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Auf seiner "Nordseeumrundung zu Fuß" hat Reinhard Wagner bisher zwei lange Etappen hinter sich gebracht: 2016 von der Nordspitze der Shetland Inseln, über die Orkneys und entlang der schottischen Küste und 2018 entlang der englischen und niederländischen Küste. Im Frühjahr 2019 setzte er seinen Weg entlang der deutschen und dänischen Nordseeküste fort. Von dieser dritten, mehr als 1400 km langen Etappe, von Deichen, Stränden und Dünen, Schafen, kleinen Fischereihäfen und netten Begegnungen erzählt er u.a. in diesem Buch.
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Seitenzahl: 466
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Dieses Buch basiert auf meinem Internetblog, den ich einige Tage vor dem Start begonnen und während der langen Wanderung auf Küstenpfaden jeden Tag gewissenhaft fortgeführt habe.
Dieses Buch widme ich meiner Freundin Sabrina, der es gar nicht gefällt, für die Dauer meiner Wanderung ohne mich zu sein, mich aber immer wieder ziehen lässt.
"Geht ja gar nicht!", denken viele jetzt. Natürlich geht das in letzter Konsequenz nicht! Kein Mensch kann übers Wasser wandeln... bis auf die berühmte Ausnahme seinerzeit vor nahezu 2000 Jahren. Doch da wo es geht, kann man doch gehen! Also startete ich mein Projekt "Nordseeumrundung" im Frühjahr 2016 und nahm mir als erste Langstreckenetappe die schottische Nordseeküste vom äußersten Norden der Shetlandinseln, über die Orkneys bis zur schottisch-englischen Grenze vor.
Sowohl bei dieser Tour als auch bei der sich zwei Jahre später (2018) anschließenden Strecke entlang der englischen und niederländischen Küste folgte ich im Wesentlichen dem North Sea Trail, einem Fernwanderweg, der alle Küsten der beteiligten Nordsee-Anrainerstaaten erschließen soll. An dem von der EU geförderte Projekt sind die Länder Schottland, England, Niederlande, Dänemark, Deutschland, Schweden und Norwegen beteiligt. Im Endausbau wird eine Gesamtlänge von circa 5000 km erreicht. Auf einigen kurzen Abschnitten ist der Weg identisch mit dem Europäischen Fernwanderweg 9, vielerorts auch mit der North Sea Cycle Route.
In Frühjahr 2019 schloss sich meine dritte lange Etappe an, vielleicht könnte man sie mit "Vom Dollard bis zum Kattegat" betiteln. Jedenfalls startete ich in der Nähe der Emsmündung bei Leer/Ostfr. (meinem letzten Ziel), tippelte dann auf Stränden und Deichen und durch Dünen bis hoch in die nördlichste Landspitze, wo nach elf Wochen bei Skagen meine Tour endete. Und vielleicht schaffe ich in 2020 den Rest der Strecke entlang der schwedischen und norwegischen Küste bis Bergen auch noch!
01. März 2019
Hoffentlich geht das gut...!
Vier Wochen noch, dann sollen mein Wheelie und mein kleiner Tagesrucksack gepackt sein und alles parat liegen. Am 30. März will ich nach Leer/Ostfr. mit dem Zug anreisen und von dort meine Wanderung um die Nordsee fortsetzen. Doch noch nie war ich körperlich so wenig fit! Ich schleppe viel zu viel Kilo mit mir herum... ach ja, das Essen schmeckt zu gut und ich bewege mich einfach zu wenig. Aber das ist noch das geringste Problem! Vor gut vier Wochen wurde ich am linken Innenminiskus operiert - und "beschwerdefrei" fühlt sich anders an! Den größten Kummer macht mir aber mein fast gleichzeitig diagnostizierter Bandscheibenvorfall, der sich bis ins komplette rechte Bein auswirkt. Spritzen und Physiobehandlungen bringen auch nur in sehr kleinen Schritten Linderung. Krücken brauche ich zwar momentan nicht mehr... aber das wäre ja auch noch schöner! Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf! Ich bin schon öfter untrainiert und mit mehr oder weniger kleinen/großen Zipperlein losmarschiert. Doch gesundheitlich muss sich jetzt was tun, sonst werde ich nervös!
06. März 2019
Wieder dabei!
Während unserer gemeinsamen Dienstjahre im Schuldienst hat er mich immer belächelt - und das ist noch gelinde ausgedrückt. "Wie kann man nur wochenlang zu Fuß durch die Gegend latschen...!" Inzwischen ist er unterwegs mein "kongenialer" Partner! Mein Freund Dieter! In den letzten Jahren hat er mich immer wieder für jeweils ein paar Wochen auf meinen langen Wegen begleitet, körperlich mindestens so gut vorbereitet wie ich, mit der gleichen Schrittlänge, ausgerüstet mit der gleichen Zähigkeit und einem immer wieder erfrischenden Humor. Gemeinsam schmeckt uns unterwegs das Pausenbier, nachmittags das Zielankunftsbier und abends der Schlummertrunk. Sein Gehirn ist voll von einer umfassenden Witzesammlung, aus der er jeden Tag reichlich schöpft, doch es bleibt dort immer noch genug Platz für jede Menge politscher Statements, die er bei jeder passenden Gelegenheit abruft. Er geht selbst nach einem langen, anstrengenden Wandertag immer nochmal einkaufen, wenn dies nötig ist und ich überhaupt keine Lust mehr dazu habe und quatscht ohne Scheu unterwegs Leute an, ob wir mal eben auf ihrer Bank im Garten eine kurze Rast einlegen könnten. In der Planungsphase nimmt er mir zudem eine große Arbeit ab: Mindestens für den Streckenabschnitt, wo wir zusammen durch die Lande ziehen, organisiert er - nahezu mit Leidenschaft - unsere Quartiere, immer ausschauend nach preiswerten Möglichkeiten. Schön, dass du wieder dabei bist, Dieter!
13. März 2019
Kann nur besser werden!
So langsam wird mir angst und bange! Heute Nachmittag überzog eine weiße Decke von Hagelkörnern die Wiesen vor unserem Haus und jetzt höre und sehe ich schon wieder den Regen vor meine Fensterscheiben klatschen. In den letzten Tagen zogen schwere Stürme durchs Land und auch die nächsten Tage versprechen nicht unbedingt viel Gutes. Und wenn das hier schon so schlimm war bzw. ist, wie soll das erstmal in drei Wochen an der Nordseeküste werden? Kommen mir dann Fische und Schafe entgegengeflogen?
Doch wenn ich mich recht erinnere war es im letzten Jahr zu dieser Zeit zumindest im nördlichen England genauso. Dieter und ich haben damals die erste Woche auf glitschigen Pfaden und sumpfigen Wiesen verbracht, danach hatten wir wochenlang bestes Wanderwetter. Ich bin jetzt mal optimistisch und hoffe auf den totalen Wetterumbruch. Bleibt mir ja sowieso nichts anderes übrig!
16. März 2019
Die Last mit der Last
Lasten auf dem Rücken zu tragen gilt gemeinhin als eine akzeptable Möglichkeit, dieselben von A nach B zu transportieren. Daher habe ich auch schon oft genug mein Wandergepäck in meinen großen Rucksack verstaut und diesen dann relativ Wohlgemutes durch die Gegend geschleppt, durchs flache Land, Berge rauf und runter, auf breiten Feldwegen und engen Wald- oder Klippenpfaden, auf Stränden entlang und durch sandige Dünen. Nur... im Moment kann bei mir von "wohlgemut" nicht unbedingt die Rede sein. Ich freue mich zwar sehr auf die bevorstehende Tour, doch meine immer noch nicht ganz beseitigten Bandscheibenprobleme trüben etwas die Vorfreude.
Um mir unterwegs etwas Erleichterung zu verschaffen, war eigentlich geplant, mal wieder meinen Willi vom Speicher zu holen. Willi ist mein Pilgerwagen, den der Hersteller mit der Artikelbezeichnung "Wheelie - Trekkingwagen" versehen hat. (Man beachte, welch raffiniert klangähnlichen Spitznamen ich meinem oftmaligen Lastenträger gegeben habe!) Gerade diesmal bei den beständigen Flachlandetappen würde Willi wohl meinen Bandscheiben sehr guttun, könnte ich doch mein Gepäck hinter mir herziehen anstatt es mir auf den Rücken zu laden.
Doch Willi ist auch etwas sperrig! Die Anreise mit dem Zug nach Leer wäre vielleicht noch irgendwie gegangen, doch die Rückfahrt von der Nordspitze Dänemarks nach Hause ist praktisch nicht machbar. Die Zeiten, wo bei den Zügen oft ein schöner Gepäckwagen angehängt war, sind leider vorbei. In einem ICE wird selbst ein großer Koffer schon zu einem logistischen Problem. Rücksprachen mit verschiedenen Paketversand-Anbietern ergaben immer dieselben Resultate: zu sperrig, zu kompliziert, zu teuer. Fazit: Willi bleibt zu Hause auf dem Speicher und mein Rucksack wird heruntergeholt. Der steht nämlich schon erwartungsfroh daneben.
22. März 2019
Unterkünfte: Check!
Ich bin ja nicht so risikofreudig. Am Morgen einfach losgehen, so weit marschieren, wie es der Körper zulässt, dann nachmittags oder am frühen Abend an eine Unterkunftstür klopfen... und einen Korb bekommen... nein danke! Ich reserviere vor, auch wenn mancher meint, ich könne mich doch unterwegs verletzen, krank werden oder vielleicht sei es auch unterwegs mal irgendwo so schön, dass ich noch einen Tag länger verweilen möchte. Ja, ja... ich bin auf meinen wochenlangen Touren in den letzten Jahren nie richtig krank geworden, habe mich nie verletzt, habe immer Ruhetage eingeplant an Orten oder in Unterkünften, bei denen ich ahnte, dass sie mir besonders gefallen könnten. Andererseits habe ich aber während meiner Planungen zu Hause oft genug erfahren müssen, dass es bei einem angedachten Etappenort gar keine Unterkunft (mehr) gab oder sie war(en) mir entschieden zu teuer. Zu Hause am Schreibtisch kann ich umdisponieren, mir Alternativen suchen - und reservieren. Ich kann mich morgens sorglos auf den Weg machen und mir sicher sein, dass ich abends ein Dach über dem Kopf, eine heiße Dusche und ein warmes Bett habe und muss mich nicht nach z.B. 30 Kilometern und einem "Tut mir wirklich sehr leid, aber wir haben nichts mehr frei!" wieder auf den Weg machen in der Hoffnung, im fünf Kilometer entfernten nächsten Ort eventuell ein Bett zu ergattern... oder eben auch nicht!
Die Palette meiner Unterkünfte ist wieder bunt! Sie reicht von kleinen Holzhütten auf Campingplätzen über Privatzimmer, Pensionen, Bauernhöfe, Ferienwohnungen, Bed & Breakfast, kleinen Gasthöfen, Hostels, Jugendherbergen und 3-Sterne-Hotels bis hin zu einem Kloster-Refugium. Mal werden die Betten hart, mal auch (zu) weich sein, mal ist alles klinisch rein, mal bestimmt auch "rustikal", mal ist das Bad en-suite, mal über den Flur oder sogar ein Stockwerk tiefer, mal wird ein Frühstück kredenzt, mal aber auch nicht und ich muss den nächsten Bäcker suchen oder von noch vorhandenen Vorräten leben. Wo der Etappenort keine Unterkunft für mich bereithält, muss ich mit einem Bus oder der Bahn zur letzten Unterkunft zurück- oder zu der des nächsten Etappenzieles vorfahren. Aber das kenne ich von meinen letzten Touren.
25. März 2019
Auch mal radeln
Der Beginn meiner Tour rückt immer näher. In einer Woche um diese Zeit werden mein Freund Dieter und ich der Nordseeinsel Borkum einen Kurzbesuch abgestattet haben. Vielleicht tut mir exakt zu dieser Uhrzeit - im Moment ist es 16:00 Uhr - dramatisch der Hintern weh, denn wir wollen Borkum mit Fahrrädern erkunden. Dieter hat mit diesem Fortbewegungsmittel etwas mehr Erfahrung, bei mir liegen die letzten zurückgelegten Kilometer auf einem Drahtesel schon Jahrzehnte zurück. Sollte ich meine erste Ostfriesische Insel ohne nachhaltige Schmerzen am verlängerten Rücken überstanden haben, gebe ich mir in den nachfolgenden Tagen die volle Dröhnung. Wangerooge, Föhr, Amrum und Sylt sollen dann von mir auf dieselbe Art und Weise erkundet werden, genauso Hallig Hooge. Es wäre nicht schlecht, wenn der Wind immer von hinten käme, aber bei Rundtouren ist das wohl eher unwahrscheinlich.
27. März 2019
Rucksack: Check!
Der Rucksack ist gepackt! So ganz wohl ist mir nicht dabei, wenn ich daran denke, ihn ab Samstag für zweieinhalb Monate durch die Gegend zu schleppen. Wenn ich in mich hineinhöre, vernehme ich das leise, aber gehässige Gelächter meiner lädierten Bandscheibe. "Lieber Freund, bald wirst du spüren, was du davon hast!" Ich versuche, diesen Gedanken zu verdrängen. Die Frage ist, wie lange ich das kann!
Dabei ist in dem Rucksack noch nicht mal alles drin, was ich brauche. Was fehlt sind die Dinge, die ich erst in Dänemark brauche. Einen Schlafsack benötige ich erst in den Campingplatz-Hütten in den dänischen Dünen, die Wanderliteratur und das für Dänemark notwendige Kartenmaterial auch erst in ein paar Wochen. Meine Freundin Sabrina, die mich die letzte Woche auf deutschem Boden begleiten wird, hat sich netterweise bereiterklärt, mir diese Sachen dann mit hochzubringen. Genauso wie ein neues Paar Wanderschuhe, sollte das andere, das ich bis dahin an den Füßen hatte, zu stark in Anspruch genommen sein.
Bei der Zusammenstellung der Ausrüstung war einiges zu bedenken. Passen mir überhaupt noch die Hosen und T-Shirts vom letzten Jahr? Der Speckgürtel ist nämlich rasant gewachsen. Alles muss vorher nochmal anprobiert werden, damit ich unterwegs nicht eine unliebsame Überraschung erlebe. Ist die Reiseapotheke vollständig? Muss sie überhaupt vollständig sein? Kann ich nicht Gewicht sparen, wenn ich den Mut zur Lücke habe und nur bei Bedarf die nächste Apotheke aufsuche? Ich laufe schließlich nicht in der Wüste. Brauche ich zwingend einen Rasierapparat oder lasse ich üppig sprießen? Na ja, ich bin nicht auf Pilgerwegen, sondern auch auf einigen Strandpromenaden unterwegs. Vielleicht sollte ich daher das von mir so geliebte langsame Abgleiten in die Verwahrlosung nicht auf die Spitze treiben. Muss das kleine Dreibeinstativ für meine Kamera mit? Wie oft werde ich es wirklich nutzen... Das alles sind nur wenige der Fragen, die ich mir stelle. Die Erfahrungen aus den letzten Jahren - so hoffe ich - werden meine Entscheidungen in die richtigen Bahnen gelenkt haben. Jedenfalls steht der Rucksack jetzt zu 98 % gepackt am Fuße meines Bettes und wartet darauf, dass es endlich losgeht.
29. März 2019
Es kann losgehen!
Morgen ist es wieder so weit, meine diesjährige lange Tour kann beginnen. Alle Vorbereitungen sind gemacht, mehr Vorausplanung geht nicht. Jetzt bleibt nur abzuwarten, welche Überraschungen der Weg für mich bereithält. Körperliche Probleme wären da keine Überraschung, mit ihnen rechne ich eigentlich fast. Die Frage ist, wie stark sie ausfallen. Führen sie mich an meine Grenzen? Werde ich mir die Frage stellen müssen, ob das alles Sinn macht? Geschweige denn Spaß? Selbst eine ganz Reihe von Spritzen konnte bisher meine Bandscheibenschmerzen nicht beseitigen, vielleicht etwas lindern. Jetzt kommt ab morgen nochmal ein 11-Kilogramm-Rucksack dazu, bestimmt nicht die empfehlenswerteste Schmerztherapie. Jedenfalls nehme ich die CD meiner letzten MRT-Untersuchung mit, falls unterwegs mal ein Arzt einen Blick auf mich und meinen Rücken werfen muss.
Da ich mich mit diesen Schmerzen nun auch schon seit Monaten rumplagen muss, ist meine körperliche Fitness alles in allem eigentlich katastrophal. Alleine der anfängliche Muskelkater wird mich in den ersten Tagen zumindest morgens laut aufheulen lassen. Ich werde mir daher immer laut sagen müssen, dass eine Wanderung keine Luxuskreuzfahrt ist.
Meine Tageszeitung wird an die Adresse von Sabrina umgeleitet. So kann sie von ihrer Mutter schonmal gelesen und dann sauber in einem stillen Winkel des Hauses gestapelt werden. Den Stapel werde ich dann Mitte Juni wieder freudig in Empfang nehmen, um mich durch die Neuigkeiten der Welt durchzuarbeiten, wenn sie schon lange keine Neuigkeiten mehr sind. Der Kühlschrank ist so gut wie leer, morgen früh wird noch der letzte Müll vor die Tür gebracht, bevor mich Sabrina zum Bahnhof fährt.
Schön zu hören, dass zumindest in den ersten Tagen an der Küste das Wetter mitspielen soll. Bis auf einen möglichen Regentag Mitte der nächsten Woche ist sonniges bis leicht wolkiges Wetter vorhergesagt. Dass dabei an einigen Tagen auch ein kräftiger Wind wehen soll, stört mich überhaupt nicht. Damit muss man eben rechnen, wenn man an der Nordsee entlangwandert.
Ich hoffe, ich werde in den nächsten Wochen wieder die allabendliche Selbstdisziplin aufbringen, um mich meinen täglichen Berichten zu widmen. Auch wenn mir das Schreiben grundsätzlich viel Spaß macht, ist das - mit vielen Kilometern in den Beinen - nicht immer ganz einfach. Ich werde mir Mühe geben! Allen, die mich von nun an auf meinem Weg (fast) täglich begleiten, wünsche ich jedenfalls viel Freude beim Lesen!
30. März 2019
Da sind sie wieder!
Leer – Jemgum: 12 km
Ich bin wieder da, wo ich sein will. Unterwegs. Fast jeden Tag an einem anderen Ort. Heute bin ich erstmal in Jemgum, direkt an der Ems gelegen, zwölf Kilometer vom Zentrum Leers entfernt. In Jemgum sind Dieter und ich nochmal bei Gastgebern der Organisation "Vrienden op de Fiets" untergebracht, die wir noch von der niederländischen Etappe im letzten Jahr kennen. Die Vrienden (Freunde) beherbergen zu sehr günstigen Preisen Rad- und Fußwanderer für eine Nacht, in gepflegten sauberen Zimmern inkl. einem reichhaltigen Frühstück.
Ich liege hier in meinem Bett mit dem Tablet auf dem Bauch und versuche während des Schreibens krampfhaft meine Augen offenzuhalten. Dieter sitzt an einem kleinen Schreibtisch in der Zimmerecke und schreibt Emails an seine Freunde. Beide sind wir "mööd un satt", der Döner-Mann hat gut aufgetischt.
Die Anreise war problemlos. Nachdem in Köln das Umsteigen von der S-Bahn in den ICE Richtung Norddeich Mole geklappt hatte, konnten wir davon ausgehen, dass wir heute noch in Leer ankommen. Hinter dem Ruhrgebiet nahm das Land die Form an, wie ich sie in den nächsten Wochen meist erleben werde: Platt wie ein Wohnzimmertisch!
Während der Zeit im Zug schien die Frühlingssonne nahezu durchgehend. Je mehr wir uns aber Leer näherten, desto mehr schoben sich Wolken vor die Sonne. In Leer angekommen war ich trotzdem so mutig, nur im T-Shirt loszugehen. Unter dem Rucksack würde mir schon warm werden. Sofort fielen uns wieder die roten Backsteinbauten auf, der quadratische Turm des alten Rathauses überragt die umstehenden Häuser der Altstadt und sorgt schon von Weitem für Orientierung. Schräg gegenüber steht der Barockbau der Waage, der heute als Restaurant dient. Im vorigen Jahr habe ich genau hier, in den Polstermöbeln der Außengastronomie, die letzte Etappe meiner Nordseeumrundung (England/Niederlande) für beendet erklärt. Jetzt ging es genau hier wieder los.
Dieter und ich überquerten über dieselbe Brücke wie im letzten Jahr wieder die Ems und folgten ab Bingum dem linken Emsdeich. Ein altvertrautes Bild stellte sich bald ein: Schafe mit ihren Lämmern bevölkerten den Deich, grasten auf demselben, überließen aber ihre Verdauungsbomben dem asphaltierten Deichunterhaltungsweg, sodass Radler und Wanderer zum permanenten Slalom gezwungen waren. Ich habe das fast vermisst!
Um Punkt 18 Uhr kamen wir bei den Vrienden in der Lange Straße an. Der Empfang verlief relativ zügig, denn unsere Gastgeber wollten noch zu einer Vernissage. "Wenn Sie rausgehen oder auch wieder zurückkommen, nehmen Sie den Seiteneingang, der steht immer auf."
31. März 2019
Hilfsbereite Ostfriesen
Jemgum – Emden: 20 km
Heute Morgen können wir lange schlafen, Frühstück gibt es erst um 8.30 Uhr. Es ist nicht üppig, aber ausreichend. Unsere Gastgeberin empfiehlt uns dringen, etwas von ihrem selbstgebackenen Brot mitzunehmen, zusätzlich gibt es noch einen Apfel und eine Mandarine. Das ist ihre gute Tat am heutigen Sonntag. Ihr Mann lässt bald eine weitere folgen.
Dazu muss man wissen, dass es bald eine kleinere Katastrophe gegeben hätte. Unsere eigentliche Absicht war, heute auf der linken Emsdeich-Seite bis Ditzum entlangzugehen und dort die kleine Emsfähre nach Petkum zu nehmen. Wenige Tage vor unserem Start sagte mir eine innere Stimme, ich solle mich doch nochmal im Internet vergewissern, ob mit der Fähre auch alles klargeht. Nichts geht klar! Dieter und ich wollen die kleine Fähre genau zu der Zeit nutzen, als sie kurz vor Beginn des Sommerfahrplans in einer Werft nochmal überprüft und für die Sommersaison fahrtauglich gemacht wird. D.h. ganz konkret, wir kommen von Ditzum nicht wie geplant auf die andere Emsseite. Und da liegt Emden nun mal.
Glücklicherweise löst sich dank unserer Vrienden-Gastgeber das Problem schnell. Schon ein paar Tage vorher hatte Dieter telefoniert und von unseren Gastgebern die Zusage erhalten, uns mit ihrem Wagen durch den nur wenige Kilometer südlich von Jemgum gelegenen Emstunnel zu fahren. Gesagt und getan, nach zehnminütiger Fahrt werden wir auf der anderen Seite rausgesetzt und der erste richtige Wandertag kann beginnen.
Er beginnt bei leicht bewölktem Himmel, recht niedrigen Temperaturen und manchmal etwas auffrischendem Wind. Alles so, wie es sich für eine Nordseewanderung gehört! Genauso gehört es sich, dass wir am Deich entlanglaufen... besser gesagt... anfangs laufen wir über die Deichkrone. Diese stellt sich aber nicht als die vorteilhafteste Wegführung heraus, denn die Schafe haben sie zertrampelt und für uns etwas schwergängig zurückgelassen. Gerade bei meinen gegenwärtigen Rücken- und Knieproblemen ist das unangenehm. Für Dieter kommt noch der "stürmische " Wind dazu und daher verlassen wir den Deich und setzen unseren Weg auf dem Radweg fort, der die leichtbefahrene Straße parallel zum Deich begleitet.
Ich bin froh, als ich nach etwa sieben Kilometer Asphalttapsen bei einem kleinen Haus eine Bank entdecke. Dieter ist sofort mit einer Rast im Windschatten und von der Sonne beschienen einverstanden, bemängelt jedoch etwas den nicht mehr ganz neuen Zustand der Bank. In Ermangelung einer anderen Sitzmöglichkeit setzt es sich dann aber doch neben mich. Kaum haben wir unsere Beine etwas von uns gestreckt und unsere Gesichter genussvoll der Sonne zugewandt, kommt ein gewaltiger Mensch um die Hausecke und strahlt uns an. Besorgt bittet er uns, wir mögen doch bitte diese Bank verlassen, sie sei zu instabil und er möchte nicht, dass sie unter unserer beider Last zusammenbricht. Er lade uns aber herzlich ein, mit ihm um die Hausecke zu kommen, dort stehe eine neue (Plastik-)Bank für uns bereit. Wir folgen ihm bereitwillig - müssen aber leider sofort feststellen, dass hier die Schattenseite des Hauses ist und der Wind um die Ecken streicht. Wir setzen uns trotzdem und nehmen noch den Ratschlag entgegen, in Petkum das "Café Kuhstall" zu besuchen. Nicht weit von hier gäbe es aber auch eine Gaststätte mit Biergarten. Wir sind erfreut, all dies zu hören. Herr Gewaltig geht wieder ins Haus zu seinem Mittagessen. Es riecht gewaltig nach Sauerkraut!
Die Gaststätte mit Biergarten finden wir etwas abseits der Straße im kleinen Ort Rorichum. Der Biergarten interessiert uns wegen der Temperaturen weniger, die Gaststätte schon. Neben der Gaststätte steht ein weiteres großes Gebäude. "Saal" steht über der Eingangstür. Fein gekleidete Menschen streben dieser Tür zu und mindestens jeder Vierte trägt eine Tortenplatte samt Haube unter dem Arm. Das sieht alles schwer nach einer Hochzeitsfeier aus... und nach einer vorzüglichen Tortenschlacht am Nachmittag.
Als wir die Gaststube durch eine Schiebetür betreten, stellen wir fest, dass wir uns wohl im kleinen Speiseraum befinden, abgetrennt vom Thekenraum durch eine weitere Schiebetür. Auf der Schiebetür die aufgeklebte Warnung: "Raucherbereich"! Stimmt, hier in Niedersachsen gibt es das ja noch. Mir völlig unbegreiflich! Nach einer kurzen Rast und einer Flasche Cola steht mir der Sinn nach einem Toilettengang. Ich frage den Wirt, der sich gerade im Speiseraum befindet, wo ich denn das stille Örtlichen finden kann. Er antwortet mir etwas augenzwinkernd: "Der offizielle Weg für Sie wäre jetzt durch die Tür, durch die Sie gekommen sind, dann einmal um das ganze Haus rum, zum Hintereingang wieder rein, durch einen Flur und dann finden Sie dort die Toilette. Zugegebenermaßen einfacher wäre es, wenn Sie jetzt diese Schiebetür öffnen, fünf Meter durch den Raucherbereich gehen und nach weiteren drei Metern stehen Sie dann vor der Toilettentür." So sind nun mal die Vorschriften in Niedersachsen. Kein Nichtraucher soll gezwungen sein, durch einen Raucherbereich gehen zu müssen, auch wenn der Alternativweg 50 Meter länger ist.
Nach 20-minütiger Rast ziehen wir weiter. Immer wieder sehen wir Formationen von nordischen Gänsen am Himmel vorüberziehen, andere sitzen in Scharen, kleinen Gruppen oder sogar in trauter Zweisamkeit auf den Emswiesen und schnattern vor sich hin. Dieter kündigt an, den lieben Gänsen ein schönes Lied vorzusingen. Er füllt seine Lungen und schmettert: "Sankt Maaaartin, Sahankt Maaaaartin, ..." Witzbold!
Schon bald hinter Rorichum kommen wir, immer nahe am Deich bleibend, nach Oldersum. Beim alten Hafen des Ortes sehen wir jenseits des Hafenbeckens ein altes Werftgelände. Neben einem etwas größeren, aber ziemlich abgewrackten Schiff entdecken wir die kleine aufgebockte "Fähre Ditzum". Auch wenn es uns nicht vergönnt war, mit ihr zu fahren, wir können wenigstens einen Blick auf sie werfen.
Am großen Emscher-Sperrwerk vorbei erreichen wir endlich Petkum, den kleinen Ort, wo die Fähre - von Ditzum kommend - hätte anlanden sollen. In Petkum soll es das angekündigte "Café Kuhstall" geben. Ohne lange zu suchen, finden wir es - aber es ist geschlossen. Trotz Sonntagnachmittag! Aber wahrscheinlich ist die Saison noch nicht eröffnet. Na gut, dann ab zur Hauptstraße! Dort soll es eine Bushaltestelle geben und hoffentlich einen Bus, der uns ins Zentrum von Emden bringt. Von hier bis dorthin dürften es nochmal ca. sieben bis acht Kilometer sein, entlang viel befahrener Vorortstraßen. 17 Kilometer haben wir jetzt schon auf dem Buckel, daher muss das jetzt nicht mehr sein. Vor allem möchte ich meinen Körper gerade am Anfang der Tour nicht überbelasten. Mit dem Bus bis ins Zentrum und von dort nochmal drei Kilometer bis zur Unterkunft am nordwestlichen Stadtrand - das muss für heute reichen!
Die Bushaltestelle ist schnell gefunden, allerdings gibt es am heutigen Sonntag keinen nutzbaren Linienbus. Wir könnten einen Kleinbus anfordern, Wartezeit aber mindestens eine halbe Stunde. Während wir so stehen und darüber nachdenken, was zu tun ist, hält neben uns ein Auto, das Seitenfenster fährt herunter und ein uns wohlbekanntes Gesicht grinst uns an. "Darf ich Sie einladen, Sie nach Emden mitzunehmen?" Während wir unser Glück kaum fassen können, steigen er und seine Freundin schon aus, sie öffnen den Kofferraum, machen etwas Platz für unsere Rucksäcke und bitten uns, auf den Rücksitzen Platz zu nehmen. Zehn Minuten später laden sie uns unmittelbar vor dem Rathaus am alten Hafen und neben dem Otto-Huus wieder aus. Wir bedanken uns herzlich und Dieter verspricht, nie mehr Ostfriesenwitze zu erzählen. Ganz abgesehen davon, dass er das nie durchhalten wird, versichert uns unser hilfsbereiter Ostfriese, dass er sich selbst gerne über diese Witze lustig macht.
Über das gegen Ende des Zweiten Weltkrieges völlig zerstörte Emden gäbe es viel zu erzählen. Über die Söhne der Stadt Karl Dall und Otto Waalkes, über die Kunstsammlung des "Stern"-Gründers Henri Nannen, über die Hafenanlagen der Stadt. Doch eine Information aus dem Internet hat mich am meisten begeistert: Lange Zeit wurden die Emder in Ostfriesland als "Pottjeskackers" verspottet, weil sie erst relativ spät an die Abwasserkanalisation angeschlossen wurden.
Wir wissen, dass es heute in der Nähe unserer Unterkunft keine Gastronomie zum Abendessen geben wird. Einkaufen können wir auch nicht, heute ist Sonntag und die Läden sind zu. Geöffnet aber hat ein Fischimbiss am alten Hafen. Jeder von uns kauft sich ein Fischbrötchen, lässt es sich einpacken und auf diese Weise gut versorgt streben wir nochmal für drei Kilometer unserer kleinen Pension am Stadtrand zu.
01. April 2019
Inselausflug
Borkum (Radtour): 13 km
Ich will es nicht glauben, als ich um 6 Uhr den zwar recht melodischen, aber zu dieser Zeit auch als recht aufdringlich empfundenen Klingelton meines Handyweckers vernehme. Ich bin irritiert, als ich meine Augen zaghaft öffne, es aber dunkel bleibt. Vielleicht ist mein Versuch, die Augen zu öffnen auch nicht energisch genug gewesen, deshalb versuche ich es nochmal. Es bleibt dunkel. Dabei bin ich mir sicher, dass wir gestern Abend die Rollladen nicht geschlossen haben. Was ist passiert? Zeitumstellung ist passiert!!! Nur gaaaanz langsam wird es innerhalb der nächsten halben Stunde heller.
Im Bad ist es kalt. Doch ich sehe es positiv - draußen ist es kälter! Ein Blick etwas später aus unserem Zimmerfenster beweist es: Die weiten Wiesenflächen, die sich hinter dem Haus bis zum Horizont erstrecken, sind leicht weiß überzogen. Die ersten Schritte draußen werden gleich ein kleines Frischeerlebnis sein.
Unsere Unterkunft ist prima, sie hat nur einen kleinen Nachteil: Frühstück wird nicht angeboten. Aber selbst das wäre nicht unbedingt schlimm, denn bis zur nächsten Bäckerei ist es nicht weit. Um diese Uhrzeit ist da nur leider noch nichts zu holen. Jetzt kommt der zweite Nachteil unserer Unterkunft erschwerend ins Spiel. Selbst das mittlerweile fast übliche Angebot eines bereitstehenden Wasserkochers nebst Tasse und Kaffeepulver suchen wir im Zimmer vergebens.
Heute ist einer der Tage, die ich aufgrund meiner Rücken- und Knieprobleme zu lieben lernen werde. Da Dieter und ich auch die nächste (und sogar noch die übernächste) Nacht in dieser Unterkunft zubringen werden, bleibt mein schwerer Rucksack im Zimmer und nur ein leichter Tagesrucksack kommt mit. Trotzdem zwickt es beträchtlich in den beschädigten Körperpartien. Die etwas mehr als 30 Kilometer der ersten beiden Wandertage machen sich schon bemerkbar. Sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, etwas Muskelkater ist auch dabei. Jedenfalls gehe ich nicht so ganz geschmeidig durch die kleine Siedlung zur Bushaltestelle, vorbei an parkenden Autos, die darauf warten, dass gleich die Besitzer ihre Scheiben freikratzen.
Wir hatten die Information, dass ein Bus von der nahegelegenen Haltestelle zum ZOB am Hauptbahnhof fährt, von wo dann ein weiterer Bus uns zum Anleger der Borkumfähre bringen soll. Heute ist nämlich weniger ein Wandertag, sondern ein Ausflugstag - eben nach Borkum. Dort wollen wir es von unserer Lust, unserer Laune und den Temperatur- und Windverhältnissen abhängig machen, ob wir uns Räder mieten, mit einer Pferdekutsche fahren oder uns doch zu einer kleinen Inselerkundung zu Fuß auf den Weg machen. Doch erstmal müssen wir dahin kommen!
Wie sich nämlich herausstellt, fährt vom ZOB der nächste Bus zum Anleger im Außenhafen erst wieder in einer Stunde. Damit wäre die Fähre weg! Glücklicherweise gibt es Taxis. Eine davon bringt uns in zügiger Fahrt bis vor die Tür des Fährterminals, wir reihen uns für ein paar Minuten in die Schlange vor den Ticket-Schaltern ein und sitzen nur wenig später in den Polstersitzen in einem der Fahrgasträume der "Ostfriesland". Direkt neben uns entdecken wir eine Imbisstheke und recht bald steht ein kleines Frühstück vor mir auf dem Tisch. Um uns herum schnäbbeln viele andere Touristen, und eine Schulklasse von Elfbis Zwölfjährigen kann sich vor Aufregung kaum halten, denn erstens befindet sie sich auf einem Schiff und zweitens liegt eine einwöchige Klassenfahrt vor ihnen. Nur die wenigsten Fahrgäste kommen auf die Idee, das Sun-Deck aufzusuchen. "Sun" ist zwar genügend vorhanden, aber auch ein recht biestiger Wind. Für Sonnenbaden noch nicht die optimalen Bedingungen, ob nachher für eine Radtour wird sich noch zeigen.
Nach ziemlich exakt zwei Stunden Fahrzeit macht die "Ostfriesland" um 10.10 Uhr am Borkumer Anleger fest - und alle Fahrgäste fallen hinter der kurzen Gangway förmlich in die schmucke Inselbahn, die sie nun nach etwa 20 Minuten rumpeliger Fahrt nach Borkum-Ort bringt. Man sitzt nicht gerade komfortabel, sondern auf alten Holz-Doppelsitzen, die mich an alte Straßenbahnen im Ruhrgebiet zu meiner Kinderzeit erinnern. Das Endziel ist nicht etwa ein Bahnhof im engeren Sinne, sondern ein Haltepunkt mitten auf der Straße im Ortskern, umgeben von teuren Hotels und Restaurants, nur fünf Gehminuten vom Hauptstrand entfernt.
Nur zehn Meter von den Gleisen entfernt gibt es auch eine Fahrradvermietung, ich denke, es wird auch die größte der Insel sein. Als wir aus der Inselbahn aussteigen und dieser Fahrradverleih uns ins Auge fällt, ist es für uns eigentlich keine Frage, dass wir auch zwei Drahtesel mieten. Wenn nicht bei solchem Wetter, wann dann? Die Sonne strahlt von einem azurblauen Himmel, der Wind ist unkritisch und der Tagesmietpreis mit 8 Euro recht annehmbar. Beide bekommen wir gute und solide Hollandräder anvertraut und überstehen sogar die ersten 20 Übungsmeter unfallfrei. Damit haben wir den Borkumer Fahrradführerschein bestanden und es kann losgehen.
Die ersten 500 Meter können wir aber auch das Schieben üben, denn der direkteste Weg zum Strand und zur fahrradfreundlichen Strandpromenade führt durch eine belebte Fußgängerzone. Dann - welch ein schöner Moment! - liegt der riesige Borkumer Hauptstrand vor mir, weiter hinten erkenne ich auf einer Sandbank eine Seehundkolonie, dann die Gischt der heranrollenden Wellen und die weite See. Herrlich! Es ist noch nicht viel los auf der großen Sandfläche, nur wenige Strandkörbe sind bereits aufgestellt, ein paar Strandläufer verlieren sich im Sand.
Der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Ich habe die Routine des Alltags für eine Weile hinter mir, ebenso die eigene Bequemlichkeit. Und hier, beim ersten Blick auf die Weite des Wassers, denke ich an die enorme Strecke und an die Anstrengung, die vor mir liegt. Beim Er-Wandern solch langer Strecken passiert so vieles. Innen wie außen. Ich rieche Blumen, Seetang und Fisch, ich schmecke Regen und den eigenen Schweiß, ich höre den Wind, sehe die Weite und spüre Sand, Steinchen oder Asphalt unter meinen Schuhen. Bewusste Achtsamkeit wird sich wieder in meinem Kopf breitmachen. Außerdem werde ich gespannt sein auf Überraschungen, gespannt auf das, was mein Körper aushält - oder eben auch nicht. Das alles ist für mich der tiefere Sinn des Wanderns.
Langsam und ohne Anstrengung rollen wir die Promenade entlang, dann wird der Weg schmaler, wir müssen auf Fußgänger aufpassen und auf gelegentliche Sandverwehungen, die auch schonmal den Reifen wegrutschen lassen. Rechts vom Weg häufen sich die Dünen und ich erinnere mich an das von mir im Internet gefundene Zitat von Wilhelm Busch über Borkum: "Von einer Düne sieht man weit - das Meer ist voller Flüssigkeit".
Bei der Dünengaststätte "Seeblick", die ihren Namen vollkommen verdient, vor allem wenn man draußen auf der Terrasse sitzt, leisten wir uns die erste Pause. Bei Dieter geht das nicht ohne ein Weizenbier ab, bei mir heute nicht ohne eine Gulaschsuppe. Sie schmeckt und beinhaltet sogar einige Fleischstückchen. Dann lenken wir unsere Räder auf engen Wegen kurvenreich durch eine Dünenlandschaft und am Inselflugplatz vorbei und bedienen dabei ausgiebig die Gangschaltungen. Als wir nach einiger Zeit hinter weiteren Dünen den Südstrand erreichen, beginnt allmählich mein Hintern wehzutun. Eine Pause in der wärmenden Sonne auf einer Bank vor dem Strandrestaurant "Heimliche Liebe" nahe dem rot-weißen elektrischen Leuchtturm kommt da gerade recht.
Jetzt ist es auch nicht mehr weit, bis wir den Kreis geschlossen haben. Mehr als eine Stunde bevor es zurück in Richtung Fähranleger geht, geben wir die Fahrräder wieder ab. "Ich habe auch wieder aufgetankt", teile ich dem jungen Mädchen mit, die mein Rad wieder entgegennimmt. Sie schaut mich erst etwas verdutzt an, bemerkt dann aber doch, dass ich einen kleinen Scherz machen wollte, und kichert beflissentlich.
Wer stark gestrampelt hat, muss stark essen! Wir suchen (mal wieder) einen Fischimbiss und werden auch bald in einer kleinen Fußgängerzone fündig. Zunächst soll es natürlich wieder ein schmackhaftes Fischbrötchen sein, doch dann springt mir der Hinweis auf "Kibbeling mit Fritten und Remoulade" förmlich an. Auf die Fritten hätte ich auch verzichten können, nicht aber auf diese kleinen Backfischstückchen, die die Holländer mit "Kibbeling" bezeichnen. Auf meiner letzten langen Nordsee-Etappe entlang der niederländischen Küste hätte ich mich an Kibbeling dusselig essen können, knapp gefolgt von leckeren Pannekoeken. Wie groß meine Freude, dass sich diese Köstlichkeit auch ein Stück weit über die niederländisch-deutsche Grenze retten konnte. Auch Dieter ist begeistert und wir lassen es uns schmecken.
Anschließend noch ein kleiner Verdauungsspaziergang zum Alten Leuchtturm mit seinem kleinen Walfänger-Friedhof, dann ist unser Tagesausflug zur westlichsten und größten der Ostfriesischen Inseln auch schon zu Ende. Ein Bus bringt uns vom "Bahnhof" zum Anleger, nicht die Inselbahn. Ein großer Teil der Fahrgäste von heute Morgen bleibt auf der Insel, da lohnt sich der Bahnbetrieb nicht. Um 17 Uhr legt die "Ostfriesland" wieder ab, Emden entgegen.
02. April 2019
Ein Mann - ein Bus
Emden – Campen: 19 km
Ich erwähnte ja schon, dass unsere Gastgeberin Frau Hoppe ein Frühstück nicht mit im Service hat. Macht nix, auch heute werden wir eins bekommen. Um 7.45 Uhr stehen wir vor der Tür, bestens ausgestattet mit Empfehlungen von Frau Hoppe. Eine der Empfehlungen ist, doch einen kleinen Umweg zu machen, um einen bei Emder beliebten kleinen Strand aufzusuchen. Zweite Empfehlung: "Da das ja jetzt etwas weiter ist - trampen Sie doch einfach!" Frau Hoppe, Frau Hoppe! Erstens zieht mich bei ca. 5 °C Außentemperatur nichts an einen kleinen Sandstrand, wenn ich in den nächsten Wochen noch viele, viele Strände sehen und teilweise sogar auf ihnen entlangwandern werde. Und Trampen? Ist nur in absoluten Ausnahme- oder sogar nur in Notfällen erlaubt!
Zehn Minuten nach Verlassen unserer Pension betreten wir die kleine Bäckerei Buchholz. Wiedermal freuen sich Dieter und ich darüber, dass heutzutage Bäckereien nicht mehr nur Orte sind, wo man allein Backwaren kauft, sondern auch eine willkommene Alternativen zu Cafés darstellen, wo man in aller Frühe ein Frühstück bekommt oder unterwegs manchmal selbst in kleinen Dörfern eine nette Pause bei Kaffee und Kuchen einlegen kann. Dieter und ich sind die einzigen Frühstückskunden, doch die nette Bedienung kann sich über weitere Arbeit nicht beklagen. Autos halten vor der Schaufensterscheibe und ihre Fahrer eilen herein, um Brötchen fürs Frühstück daheim oder am Arbeitsplatz zu kaufen, und sogar Schulkinder stehen vor der Auslage, weil vielleicht eine Süßigkeit in der Pause besser schmeckt als Mamas Butterstulle.
Wohl gestärkt verlassen wir eine gute halbe Stunde später die Bäckerei und machen uns wieder auf den Weg. Auf einen Weg, der sich nur 100 Meter später schöner darstellt als erwartet. Glücklicherweise sehe ich noch gerade früh genug die kleinen Hinweise, die den Radfahrer auf den Störtebeker-Radweg bzw. der North Sea Cycle Route in Richtung Rysum schickt, unserem heutigen Ziel. Auf einem fußfreundlichen Weg marschieren wir, die noch tiefstehende Sonne im Rücken, am Larrelter Tief entlang, einem nicht allzu breiten, mit Schilf berandetem und mit Entenpärchen bevölkertem Kanal. Ein kleiner Stichkanal zweigt vom Larrelter Tief ab und geleitet uns zu einem wunderschönen kleinen See, auch mit hohen Schilfbeständen drumherum, und in der glatten Wasserfläche spiegelt sich der blaue Himmel. Dies ist genau die richtige Umgebung, wo ich mir zu Beginn meiner langen Tour wieder zur Auflage mache, die ersten Tage bewusst ruhig anzugehen, mein Tempo und meinen Rhythmus zu suchen, das Wechselspiel von Anstrengung und Erholung abzustimmen, meine Bewegungen so weit wie möglich zu genießen und die Landschaft zu inhalieren.
Man kann - gerade hier entlang meiner Route - auf verschiedenen Wegen von A nach B gelangen. Zum einen wäre das der Weg auf einer gekennzeichneten Route. Der Mensch als Auto- oder Radfahrer oder als Wanderer vertraut sich vollkommen dieser Route an, weil es auf ihr besonders schön ist oder etwas Besonderes zu entdecken gibt. Er hat Urlaub und da ist es egal, wenn auch mal Umwege dabei sind. Dann gibt es die Routen, die auf kürzeren Wegen zum selben Ziel führen, auch wenn diese Strecken etwas weniger landschaftlich reizvoll sind, wie z.B. entlang einer verkürzenden Landstraße, die aber für den Rad- oder Fußwanderer doch noch den Luxus eines begleitenden Radweges mit sich bringt.
Da meine gegenwärtige körperliche Verfassung (noch) nicht dazu geeignet ist, lange Strecken zu gehen, erst recht nicht, wenn es auch kürzer geht, schaue ich mir schon bald nach Verlassen der letzten Emder Vororte während einer Rast in der winzigen Bäckerei in Wybelsum genauer die Wanderkarte an und stelle fest, dass ich den Weg nach Rysum auch kürzer gestalten kann. Der Preis ist: Wir gehen länger mal auf einem Radweg entlang einer nicht zu sehr befahrenen Landstraße, anstatt auf betonierten oder asphaltierten Wegen durch die Felder des Krummhörn, einem vor Jahrhunderten von den alten Friesen dem Meer abgerungenen Stück Land. Mehr als fünf Kilometer können wir dadurch einsparen, mein Körper wird es mir danken.
Mal sich angeregt unterhaltend, mal auch eine Weile schweigsam tippeln wir dahin und sehen schon bald in einiger Entfernung die Kirchturmspitze von Rysum vor uns auftauchen, nicht weit davon entfernt die Flügel einer alten Hollandmühle. Wir nähern uns langsam, aber unerbittlich diesem kleinen, aber auch etwas besonderen Ort. Teile des großen Schwemmgebietes des Krummhörn liegen unter dem Meeresspiegel. Deshalb wurden Häuser und Kirchen früher auf sog. Warften errichtet, erhöhten und zumeist kreisrunden Erdhügeln. Zum Schutz vor Sturmfluten, die so sicher kamen wie das Amen in den Kirchen. Auf die Idee Deiche zu bauen, waren die tapferen Friesen erst später gekommen. Die wuchtigen Backsteinkirchen jedenfalls waren viel zu schwer für den weichen Boden der aufgeschütteten Warften. In der Folge sackten viele Türme ab - der schiefe Turm von Pisa steht nahezu wie eine Eins im Vergleich zum Kirchturm in Suurhusen, einem kleinen Warftendorf nur wenige Kilometer nördlich von Emden, der mit einer Neigung von 5,19 Grad als schiefster Turm der Welt sogar Einzug ins Guinness-Book der Rekorde gefunden hat.
Der Kirchturm von Rysum aber ragt gerade in den Himmel, wovon wir uns überzeugen können, als wir nach Besteigen des leichten künstlichen Erdhügels vor der Kirche stehen. Damit ist diese Kirche fast eine Besonderheit in der Region. Berühmtheit aber erlangte die Kirche durch seine Orgel, die unter den ältesten Orgelwerken der Welt im Grundbestand einzigartig erhalten und immer noch bespielbar ist. Um 1442 in Groningen erbaut, erklingt das gotische Instrument noch jeden Sonntag zum Gottesdienst.
Wir trudeln von der Kirche durch eine der Gassen dieses pittoresken Dorfes den Warfthügel hinunter - und stoßen auf das kleine Häuschen der Familie Merkel. Der Name prangt jedenfalls auf dem Türschild. Vorausgeplanter Altersruhesitz unserer Noch-Kanzlerin? Wohl kaum! Vermutlich zieht sie nichts aus ihrem heimatlichen Templin weg, da soll sie sich ja noch selbst die Sonntagsbrötchen kaufen, wenn sie mal zu Hause ist. Na ja, vielleicht wohnt hier in Rysum ein entfernter Verwandter!
Unten auf der Landstraße finden wir schnell die Bushaltestelle. Wir müssen ja mit der Linie 422 wieder zurück zu Frau Hoppe. Rysum konnte uns keine Unterkunft bieten, daher werden wir eine dritte Nacht in Emden verbringen. Es ist noch früh, gerade mal 13.30 Uhr vorbei, der Bus fährt erst in nicht ganz einer Stunde. Da die Gaststätte nahe der Kirche erst um 17 Uhr aufmacht, haben wir nun eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir langweilen uns für eine ziemliche Weile im Bushäuschen oder wir gehen noch weiter. Innerhalb der nächsten drei Kilometer entlang der Landstraße gibt es zwei weitere kleine Dörfer und jedes Dorf hat eine Bushaltestelle. Wir gehen praktisch dem Bus entgegen, verkürzen uns damit die Wartezeit und haben damit schon drei Kilometer der morgigen Strecke "im Sack".
Als wir über Loquard das kleine Campen mit seiner Bushaltestelle erreichen, braucht es keine zehn Minuten mehr, bis der Bus kommt. Ein gut gelaunter Busfahrer heißt uns in seinem Beförderungsmittel herzlich willkommen und wir kommen im ansonsten nahezu leeren Bus etwas ins Gespräch. Höhepunkt der netten Unterhaltung ist eine nette, für mich fast verblüffende Geschichte. Dieter und mir sind während der ersten Fahrminuten klappernde Geräusche unter uns aufgefallen. Ich erkundige mich nach der möglichen Ursache, erhalte aber nur eine Antwort, die mir als Nicht-Auto-Versteher so gar nichts sagt. Doch dann kommt's: "Da wird nichts mehr repariert", sagt der Fahrer grinsend. "In drei Tagen wird der Bus sowieso aus dem Verkehr gezogen. Dann hat er 17 Jahre öffentlichen Personennahverkehr hinter sich, sage und schreibe 1,66 Millionen Kilometer, immer noch mit dem ersten Motor, dem ersten Getriebe, der ersten Kupplung. Nur die Sitze haben vor ein paar Jahren eine neue Polsterung erhalten." Seine abschließende Bemerkung setzt dem allen fast noch die Krone auf: "Und nur ich habe diesen Bus in all den Jahren gefahren. Ich habe ihn damals aus Mannheim abgeholt. Wenn ich ihn nicht gefahren habe, stand er im Betriebshof. In all den Jahren fuhr ich immer nur diese Strecke, ich kenne fast jeden Fahrgast mit Namen und Geburtsdatum. Wenn mein Bus in drei Tagen seine letzte Fahrt gemacht hat, werde ich ihn auch wieder nach Mannheim zurückbringen." Ich finde, das ist fast eine rührende Geschichte. Zum Schluss frage ich ihn, ob er mal darüber nachgedacht hat, wie oft er mit seinem Bus auf dem Äquator die Welt umrundet hat. Nach einer ganz kurzen Denkpause kommt die Antwort: "40 Mal!"
Mit ein wenig Nachdenken hätte ich selbst draufkommen können, trotzdem bin ich verblüfft. Ich glaube, der Mann wird eine kleine Träne verdrücken, wenn er den Busschlüssel in Mannheim abgibt. Ich jedenfalls würde das tun.
03. April 2019
Mini-Kult-Leuchtturm dank Otto
Campen – Greetsiel: 18 km
Was macht man, wenn der Übergang zwischen zwei Bussen am Emder Bahnhof über 45 Minuten lang ist? Man frühstückt in der Bahnhofsbäckerei! Erst als das erledigt ist, können Dieter und ich wohlversorgt in die Linie 422 einsteigen, die uns in einer halben Stunde zu unserem gestrigen Zielpunkt nach Campen bringt.
Wir sind mental darauf eingerichtet, dass es heute einen Großteil der Strecke wieder auf einem Radweg an der Landstraße Richtung Greetsiel entlanggeht und schalten recht bald in den Autopilot-Modus. Da Dieter keine Schmerzen hat, ich aber nicht unbedingt behaupten kann, genauso schmerzfrei zu sein, ist mein Tempo etwas geringer als Dieters, mit der Folge, dass er meist etwas vorausgeht. Das stört mich nicht im Geringsten, kann ich mich doch prima mit mir selbst beschäftigen, in mich hineinhorchen, mein Tempo beschleunigen, wenn mein Körper es zulässt, es verlangsamen, wenn mein Körper sich beschwert. Und zwischendurch über das Leben, seine Freuden und seine Probleme nachdenken und immer auch wieder geistig Mandalas malen.
Über die Wiesen hinweg links von mir sehe ich nahe beim Deich den Campener Leuchtturm stehen. Er ist weniger einer von der klassischen Sorte, sondern eher ein hohes Stahlgerüst. Nicht umsonst nennt man ihn auch den "Eiffelturm Ostfrieslands". Der dreibeinige Stahlfachwerkturm hat eine Höhe von 65,3 m und ist damit das höchste Leuchtfeuer Norddeutschlands. Er wurde bereits im Jahr 1889 errichtet und ging 1891 in Betrieb. Mit einer Reichweite von 55 km hat der Leuchtturm eines der stärksten Leuchtfeuer Deutschlands. Innerhalb des Stahlgerüsts führen 308 Stufen spiralförmig zu einer Galerie hinauf, von der sich ein ganz besonderes Panorama über das Niedersächsische Wattenmeer bieten soll. Ich bin auch davon überzeugt, aber momentan nicht erpicht darauf, das eingehend zu kontrollieren.
Nach etwa sechs Kilometern erreichen wir Groothusen, einen kleinen Ort, der für mich dadurch interessant wird, finden wir dort doch eine recht trutzige und mit Wassergräben umfasste dreiseitige Burganlage, die Osterburg. Groothusen war im Mittelalter ein bedeutender Handelsplatz, gegründet wahrscheinlich rund 700 n.Chr. Der Ort wurde wie alle Dörfer in der Marsch auf einer Warf (oder Warft) gebaut. Die Häuser der Händler und Handwerker standen beidseitig einer Straße. Daher hat die Groothuser Warf eine langgestreckte Form - im Gegensatz zu der runden Warfform bei landwirtschaftlich orientierten Dörfern, wie z.B Rysum.
Im 14. Jahrhundert standen drei Burgen in Groothusen. Die Osterburg kam Ende des 14. Jahrhunderts in den Besitz des Häuptlings Folkmar Allena, der sie aber kurz darauf den Hamburgern zur Zerstörung überlassen musste. Er wurde auf diese Weise für seine Unterstützung der Seeräuber bestraft, die es vor allem auf die Hanse-Schiffe abgesehen hatten. Das Hauptgebäude der Osterburg wurde im späten 15. Jahrhundert neu errichtet und im Laufe der Jahrhunderte verändert und erweitert und Anfang des 20. Jahrhunderts mit sehr viel Aufwand instandgesetzt.
Apropos Häuptlingssitz! Die ostfriesischen Herrscher im Mittelalter nannten sich tatsächlich Häuptlinge. Wer denkt da nicht an Winnetou und Sitting Bull? Die Häuptlingsdynastien hatten die Macht im 14. Jahrhundert übernommen, nachdem Flutkatastrophen und Seuchen das übliche Miteinander untergraben hatten. Zuvor war die Region eine Art demokratische Oase im ansonsten feudalen Europa. Die Abgeordneten der "Sieben Seelande" trafen sich immer zu Pfingsten an einer Thingstätte bei Aurich, um Vereinbarungen zu treffen, Recht zu sprechen und die Freiheit Frieslands zu beschwören - bis die Häuptlinge für rund ein Jahrhundert die Macht übernahmen, letztendlich aber an der eigenen Machtgier und Zerstrittenheit scheiterten. - Das war wiedermal ein kurzer Beitrag zur Geschichte... für die, die es interessiert.
Dieter und ich sind jetzt aber an einer Rast interessiert. In einem zur Burganlage gehörenden Gebäude (vielleicht war es mal eine Art Gesindehaus) finden wir ein Burgcafé untergebracht. Leider geschlossen! Vor der Tür stehen aber ein Tisch und zwei Bänke und wir lassen uns nieder. Drinnen sich etwas aufzuwärmen, wäre zwar schöner gewesen, dazu ein Kaffee..., aber da kann man halt nichts machen. Denken wir! Doch es kommt anders. Wir sitzen vielleicht fünf Minuten, da biegt ein Auto in die Zufahrt, die Scheibe wird runtergefahren und eine junge Frau sagt: "Sie sind in diesem Jahr unsere ersten Gäste! Wir öffnen immer am ersten Mittwoch im April und den haben wir heute!" Als ich nachfrage, wann wir denn mit dieser Öffnung rechnen könnten, antwortet sie: "In zehn Minuten! Und dann machen wir auch ein Foto für unsere Sozialen Netzwerke, wenn Sie damit einverstanden sind." Sprach's und fuhr hinter das Haus.
Tatsächlich dreht sich bald der Schlüssel im Türschloss, ein paar Fotos werden gemacht und rein geht's in die gute Stube. Eine wohlige Wärme umgibt uns sofort und eine gediegene Gemütlichkeit und nach nur kurzer Zeit steht der heiße Kaffee, für Dieter ein Stück Kuchen und für mich ein "Ostfriesen-Pfanne-kuchen mit beschwipsten Rumrosinen" vor uns auf dem Tisch. Doch auch wenn wir die ersten Gäste in diesem Jahr sind, macht es sich bei der Bezahlung nicht mit einem gewissen Bonus bemerkbar.
Und weiter geht es an der Landstraße entlang, weitere etwa sechs Kilometer. Und das unter etwas erschwerten Bedingungen... Nicht etwa, weil der Verkehr zunimmt oder der Radweg wegfällt. Nur... der Radweg wird frisch geteert bzw. ist gerade frisch geteert worden! Die Schuhe kleben etwas und es stinkt gewaltig. Wir sind froh, als wir dem allen entfliehen und in einer gemütlichen Kneipe im nächsten Warfendorf Pilsum Einlass erhalten, nur ein paar Meter entfernt von der alten Kirche mit dem mächtigen Turm. Er gehört auch zu der Sorte von Warfen-Kirchtürmen, die nicht mehr ganz lotrecht auf dem aufgeschütteten Kleiboden steht, aber es soll schlimmere Fälle geben.
Von Pilsum aus geht es jetzt geradeaus auf den Deich zu. Und noch während wir das tun, entdecken wir in noch einiger Entfernung den kleinen, gelb-rot gestreiften Pilsumer Leuchtturm unmittelbar an diesem Deich stehen. Nur langsam kommt er näher, ganz im Gegensatz zu einer Herde von Schwarzkopfschafen, die uns - welchem Trieb auch immer folgend - laut blökend und wie in einer langen Prozession entgegenkommen und an uns vorbeiziehen.
Irgendwann sind wir aber doch an diesem doch besonderen Leuchtturm. Mit seiner Höhe von nur 11 m zählt er dennoch zu den Wahrzeichen Ostfrieslands, und das nicht erst, seitdem Otto Waalkes seinen Film "Otto - der Außerfrische" u.a. hier gedreht hat. Damals kam der rot-gelbe Winzling ganz groß raus, hat geradezu Kultstatus erlangt. Im Betrieb war er nur bis 1919, danach verfiel er. Ein Schandfleck war er, eine Rostbeule. 1972 forderte der Deichrichter Jannes Ohling mit drastischen Worten die Renovierung ein. Wenn diese nicht binnen eines Jahres vonstattengehen würde, sollte der Oberamtmann Müller gefälligst "am Turm aufgeknüpft werden". Turm und Herr Müller überlebten. Heute kann man in ihm sogar heiraten.
Begleitet von dem Geschnatter unzähliger Ringel- und Brandgänse, die zu Tausenden die deichnahen Marschwiesen bevölkern oder in riesigen Schwärmen über den heute grauen Himmel ziehen, nähern wir uns dem nahe beim Deich stehenden Hof Akken, ehemals ein großer landwirtschaftlicher Betrieb, seit einiger Zeit aber ein Hofcafé und Beherbergungsbetrieb vor allem für vorbeifahrende Radtouristen. Selbst für eine Nacht wird man hier mit offenen Armen empfangen, versorgt und beherbergt, zu Preisen, von denen man im nur zwei Kilometer entfernten Greetsiel nur träumen kann.
04. April 2019
Deichen tut Not!
Greetsiel – Norddeich: 22 km
Unsere Gasgeberin vom Ferienhof Akkens sagte uns am gestrigen Abend schon, dass für das Frühstück ihre Schwester zuständig sei. Die würde uns dann bedienen. Als Dieter und ich in die Gaststube kommen, wundere ich mich, dass sie selbst nun doch da ist, uns begrüßt, nach unseren Frühstückswünschen fragt und dann anfängt, in der Küche rumzuwuseln. Aber irgendwie... ich habe die gute Frau ein gutes Stück größer in Erinnerung. Ist sie eventuell über Nacht geschrumpft? Dann kommt mir die Erleuchtung, dass Schwestern sich vielleicht auch schonmal ähneln. Ich fasse mir ein Herz und frage, ob sie vielleicht die Schwester von der Chefin sei. Sie lacht auf und bestätigt das. Ich bin platt! Das gleiche Gesicht, die gleiche Frisur, die gleiche Stimme, die gleiche Figur - bis auf etwa 20 cm an Größe, die ihr fehlen. "Sind Sie Zwillinge?", frage ich und ernte wieder ein Lachen. "Das haben mich schon viele Gäste gefragt", antwortet sie mir. "Ich habe fünf Schwestern und drei Brüder und alle haben wir eine verblüffende Familienähnlichkeit." Also doch nicht geschrumpft!
Als Dieter und ich wieder losziehen, ist es draußen durchaus stimmungsvoll - nämlich nebelig. Zwar nicht so, dass man die Hand vor Augen nicht sieht, aber die Schafe auf der Deichkrone erkennt man nur wie durch einen Schleier, genauso wie die kleinen Büsche und Bäume, die auf den mit Binsen bewachsenen Feuchtwiesen wachsen. Wie unter Watte gepackt liegt die Landschaft vor uns, ganz ruhig, selbst ein Wind traut sich nicht, diese Stimmung zu stören. Nur ganz vereinzelt hören wir das Geschnatter von Wildgänsen, das von den Marschwiesen jenseits des Deiches zu uns herüberweht.
Nach kurzer Zeit schon stehen wir im Zentrum des Fischerörtchens Greetsiel, gegründet von der Häuptlingsdynastie Cirksena im 14. Jahrhundert. Doch... ist Greetsiel noch ein Fischerörtchen - oder eher ein überlaufenes Touristenzentrum an der Ostfriesischen Küste? Hinter dem alten Sieltor, über das eine alte Brücke führt, sehen wir im mehr als 600 Jahre alten historischen Hafen die prächtigen, das Ortsbild prägenden Masten der Krabbenkutter emporragen. Greetsiels Hafen ist der Liegeplatz von rund 25 Krabbenkuttern, nach Büsum die zweitgrößte Krabbenfischerflotte an der deutschen Nordseeküste. Also stimmt die Bezeichnung "Fischerörtchen"!
Rund 1.500 Einwohner hat der kleine Ort, im Sommer beherbergt er durch die Urlauber etwa dreimal so viele Menschen. "Touristenzentrum" stimmt also ebenso. Und auch das sieht man hier im Ort mehr als deutlich, auch wenn gerade erst der Frühling begonnen hat. Außerdem ist es erst kurz vor 9.30 Uhr, außerhalb der Ferienzeit, an einem Werktag. Die Urlauber, die ich als solche zu erkennen glaube, kann ich bei unserer Durchquerung des Zentrums an zwei Händen abzählen. Dennoch, die Geschäftswelt ist vorbereitet. Schon in wenigen Tagen, zu Beginn der Osterferien, wird mit dem ersten Besucherstrom gerechnet. Rund um den kleinen Platz vor dem alten Sieltor, beim alten Hafen, in den von dort abzweigenden Gassen mit ihren schönen Hausfassaden, gibt es wohl kein Haus, das nicht ein Gastronomiebetrieb ist, ein Hotel, eine Pension, eine Ferienwohnung, ein Andenkenladen, ein Fashion-Shop. Schon jetzt stehen Stühle und Tische vor den Restaurants und Eisdielen, meist nur mit Planen vor dem eventuell zu erwartenden Regen geschützt. Ich bin froh, dass ich Greetsiel genau so erlebe, ohne diese Menschenmassen, die sich durch die Gassen schieben und die Restaurantstühle belegen, dass ich in aller Ruhe hier herumschlendern kann, ohne dass gleich wieder mein Fluchtreflex ausgelöst wird.
Die folgenden Kilometer werden wunderschön einsam. In diesen äußersten Zipfel Niedersachsens rund um die Leybucht und dazu noch an die Außenseite des Deiches, verirren sich nicht so viele Menschen, erst recht nicht zu dieser Jahres- und Uhrzeit. Man könnte sich direkt in Trance wandern - links die Marschwiesen und das Watt, rechts der Deich, auf den sich heute erstaunlich wenig Schafe verirren. Manch einer wird das vielleicht eintönig nennen, mir aber hilft diese vermeintliche Eintönigkeit beim Abschalten. Und das ist u.a. eines meiner Ziele dieser Wanderung: Abschalten und Kopf-frei-bekommen.
Doch so eintönig ist es wirklich nicht! Vor allem dann nicht, wenn man zu einer Zeit hier ist, wenn riesige Gänseschwärme die Marschwiesen und den Deich bevölkern. Wenn dann noch Tausende von ihnen die Deichunterhaltungs- bzw. -verteidigungswege belegen, kann es für den Rad- oder Fußwanderer dort auch recht glitschig werden. Ganz besonders eindrucksvoll aber ist es, wenn man sich solchen Schwärmen immer mehr nähert und auf den Moment wartet, wo sie sich - wie einem geheimen Kommando folgend - mit Getöse in die Luft erheben, dort vielleicht zwei flache Schleifen ziehen, um sich dann etwa 200 Meter weiter wieder niederzulassen. Aufgeregtes Geschnatter aus unzähligen Hälsen erwartet den Wanderer dann erneut, bis sich der ganze Vorgang wiederholt.
Rastmöglichkeiten gibt es entlang des Deiches wahrlich nicht viele. Für den Radler mag das nicht schlimm sein. Der hat die Entfernung bis zur nächsten Bank schnell abgestrampelt, selbst wenn fünf Kilometer und mehr zwischen zwei von ihnen liegen. Für den Wanderer gestaltet sich das etwas schwieriger. Erst nach fünfeinhalb Kilometern hinter Greetsiel sehen wir die erste oben auf der Deichkrone stehen. Die gehört uns! Weit geht der Blick in jeder Richtung den Deich entlang, noch weiter über die Marschwiesen Richtung Watt, von der Nordsee ist gar nichts zu sehen.
Schon auf meiner Tour entlang der niederländischen Küste im vorigen Jahr war ich immer wieder beeindruckt von der Leistung der Küstenbewohner, sich gegen das Meer zu behaupten. Nicht immer haben sie das geschafft, oft ist die Nordsee über sie hergefallen und hat Tod und Zerstörung gebracht.
Begonnen wurde mit dem Deichbau an Ostfrieslands Küste vor gut 1000 Jahren. Zunächst waren es kleinere, ringförmige Deichanlagen um die Gehöfte, die Warfen, erst im 13. Jh. wurden sie zu einem durchgehenden Seedeich verbunden. Doch wenn der "Blanke Hans" zu wüten begann, erwiesen sich diese Deiche oft genug als nicht ausreichend. Abertausende fanden in hereinbrechenden Fluten den Tod.
Bis ins 18. Jh. waren alleine die Landbesitzer an der Küste für die Deiche verantwortlich. Doch oft waren die Bauern mit ihren Pflichten überfordert. Sahen sie sich außerstande, für die Sicherung ihres Deichstücks zu sorgen, steckten sie gemäß dem damals gültigen Recht ihren Spaten hinein, was die Kapitulation bedeutete. "Keen nich will dieken, de mutt wieken" - hieß es - "Wer nicht will deichen, der muss weichen." Wer den Spaten herauszog, war automatisch der neue Besitzer von Haus und Hof - inklusive des Deichpfands, also aller anliegenden Pflichten.
Inzwischen erledigen modernste Baumaschinen die Arbeiten, Computer errechnen auf den Millimeter genau die Anforderungen an die Deiche. Lag die durchschnittliche Höhe im 16. Jh. noch bei viereinhalb Metern, so beträgt sie nun mehr als acht Meter. Längst sorgen sich neben dem Haupt- oder Seedeich zusätzliche Sommer- und Flügeldeiche für Sicherheit. Doch sind die Haus- und Grundbesitzer keineswegs von ihren Pflichten entbunden, und, in Deichverbänden sozusagen zwangsorganisiert, weiterhin für die Unterhaltung der Deiche zuständig. Allerdings zeichnen bei Neubauten, Erhöhungen oder umfassende Erweiterungen heute Bund und Länder verantwortlich für Planung und Umsetzung und übernehmen die notwendigen Investitionen.
Als wir die Bank auf dem Deich wieder verlassen, beginnt es leise zu tröpfeln. Schon heute früh bemerkte unsere Wirtin, dass es heute nicht trocken bleiben wird. Die Frage ist jetzt nur, wieviel runterkommt und ob der Wind dabei auffrischt. Regen und Wind immer am Deich entlang, für Kilometer ohne Unterstellmöglichkeit, ganz zu schweigen von einem Gasthaus, in dem man sich etwas aufwärmen und trocknen kann, ist kein angenehmer Gedanke. Ich schaue auf die Karte und entscheide mich für eine Routenänderung. Wir gehen weiter etwas im Landesinneren, wo es an einer Straße vielleicht eine Bushaltestelle mit Wartehäuschen gibt, bei einem Bauernhof vielleicht einen Schuppen oder sogar ein Gasthaus. Auf der Karte sind entlang dieser Wegealternative sogar drei Gasthaussymbole zu sehen, nur da bin ich immer etwas skeptisch.