Sand im Dekolleté - Micha Krämer - E-Book

Sand im Dekolleté E-Book

Krämer Micha

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Der 6. Fall auf Langeoog Hat die lustige Dame am Tisch des Kegelclubs „Die Wäller Rumkugeln“ gerade tatsächlich das Rubbellos mit dem Hauptgewinn von einer halben Million in ihrem Dekolleté verschwinden lassen, oder ist das alles nur ein Spaß? Als Heizungsbauer Martin von Schlechtinger die Leiche der Frau am nächsten Morgen am Langeooger Strand entdeckt, fehlt von dem Los jedoch jede Spur. Musste Erna Kolchowsky wegen des angeblichen Gewinns sterben, oder ist alles doch ganz anders? Die Inselpolizisten Lotta Dönges und Onno Federsen nehmen die Ermittlungen auf und nur eines scheint sicher: Es war Mord!

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Seitenzahl: 462

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8395-8

Micha KrämerSand im Dekolleté

Prolog

September 2020Insel Langeoog

Vielleicht hätte er doch auf seine Mutter hören und einen ordentlichen Beruf erlernen sollen. Die Zeiten, in denen man es in seinem Berufsstand noch zu etwas bringen konnte, waren ziemlich eindeutig lange vorbei. Dieses Internetz mit seinen gläsernen Menschen, in dem jeder alles über jeden wusste und in Erfahrung bringen konnte, empfand er mehr und mehr als einen Fluch als einen Segen. Allesamt Umstände, mit denen sein großes Vorbild Onkel Ludwig nie zu kämpfen gehabt hatte. Der Onkel, der liebe Gott hab ihn selig, war eine echte Koryphäe gewesen. Was der angepackt hatte, wurde zu Gold. Der hatte so viel Kohle beiseitegeschafft, dass er sich mit siebzig davon zur Ruhe hätte setzen können. Hatte er aber nicht. Ludwig hatte das, was er tat, geliebt. Er war es gewesen, der ihn damals an die Hand genommen und ihm alles an Handwerkszeug mit auf den Weg gegeben hatte, was man brauchte, um in ihrem Gewerbe Erfolg zu haben. Nach anfänglichen Fehlschlägen, aus denen er viel gelernt hatte, lief es dann auch richtig gut. Er hatte fette Jahre gehabt. Doch dann verließ ihn irgendwann das Glück. Es wurde immer schwerer, Kasse zu machen. Gespart hatte er auch nie. Es war töricht von ihm zu glauben, dass es immer so weitergehen würde wie zu den guten alten Zeiten.

Kurzum: Wenn er nicht bald einen ordentlichen Fisch an den Haken bekäme, würden sie ihm in seiner Hamburger Einzimmerwohnung nicht nur den Strom abstellen. Nein, die Leute, mit denen er sich eingelassen und von denen er sich Geld geborgt hatte, würden ihn komplett ausknipsen.

Fürs Erste blieb nur zu hoffen, dass sie ihn hier, wo er sich jetzt befand, nicht vermuten und auch nicht suchen würden. Hier auf der Insel zwischen den Touristen fühlte er sich sicher. Nie und nimmer kämen die Gorillas von Stalin Inkasso auf die Idee, ihn auf einer Insel zu suchen. Hinzu kam, was er überhaupt nicht vermutet hätte, dass die Arbeitsbedingungen in einem Ferienort, wie Langeoog einer war, fast optimal für jemand aus seinem Gewerbe waren. Dass er da nicht früher drauf gekommen war.

Er lehnte sich im Strandkorb zurück und blickte dem feurigen Ball nach, der am westlichen Horizont ins Meer tauchte. Doch, ja … er liebte seinen Job noch immer. Auch wenn es zuletzt nicht so gelaufen war wie geplant, so war er doch gerne ein Heiratsschwindler. Ansonsten hatte er ja auch, wie gesagt, nichts anderes gelernt.

Kapitel 1

Sonntag, 20. September 2020, 23:48 UhrInsel Langeoog

Zu Hause war es doch immer noch am schönsten, ging es Kriminaloberkommissar a. D. Hans Peter Thiel durch den Kopf. Natürlich gab es eine Menge anderer hübscher Orte auf dieser Erde, wo er gerade lieber wäre. Sein Lieblingsort zum Beispiel, wenn es denn so etwas gab, war die Amalfi­küste. Die steilen Klippen, an denen die Häuser klebten wie Schwalbennester, das Meer, die Ruhe. Ja, das gefiel ihm.

Die Insel Langeoog, auf der er sich gerade befand, war ebenfalls ein herrliches Fleckchen Erde und im Gegensatz zu Amalfi verstand er hier sogar die Einheimischen. Also zumindest im Ansatz und solange sie nicht in ihren norddeutschen Slang verfielen.

Was Hans Peter allerdings an der beschaulichen ostfriesischen Insel störte, waren die Sorte Menschen, die keine vier Meter hinter ihm an dem Ecktisch in der „Düne 13“ hockten, laut grölten, Witze erzählten, die gar keine waren, und die über Dinge lachten, über die man einfach nicht lachen konnte. Das Alleralleralleraller­schlimmste daran war jedoch der Umstand, dass er diese Rumkugeln, wie sie sich selbst nannten, schon seit der Abfahrt am Betzdorfer Busbahnhof ertragen musste. Nun gut, das kleine beschauliche Städtchen Betzdorf am Rande des Westerwalds konnte jetzt erst einmal eine Woche verschnaufen. So lange nämlich würde der Kegelclub „Die Wäller Rumkugeln“ das beschauliche Eiland in der Nordsee mit ihrem Frohsinn und guter Laune terrorisieren. Wie hatte er sich bloß von seiner Lebensgefährtin Inge Moretti zu diesem Ausflug überreden lassen können? Ihr schien das Ganze, im Gegensatz zu ihm, auch noch zu gefallen. Sie hockte da zwischen den Rumkugeln, trank Birnenschnaps und kicherte gerade wie ein Schulmädchen über eine Schote von Erna Kolchowsky. Hans Peter vermutete, dass man die Lache der beinahe sechzigjährigen Erna bestimmt auch noch auf einer der Nachbarinseln hören konnte. Bei jedem Lacher bebte ihr mächtiger Busen dermaßen, dass man Angst haben könnte, er würde ihr jeden Moment aus dem Dirndl hüpfen. Ja, Erna trug selbst hier an der See ein Dirndl. Das passte zwar nicht wirklich auf die Insel und zur maritimen Umgebung, aber man kannte es eben nur so an ihr. Erna trug immer und überall eines ihrer Dirndl. Dabei stammte sie gebürtig noch nicht einmal aus Bayern, sondern irgendwo aus dem Kohlenpott. Zumindest hatte er so etwas mal gehört.

Mit ein Grund für den geselligen Abend war die Tatsache, dass Erna Kolchowsky in ihren Jubeltag hineinfeierte. Morgen, also ziemlich genau in neun Minuten, würde Erna sechzig. Für die Rumkugeln ein gefundener Anlass zum Feiern. Wobei die vermutlich auch hier sitzen und trinken würden, wenn keines ihrer Mitglieder um Mitternacht Geburtstag hätte. Einen Grund zu feiern, das wusste Hans Peter nur zu gut, fand die Truppe immer.

„Wir hätten dann bitte noch eine Runde Birne für alle“, bestellte Oberrumkugel Hubert Bitterbach die nächste Runde.

„Jo, ich hät dann auch noch gern einen. Dat kann man hier heut ja nur im Suff ertragen“, orderte Käpt’n zur See a. D. Piet Dönges ebenfalls noch einen. Dieser alte ehemalige Kapitän der Langeooger Schifffahrt war ein Kerl nach Hans Peters Geschmack. So und nicht anders hatte er sich immer einen ostfriesischen Seemann im Ruhestand vorgestellt. Auf den ersten Blick ähnelte der Käpt’n, wie ihn hier alle lediglich nannten, einer zu heiß gewaschenen Version des Kerls aus der Fischstäbchen-Werbung. Piet Dönges wirkte nämlich irgendwie eingelaufen. Alles an dem alten Seebären war faltig und zerknautscht. Das fing bei seiner Mütze an, setzte sich im Gesicht fort und endete bei den ausgetretenen Schuhen. Hans Peter wurde in vier Wochen siebzig Jahre alt. Der Käpt’n könnte geschätzt sein Vater sein. Wobei er das nicht beschwören würde. Vielleicht lag es ja einfach nur an der salzigen Luft, dass dem die Haut so schrumpelig geworden war. Ähnlich wie bei einer salzigen, im Wind getrockneten Salami oder einer Mumie.

Martin von Schlechtinger, ein ehemaliger Kölner Heizungsbauer, der links von Hans Peter an der Theke saß, hatte ihm erklärt, dass auch er nicht genau wüsste, wie alt der Käpt’n tatsächlich sei. Er vermute aber mal, dass er von den Hundert nicht mehr weit entfernt sein dürfte. Darüber hinaus wusste Martin von einer weiteren herausragenden Fähigkeit des Alten zu berichten. Angeblich tauchte der Käpt’n, ähnlich wie ein Geist, immer und überall da auf, wo gerade auf der Insel etwas passiere. Vermutlich habe der Seebär im Unruhestand so eine Art siebten Sinn.

„Der taucht nämlich immer und überall auf, wo etwas los ist und wo man ihn überhaupt gerade nicht gebrauchen kann“, hatte Martin behauptet.

Der Alte sei auch immer bestens über alles informiert. Wer den Käpt’n kannte, brauchte auf der Insel weder Zeitung noch Radio.

Dieser Martin von Schlechtinger war, das hatte Hans Peter schon bemerkt, als er ihn vor einem halben Jahr kennenlernte, ein feiner Kerl. Ein kölsches Original, gestrandet auf einer Insel in der Nordsee. Martin arbeitete bei der Ferienhausvermittlung Hansen, mit deren Chefin Annemarie Hansen er ganz nebenher auch liiert war. Die beiden waren ein wirklich sehr angenehmes Paar. Sehr feine Menschen. Auch Annemaries Ziehsohn Krischan Dönges und dessen Frau Lotta schätzte Hans Peter sehr. Lotta war Inselpolizistin und eine gute Freundin von Inges Tochter Nina. Über diese hatten sie die netten Langeooger auch erst kennengelernt.

„Meine Jüte, wat hat die Olle eine Krümelschublad“, sinnierte der Kölner gerade und starrte mit offenem Mund zu Erna Kolchowsky, deren üppige Oberweite nach einem Lacher vor einigen Sekunden immer noch nachbebte.

„Die hat was?“, musste Hans Peter jetzt mal nachfragen.

„Na, su ’ne Krümelschublad … hier fürne su … da, wo der beim Essen die ganzen Krümel reinfallen tun … Wie sät man dann noch … Dekolldingens … oder so“, wiederholte Martin von Schlechtinger sich und deutete auf seine Brust.

„Ach, du meinst ihr Dekolleté“, verstand Hans Peter Thiel jetzt.

„Jo, su genau heißt dat wohl … glaub ich“, bestätigte Martin und nippte an seinem Bier.

„Na ja … also erotisch ist anders“, musste Hans Peter jetzt mal loswerden, obwohl er sich im Grunde von sexistischen Sprüchen eher distanzierte.

Martin sah derweil auf seine Uhr und seufzte.

„Dat Frau Annemarie hät aber heute auch wieder eine Ausdauer“, stöhnte er nun.

Hans Peter blickte zu Annemarie Hansen, die neben seiner Inge saß und ebenfalls mächtig Spaß zu haben schien.

„Morgen um halb sechs geht der Wecker“, sinnierte Martin weiter.

Tja, da hatte es Hans Peter deutlich besser. Er als Pensionär im Urlaub konnte morgen so lange ausschlafen, wie er mochte, oder zumindest so lange, wie Inge ihn ließ. Im Grunde waren sie beide ja Frühaufsteher. Außer natürlich, wenn es abends mal später wurde und noch hinzukam, dass Inge Alkohol konsumierte. Dies tat sie selten, weshalb sie auch dementsprechend eher wenig vertrug. Morgen, das wusste er jetzt schon, würde es ein sehr ruhiger Tag werden, an dem er so richtig entspannen konnte, während sie vermutlich die meiste Zeit mit einem Mordskater im Bett liegen würde.

„Zum Geburtstag viel Glück, zum Geburtstag viel Glück. Zum Geburtstag, liebe Erna … zum Geburtstag viel Glück“, stimmte mit einem Mal Oberrumkugel Hubert Bitterbach den Chor der Rumkugeln an, die ausnahmslos in das schiefe Geplärr einstimmten. Selbst Martin von Schlechtinger sang voller Inbrunst mit, während Hans Peter nur langsam fassungslos den Kopf hin und her bewegte. Peinlicher ging es doch nun wirklich nicht mehr.

„Wie schön, dass du geboren bist … wir hätten dich sonst sehr vermisst“, trällerte Hubert nun auch direkt den nächsten Geburtstagshit hinterher, der nun wirklich auf keinem Kindergeburtstag fehlen durfte. Hans Peter wandte sich ab und trank weiter Bier. Was könnte er jetzt schön daheim vor dem Fernseher sitzen. Seine Hand glitt unbewusst zu seiner Brusttasche, wo sich früher für gewöhnlich seine Zigaretten befunden hatten. Aber wie immer in den letzten vier Jahren griff er ins Leere. Daran, dass er nicht mehr rauchte, konnte er sich einfach nicht gewöhnen. Gerade an solchen Abenden wie heute vermisste er seine Filterlosen schon sehr.

„Sag mal, Hans, häst du schon mal so ein Rubbellos gekauft?“, riss ihn die Stimme von Martin aus seinen Gedanken.

„Was?“, verstand er gar nicht, was der Kölner von ihm wollte und sah von seinem Bierglas auf.

„Na su ein Rubbellos … wie dat, wat der Mann da dieser Erna gerade geschenkt hat“, erklärte der Kölner.

Hans Peter drehte sich wieder um. Erna Kolchowsky wedelte mit einem blau glitzernden, etwa postkartengroßem Los umher und drückte Heribert Wolf an sich. Der arme Kerl konnte einem fast leidtun.

„Danke schön, Heri, nein, wie lieb von dir“, freute sich die Jubilarin und drückte dem rüstigen Rentner einen dicken Schmatzer auf den Mund. Dem erschrockenen Gesichtsausdruck nach schien dieser nicht wirklich begeistert von der Kussattacke zu sein. Überhaupt kam nun Bewegung in die illustre Gruppe. Fast alle erhoben sich, um Erna zu gratulieren. Selbst Martin von Schlechtinger, der Erna ja erst seit wenigen Stunden kannte, reihte sich ein. Auf den nun frei geworden Barhocker zu seiner Linken sank derweil ein ziemlich geschaffter Heribert.

„Meine Güte, ist die Olle anstrengend“, stöhnte er.

Hans Peter stimmte nickend zu.

„Vielleicht gewinnt sie ja die halbe Million und wandert dann auf eine Südseeinsel aus“, überlegte Heribert laut. Hans Peter sah ihn von der Seite an. Er und Heribert kannten sich schon aus der Schule. Der alte Schulfreund grinste und bestellte dann bei der Bedienung noch ein Pils.

Keine fünf Minuten später hockte die Schar der Gratulanten wieder brav am Tisch und sah gebannt zu, wie Erna Kolchowsky mit dem Rand einer Fünfzigcentmünze das Gewinnfeld freirubbelte.

„Du musst das Feld mit den Barren freirubbeln. Wenn du eine Sieben findest, dann ist der Betrag, der danebensteht, dein Gewinn“, erklärte Walter Humberger, der neben Erna saß und dessen Kopf beinahe nun auf ihrer Schulter lag. Wie konnte jemand nur so neugierig sein, überlegte Hans Peter Thiel. Wobei … ja … irgendwie war er ja auch ein bisschen gespannt, was nun bei diesem Gerubbel zum Vorschein kam. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass das Los mit großer Wahrscheinlichkeit eine Niete war. Martin von Schlechtinger, der nun wieder neben ihm auf dem Barhocker thronte, gähnte.

„Hoffentlich is hier mal bald Schluss … mir muss ins Bett“, flüsterte er. Hans Peter nickte. Ja, das musste er auch langsam. Dennoch wollte er jetzt wissen, was auf diesem Los stand. Erna hielt nun inne und deutete auf das Stück Papier.

„Eine Sieben, da ist tatsächlich eine Sieben“, jubelte Walter Humberger begeistert.

„Los, Erna, jetzt das Feld daneben. Da steht dann, was du gewonnen hast“, drängelte er.

Erna blickte sich verstohlen um, ihr Kopf glühte rot wie eine Tomate. Dann rubbelte sie weiter, hielt dabei aber die Hand so, wie man es früher in der Schule gemacht hatte, wenn man partout verhindern wollte, dass der Banknachbar bei einem abschreiben konnte. Erneut hielt sie inne. Die Gespräche am Tisch waren verstummt.

„Nun zeig schon“, drängelte Walter als Erster.

„Ich habe gewonnen“, sagte Erna und blickte in die Runde, in der nun auch andere Stimmen laut wurden, Erna solle es zeigen.

„Natürlich hast du gewonnen. Da war ja schon eine Sieben. Aber wie viel, Erna? Wie viel hast du gewonnen? Zehn, hundert oder tausend Euro … oder etwa noch mehr?“, nervte Walter weiter. Ernas speckige linke Hand lag nun auf dem Los und verdeckte es. Als Walter sich anschickte, danach zu greifen, klatschte sie ihm mit der Rechten auf seine Finger und sah ihn dabei gespielt zornig an.

„Pfoten weg“, schimpfte sie. Nahm dann das Los vom Tisch, faltete es einmal in der Mitte und steckte es sich zwischen ihre Brüste ins Dekolleté, wo es zur Gänze verschwand. Eine Geste, die noch mehr Unruhe in der Rumkugelrunde aufkommen ließ.

„Jetzt los, Erna, sag schon“, hörte Hans Peter Inges Stimme in dem Gewirr.

Erna erhob sich und winkte zur Theke.

„Hallo, Herr Wirt … eine Lokalrunde bitte … aber von dem guten Birnenschnaps mit Schoko“, orderte sie. Der junge Mann hinter dem Tresen ließ sich das nicht zweimal sagen und begann sofort einzuschenken.

„Jo, einer geht noch, aber dann is Schluss“, fand Käpt’n Piet Dönges.

*

So mies, wie an diesem ansonsten wunderschönen Septembermorgen, war es Martin von Schlechtinger schon lange nicht mehr gegangen. Vom Meer her blies eine laue Brise, als er gegen sechs Uhr, so wie er es jeden Morgen tat, zum Strand radelte. Neben ihm her lief wie immer Lumpi, die Border Collie Hündin. Heute fuhr er nicht wie gewöhnlich erst ein Stück in Richtung der Melkhorndüne, wie die höchste Erhebung der Insel genannt wurde, sondern nahm den direkten und kürzesten Weg zum Strand. Das Radfahren fiel ihm schwer, und er sehnte sich einfach nur nach seinem erfrischenden morgendlichen Bad im Meer. Danach würde es ihm bestimmt besser gehen. Die Straßen und Gassen waren noch leer, als er sein Fahrrad am Beginn des Holzbohlenweges in der Nähe des „Seekrug“ abstellte und nur mit einem Handtuch unter dem Arm zu Fuß weiter zur Brandungslinie ging. Zum Glück war gerade Flut und der Weg zum Wasser daher nicht ganz so weit zu laufen.

Man musste das Wetter jetzt noch nutzen. Wer wusste schon, wie lange man morgens noch in der Nordsee baden konnte? Lange dauerte es nicht mehr, bis das Wasser zu kalt dazu werden würde. Von den Temperaturen des Sommers war die See bereits weit entfernt. Was Martin aber nicht störte. Was einen nicht umbrachte, machte einen nur härter, hatte sein alter Vater immer gesagt. Okay, früher war Martin auch eher so ein Warmduscher gewesen. Das gab er auch ganz offen zu. Allerdings hatte er gelernt, dass das Bad im kalten Meer ihm auch eine Menge Vorteile brachte. Seit er regelmäßig bei fast jedem Wetter morgens schwimmen ging war er nämlich nicht ein einziges Mal mehr krank gewesen. Seit gut und gerne sechs Jahren hatte er noch nicht einmal mehr einen Husten gehabt. Wie gesagt … was einen nicht umbrachte …

Etwa zehn Meter vor der Brandungslinie breitete er sein Handtuch auf dem feinen hellen Sand aus und begann dann sich zu entkleiden. Eine Badehose brauchte er morgens nicht. Zum einen, weil die meisten sich auf der Insel befindlichen Menschen ja noch schliefen und zum anderen, weil es ihm auch ansonsten ziemlich egal war, was andere darüber dachten. Wen es störte, dass er vor Tagesanbruch nackig baden ging, konnte ja auch wegschauen.

Er sog tief die salzige Luft ein und ließ seinen Blick über den Strand schweifen. Rechts von sich hörte er Lumpi bellen. Was die wohl wieder hatte, dass sie sich so aufregte? Martin hob die Hand über die Augen, da ihn die tief stehende Morgensonne blendete und er den Vierbeiner deshalb kaum sehen konnte. Lumpi befand sich etwa fünfzig Meter östlich von ihm, nahe der Brandungslinie, und machte ein Heidenspektakel. Irgendetwas Großes, das dort lag, schien ihr nicht zu passen. War da etwa ein kleiner Wal oder eine doch eher sehr große Robbe gestrandet? So jedenfalls würde Martin nicht in Ruhe baden gehen können. Lumpi hörte niemals einfach auf zu kläffen, nur weil er das so befahl. Die Hündin konnte sehr penetrant nerven, wenn sie nicht ihren Willen bekam. Da war sie ein wenig wie Martins bessere Hälfte Annemarie.

„Lumpi … hierher … bei Fuß“, rief er, obwohl er genau wusste, dass dies nichts bringen würde. Die Hündin wollte, dass er zu ihr kam und sich ansah, was da lag. Ein Verhalten, das man ja so auch aus den Lassie-Filmen und von Flipper kannte. Die hatten auch immer genervt, wenn sie ihrem Herrchen was sagen wollten. Es würde Martin nichts anderes übrig bleiben, als zu gehorchen. Eine verdrehte Welt war das, wo Menschen tun mussten, was ihre Hunde und Delfine wollten. Martin seufzte und setzte sich in Bewegung.

Beim Näherkommen erkannte er, dass der mutmaßliche Wal bekleidet war. Da Tiere bekanntlich keine blaugrünen Dirndl trugen, war ihm sofort klar, was oder wer da am Strand lag. Es war die Geburtstagsfrau von letzter Nacht. Die, die sie zur Geisterstunde noch hatten hochleben lassen.

Die Dirndlfrau schien zu schlafen. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht von Martin abgewandt.

„Lumpi … Schluss jetzt … hier bei Fuß!“, schimpfte er nochmals und wunderte sich, dass der brave Vierbeiner nun tatsächlich gehorchte und zu ihm kam.

„Ein feines Hundilein bist du … ja, ganz fein“, lobte er das Tier und tätschelte es. Die rundliche Frau mit dem Dirndl rührte sich nicht. Nun gut, er selbst hatte ja gesehen, was diese Dame in der letzten Nacht alles in sich hineingeschüttet hatte. So schnell, wie die trank, konnte der Köbes, wie man in seiner alten Heimat Köln den Kellner nannte, gar nicht nachschenken.

Martin würde sie am besten schlafen lassen. Er drehte sich um und wollte bereits wieder zu seinem Handtuch gehen, als ihm dann doch Bedenken kamen. Vermutlich ging es der Frau nach dem ganzen Alkohol nicht so gut. Klar sollte man Betrunkene erst einmal ausschlafen lassen. Doch in einer kalten Septembernacht an einem Nordseestrand konnte man sich ruckzuck etwas wegholen. Wer wusste schon, wie lange die bereits hier in der Kälte lag? Nein, er würde sie so nicht liegen lassen können. Er machte also noch einmal kehrt, ging zu ihr zurück und stupste sie sachte mit seinem Fuß an. Keine Regung.

Da musste er wohl rabiater werden.

„Hallo, Sie … Frau Erna … aufwachen“, glaubte er sich an ihren Vornamen zu erinnern und rüttelte sie an der Schulter. Nachnamen hatte Martin sich noch nie gut merken können. Vermutlich weil er fast jeden direkt beim Vornamen und mit „du“ ansprach.

„Hallo, Frau Erna. Du kannst hier doch nit einfach so liegen tun bleiben. Dat jeht ruckzuck und man tut sich bei der Kälte den Tod holen“, blieb er hartnäckig.

Noch immer regte sich nichts. Überhaupt fühlte die sich irgendwie komisch an. Ein übler Gedanke kam ihm. Er kniete sich hin, packte sie an Oberarm und Schulter und drehte sie mit aller Kraft auf den Rücken. Erna war steif und kalt wie ein Hähnchen aus der Gefrierkühltruhe im Supermarkt. Ihre Augen starrten ihn leblos an.

„Ja, verdamischt noch mal“, fluchte er und fühlte noch einmal vollkommen unnötig an ihrem Hals, an dem deutliche rote Striemen zu sehen waren. Wenn Martin hier eins und eins richtig zusammenzählte, dann gab es nur eine plausible Erklärung: Erna war erwürgt worden. Und das auch noch an ihrem Geburtstag. Was ja besonders schlimm war. Auf so einen Geburtstag, da freute man sich doch immer. Also er zumindest tat dies, weil ja dann alle Freunde zu Besuch kamen und es immer selbst gebackene lecker Torte von Frau Annemarie gab. Erna würde keine Torte mehr brauchen. Ein weiterer Gedanke kam ihm. Konnte es sein, dass er den Grund für den Mord an ihr bereits kannte? Er holte tief Luft, als wolle er im Meer untertauchen, nahm all seinen Mut zusammen und griff der Toten ins Dekolleté. Doch außer trockenem Sand, klammem Stoff und kalter Haut war da nichts zu ertasten. Das Rubbellos mit dem Gewinn war nicht mehr da, wo sie es gestern hingesteckt hatte.

„He Sie, was machen Sie denn da?“, kreischte plötzlich jemand dicht hinter ihm. Erschrocken zog Martin seine Hand zurück. Lumpi begann wieder zu kläffen.

Eine etwas fülligere Frau mittleren Alters in rosa­farbener Joggingkleidung stand keine drei Meter seitlich von ihm und gaffte entsetzt abwechselnd zwischen Lumpi, der toten Erna und Martin hin und her.

„Öhh ja … dat Frau Erna … ja … na … die ist wohl futsch“, stammelte Martin, erhob sich und machte einen Schritt auf die rosa Frau zu.

„Sie … Sie … haben Sie … Sie perverses Schwein Sie“, kreischte die jetzt auch noch.

Martin stutzte. Die Schrulle schien hier irgendetwas vollkommen falsch zu interpretieren.

„Ich? Nä … ich war dat nit. Die war schon so“, verteidigte er sich und merkte nun erst an dem angewiderten Blick des rosaroten Elefanten, der förmlich an ihm klebte, dass er selbst ja splitterfasernackt war.

„Sie Wüstling … Sie Perverser. Bleiben Sie, wo Sie sind“, schrie sie ihn weiter an.

„Aber jute Frau. Et is doch alles janz anders. Beruhigen Sie sich doch mal“, versuchte er die Lage zu deeskalieren und machte einen weiteren Schritt auf sie zu. In ihrem Gesicht stand pure Panik. Lumpi führte sich immer noch auf wie ein Berserker. Plötzlich zog die Rosafarbene ein Ding aus der Tasche ihrer Joggingjacke und machte einen Satz nach vorne. Als Martin begriff, was gerade abging, war es bereits zu spät. Der Stromschlag aus dem Elektroschocker auf seiner Brust war so heftig, dass ihm der Atem und vermutlich auch das Herz kurz stockten. Wie ein nasser Sack fiel er zu Boden. Lichtblitze zuckten vor seinen Augen, dann wurde es dunkel um ihn herum.

Kapitel 2

Montag, 21. September 2020, 6:52 UhrInsel Langeoog

„Ist das nicht ein herrlicher Morgen?“, fragte Onno Federsen seine bessere Hälfte Tine und blinzelte in die tief stehende Sonne.

„Ja, mal sehen, wie lange noch. Der Herbst steht ja quasi schon vor der Türe. Ich denke mal nicht, dass wir in diesem Jahr noch oft draußen frühstücken können“, säuselte Tine, blickte kurz zum Himmel und nippte dann an ihrem Kaffee.

Kaffee war noch nie so wirklich Onnos Ding gewesen. Doch jedem, wie es ihm gefiel. Wenn sie beide morgens, wie heute, auf der Terrasse hinter dem Haus beim Frühstück saßen, genoss er, während Tine ihrem Kaffee frönte, seinen Ostfriesentee. Natürlich, wie es sich gehörte, mit Sahne und Kluntjes, die gar nicht dick genug sein konnten. Dazu ein Croissant mit dick Butter und Schokocreme drauf. Das war zwar nicht typisch ostfriesisch aber dennoch sehr lecker und ein absolutes Muss für ihn.

„Liegt heute irgendwas Besonderes an?“, erkundigte er sich bei Tine und betrachtete die Kondensstreifen der Flugzeuge an dem ansonsten makellos blauen Himmel.

„Ja, heute ist Grill- und Spieleabend bei Annemarie und Martin“, wusste sie. Onno nickte versonnen. Wenn Tine es sagte, würde es wohl so sein. Er selbst besaß überhaupt keinen Terminkalender. So viele Termine hatte man als Inselpolizist auch gar nicht. Dienstlich kam es eben immer, wie es gerade kam. Wenn etwas passierte, musste man eben hin. Wenn nichts passierte … dann musste man eben nirgends hin. Verbrechen, Unfälle und was sonst noch in Onnos Zuständigkeit fiel, kündigte sich im Vorfeld selten an. Viel passierte hier auch gar nicht. Das Leben als Inselpolizist auf einer autofreien Insel würde Onno daher als eher ruhig bezeichnen. Um die Organisation und Einhaltung von privaten Terminen kümmerte sich Tine. Einen Kalender brauchte sie dafür ebenfalls nicht. Nein, seine bessere Hälfte hatte all diese Dinge in ihrem hübschen Köpfchen gespeichert.

„Annemarie hat für heute auch diesen Kriminalkommissar aus dem Westerwald und dessen Gattin eingeladen“, wusste Tine ebenfalls.

„Aha“, antwortete Onno lediglich. Was sollte er auch sonst dazu sagen? Er kannte diese Leute bisher nur vom Hörensagen. Martin, Annemarie, Lotta und Krischan hatten die beiden an Karneval bei einem Besuch im Westerwald kennengelernt. Annemarie und auch seine Kollegin Lotta Dönges schwärmten seitdem ständig vom Kölner Rosenmontagszug, den sie mit den Westerwäldern besucht hatten. Wenn es nach Tine ging, würde diese beim nächsten Mal glatt mit den Freunden dorthin reisen, um mitzufeiern. Onno hatte da keine Lust zu. Er glaubte nicht, dass Karneval sein Ding war. All die betrunkenen, feiernden Menschen. Nein, da blieb er doch lieber auf seiner Insel.

Das Läuten seines Diensthandys ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Er nahm das Gerät und schaute auf das Display. Es kam wahrlich nur selten vor, dass die Leitstelle in Wittmund ihn so früh morgens kontaktierte.

„Polizeihauptmeister Onno Federsen, Dienststelle Langeoog“, meldete er sich korrekt und lauschte dann, was der Kollege ihm zu sagen hatte. Dabei klappte seine Kinnlade immer weiter herunter. Wollten die ihn gerade auf den Arm nehmen?

„Verstanden, ich fahre sofort hin und überprüfe das“, erwiderte er, als der Kollege fertig war und legte dann auf.

„Ist was passiert?“, wollte Tine sogleich wissen.

„Das kannst du aber mal laut sagen, meine Liebe. Angeblich hat ein entblößter Sittenstrolch am Strand eine Frau ermordet. Eine andere hat ihn dabei überrascht und überwältigt“, wiederholte er grob, was man ihm gerade berichtet hatte und erhob sich eiligst. Sein Blick fiel auf die halb volle Tasse Tee auf dem Tisch. Schade drum, gerade jetzt, wo der süßeste Teil an die Reihe kam. Die auf dem Boden der Tasse aufgelösten Kluntjes waren doch das Beste an allem.

Während er sich nun im Flur hastig seine Schuhe anzog, rief er die Kollegin Lotta Dönges an. Es würde bei einem solchen Einsatz nicht schaden, sie als Verstärkung dabeizuhaben.

*

Lotta war gerade im Begriff das Haus zu verlassen, um zur Dienststelle zu radeln, als der Anruf von Onno sie erreichte. Da sie nicht weit weg vom Strand wohnte, ließ sie das Rad aber dieses Mal kurzerhand im Schuppen stehen und sprintete zu Fuß los. Im Sand käme sie mit dem Rad eh nicht gut voran, da machte es keinen Sinn, es mitzunehmen. Sie würde es später holen.

Angeblich hatte es einen Mord am Strand gegeben und der Täter war sogar noch vor Ort. So etwas hatte sie auch noch nicht erlebt. Ihr war klar, dass sie um einiges früher als Onno an der von der Leitstelle beschriebenen Stelle sein würde. Onno musste ja zuerst noch einmal quer durchs Dorf.

Im Laufen zog sie bereits ihre Pistole aus dem Holster. Bei einem Mörder wusste man ja nie, was im nächsten Moment passieren würde. Sicher war sicher.

Noch bevor sie den Strand erreichte, konnte sie es schon hören. Ein Hund bellte wie irre und eine Frau schrie, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Das Geschrei kam von einem der hintersten Strandkörbe ganz im Osten. Lotta glaubte kaum ihren Augen zu trauen. Hoch oben auf dem Korb hockte eine Frau im rosaroten Trainingsanzug und brüllte wie am Spieß, während eine tobende Lumpi immer im Kreis herum laut kläffend um den Korb flitzte.

„Erschießen Sie die Bestie … Sie müssen sie erschießen!“, brüllte die rosa Frau panisch.

Lotta senkte ihre Pistole und musste nun doch einmal erst einen Moment überlegen und Luft holen.

„Lumpi aus … bei Fuß!“, rief sie dann entschlossen.

Lumpi gehorchte aufs Wort. Nur Sekunden später hockte die Hündin brav neben Lotta im Sand.

„Super …Fein hast du das gemacht“, lobte sie das kluge Tier erst einmal.

„Ich verlange, dass Sie den Köter auf der Stelle abknallen … sofort. Vorher komme ich nicht herunter“, kreischte die rosa Frau auf dem Strandkorb.

„Ähm ja … nee … dann bleiben Sie am besten erst mal da oben … Verstärkung ist unterwegs“, beschied Lotta sie. Was sollte sie auch sonst sagen. Hunde abknallen ging gar nicht, und wenn die nicht runterkommen wollte, war das ihr Problem. Außerdem war sie sich sicher, dass Lumpi ihre guten Gründe gehabt hatte, die rosa Frau zu verbellen.

„Moin erst mal. Mein Name ist Polizeimeisterin Lotta Dönges. Haben Sie den Notruf abgesetzt?“, stellte sie sich jetzt erst einmal vor und damit auch gleich eine erste entscheidende Frage.

„Ja, das war ich. Ich habe diesen nackten Wilden dabei überrascht, wie er sich an einer Frau vergangen hat.“

„Ähm ja … welchen nackten Wilden meinen Sie genau?“, erkundigte sich Lotta, da sie irgendwie gar nicht recht verstand, was die rosa Tante auf dem Strandkorb meinte. Ein Gedanke kam ihr. Vielleicht war die ballaballa oder irgendwo entlaufen? Aber warum war dann Lumpi hier? Die Hündin war doch eigentlich immer da, wo Martin war.

„Da hinten ist es passiert“, rief die Rosafarbene und deutete in die Morgensonne. Lotta hielt sich schützend die Hand über die Augen und sah in die Richtung. Tatsächlich, in knapp fünfzig Meter Entfernung erkannte sie zwei reglose Gestalten im Sand liegen.

„Okay, ich geh mir das mal ansehen, Sie bleiben bitte hier“, wies Lotta an und marschierte dann zu den beiden Körpern. Lumpi lief vor ihr direkt zu der einen Person hin, die Lotta beim Näherkommen eindeutig als Martin identifizierte. Immer wieder stupste die Hündin ihr Herrchen an. Lotta fiel wahrlich ein Stein vom Herzen, als sie registrierte, dass Martin sich plötzlich bewegte.

„Auauaua“, hörte sie ihn stöhnen.

„Mensch, Maddin … was ist denn los? Ist alles in Ordnung mit dir?“ Lotta musste zugeben, dass sie ihren Lieblingsklempner noch niemals zuvor so derangiert gesehen hatte. Wobei sie ebenfalls gestehen musste, ihn zuvor noch nie nackt erblickt zu haben. Es gab wahrlich Schöneres. Dennoch versuchte sie dies auszublenden und ging neben ihm in die Hocke.

„Lotta, Mädchen. Jod, dat du da bist. Der rosa Elefant hat mich elektritisiert“, stammelte er wirr und deutete auf zwei blauschwarze Flecke auf seiner Brust. Sie hatte so etwas vor Jahren schon mal in ihrer ehemaligen Dienststelle, nach einem Übergriff mit einem Elektroschocker gesehen. Sollte Martin tatsächlich mit so einem Ding attackiert worden sein?

Lotta blickte kurz zu der fremden Frau in dem blaugrünen Dirndl, die sie aus leblosen Augen anstarrte. Das Gesicht war weiß wie Kalk. Da brauchte man kein Medizinstudium, um zu sehen, dass sie tot war. Das alles hier war sehr mysteriös und sie war nun sehr gespannt zu erfahren, was vorgefallen war.

„Martin, jetzt konzentrier dich mal und erzähl mir genau, was hier passiert ist?“, wies sie ihn an. Martin nickte, machte aber immer noch einen total verpeilten Eindruck. Lotta sah sich noch einmal um. Sie entdeckte in einiger Entfernung ein Handtuch, neben dem fein säuberlich einige Kleidungsstücke zusammengelegt waren.

„Warte, Martin, ich hol dir erst mal deine Klamotten“, sagte sie und rannte dann los, um die Sachen zu holen. So viel Zeit musste sein. Alles andere war ja auch nicht mit anzusehen. Bei dem Strandkorb mit der rosa Frau erkannte sie nun Onno. Na, Gott sei Dank war der Kollege endlich da.

Nachdem sie dem immer noch vollkommen neben sich stehenden Martin seine Kleidung gebracht hatte, leinte sie noch Lumpi an. Sicher war sicher. Nicht dass die Hündin noch einmal auf die rosa Tante losgehen würde.

„Also, Martin, was ist hier passiert?“, musste sie jetzt endlich und unbedingt wissen.

„Also dat war so: Dat Lumpi und ich, mir wollten, wie jeden Morgen, baden gehen tun. Dann haben mir dat Frau Erna da liegen gesehen … also dat Lumpi hat die zuerst gesehen und mir Bescheid gesagt. Ich bin dann zu der hin … zuerst hab ich ja gedacht, die tut schlafen. Dat die tot is, hab ich erst gesehen, als ich die mit dem Fuß angedeut und dann umgedreht han. Nä, Lotta, dat muss man sich mal vorstellen tun. An ihrem Geburtstag hat die arme Frau einer erwürgt“, schilderte er sehr theatralisch, was passiert war, während er sich anzog. Lotta dachte angestrengt nach und blickte anstatt zu Martin lieber hinaus auf die Nordsee. Sie hatte schon viel zu viel gesehen. Der Anblick von Martins nacktem Astralkörper würde sie vermutlich noch lange in ihren Albträumen verfolgen.

„Du kanntest die Frau?“, hakte sie jetzt erst einmal nach.

„Ja, natürlich. Die is doch eine von den Rumkugeln aus dem Westerwald. Mit denen waren mir, dat Frau Annemarie und ich, doch gestern abends noch aus“, berichtete er. Lotta hörte, wie die Verschlüsse der Latzhose zuklickten und drehte sich nun wieder zu ihm um. Bis auf die nackten Füße war Martin nun schon fast wieder der Alte. Wobei … nein. Irgendwie wirkte der heute stark mitgenommen.

„Und was hat jetzt die komische Tante in dem rosa Strampelanzug mit all dem zu tun?“, musste sie nun wissen. Martins Aussage, die habe ihn elektrisiert, kam ihr schon merkwürdig vor. Natürlich hatte sie schon gehört, dass manche Frauen auf Männer eine elektrisierende Wirkung hätten. Aber das konnte sie sich in diesem Fall überhaupt nicht vorstellen. Dazu diese komischen Male auf der Brust des Kölners.

„Der rosa Elefant? Dat kann ich dir sagen tun. Ich war gerade dabei, bei der Frau Erna … ähm ja … wie sät man … also, ich hatte bei der dat Herz getastet, ob dat noch geht. Plötzlich brüllt mich die bekloppte Alte an, ich soll aufhören. Ich glaub, die hat echt gedacht, ich hätte die Frau Erna erwürgt. Bevor ich mich vertu, hat die dann plötzlich so ein Elektrodingens in der Hand und gibt mir damit einen Stromschlag“, ereiferte Martin sich so dermaßen, dass Lumpi wieder zu bellen begann.

„Du meinst, die hatte ein Taser?“, glaubte Lotta nun zu verstehen.

Martin blickte sie verständnislos an.

„Wat für ein Teedings … Nein … ich meine so einen Elektroschocker. So, wie die den immer in den Krimis zeigen. Die brutzeln doch immer vorne so, wenn man da draufdrücken tut“, erklärte er, lief dann suchend um sie herum und bückte sich schließlich nach einem Gegenstand im Sand.

„Na, wer sagt dat dann … da is er ja. Den hat die olle Schrulle wohl verloren, als dat Lumpi mir geholfen hat. Die hätte mich ja sonst bestimmt auch noch umgebracht“, meinte Martin, hielt ihr das Teil hin und tätschelte dann den Hund.

Es war, wie Lotta bereits vermutet hatte, ein sogenannter Taser. Sie nahm das Teil und betrachtete es. Einige dieser Schocker durfte man in Deutschland tatsächlich führen. Erkennen konnte man das an einem Prüfzeichen. Das Gerät, das sie gerade in Händen hielt, besaß dieses Zeichen nicht. Außerdem würde ein zugelassenes Gerät bestimmt nicht so schwere Male hervorrufen, wie Martin sie auf der Brust hatte. Da war sie jetzt doch mal gespannt, was die rosa Tante dazu zu sagen hatte.

*

Onno war sich mittlerweile ziemlich sicher, dass Helmine Heckholz, die Frau in Rosa, nicht mehr alle Latten am Zaun hatte. Was die für ein Gezeter machte wegen ihrer zerfetzten Turnhose und den vier kleinen Löchlein in ihrer Wade – es war kaum auszuhalten. Mittlerweile bereute er sogar, ihr von dem Strandkorb heruntergeholfen zu haben.

„Gute Frau, jetzt beruhigen Sie sich erst einmal“, versuchte er einen weiteren Vorstoß.

„Nein, ich möchte mich nicht beruhigen. Ich möchte, dass dieser tätliche Angriff Konsequenzen hat und das Tier eingeschläfert wird“, blaffte sie zurück.

Noch bevor Onno etwas erwidern konnte, trat Lotta zu ihnen.

„Gehört dieses Gerät Ihnen?“, fragte die Kollegin die Furie.

„Ja, das ist meiner. Den hat mir mein Mann geschenkt. Den habe ich immer dabei, wenn ich alleine unterwegs bin. Als Frau ist man ja in diesem Land seines Lebens nicht mehr sicher“, antwortete sie schnippisch.

„Und damit haben Sie Herrn von Schlechtinger einen Stromschlag versetzt, sodass dieser gestürzt ist und das Bewusstsein verloren hat?“, forschte Lotta weiter und Onno begriff nun endlich, was vorgefallen war. Er hatte sich schon gewundert, dass Lumpi, dieses brave Tier, einfach so einen Menschen angefallen haben sollte.

„Wenn Sie dieses nackte Ungeheuer meinen …ja, den habe ich unschädlich gemacht“, war die rosa Frau nun tatsächlich auch noch stolz auf ihre Tat.

Onno mochte Lumpi, dass die Hündin die Touristin gebissen und ihr damit die Hose ruiniert hatte, konnte er nun sehr gut nachvollziehen. Wäre er ein Hund, hätte er das Gleiche getan. Immerhin hätte diese dumme Person seinen eh schon herzschwachen Freund Martin mit dem Ding umbringen können. Solche Fälle hatte es schon gegeben. Diese Elektroschocker waren lebensgefährlich.

„Sie möchten also Konsequenzen? Die können Sie haben. Ich verhafte Sie hiermit wegen des dringenden Tatverdachts der schweren Körperverletzung und des versuchten Mordes an Herrn von Schlechtinger. Dass der benutzte Elektroschocker Ihnen gehört, und dass Sie ihn gegen Herrn von Schlechtinger eingesetzt haben, haben Sie bereits zugegeben. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, dass alles, was Sie ab nun sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden kann“, klärte Lotta sie nun auf.

Frau Heckholz starrte die Kollegin mit offenem Mund an.

„Aber, ich habe mich doch nur verteidigt. Dieser Nackte wollte mich umbringen.“

„Nein, das wollte er nicht. Herr von Schlechtinger hat lediglich versucht, bei dem mittlerweile verstorbenen Opfer Erste Hilfe zu leisten, als Sie ihn attackiert haben“, schimpfte Lotta, legte der total perplexen rosa Dame Handschellen an und kettete sie damit an den Griff des Strandkorbes.

„Hast du schon den Arzt und die Kripo verständigt?“, erkundigte sich Lotta nun bei ihm und zog ihn ein Stück abseits. Onno war beeindruckt, wie sachlich und professionell die kleine Kollegin vorging, während die dingfest gemachte Frau Heckholz Gift und Galle spie.

„Nein, ich hatte ja noch kein Bild von der Lage“, gab er zu und setzte sich in Bewegung, um dies nachzuholen. Auf dem Weg zu der toten Frau klärte Lotta ihn über das Wenige, was sie wusste, auf. Während Onno dann die Kripo verständigte, rief Lotta bei Doktor Jan Martin Bechersheim an. Ein Arzt konnte wahrlich nicht schaden. Sowohl bei den Überlebenden als auch bei der Toten. Wobei er bei der Verstorbenen außer einen Totenschein auszustellen nichts mehr machen könnte. Aber auch das war wichtig.

„Und was machen wir jetzt mit Frau Heckholz?“, erkundigte er sich anschließend bei der Kollegin.

Lotta zuckte mit den Schultern.

„Um die kümmern wir uns später … wenn sie sich beruhigt hat.“

„Und wat is mit mir und dem Lumpi“, mischte Martin sich ein. Onno fand, dass der Freund irgendwie arg angeschlagen schien.

„Du setzt dich jetzt mal besser da vorne hin und wartest, bis der Doktor dich untersucht hat. So lass ich dich nicht gehen, mein Lieber. Mit Stromschlägen ist nicht zu spaßen“, belehrte er den Freund.

Zu seiner Verwunderung nickte Martin und schlurfte durch den Sand in Richtung des Holzbohlenwegs, wo er sich hinsetzte und seine Pfeife aus der Latzhose kramte. Heieiei … den guten Martin hatte es tatsächlich heftig aus der Bahn geworfen. Doch zum Glück lebte er noch. So manch einem hatten diese Teufelsdinger auch schon das Leben gekostet.

*

Annemarie Hansen saß frisch geduscht am Frühstücks­tisch und blickte auf die Wanduhr über der Küchentüre. Wo Martin bloß blieb? Normalerweise ging sie jeden Morgen zum Joggen an den Strand. Heute war allerdings nicht normal. Nein, sie musste zugeben, dass sie es letzte Nacht mit dem Alkohol doch ein wenig übertrieben hatte. Eigentlich trank sie nur selten und dann auch nur ein oder zwei Gläschen. Doch gestern am Abend hatte sie sich von den Besuchern aus dem Westerwald irgendwie mitreißen lassen. Diese Leute waren aber auch so etwas von gesellig und trinkfest – das kannte sie so in dieser Form gar nicht.

Heute Morgen, als der Wecker ging, war sie wie immer mit Martin aufgestanden und in ihren Sportdress geschlüpft, hatte die Laufrunde aber dann doch sehr verkürzt, da ihr einfach die Kraft und der Wille gefehlt hatten. Anstatt am Strand durch den Sand, war sie heute nur über die Straße bis zum Inselflugplatz und wieder zurück gelaufen. Besser als nichts.

Sie erhob sich, ging zur Terrassentür und sah zum Schuppen, neben dem Martin sein Rad für gewöhnlich abstellte. Es war nicht da. Annemarie konnte es nicht gut vertragen, wenn sie nicht wusste, wo Martin steckte. Es lag nicht daran, dass sie ihm nicht traute oder dachte, er könne sie betrügen. Nein, das war es nicht. Martin war auch so gar nicht der Typ Mann für Weibergeschichten. Er war rundum eine treue Seele. Nein, was sie beinahe um den Verstand brachte, war die Panik, ihn zu verlieren. Dass ihm irgendetwas zustoßen könnte. Sie wusste, wie gerne er morgens in der Nordsee baden ging. Dennoch war ihr nie wohl dabei. Sie hatte schon einmal einen Mann an die See verloren. Heiner Hansen, ihr erster Mann, war vor beinahe zwanzig Jahren vor ihren Augen bei einem Sturm von seinem Krabbenkutter in die Fluten gestürzt und ertrunken. Auch Martin hatte ihr schon einmal Kummer bereitet und war einfach so mit einem Herzinfarkt umgefallen. Zum Glück nicht ins Wasser, sondern beim Bier holen vor dem Getränkemarkt. Aber egal. Auf alle Fälle war es daher nicht verwunderlich, dass Annemarie Angst um ihn hatte. Sie trat in den Garten und sog die frische Brise ein, die der Wind von der See herantrieb. Sie vernahm mit einem Mal ein Geräusch, das sie gut kannte, das aber so gar nicht zu einem schönen Morgen passen wollte. Das Brummen eines Helikopters. Sie suchte den Horizont ab. Der Hubschrauber überflog die Insel vom Festland her kommend, drehte eine Runde über dem Strand und setzte dann zur Landung an. Annemarie erkannte, dass es der blau-weiße Hubschrauber der Polizei war. Aber was tat die Polizei vom Festland hier auf der Insel? Hastig rannte sie zurück ins Haus, überlegte kurz und entschied sich dann, bei Lotta anzurufen. Dummerweise ging sie nicht ran. Es bei Martin direkt zu versuchen, war sinnlos, da sein Gerät, wie zumeist morgens, auf dem Küchentisch lag. Als Nächstes versuchte sie es bei Onno.

„Polizeihauptmeister Onno Federsen, Polizeidienststelle Langeoog“, meldete der sich wie immer äußerst korrekt.

„Hallo, Onno, hier ist Annemarie … sag mal, hast du Martin gesehen?“, kam sie sofort zur Sache.

„Du, Annemarie … ja, hab ich … aber das ist jetzt ganz schlecht. Die Kollegen von der Kripo landen gerade mit dem Heli“, versuchte er sie sofort abzuwimmeln.

„Die Kripo ist da? Ist was mit Martin?“, erschrak sie.

„Nein, nein, Annemarie, mit Martin ist alles in Ordnung. Doktor Bechersheim kümmert sich um ihn. Du … ich muss jetzt aber Schluss machen“, erklärte er und legte dann einfach auf.

Annemarie starrte auf das Telefon. Sie zitterte. Hatte sie das gerade richtig verstanden? Martin wurde medizinisch versorgt? Hastig rannte sie in den Flur, schlüpfte in ihre Sneakers und saß nur Sekunden später auf ihrem Fahrrad, um an den Strand zu radeln. Sie konnte doch jetzt nicht einfach ins Büro fahren, um zu arbeiten. Die Ferienhausvermietung würde eben heute einmal ohne ihre Chefin auskommen müssen. Zum Glück hatte ihre Angestellte, Gina Marie, einen Schlüssel und konnte den Laden mittlerweile auch mal ganz gut ohne sie schmeißen.

*

Ein Tohuwabohu war das heute Morgen hier am Strand. Martin saß auf dem Holzbohlenpfad am Übergang zur „Düne 13“ und betrachtete das Schauspiel.

„Hui, dat is aber kalt, dein Dingens da“, fand er, als sein Schwiegersohn Doktor Jan Martin Bechersheim ihm das metallene Stethoskop auf die Brust drückte.

„Ja, ja … das sagt einer, der im September noch morgens in der Nordsee badet“, meinte dieser nur und lächelte. Martin atmete mehrmals tief ein und aus, wie er das schon als Kind von seinem Hausarzt gelernt hatte.

„Mensch, Schwiegerpapa, nicht atmen … wie soll ich denn so dein Herz hören?“, schimpfte der jetzt.

„Wenn ich nit atmen tu, dann sterb ich aber“, versuchte Martin jetzt erst einmal einen Scherz, hielt aber dann doch die Luft an.

„Hm … hört sich alles ganz normal an. Trotzdem wäre es mir lieber, wir würden noch ein EKG machen“, fand der Arzt.

„Papperlapapp, meiner Pumpe fehlt nix. Gib mir lieber wat gegen die Koppweh“, wies er den Jungen an.

„Hm … die Kopfschmerzen könnten natürlich auch eine Folge des Stromschlages sein“, überlegte Jan Martin.

„Nä, die kommen vom Schnaps und dem falschen Bier gestern Abend, dat letzte war wohl schlecht. Hier gibt et ja kein ordentliches Kölsch in den Kneipen“, musste er jetzt wieder einmal feststellen. Der Verzicht auf gezapftes Kölsch war das einzige Manko an einem Leben hier im Norden. An dieses etwas obergärige norddeutsche Bier würde Martin sich niemals gewöhnen können.

Der Arzt lächelte, kramte in seinem Koffer und reichte Martin dann einen Streifen mit Tabletten.

„Bitte schön, aber nicht alle auf einmal nehmen“, empfahl er, schloss seinen Koffer und klopfte Martin auf die Schulter.

„Kann ich jetzt nach Heim? Dat Frau Annemarie wartet bestimmt schon auf mich“, wollte Martin noch wissen.

„Klar, von mir aus kannst du jetzt gehen“, entließ ihn der Arzt und schlurfte dann durch den Sand in Richtung der rosa Frau, die, immer noch angekettet an einen Strandkorb, schimpfte wie ein Rohrspatz. Ausdauer hatte sie, das musste man ihr ja lassen.

*

Annemarie war wirklich sehr erleichtert, als Martin ihr auf Höhe des Restaurants Seekrug entgegenkam. Sein Blick war zu Boden gerichtet. Er schien in Gedanken versunken, während er sein Fahrrad schob. Lumpi war heute – anders als sonst – wie es sich gehörte angeleint und lief schwanzwedelnd neben ihm her.

„Ja, Gott sei Dank, da bist du ja“, musste sie erst einmal loswerden, als sie mit einer Vollbremsung nur Zentimeter vor ihm zum Stehen kam.

„Ach, Annemarie … grad wollte ich nach Heim kommen“, erwiderte er und schien über ihr Aufkreuzen doch sehr erstaunt oder gar erschrocken.

„Sag mal … was ist denn los mit dir? Onno hat gesagt, Jan würde nach dir sehen … ist wieder was mit deinem Herz?“, wollte sie jetzt unbedingt zuerst einmal wissen.

„Nä, Annemariechen … mir is gut. Alles bestens. Der Jan Maddin wollte nur auf Nummer sicher gehen wegen dem Stromschlag. Dat hät aber auch gezubelt … mein lieber Scholi … Uiuiui … da wurd mir aber ganz anders. Aber Unkraut vergeht ja nit“, winkte er ab.

„Wie … Stromschlag. Was ist denn passiert? Und was macht die Kripo auf der Insel“, verstand sie nun gar nichts mehr.

„Die Kripo ist wegen der Frau Erna da. Die ist nämlich tot. Ich hab die gefunden und der rosa Elefant hat mich dann su doll elektritisiert, dat ich aus den Latschen gekippt bin. Aber dat Lumpi hat mich beschützt und den rosa Elefant bis auf den Strandkorb gejagt“, faselte er sehr offensichtlich wirres Zeug.

„Martin … sag mal … hast du was getrunken?“, wollte sie wissen, obwohl sie schon vermutete, dass ihr Liebster bestimmt noch einiges an Restalkohol im Blut hatte.

Martin lehnte sein Fahrrad an das Geländer, trat zu ihr und nahm sie in den Arm.

„Nä, Annemariechen, ich bin wieder stocknüchtern. Aber wat hältst du davon, wenn mir jetzt nach Hause fahrn tun und ich dir dat Ganze beim Frühstück in Ruh erzählen tu“, schlug er vor.

Annemarie nickte. Die Idee an sich war gut. Sie wusste nur nicht, ob sie es bis nach Hause aushalten könnte, ohne gleich vor Neugierde zu platzen. Außerdem war sie sich, nach dem Wenigen, was er bisher gesagt hatte, nicht sicher, ob Martin nicht doch noch ärztlichen Beistand benötigte. Hieß es nicht auch, dass, wenn Menschen rosa Elefanten sahen, es um deren Geisteszustand kritisch stand?

„Martin … siehst du jetzt gerade immer noch einen rosa Elefanten?“, fragte sie vorsichtig.

Martin blickte sich um.

„Nä. Die Olle ist vermutlich noch am Strand und wird von Jan Maddin versorgt. Der Lumpi hätt wohl ein bisschen fest zugebissen … wat aber auch nix schaden tut. Die hatte dat ja verdient“, antwortete er nicht gerade beruhigend für sie.

Kapitel 3

Montag, 21. September 2020, 8:05 UhrHotel Klabautermann, Insel Langeoog

Hans Peter Thiel musste zugeben, dass die Übernachtung in einem Hotel mit Frühstücksbüfett schon etwas für sich hatte. Es war ein Service, den er sonst eher selten genoss, da er und Inge für gewöhnlich nicht in Hotels nächtigten. Nein, ihnen beiden war es am liebsten, wenn sie mit ihren eigenen vier Wänden verreisten. Ein Luxus auf Rädern, der ihn allerdings auch ein Vermögen gekostet hatte. Halb Europa hatten er und Inge bisher mit ihrem Reisemobil erkundet. Dennoch empfand er es heute als sehr angenehm, dass es nicht an seiner Inge hängen blieb, das Frühstück zu bereiten. Wobei die es heute Morgen tatsächlich eh nicht fertiggebracht hätte, so elend wie es ihr ging.

Obwohl er sich geschworen hatte, kein Mitleid mit ihr zu haben, tat sie ihm jetzt doch leid, wie sie da vorhin mit dem Mülleimer auf dem Schoß im Bad gesessen hatte. Ganz grün war sie im Gesicht gewesen. Sein Mitleid zeigen würde er ihr nicht. Er hatte sie mehrfach gewarnt, es doch langsamer anzugehen. Gerade dieser Vater Heins Birne war tückisch. Das Zeug schmeckte nämlich bei Weitem nicht so hochprozentig, wie es war. Keine Frage, der Stoff war wirklich gut. Hans Peter trank gelegentlich auch schon mal ein Gläschen davon. Der intensive Geschmack nach Frucht ließ die über 40 Prozent nur erahnen, und bevor man es sich versah, hatte man einen an der Lampe, wie er gerne zu sagen pflegte.

Inge hatte nur gelacht, seine Warnung in den Wind geschlagen und einen Schnaps nach dem anderen in sich hineingekippt, als sei das Zeug nur Limonade. Jetzt musste sie eben die Konsequenzen tragen.

„Moin, Hans Peter“, begrüßte sein alter Freund Heribert Wolf ihn.

„Guten Morgen, Heri. Ich hoffe, du hattest eine gute Nacht“, erkundigte er sich.

„Ja, alles gut. Nur ein bisschen kurz. Die erste Nacht im fremden Hotelbett ist eben immer ein wenig ungewohnt“, erwiderte der und deutete dann auf einen der drei freien Plätze an seinem Tisch.

„Ist da schon besetzt?“

„Nein, du hast noch freie Platzwahl. Inge kommt vermutlich erst später zum Frühstück … wenn überhaupt“, beschied er den ehemaligen Schulfreund.

„Na, da scheint deine Frau heute Morgen nicht die Einzige zu sein. Die haben ja fast alle ein wenig über die Stränge geschlagen“, fand Heribert und sah sich grinsend um. Tatsächlich war noch kein einziges Mitglied der Reisegesellschaft anwesend. Außer natürlich ihr Reiseleiter Ulli Schneider vom Reisebüro Seezeit. Der war aber gestern am Abend bei dem Gelage in der Gaststätte auch nicht dabei gewesen, sondern war noch einmal brav das Programm für den heutigen Tag durchgegangen. Zumindest hatte er das so behauptet, als die Rumkugeln ihn ansprachen, ob er abends nicht mitkommen wolle.

Hans Peter fand einen Reiseführer bei einer solchen Vereinsfahrt nicht schlecht. Einen, der, zumindest grob, sagte, wo es lang ging. So musste man selbst nicht schauen, was wann wo los war und lief auch nicht Gefahr, dass diese oberschlaue Oberrumkugel Hubert Bitterbach das Zepter übernahm. Hans Peter konnte Hubert nicht leiden. Wobei er, wenn er recht überlegte, eigentlich keinen aus der Truppe leiden konnte. Außer natürlich seine Inge und Heribert Wolf.

Für den Nachmittag, das hatte Ulli ihm heute Morgen schon gesteckt, war eine Inselführung mit der Pferdekutsche geplant. Hans Peter mochte Stadtrundfahrten. Wenn er mit Inge in irgendeine der Metropolen Europas reiste, war es immer das Erste, was sie unternahmen. Letztens waren sie sogar in Trier mit einer solchen Tour mitgefahren. Im Omnibus mit einem Studenten als Führer. Sehr zu empfehlen. Diese Reiseführer wussten immer sehr interessante Dinge zu berichten, die man, wenn man auf eigene Faust loszog, gar nicht erfahren würde. In Trier war es hauptsächlich um das Wirken der alten Römer gegangen. Höchst interessant das Ganze. Dennoch hatte er keine Vorstellung, was ihn heute erwarten könnte. Eine Rundfahrt mit einem Pferdewagen war selbst für ihn Neuland. Er war gespannt, was der Kutscher ihnen über mehrere Stunden erzählen wollte. Langeoog war ja nun einmal lediglich ein Dorf. Da konnte es doch gar nicht so viel darüber zu sagen geben. Römer hatte es hier vermutlich auch keine gegeben.

Am Abend würden Inge und er sich dann aus der Reisegesellschaft ausklinken. Annemarie Hansen und ihr Lebensgefährte Martin hatten sie beide zu einem Grillfest eingeladen. Ein weiteres Pärchen, der Mann war wohl der hiesige Inselpolizist, würde ebenfalls zugegen sein. Auch darauf freute sich Hans Peter. Zum einen, weil diese Annemarie und ihr Martin im Gegensatz zu den Rumkugeln wirklich sehr angenehme Menschen waren, und zum anderen, weil er Gespräche mit Kollegen immer schon interessant gefunden hatte. Nun gut, Hans Peter war nicht mehr im Dienst. Aber dennoch war er erpicht zu erfahren, was das Leben als Inselpolizist so mit sich brachte. Sehr aufregend stellte er sich dies nicht vor. Dennoch interessierten ihn die Gründe, warum man als Polizist solch eine Stelle annahm.

Heribert Wolf legte sein Mobiltelefon und den Zimmerschlüssel auf den Tisch und ging dann erst einmal zum Büfett. Hans Peter vertiefte sich derweil in den Inselkurier, den er an der Rezeption mitgenommen hatte. Die Ostfriesen kamen wahrlich auf sonderbare Ideen, wie er nach dem Lesen eines Berichtes über das Dünensingen feststellen musste. Die trafen sich tatsächlich einmal in der Woche irgendwo im Nirgendwo der Dünenlandschaft und sangen gemeinsam Lieder. Wobei die Idee, wenn er so darüber nachdachte, gar nicht so übel war. Vereine, wie die Wäller Rumkugeln, trafen sich ja ebenfalls einmal die Woche angeblich zum Kegeln und betranken sich dann. Nein, dann doch lieber singen in den Dünen. Wobei das für ihn auch nicht wirklich eine Alternative wäre, da er noch nie singen konnte. So etwas konnte man auch nicht lernen. Zum Singen brauchte man Talent, von dem er bestimmt keines besaß. Schon in der Schule war seine Lehrerin nicht böse darum gewesen, wenn er im Klassenchor einfach nur den Mund auf und zu gemacht und so getan hatte, als würde er mitträllern.

„Am Strand haben deine ehemaligen Kollegen abgesperrt. Irgendetwas muss da passiert sein. Sogar ein Hubschrauber ist gelandet“, berichtete Heribert, als er vom Büfett zurückkehrte und sah sich suchend auf dem Tisch um.

„Ein Hubschrauber? Am Strand? Woher weißt du das denn jetzt?“, erkundigte sich Hans Peter und legte die Zeitung beiseite.

„Ich konnte ja nicht mehr schlafen und war schon eine Runde spazieren. Glaube, da lag eine Person unter einer Plane … könnte aber auch ein Tier gewesen sein. Viel konnte man nicht erkennen. Die haben das nämlich ziemlich weiträumig abgesperrt“, wusste Heribert und blickte sich nun im Raum um.

„Suchst du was?“, erkundigte Hans Peter sich.

„Sag mal … haben die hier kein Maggi?“, antwortete der alte Schulfreund und setzte sich sichtlich enttäuscht hin.

„Wozu zum Teufel brauchst du Maggi?“