behauptung meines Schwagers nachzuprüfen.

JANSON: Weil sie zu abstrus ist. Wenn wir alles nachprüfen wollten, was erzählt wird... Warum prüfen nicht Sie es nach? Sie sind doch genau der richtige Mann dafür.

ANKLAM: Mein Schwager muß erst den Ort ausfindig machen, an dem die Geschichte passiert sein soll. Ich hoffe, Sie werden ihn nicht behelligen oder verdächtigen, wenn er mit einem Spaten und anderen Geräten in der Gegend herumläuft.

JANSON: Aber nein, wir von der Polizei nehmen großen Anteil an dem, was Ihr Schwager sucht. Wir würden uns freuen, wenn er etwas findet.

In Frau Kolpes Garten

FRITZ: Mutter, darf ich dir Inspektor Janson von der Kriminalpolizei vorstellen?

FRAU KOLPE: Freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Sohn erzählte schon von Ihnen.

JANSON: Ich freue mich ebenfalls, Ihre Bekanntschaft zu machen. Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie mir Ihren Garten als Beobachtungsposten zur Verfügung stellen.

FRAU KOLPE: Glauben Sie denn wirklich, daß der nette Mensch ein Verbrecher ist? Ich weiß nicht ...

JANSON: Das ist bis jetzt die einzige vernünftige Erklärung.

FRAU KOLPE: Muß denn die Erklärung unbedingt vernünftig sein? Kann nicht beispielsweise ein Wunder mit im Spiel sein? So etwas kann es doch geben!

FRITZ: Mutter! Wenn die Polizei an Wunder glauben würde!

JANSON: Wenn wir an Wunder glaubten, könnten wir unseren Laden zumachen.

FRAU KOLPE: Trotzdem könnte es eines gewesen sein. Daß es Wunder gegeben hat, ist bezeugt. Wunder können im Gegensatz zu den Naturgesetzen stehen.

FRITZ: Ob wir es mit einem Wunder zu tun haben oder nicht, werden wir schon bald erfahren. (Autogeräusche) Sieh mal, bei Baumes hält ein Auto. JANSON: Pst, das ist Anklam. Es geht anscheinend alles nach Wunsch. Er betritt das Haus. Übrigens stehen Wunder nicht im Gegensatz zu den Naturgesetzen. Da muß ich Ihnen leider widersprechen.. Wunder sind einmalig und daher nicht nachprüfbar. Sie haben mit Wissenschaft gar nichts zu tun. FRAU KOLPE: Trotzdem! Herr Baume ist so ein netter Mann...

FRITZ: Sei doch nicht so hartnäckig, Mutter!

JANSON: Halte dich jetzt bereit. Wenn Anklam und Baume ins Auto steigen, fährst du ihnen nach, aber vorsichtig. Bleibe im Hintergrund, wie besprochen. Ich komme, sobald ich kann. FRITZ: Alles klar.

FRAU KOLPE: Junge, begib dich nicht unnötig in Gefahr, dazu haben wir die Polizei. Sieh dich vor und gib mir Nachricht, wann alles vorbei ist.

FRITZ: Mach dir keine Sorgen, Mutter, ich passe schon auf. Da - sie kommen. Sie tragen Skier bei sich!

FRAU KOLPE: Hihihi, ich sag’s ja!

JANSON: Was bedeutet das? Skier? Im Sommer? Sie fahren. Los, hinterher. Ich telefoniere.

Im Auto

ANKLAM: Wo willst du nun eigentlich hin?

BAUME: Da ist schon das Feld. Jetzt sind wir gleich da. Bei dem dicken Baum dort kannst du anhalten.

ANKLAM: Du willst aufs Feld?

BAUME: Ja. Hier, deine Skier. Und mit dem Seil binden wir uns aneinander. Ach ja, beinahe hätte ich den Spaten vergessen.

ANKLAM: Ich binde mir keine Skier an die Füße. Was sollen die Leute denken! Ich bin ziemlich bekannt in der Stadt.

BAUME: Die Skier sollen unserer Sicherheit dienen. Damit wir nicht einbrechen.

ANKLAM: Unsinn, ich binde mir keine unter. Meine Lackschuhe würden das sowieso nicht aushalten.

BAUME: Aber das Seil knotest du dir unter die Schultern, damit ich dich im Notfall herausziehen kann. Darauf bestehe ich.

ANKLAM: Meinetwegen. Hoffentlich sieht uns niemand. Wir machen einen reichlich verrückten Eindruck.

BAUME: Vorwärts marsch!

Sie gehen durch Büsche, über, Sand und Gras. Wind

Einen Moment, hier muß ich mich orientieren ... Aha, nach rechts. Richtung Kirchturm.

ANKLAM: Elende Plackerei das! Mit dem Seil mitten durch‘s Gebüsch. Du glaubst also, daß du etwas finden wirst, was die Polizei nicht gefunden hat? BAUME: Hier irgendwo muß die Stelle sein. Wir müssen jetzt aufpassen. Aha, dort ist die krüpplige Birke - halt! hier ist es.

ANKLAM: Bist du sicher? Ich sehe nichts Ungewöhnliches.

BAUME: Ich bin ganz sicher. Da wo der zerwühlte Sand ist. Warte mal ...

FRITZ (bricht aus dem Gebüsch hervor): Aha, also hier ist die Stelle! Hier ist die Leiche vergraben. Die Falle ist zugeschnappt!

BAUME: Halt, bleiben Sie stehen! Um Gottes Willen, stehenbleiben! Kommen Sie nicht näher.

FRITZ: Das könnte Ihnen so passen. Die Polizei ist auch gleich hier. Ooh! Hilfe! Hiilfeee!

Anklam und Baume schreien, Sand knirscht, Fritz versinkt im Boden

ANKLAM: Halte fest, ich springe ihm nach.

BAUME: Bist du verrückt? Ich werde noch selber einbrechen!

Anklam springt. Der Inspektor bricht durchs Gebüsch

Inspektor, schnell, ziehen Sie!

JANSON: Wer hängt an der Angel?

BAUME: Werden Sie gleich sehen. Ziehen! Sonst erstickt er noch. (Sie ziehen) Geschafft!

ANKLAM: (stöhnt, atmet schwer) Ich habe ihn nicht mehr erwischt. Man kann sich im Boden überhaupt nicht bewegen. Schwimmen ist unmöglich.

BAUME: Die Erde ist zu dicht. Tja, Kolpe ist verloren. Ein Opfer seiner Ungläubigkeit. Ich hatte ihn gewarnt. Vor Zeugen, Herr Inspektor!

JANSON: Ich bin ganz durcheinander. Einfach nicht zu fassen! Gräßlich! Machen wir, daß wir wegkommen. Ich bin froh, wenn ich erst wieder feste Straße unter den Füßen habe.

BAUME: Man sollte das Feld absperren. Die Menschen müssen gewarnt werden. Womöglich gibt es mehrere solcher Stellen.

JANSON: Kein Wort an die Zeitungen!

BAUME: Aber die Menschen ...

JANSON: Lassen Sie das unsere Sorge sein. Ich hätte lieber einen Mörder entlarvt, als diese verrückte Entdeckung gemacht.

BAUME: Das glaube ich Ihnen gern.

JANSON: Sie werden sich wundern, was diese weiche Stelle in der Erde uns noch für Scherereien macht. Armer Fritz!

Schreibmaschinengeklapper. Anklam, im Auf- und Abgehen diktierend

ANKLAM: ... Zahlreiche Experimente erbrachten ein umfangreiches Zahlenmaterial, aus dem eine Differentialgleichung zweiter Ordnung herausgefiltert werden konnte. Die Beziehung der in ihr enthaltenen physikalischen Größen gibt die Bedingungen an, unter denen Körper in der Erde versinken können, sie ist also ein Naturgesetz. An diesem Ergebnis erfreue ich mich, wie sich ein anderer an einer Blume erfreut. Allerdings folgt daraus eine befremdliche, ja revolutionäre Einsicht. Die Voraussetzung für das richtige Verständnis und die Verwendbarkeit dieses Naturgesetzes ist nämlich die Annahme, daß die Gestalt der Erde eine Ebene ist. Erde ist demnach überall dort, wo Höhe und Tiefe aufeinanderstoßen. Nach oben und unten gähnen unergründliche Fernen. Ich möchte aber zur Beruhigung der Gemüter hinzufügen, daß für die praktische Orientierung nach wie vor die Kugelgestalt verbindlich bleibt... (Es klopft)

FRAU KOLPE (schließt eine Tür, nähert sich, räuspert sich): Herr Doktor Anklam.

ANKLAM: Warten Sie bitte einen Moment. (Fährt fort zu diktieren:) Soviel zu den theoretischen Überlegungen. Es hat aber auch praktische Auswirkungen gegeben. Im hiesigen Stadtrat beispielsweise wurden Überlegungen angestellt, die Entdeckung wirtschaftlich zu nutzen ...

FRAU KOLPE: ... Herr Doktor, es ist dringend.

ANKLAM: Lassen Sie mich wenigstens den Satz zu Ende bringen. (Fährt fort:) Man denkt an eine Abfallbeseitigungsanlage. Diese Pläne haben zu scharfen Protesten der Akademie der Wissenschaften und der Naturschutzverbände geführt, die dieses seltene Naturdenkmal ...

FRAU KOLPE: Entschuldigen Sie, aber ich habe es eilig.

ANKLAM: Also schießen Sie in Gottes Namen los!

FRAU KOLPE: Haben Sie schon die Zeitung gelesen? Nein? Warten Sie, ich lese es Ihnen vor: „Am Sonnabend gegen 22 Uhr kam es in der Innenstadt zu einem Streit zwischen dem 32jährigen X und dem 35jährigen Y, die beide unter Alkoholeinfluß standen. Im Verlauf der Auseinandersetzung rutschte Y auf einer Bananenschale aus und verstarb wenig später an den Folgen des Sturzes.‟

ANKLAM: Was geht mich diese blödsinnige Zeitungsnotiz an. Frau Kolpe, ich stecke mitten in einer dringenden Arbeit. Vielleicht ein andermal.

FRAU KOLPE: Warten Sie doch - das Wichtigste kommt erst. Ich habe erfahren, das der Verunglückte mein Sohn ist.

ANKLAM: Ihr Sohn? Ihren Sohn habe ich selbst im Erdreich versinken sehen, und zwar ebenfalls an jenem Sonnabend. Also, das muß eine Zeitungsente sein.

FRAU KOLPE: O nein, ich war im Leichenschauhaus und habe meinen Sohn identifiziert.

ANKLAM: Was sagen Sie da? Nein, Sie müssen sich irren. Was Sie behaupten, ist unmöglich.

FRAU KOLPE: Unmöglich?

Eine Eigenart von Kartoffelpuffern (1964)

1: Ich habe Hunger.

2. (Kartoffeln reibend): Einen Moment Geduld, es gibt Kartoffelpuffer. Du kannst den Tisch decken.

1. (mit den Tellern klappernd): Sehr wohl, meine Dame. (Pause)

2: Gibt es Neuigkeiten?

1: Nur unbedeutende.

2: In einer Zeitungsredaktion ist doch immer etwas los. So, das Backen kann beginnen. (es zischt) Ist dein Chef immer noch unzufrieden mit dir?

1: Ja, und leider mit Recht. Ich habe keine Einfälle mehr, mein Kopf ist hohl wie eine Glühbirne.

2: Kein Wunder, du ißt zu wenig. Gute Ideen kommen nicht von nichts. So, mein Herz, der erste Puffer - guten Appetit.

1: Danke, hm, der sieht lecker aus (isst). Und er schmeckt auch so. Aber ich werde mit dem Essen warten, bis du alle Kartoffelpuffer gebacken hast. Dann können wir gemeinsam essen.

2: Das wird nicht gehen. Wir besitzen nicht genug Teller. Du mußt schon allein essen. Da, Nummer zwei ist fertig.

1: Nicht genug Teller? Eins - zwei - drei Teller. Mehr brauchen wir nicht. Einen für dich, einen für mich, einen für die Kartoffelpuffer.

2: Du vergißt, daß wir für jeden Kartoffelpuffer einen besonderen Teller brauchen.

1: Aber Liebling! Wir können die Kartoffelpuffer doch übereinander legen.

2: Du sprichst, als hättest du noch nie Kartoffelpuffer gegessen.

1: Wieso? Zugegeben, es ist schon lange her.

2: Weil man Kartoffelpuffer nicht übereinander legen kann. Das heißt - man kann es schon, aber kein vernünftiger Mensch wird es tun.

1: Ich verstehe nicht, was du meinst.

2: Dann will ich dir mal ein kleines Hausfrauengeheimnis verraten. Halt, erst muß ich den Puffer umdrehen - so! Also paß auf. Man legt Kartoffelpuffer deshalb nicht übereinander, weil ... ja wie erkläre ich es am besten ... Also wenn ich auf einen Fleck im Anzug noch einen Fleck mache, wieviele Flecken hat dann der Anzug?

1: Immer noch nur einen. Aber ein Fleck und ein Kartoffelpuffer sind ganz verschiedene Dinge.

2: Zwei Flecken übereinander sind ein Fleck, hast du gesagt. Genauso ist es mit Kartoffelpuffern: mehrere Kartoffelpuffer aufeinandergelegt ergeben nur einen einzigen Kartoffelpuffer.

1: Liebling, du redest Unsinn.

2: Überzeuge dich selbst. Den einen Puffer müssen wir eben opfern. Nimm den Puffer aus der Pfanne und lege ihn auf den Puffer dort in deinem Teller.

1: Bitte, wenn du meinst. Ich weiß zwar nicht ... Nanu, das ist aber merkwürdig. Das ist sogar sehr merkwürdig.

2: Nur weil es dir neu ist. Ich kann nichts Merkwürdiges daran finden.

1: Also ... das kann doch gar nicht sein! Und doch, ich habe mit eignen Augen gesehen, wie der obere Kartoffelpuffer in den unteren hineingeglitten ist, wie in eine Flüssigkeit. Darüber sollte man mal nachdenken.

2: Was gibt es da schon nachzudenken? So etwas gibt es eben. Du kannst es auch nicht ändern.

1: In der Schule habe ich gelernt, daß da, wo ein Körper ist, kein anderer Körper sein kann.

2: Ich sehe nur einen Kartoffelpuffer.

1: Aber der andere Kartoffelpuffer kann nicht mir nichts, dir nichts, verschwinden. Wenn der untere wenigstens größer geworden wäre!

2: Siehst du, und deshalb lohnt es nicht, Kartoffelpuffer übereinander zu legen. Es ist unrentabel.

1: Es widerspricht der Physik!

2: Beschäftigt die sich mit sowas? Das kann ich nicht glauben. Schließlich verschwinden nicht nur Kartoffelpuffer. Denk nur an deine Manschettenknöpfe.

1: Ich wußte, daß du eine Gelegenheit finden würdest, sie zu erwähnen. Du kannst da ganz ruhig sein: die finden sich wieder an.

2: Wir haben alles um und um gesucht...

1: Außerdem ist das ganz etwas anderes.

2: Warum denn?! Die Kartoffelpuffer können sich ja auch irgendwo anfinden.

1: Was stinkt denn hier so!

2: O je, jetzt ist mir einer angebrannt. Das kommt von dem dummen Gerede!

1: Schnell, gib her!

2: Was willst du tun?

1: Ich lasse ihn verschwinden.

2: Lieber nicht! Vielleicht schmeckt der andere dann verbrannt.

1: Mal sehen, ob er verschwindet, wenn ich ihn senkrecht auf den anderen stelle. Tatsächlich - zack, weg ist er!

2: Iß endlich weiter. Dein Kartoffelpuffer ist sicher schon kalt.

1: Mir fällt da etwas ein: Was passiert, wenn ich ein Stück Papier auf den Puffer decke? Augenblick - nichts! So, und jetzt lege ich auf das Papier einen zweiten Puffer.

2: Du wirst solange herumspielen, bis wir nichts mehr zu essen haben.

1: Sieh her! Wenn Papier zwischen den Kartoffelpuffern liegt, kann keiner mehr verschwinden.

2: Logisch. Das Papier ist ja dazwischen.

1: Eben. Nun können wir auch zusammen essen. Ich werde Papier zuschneiden.

2: Aber bitte kein Zeitungspapier. In der Schublade findest du Pergamentpapier.

1: Mensch - mir kommt eine Idee bei dem Wort „Zeitungspapier“. Diese Geschichte werde ich in die Zeitung bringen - in ganz großer Aufmachung! Die Leute werden staunen, sie werden sich vor unserer Wohnung drängen. Und du bäckst Kartoffelpuffer - gegen Eintrittsgeld.

2: Wann du dich unbedingt blamieren willst ... Laß dich nur auslachen!

1: Aber das ist doch sensationell!

2: Olle Kamellen wärmst du auf, weiter nichts! Die Leute werden gähnen, wenn sie die Zeitung aufschlagen. Du berichtest eine Selbstverständlichkeit.

1: Komisch; daß ich noch nie etwas davon gehört habe.

2: Über Selbstverständlichkeiten spricht man eben nicht. Gab es bei euch zu Hause eigentlich nie Kartoffelpuffer?

1: Natürlich gab es die. Allerdings - wir waren drei Kinder, da lagen nie Kartoffelpuffer übereinander. Dafür aßen wir zu schnell. Das muß der Grund sein!

2: Bei uns war es ebenso. Ich habe diese Eigenschaft der Kartoffelpuffer erst während unserer Ehe kennengelernt.

1: Warum hast du mir nie etwas gesagt?

2: Warum sollte ich solche Belanglosigkeit erwähnen?

1: Vielleicht ist es keine Belanglosigkeit. Vielleicht verschwinden die Puffer nur bei uns!

2: Sei nicht albern! Sind wir Auserwählte?

1: Schon recht. Aber trotzdem ...

2: Außerdem würde es der Physik widersprechen, wenn hier Kartoffelpuffer verschwinden und woanders nicht. Nein, nein, das Verschwinden von Kartoffelpuffern ist ein ganz gewöhnliches Vorkommnis. Und nun wollen wir essen.

1: Ich gebe mich geschlagen. Du hast recht - wie immer.

Das Experiment (1971)

2: Guten Tag, Frau 1. Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen?

1: Vielen Dank, Herr Doktor. Sie hatten mich für heute herbestellt.

2: Schön, daß Sie da sind. Wie geht es Ihnen? Haben sich die Nerven beruhigt?

1: Ihre Tabletten haben zwar eine Besserung bewirkt, aber die Überreizung ist immer noch unangenehm spürbar. Harmlose Vorkommnisse erscheinen mir wie furchtbare Drohungen.

2: Wir müssen Geduld haben. Nehmen Sie die Tabletten weiter wie bisher, Ihre Ausdauer wird schließlich belohnt werden. Jetzt aber möchte ich Sie bitten, sich auf jenen Stuhl mit den vielen Hebeln, Knöpfen und Riemen zu setzen.

1: Was haben Sie vor, Herr Doktor?

2: Ein paar Messungen. Sie brauchen keine Angst zu haben.

1: Wird es lange dauern?

2: Die Schwärze der Nacht erwartet Sie - vielleicht ...

1: Mein Mann wird mich abholen, falls es inzwischen dunkel werden sollte.

2: Hoffentlich findet er Sie noch vor.

1: Was tun Sie? Sie fesseln mich?

2: In die Riemen sind empfindliche Meßinstrumente eingebaut. Sehen Sie dort die große Schalttafel und die vielen Registrierapparate?

1: Natürlich sehe ich sie.

2: Dort werden die Meßergebnisse angezeigt und festgehalten.

1: Was wollen Sie denn messen?

2: Die elektrischen Ströme in Ihrem Körper. So, nun noch den Helm auf den Kopf. Jetzt versuchen Sie sich zu bewegen.

1: (versucht es) Ich kann mich nicht von der Stelle rühren.

2: Das ist sehr gut, sehr gut.

1: Sie sehen mich so sonderbar an!? Ihre Augen blicken anders als sonst.

2: Das scheint Ihnen nur so. (Pause)

1: Fangen Sie doch an mit Ihren Messungen.

2: Ja richtig! Also, zuerst ein Vorversuch. Die Geräte müssen geeicht werden. Ich schalte ein.

1: Ich spüre nichts.

2: Sie fühlen nichts, aber die Maschine läuft. Die Zeiger tanzen, die Stifte schreiben.

1: Sie sehen mich wieder so merkwürdig an, so - triumphierend. Das macht mir Angst.

2: Ja, ich triumphiere. Dreißig Jahre Forschung finden heute ihre Erfüllung. Sie sind beteiligt an einem bedeutenden wissenschaftlichen Ereignis.

1: Ach so, mir wurde schon unheimlich. Ja, dann gratuliere ich Ihnen - als erster Mensch - zu dem erfolgreichen Test.

2: Glückwünsche aus Unwissenheit sind nichts wert.

1: Mag sein, aber ich wollte nur meiner Anteilnahme Ausdruck geben.

2: Freude aus Unwissenheit kann leicht in Grauen umschlagen.

1: Was soll das heißen?

2: Es soll heißen, daß Sie etwas freut, was Sie schon bald mit Entsetzen erfüllen wird.

1: Ich verstehe Sie nicht.

2: Meine Apparatur ist gebaut worden, um den Tod experimentell zu erforschen. Der Tod wird seinen Schrecken erst verlieren, wenn sein Geheimnis offenbar ist. Erst dann wird auch die Todesangst verschwinden.

1: Dieses schöne Ziel zum Segen der Menschheit soll mich entsetzen?

2: Ganz sicher.

1: Das verstehe ich nicht. Sie wollen, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Versuche an lebenden Wesen durchführen, denn nur Lebewesen können sterben. Weshalb sollte ich diese Versuche ablehnen? Überall auf der Welt sterben Tiere, damit der Mensch leben kann.

2: Mein Ziel werde ich nicht erreichen, ohne den menschlichen Tod studiert zu haben.

1: Sie wollen doch nicht etwa Menschen töten?

2: Warum nicht? Den natürlichen Tod werde ich schwerlich beobachten können.

1: Dann sind Sie ein Verbrecher.

2: Sind Verbrechen zum Wohle der Menschheit Verbrechen?

1: Sie wagen es, mir von solch ungeheuerlichen Plänen zu erzählen? Ich werde zur Polizei gehen. (Pause) Oh!

2: Sie werden meine erste Versuchsperson sein.

1: Machen Sie keine dummen Witze!

2: Es ist mein voller Ernst. Spüren Sie, wie Ihnen das Entsetzen durchs Rückgrat kriecht?

1: Ein Arzt als Mörder! Doch nein, meine überreizten Nerven ...

2: Mörder - was für ein häßliches Wort. Nur töten, töten.

1: Sie sind verrückt! Mein Gott, ein verrückter Arzt!

2: Ich bin keineswegs verrückt, meine Dame. Als Nervenarzt weiß ich das. Und ich bitte Sie, sich nicht so aufzuregen, denn das beeinträchtigt die Messungen.

1: Also - ich kann dieses Gespräch nicht ernst nehmen. Der Schock, den Sie mir eben versetzt haben, ist wohl ein Bestandteil Ihrer Heilmethode. Ja, so muß es sein, nicht wahr? An Toten gibt es ja auch nichts zu messen.

2: Da irren Sie. Tierversuche haben gezeigt, daß Messungen über den Tod hinaus sinnvoll sein können.

1: Was soll denn daran sinnvoll sein! Das sind Spielereien, und Spielereien zuliebe vernichtet man keine Menschenleben.

2: Reden Sie nicht abfällig von Dingen, die Sie nicht verstehen! Diese Experimente dienen dem Wohl der Menschheit, wie Sie selbst zugegeben haben, und insbesondere dem wissenschaftlichen Fortschritt, also dem Gegenteil von sinnloser Spielerei.

1: Nur wegen einer wissenschaftlichen Wahrheit wollen Sie sich einen Mord aufs Gewissen laden? Bitte lassen Sie mich gehen.

2: Soll ich dreißig Jahre umsonst gearbeitet haben? So wie Sie redet doch jeder in Ihrer Lage. In den letzten Wochen habe ich meine Patienten beobachtet, meine Wahl ist auf Sie gefallen. Bringen Sie ein bißchen Mut und Idealismus auf für eine gute Sache! Stimmen Sie Ihrer Tötung zu.

1: Wenn ich nicht gefesselt wäre, würde ich Ihnen jetzt in Ihre höhnische Fresse schlagen. Habe ich Ihnen je etwas zuleide getan?

2: Darum geht es nicht. Und verzeihen Sie, falls ich Sie irrtümlich beleidigt haben sollte. Machen Sie es mir doch nicht so schwer.

1: Aber mein Verschwinden wird auffallen. Mein Mann weiß, daß ich hier bin. Man wird Sie vor Gericht stellen. Ihr Vorhaben ist aussichtslos.

2: Sie halten mich wohl für dumm! Gewöhnen Sie sich an den Gedanken, daß es keine Rettung für Sie gibt. Sie tun so, als sei ein Menschenleben etwas besonders Kostbares. Ich gebe ja zu, daß Ihr Leben Ihnen kostbar ist. Aber Ihre private Meinung ist kein Maßstab. Wir zerdrücken Fliegen, machen Rattenversuche, schneiden Blumen ab, hacken Holz. Warum also sollte ich keine Menschen töten, wenn das der Menschheit nützt? Denken Sie an Kants kategorischen Imperativ, ich tue es auch.

1: Haben Sie den keinen Funken Mitgefühl?

2: Mitgefühl für die Menschheit ist die stärkste Triebfeder meines Handelns. Gerade weil ich die Menschen liebe, werde ich Sie töten. Wenn Sie weniger an Ihre kleinen Privatinteressen und mehr an das Wohl der Menschheit dächten, wenn Sie einmal absehen könnten von den Nachteilen, die Sie betreffen, dann würden Sie jetzt ruhig und gefaßt sein. Bedenken Sie - was ist Ihre Todesangst gegen die Todesangst von Milliarden von Menschen!

1: Es gibt noch keine Rechenmaschine, die Angst gegen Angst aufrechnen kann, und es wird auch keine geben ...

2: Sie sollen recht haben, aber jetzt wollen wir endlich anfangen.

1: Hiiiilfe! Hiiiilfe!! Mooord.!!!!

2: Halts Maul! (Schließt schnell das Fenster) Ihr Geschrei ist zwecklos, ich hätte das Fenster auch offenlassen können. Meine Nachbarn sind an so etwas gewöhnt. Schließlich bin ich Nervenarzt. Nanu!

Ein Mann dringt rasch vom Garten her in das Haus ein.

3: Hier rief jemand um Hilfe. Was ist passiert?

1: Gottseidank, daß Sie da sind! Der Mensch dort will mich töten. Binden Sie mich los, aber seien Sie vorsichtig.

2: Halt! Lieber Freund, Sie sind gewaltsam in mein Haus eingedrungen! Das lasse ich mir nicht bieten. Das kann Sie teuer zu stehen kommen!

1: Ich flehe Sie an, lassen Sie sich von den Drohungen nicht einschüchtern. Binden Sie mich bitte bitte los!

2: Weg von meinem Patienten! Sie scheinen nicht zu wissen, wo Sie sich befinden!

3: Wie es scheint, in einer Folterkammer.

2: Es scheint nur so. Gestatten Sie - Doktor Zwei, Nervenarzt. Sie befinden sich in meiner Praxis. (Zu 1:) Stimmt das?

1: Es stimmt. Er will mich aus wissenschaftlicher Neugierde töten, wie eine Ratte will er mich abstechen.

2: Sie hören ja selbst, daß die Patientin in einem exaltierten Zustand ist. Ihr Eindringen hat die Sache noch schlimmer gemacht.

1: Alles Lüge! Sehe ich aus wie eine Tollwütige? Rede ich irre? Sehen Sie die Instrumente dort: sie sollen meine Todeszuckungen aufzeichnen.

3: Das sieht man Instrumenten nur schwer an.

2: Es sind normale Meßinstrumente, die ich täglich in meiner Praxis verwende.

3: Wem soll ich glauben? Ich bin verunsichert.

1: Glauben Sie Ihrem Gefühl. Oder noch besser: holen Sie die Polizei.

3: Ja, das werde ich tun.

2: Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Die Polizei bringt Scherereien, aber sie wird auch für meine Genugtuung sorgen, Herr - äh, wie heißen Sie?

3: O, ich vergaß mich vorzustellen: Dr. Drei.

2: Dann sind wir wohl Kollegen?

3: Nicht ganz - ich bin Naturwissenschaftler.

2: Nun, Sie haften mir für Ihre unerwünschte Gegenwart: für Zeitverlust, für Unterbrechung der Behandlung, für frechen Einbruch.

3: Ich drang ein, um einen Menschen aus Lebensgefahr zu erretten.

1: Wenn Sie es doch bloß tun würden! Befreien Sie mich von dieser fürchterlichen Maschine.

3: Sie haben recht. Ich glaube, ich glaube Ihnen.

2: Sie glauben ihr, weil die Kranke glaubhaft spricht. Sie spricht überzeugend, weil sie glaubt, was sie sagt. Sie ist der Meinung, daß ich sie töten will, um ihren Tod mit Hilfe dieser Apparatur wissenschaftlich zu erforschen. Was halten Sie davon?

3: Eine faszinierende Idee, die mir, offen gesagt, nicht fremd ist.

2: Interessant. Und - haben Sie Ihre Idee verwirklicht?

3: Welche Idee?

2: Die experimentelle Erforschung das Todes.

3: Wo denken Sie hin! Das waren harmlose Gedankenspielereien. Und wenn sie mehr wären, dann würde ich Ihnen kaum etwas davon sagen. Oder vielleicht doch?

1: Was höre ich da? Ist es Wirklichkeit oder Traum? Spielen mir meine ruinierten Nerven wieder einen Streich? Die Gesichter sind so unwirklich scharf und plastisch, die Stimmen verzerrt, die Gedanken verzerrt...

2: Ja, Sie haben einen Rückfall erlitten. Achten Sie nicht darauf, was hier geredet wird.

3: Mir sind die Gefahren zu groß, die mit derartigen Experimenten verbunden sind. Außerdem entzieht sich der Zustand des Todes allen Messungen und jeder Deutung.

2: Woher wissen Sie das? Aufschluß können Sie nur durch das Experiment erhalten. Und die Gefahren sind geringer, als Sie denken.

3: Aber bedenken Sie, daß dabei Menschen getötet werden müssen. Damit schließen Sie sich aus der menschlichen Gemeinschaft aus - wie ein Henker. Die Gesellschaft kann so etwas nicht tolerieren.

2: Sie kann und sie wird - wenn ich Erfolg habe. Denn wir leben in einer Gesellschaft, die von einem wissenschaftlichen Weltbild geprägt ist. In der wissenschaftlichen Welt ist kein Platz für Moral, Gefühl und ähnliche Sentimentalitäten. Als Forscher bin ich nichts weiter als ein großer Kochtopf, in dem sich die fade, wäßrige Welt eindickt zu kräftigen Naturgesetzen und objektiver Realität. Natürlich - in meinem Privatleben habe ich auch Gefühle.

3: Sie haben schon recht, aber es ist eben schwer, sich zu spalten.

2: Das wissenschaftliche Ethos verlangt es!

3: Nein, nein, ich kann es nicht zulassen.

1: Ich danke Ihnen, Sie haben eine schreckliche Angst von mir genommen.

2: Ich will Frau Eins nicht ermorden, ich werde sie nicht anrühren gegen ihren Willen, denn das würde das Experiment beeinträchtigen. Wir werden die Dame überreden.

1: Dann brauchen Sie Ihre Zeit nicht länger zu verschwenden. Niemals werde ich mit meiner Ermordung einverstanden sein.

2: Jeder Mensch läßt sich zu allem überreden.

3: Sie sagten eben „wir“. Zwar halte ich Experimente mit dem Tod für einen aufregenden Gedanken, aber für aussichtslos. Ich scheide daher beim Überreden aus.

2: Ich denke, Sie sind Naturwissenschaftler?! Dabei scheint Ihnen die primitivste wissenschaftliche Grundhaltung zu fehlen. Sie kleben am Leim der Metaphysik. Ein echter Wissenschaftler denkt voraussetzungslos. Er hält sich an seine Messungen und sonst nichts.

3: Sie sagen mir nichts Neues. Aber ein Wissenschaftler muß auch die Grenzen seiner Möglichkeiten sehen. Der Tod ist eine Grenze. Tod sagt soviel wie Zusammenbruch des Organismus, Auflösung der Körperstruktur.

2: Darf ich eine andere Definition vorschlagen? Tod bedeutet die Veränderung der Körperstruktur. Jede Veränderung aber läßt sich messen, Veränderlichkeit ist ja die Grundlage der Wissenschaft.

3: Sie können natürlich den Fäulnisprozeß eines Körpers erforschen, doch was versprechen Sie sich davon? Lohnt der Aufwand?

2: Wenn der Tod nichts anderes wäre als die Auflösung der Körperstruktur, wie Sie eben sagten, dann wäre kein Unterschied zwischen dem Tod eines Menschen und der Erosion im Gebirge. Auch ein Gebirge verliert allmählich seine Struktur. Es stirbt also und ist tot.

3: Selbstverständlich ist der menschliche Tod mehr. Das Wesentliche ist das Verlöschen des Bewußtseins.

2: Wobei Sie voraussetzen, daß ein Gebirge kein Bewußtsein hat. Ich halte nicht das Verlöschen für wesentlich, sondern die Angst, daß es verlöschen könnte.

3: Die Angst ist berechtigt. Wir wissen ja, daß das Bewußtsein erlischt.

1: Nichts wissen wir.

2: Bravo! Ja, wir wissen nichts, und deshalb müssen wir nachforschen.

1: Aber nicht auf meine Kosten.

3: Daß das Bewußtsein erlischt, folgere ich aus dem Zustand eines Toten im Gegensatz zu dem eines Lebenden.

2: Wie folgern Sie das? Nach welcher Regel? Sie können höchstens folgern, daß das Bewußtsein in einen anderen Zustand übergeht, weil auch der Körper in einen anderen Zustand übergeht.

3: Dieser Zustand ist das Nichts.

2: Das ist durchaus zweifelhaft.

3: Sie glauben doch nicht etwa an einen unsichtbaren Schleim, genannt Seele, der den Körper verläßt und das Bewußtsein mitnimmt? Nein, nein, die Maschinerie stockt und geht entzwei. Sie ist unbrauchbar - tot.

2: So reden Sie, weil sie eine vorgefaßte Meinung vom Menschen haben. Sie vergleichen den Menschen mit einer Maschine. Nun gut. Aber eine Maschine ist entweder tot oder ein Instrument des Geistes, der sie benutzt. Sehen Sie, wie zweideutig derartige Spekulationen sind? Also besinnen Sie sich darauf, daß Sie Naturwissenschaftler sind. Was wir brauchen, sind Messungen, Fakten.

1: Was haben Sie denn davon, wenn Sie wissen, was der Tod ist? Angenommen, Sie finden heraus, daß er ein Durchgangsstadium ist, dann wird die Todesangst, die Sie beseitigen wollen, ersetzt durch die Angst vor dem Unbekannten, das danach kommt.

2: Es werden andere kommen und weiterforschen. Ich jedenfalls habe vor, Meßwerte der verschiedensten Bewußtseinszustände zu sammeln: Freude, Angst, Schmerz, Zufriedenheit und so weiter, und vor allem Sterben und Tod. Dann werde ich die Zahlen auswerten und Folgerungen ziehen.

3: Sie vermuten also, daß ein toter Mensch Ihren Meßinstrumenten Zahlenmaterial liefert, und daß Sie aus den Aufzeichnungen Ihrer Geräte Rückschlüsse ziehen können auf Bewußtseinszustände nach dem Tode. Die Idee ist gut, sie ist großartig!

1: Aber das ist doch Unsinn! Wie wollen Sie denn Rückschlüsse ziehen? Was wollen Sie denn vergleichen? Wollen Sie beispielsweise die gewöhnliche Uhrzeit zugrundelegen?

2: Gewiß.

1: Wenn sich nun aber im Sterben die persönliche Zeit von der objektiven Uhrzeit trennt? Dann stehen Sie da und haben etwas Wichtiges außer acht gelassen. Dann sind alle Ihre Folgerungen wertlos.

3: Was reden Sie da?

1: Nehmen Sie beispielsweise eine Zeitspanne von fünf Minuten. Für das persönliche Zeitgefühl kann das eine lange oder kurze Zeit sein. Im Leben laufen beide Zeitfäden gewissermaßen parallel, im Sterben aber könnten sie sich trennen. Von der objektiven Zeit her gesehen ist der Mensch tot, trotzdem aber kann er noch ein unendliches und zugleich begrenztes Zeitmaß persönlicher Zeit weiterleben.

3: Das ist ja ein fürchterlicher Verhau. Ein unendliches, aber begrenztes Zeitmaß, das ist Mystik.

1: Das sagen Sie, weil Sie nichts davon verstehen. Mein Mann hat mir alles erklärt.

2: Ich verstehe, was Sie meinen. Genauso wie die Summe niemals den Wert 2 erreichen kann, soviele Glieder man auch hinzufügt, genauso wenig kann die subjektive Zeit den Grenzwert des Todes erreichen.

1: Ja, so ungefähr hat es mein Mann auch gesagt.

2: Ihr Mann - mein Gott, es ist ja beinahe dunkel. Wir müssen anfangen!

1: Aber ich habe Ihnen doch eben erklärt ...

2: Das interessiert mich nicht. Mich interessieren Fakten, Fakten und nochmals Fakten.

3: Ich mache mit!

2: Sehr gut.

1: Ich will aber nicht sterben, bloß damit Sie Ihre Neugierde befriedigen können. Sie haben versprochen, mich nicht gegen meinen Willen zu töten.

3: Daran halten wir uns, nicht wahr, Herr Zwei?

2: Allerdings. Sagen Sie, Frau Eins: sind Sie für oder gegen die Abschaffung des Todes?

1: Dagegen. Wer den Tod beseitigt, nimmt dem Leben seinen Wert und Trost.

2: Sehr gut. Sie sind also mit Ihrem Tode einverstanden.

1: Aber nicht jetzt, und nicht durch Sie.

3: Das ist doch unwesentlich. Auf zwanzig Jahre kommt es nicht an. Bedenken Sie: das Universum ist Milliarden Jahre alt. Was zählen da zwanzig Jahre, die ein materielles System weiter besteht oder nicht.

1: Mir bedeuten diese Jahre etwas.

2: Jetzt werden Sie wieder sentimental. Aber egal, Ihre Vernunft hat uns ja prinzipiell zugestimmt. Also - gehen wir an die Arbeit. Ziehen Sie bitte die Vorhänge zu, Herr Drei. Zuschauer können wir nicht gebrauchen. Meine Dame, Ihre Theorie wird Ihnen bestimmt die Kraft geben, gefaßt zu sterben. Denn eigentlich sterben Sie ja nicht, wie Sie uns erklärt haben, sondern verlieren nur die Zukunft. Dafür bleibt Ihnen die Vergangenheit.

1: Haben Sie Erbarmen, Ich will nicht sterben. Überlegen Sie: was Sie auch messen werden, sie können es nicht veröffentlichen.

2: Lassen Sie das ruhig unsere Sorge sein. Schluß mit dem Geschwätz. Hier, Herr Drei, nehmen Sie diese lange Nadel. Wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe, führen Sie dieselbe ruhig ins Herz ein. Aber zuerst will ich die Stelle örtlich betäuben. Wir sind keine Unmenschen.

3: Ich soll die Nadel einführen? Machen Sie das doch selbst!

2: Ich muß die Geräte beobachten, Also los jetzt!

3: Ich kann nicht. Meine Hand zittert. Sie sieht mich so merkwürdig an.

2: Unsinn! Ihr Blick ist nichts weiter als eine geöffnete Pupille.

3: Ich kann nicht.

2: Geben Sie her, Sie Waschlappen. Ich werde Ihnen erklären, welche Hebel Sie bedienen müssen.

Es klopft, der Ehemann von 1 kommt herein

4: Guten Abend, meine Herren, entschuldigen Sie, daß ich hier so einfach eindringe.

2: Verdammt.

1: Rette mich, Karl, rette mich!

4: Meine Frau angeschnallt? Gefesselt?

1: Sie wollen mich töten!

2: Ich gebe Ihnen gleich Aufklärung. Aber wie konnten Sie unbemerkt ins Haus kommen? Ich hatte es doch verschlossen?

3: Das wird meine Schuld sein. Als ich kam, drückte ich die Tür auf.

4: Ja, die Tür war auf. Was ist mit meiner Frau los? Sie macht einen ganz verstörten Eindruck.

2: Ihre Frau hat eine Radikalkur über sich ergehen lassen müssen. Ich verspreche mir von dem starken Schock einen Heilungseffekt. Deshalb redete ich ihr ein, daß ich sie töten wollte.

4: Hatten Sie Erfolg? Meine Frau läßt sich nämlich nicht so leicht etwas vormachen. Davon kann ich ein Liedchen singen, hahaha.

2: Ich glaube, ich habe erreicht, was ich wollte.

1: Das war keine Behandlung, Karl, sondern blutiger Ernst.

2: Nun, was habe ich gesagt!

1: Wenn Sie Ihr Ziel erreicht haben, dann binden Sie mich doch bitte los.

2: Aber gern. (Macht 1 los)

4: Und ich dachte schon, meine Frau hätte ein Techtelmechtel mit Ihnen, weil es doch so lange gedauert hat. So, dann wollen wir gehen.

1: Und er wollte mich doch umbringen.

4: Beruhige dich, Liebling. Sieh die Sache mit Vernunft an. Auf Wiedersehen, meine Herren.

2: Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen, gnädige Frau.

Totensonntag (1973)

1: Hallo, welch ein Zufall. Was treiben denn Sie auf dem Friedhof?

2: Heute ist doch Totensonntag. Da gehe ich immer auf dem Friedhof spazieren. Anschließend esse ich im Friedhofscafé ein Stück Torte mit Schlagsahne.

1: Und Ihr Mann? Ach, der wird drüben im Kino sein, habe ich recht? Ich weiß doch, daß er ein Kinogänger war.

2: Mein Mann ist seit zwei Jahren tot. Ich komme gerade von seinem Grab.

1: Was Sie nicht sagen! Tot, sagen Sie? Davon wußte ich nichts. Nein, das tut mir leid. Fühlen Sie sich nicht sehr einsam?

2: Ich habe mich daran gewöhnt. Jetzt fühle ich mich recht wohl.

1: Zwei Jahre, sagen Sie. Mein Gott, wie die Zeit vergeht. Wie lange wird er denn noch tot sein, voraussichtlich?

2: Warten Sie mal, da muß ich rechnen. Genau kann ich es Ihnen nicht sagen.

1: Ich weiß. Die Berechnung der Zukunft!

2: Solange ich lebe ist er bestimmt tot. Natürlich auch, solange meine Kinder leben. Und deren Kinder, vielleicht.

1: Also etwa hundert Jahre.

2: Das könnte hinkommen.

1: Eine lange Zeit.

2: Wissen Sie, ich glaube, wenn man tot ist, kommt es einem auf hundert Jahre nicht an. Das ist das Gute daran. Was sind schon hundert Jahre!

1: So ist es. Noch eine kurze Weile, dann sind wir auch soweit.

2: Nur keine Ungeduld. Es kommt jeder dran.

Beim Arzt (1970)

2: Guten Tag. Bitte, was wünschen Sie?

1: Guten Tag, Herr Doktor. Ach wissen Sie, meine Wünsche können Sie ja doch nicht erfüllen. Hier ist mein Krankenschein.

2: Ja gut. Womit kann ich Ihnen helfen?

1: Sie sind sehr freundlich, aber ich bin es gewohnt, mir selber zu helfen. Wissen Sie, sich helfen lassen, das bringt nur Verpflichtungen. Dankbarkeit und so...

2: Ja, weshalb sind Sie dann gekommen? Sie haben mir eben einen Krankenschein gegeben. Ich nehme daher an, daß Sie krank sind. Da Sie hierher gekommen sind, nehme ich an, daß Sie Hilfe brauchen. Draußen warten noch mehr Patienten. Fassen Sie sich also bitte kurz. Also, welche Beschwerden haben Sie?

1: Entschuldigen Sie, aber eigentlich bin ich gar nicht krank. Daß heißt - ich weiß es nicht. Aber das ist wohl auch nicht so wichtig.

2: Nicht wichtig? Ob man gesund oder krank ist? Wer so spricht, muß gesund sein.

1: Nicht wahr, Herr Doktor?

2: Aber Sie sind gekommen!

1: Ich dachte mir, daß Krankheit eine Abweichung vom Normalzustand ist. Aber was ist normal? Ich bin gekommen, damit ich weiß, ob ich krank bin, ob Sie mich für krank halten, aus wissenschaftlichem Interesse sozusagen.

2: Nun gut. Wie kommen Sie auf die Idee, daß Sie krank sein könnten? Haben Sie Beschwerden?

1: Beschwerden - so kann man es nicht nennen. Ich will kurz schildern, um was es sich handelt.

2: Das ist lieb von Ihnen.

1: Zeitweilig überkommt mich, wie soll ich sagen, ein namenloses grauenhaftes Etwas. Daß ich es nicht benennen kann, gehört zum Grauen dazu. Es ist eine - eine Macht, die mich bedrängt. Ich kann sie nicht sehen, nicht hören, nicht greifen, aber ich nehme sie trotzdem wahr. Sonst könnte ich ja nicht von ihr sprechen. Diese Macht ist eine körperlose Masse und ich habe das Gefühl, daß sie dunkel ist.

2: Das ist schwer vorstellbar.

1: Ja, man muß es erlebt haben. Die Masse fließt auf mich zu, schwillt an und drückt mich zusammen. Aber das ist kein Druck von Fleisch und Blut, sondern ein körperloser Druck, eine entsetzliche Last. Ich stöhne, winde mich, verzerre das Gesicht, wehre mich, aber vergebens. Das Etwas ist stärker. Der Atem stockt mir, ich tauche in einen roten Äther.

2: Und weiter?

1: Dann stößt es mich in eine Kiste und klappt den Deckel zu.

2: Aha, sehr aufschlußreich.

1: Sie kennen diesen Zustand?

2: Was tun Sie in der Kiste?

1: Ich warte eine Weile, bis das Gespenst verschwunden ist, dann klappe ich vorsichtig den Deckel hoch und steige aus.

2: In welchen Abständen folgen diese Anfälle einander?

1: Anfälle? Das sind keine Anfälle, das sind Tatsachen.

2: Sie sagten, daß Sie von dem Gespenst angefallen werden.

1: Ach so, ja, diese Erlebnisse sind unregelmäßig.

2: Vielleicht nach besonderen Genüssen?

1: Nein.

2: Öffnen Sie bitte den Mund. Puls? Erlauben Sie, ich möchte unter das Lid sehen.

1: Meinetwegen können Sie mir auch unter die Fingernägel sehen. Nur schneiden dürfen Sie nicht. Aber was soll das? Ich bin gesund.

2: Das will ich ja feststellen. Vorhin sprachen sie davon, daß Krankheit ein Abweichen von der Norm ist.

1: Ja, schon. Halten Sie denn meinen Zustand für nicht normal? Ich habe Ihnen von Erlebnissen erzählt, die ich hatte, von wirklichen Begebenheiten.

2: Darauf kommt es nicht an. Aber regen Sie sich nicht auf. Wie steht es mit dem Blutdruck?

1: Ich rege mich nicht auf. Ich möchte nur wissen, was los ist.

2: Das kann ich Ihnen sagen. Ihre Erlebnisse sind selten, und deshalb sind sie unnormal. Und wenn sie quälend sind und womöglich immer quälender werden, dann nennen wir diesen Zustand krankhaft.

1: Dann sind auch die Astronauten krank.