Sandira - Lyn Wilhelm - E-Book

Sandira E-Book

Lyn Wilhelm

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Beschreibung

Erneut ein ausgefallener Urlaub mit ihren Eltern, die kleine Strandhütte wird in diesem Sommer verwaist bleiben und das Meer rückt in weite Ferne. Es wird getauscht gegen Spitzendeckchen und ein altes Haus, abgelegen im Wald, weit weg von ihren Freunden und allem, was spannend ist. Zumindest denkt das Sandira, als sie ihre schweren Koffer die knarzende Holztreppe hinaufschleppt. Nichts ahnend von dem geheimen Labor im Keller, welches nichts Geringeres als ein Portal in andere Welten bereithält. Welten, in denen sie zu finden erhofft, was ihre Welt retten wird, deren Lebenszyklus zu Ende geht. Doch wie weit wird Sandira gehen, um unsere Welt zu retten? Und was ist sie bereit, dafür zu opfern? Ein packender Fantasyroman, der den Leser in fremde Welten entführt, und den Kampf um die Zukunft unserer Welt in den Mittelpunkt rückt.

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„Kämpfe für deine Werte, aber vergiss nicht deine Menschlichkeit.“

L. X. Wilhelm

Inhaltsverzeichnis

Wandel

Welten wandern

Sternentropfen

Die Heilung

Wurzel ziehen

Weigerung

Relativität der Zeit

Gartenstaub

Wassergrab

Die Melodie der Stille

Weltenende

Sternenstraße

Dunkelkammer

Erdenherz

Anfang

Wandel

Ihr Herz raste. Sie stemmte sich gegen die Lehne, richtete sich auf. Das Piepsen eines Kardiogramms hallte in ihren Ohren nach. Sie blinzelte. Der Sonnenschein brannte in ihren Augen. Ihre Hände lagen auf dem kalten Steinboden. Sandiras Kopf ruckte zur Seite.

Nein. Ihre Finger strichen über kühles Leder. Ein Haus, altmodisch mit Gauben, blitzte vor ihren Augen auf.

Beine aus Metall. Flackernde Monitore.

Ihre Finger krallten sich in den Autositz, gaben ihr Halt. Von vorne vernahm sie die Stimme ihrer Eltern.

Noch einmal blinzelte sie. Ihr Herzschlag beruhigte sich. Sie hörte, wie die Räder über den glatten Asphalt sausten. Die Musik aus dem Radio, die im Hintergrund säuselte. Ihre Finger entspannten sich. Sie lehnte ihre Wange an die kühle Kopfstütze.

Aus dem Fenster sah Sandira, wie Felder vorbeizogen. Die Ähren wiegten sanft im Wind. Am Himmel zog ein einsamer Bussard seine trägen Bahnen. Ihr Blick folgte dem Flug des Raubvogels, ehe er in einer Wolke verschwand.

Wieder blinzelte sie. Sie versuchte sich, an den Traum zu erinnern, der vor wenigen Minuten so klar gewesen war. Doch der Traum verlor sich wie der Vogel in den Wolken.

Nur das vage Gefühl des Scheiterns blieb, ohne zu wissen, woher dieses kam.

Ihr Vater riss sie aus ihren Gedanken. »Wir sind bald da.«

Sandira schaute ihn verständnislos an. Was meinte ihr Vater? Wo wären sie bald? Sie suchte nach einem Wegweiser, der ihr verriet, wo sie waren. Nichts als Felder und ein Waldrand, der sich am Straßenrand erhob. Tannen und Fichten reihten sich dicht an dicht. Einige Baumkronen verkümmert zu braunen Skeletten, die sich vor dem sanften Blau des Himmels emporreckten.

Ihre Finger stießen gegen ein Stück Papier. Sie drehte ihren Kopf. Neben ihr lag ein Flyer. Das Bild einer Strandhütte, inmitten der Dünnen, glänzte in der Sonne. Sie lächelte. Das Meer.

Mit gerunzelter Stirn kurbelte sie das Autofenster hinunter. Der schwere Geruch von frisch gemähtem Heu und Baumharz lag in der Luft. Weit entfernt von einer Meeresbrise.

Doch nicht.

Sie schüttelte den Kopf. Langsam kehrte ihre Erinnerung zurück. Sie rollte mit den Augen. Nicht das Meer, sondern Großmutter Ingeborg erwartete sie. Ihre Eltern hatten beschlossen, sie die nächsten Wochen bei ihrer Oma zu parken, während sie auf ihrer Dienstreise fröhlich durch die Welt juckelten.

Warum gerade in ihren Sommerferien? Wenn es schon nicht an den Strand ging, wollte sie die Ferien mit ihren Freunden verbringen. Baden am See, abends Filme schauen und die ein oder andere Übernachtungsparty. Alles war vorbereitet und geplant. Ihr Leichtathletikverein veranstaltete zum Jubiläum eine Grillparty, was gab es Besseres? Aber nein, weder das Meer noch ihre Freunde würde sie den Sommer über sehen. Ein Anruf aus Übersee machte all das zunichte. Ihm folgten die üblichen Ausreden. Lieferengpässe, Produktionsstopp in einer der Fabriken in Asien.

Sandira schnaubte. »Toll!«

»Ach, es wird nicht so schlimm, wie du denkst. Die Landluft wird dir guttun und Großmutter Ingeborg hat eine Katze.«

Als ob ein Katzentier sie für die muffigen Häkeldeckchen ihrer Großmutter entschädigte. Dazu hätten nur ein Ferienvorrat Eis, kühler Eistee und ein Swimmingpool gereicht. Letzteres besaß ihre Großmutter nicht. So viel wusste sie bereits.

Sandira ließ ihren Kopf gegen die Kopflehne prallen. Seit ihre Eltern als Doppelspitze in ihrem Technikkonzern arbeiteten, war sie zum lästigen Anhängsel mutiert, das man gerne woanders zwischenparkte. Vorbei waren die schönen Tage, als ihr Vater mit ihr zum Filmfestival oder zum Konzert gefahren war. Bei ihrer Mutter war sie es ja gewohnt, sie tagelang nicht zu Gesicht zu bekommen, wenn sie bis spät abends im Büro versackte. Aber es hatte sie nicht so sehr gestört, solange ihr Vater für sie dagewesen war.

Erst hatte sich der Plan ihrer Eltern gut angehört. Sie würden sich die Stelle teilen, damit beide mehr Zeit für sie hätten.

Sandira hatte sich ausgemalt, wie sie zusammen die Kirmes besuchten und den Bootsausflug nachholten. Nach nicht ganz einer Woche waren ihre Träumereien zerplatzt, wie ein prall gefüllter Luftballon, auf den man mit einer Softair schoss. Ihr Vater tauschte ihren gemeinsamen Spieleabend gegen das Diensthandy, welches nicht mehr stillstand. Bald verbrachte auch er die Abende im Büro.

In den Ferien war sie bisher bevorzugt bei ihrer schrulligen Patentante Ronja geparkt worden, die vielmehr Flausen im Kopf hatte als sie, und es mit Regeln nicht ganz so genau nahm.

Sandira grinste. Sie erinnerte sich daran, wie sie gemeinsam den Bauzaun zu der Ruine einer alten Zigarrenfabrik überklettert hatten. In Tarnkleidung gehüllt hatte ihre Patentante Ronja mit einer Brechstange die Bretter von einem der Fenster entfernt. Die Angeln des Fensters knirschten, als sie ihrem Zerren nachgaben. Kurz darauf schossen sie, Grimassen ziehend, Fotos, als sie im staubigen Chefsessel saßen. Eines davon versteckte sie in ihrer Erinnerungstruhe unterm Bett, sie holte es ab und an hervor, wenn sich ihre Eltern abends auf den Weg in die Chefetage machten.

Die einzige Erinnerung, die das toppen konnte, war der Urlaub mit ihrer besten Freundin Nina. Das Highlight war der Tauchgang im Haikäfig. Ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken. Einer der Haie hatte den Käfig gerammt. Sie hatte ihm direkt ins Maul geschaut. Zahllose Reihen spitzer, tödlicher Zähne.

Sie biss sich auf die Lippen, sie liebte das Gefühl, wenn das Adrenalin durch ihre Adern schoss. Es war genau wie kurz vor dem Start des 100-Meter-Laufs bei einer Meisterschaft. Anspannung, Angst, Euphorie.

Sie seufzte. Und das tauschte sie gegen Großmutter Ingeborgs Häkeldeckchen und ein Haus mitten im Wald ein. Sie hoffte nur, dass der Internetempfang gut war. Dann könnte sie wenigstens einen Videochat mit ihren Freunden eröffnen.

Sie friemelte ihr Smartphone aus ihrer Handtasche. Das blasse, aber lächelnde Gesicht ihrer Patentante ploppte auf. Sie trug ein Krankenhaushemdchen, deutlich sah man den transparenten Infusionsschlauch im Bild baumeln. Sie wischte mit ihrem Daumen über das Display und gab den PIN ein. Sie tippte auf die Nachricht. Ein sich um sich selbst drehender Kreis erschien. Sie schielte auf die Empfangsanzeige.

Nullkomma-überhaupt-keinen-Balken.

Sie steckte das Smartphone weg. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Patentante bald wieder auf den Beinen war.

Sie warf erneut einen Blick auf den Flyer. Ihre ganzen Bemühungen, das Strandhaus auszusuchen, das Anfragen, das Telefonieren, das Buchen, alles vergebens.

Ein kurzes Bimmeln des Telefons und ihr Vater hatte es noch am selben Abend storniert.

Einmal. Nur einmal hatte sie die Sommerferien mit ihren Eltern verbringen wollen. Sie griff den Flyer, zerknüllte ihn mit beiden Händen und formte ihn zu einem Ball. Blöde Erwartungen, sie gehen ja doch nicht in Erfüllung. Sie schmiss den Papierball gegen die Windschutzscheibe.

»Liebling, sieh es positiv. Bei Großmutter Ingeborg gibt es ganz viel Grün. Du magst doch Waldtiere?«, sagte ihr Vater.

»Und du kannst dich für deine nächsten Umweltprojekte inspirieren lassen. Oma Ingeborg ist auch so in die Natur vernarrt«, warf ihre Mutter ein.

»Und ihr könnt viele Kaffee- und Kuchengespräche führen. Sie liebt es, einem zu erklären, was man alles besser machen kann.«

»Schatz, das Thema hatten wir bereits.«

»Ernsthaft, du kannst sie selber nicht ausstehen, aber mich gebt ihr da ab«, motzte Sandira.

»So habe ich das nicht gemeint. Die Diskussionen mit ihr sind konstruktiv. Manchmal.« Sandiras Mutter boxte ihrem Mann gegen den Arm.

»Mama ...«

»Wir sind gleich da, Liebling. Benimm dich.«

Sandira betrachtete die Spieglung ihrer Mutter im Rückspiegel. Sie hatte die Lippen zusammengepresst und ihre Arme vor der Brust verschränkt. Sandira erkannte den brodelnden Vulkan, der drohte, auszubrechen. Ab diesem Zeitpunkt erübrigten sich die Diskussionen mit ihrer Mutter.

Sie sah wieder aus dem Fenster. Die Felder wichen einem dichten Mischwald. Wie kamen ihre Eltern auf Großmutter Ingeborg? Wegen der Katze? Sie hatte sie schon gesehen. Ihre Oma hatte das arme Tier samt einem ganzen Haufen Häkeldeckchen auf eine Familienfeier angeschleppt. Das Tier hatte mit großen, verängstigten Augen aus dem Transportkäfig gestarrt, während seine Besitzerin die Deckchen verteilte.

Verdammte Häkeldeckchen. Sie konnte diese Dinger nicht ausstehen. Immer lagen sie im Weg, staubten voll und verzogen sich.

Und dann auch noch diese hässlichen Muster ...

Die Katze wäre da nur ein kleiner Trost.

Wie hieß noch mal dieses Katzentier? Er oder sie hat einen sehr abgedroschenen Namen. War es Miss Miau? Nein ... es war Miez. Miss Miez. Ne, Moment, es war ein er. Mister Miez. Das war der Name. Wer nennt seine Katze so?

Durch die Bäume erhaschte sie einen ersten Blick auf das Haus ihrer Großmutter: dunkles Holz, Fenster, die einem wie leblose Augen entgegenstarrten.

Vorne hörte Sandira, wie ihre Mutter noch einmal die Kofferpackliste vor sich hin murmelte.

»Mama, wir haben alles eingepackt. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich woanders übernachte. Außerdem ist es jetzt eh zu spät.«

Ihre Mutter lächelte. »Das stimmt, Liebling, wir holen den Urlaub nach, ich verspreche es.«

»Mhm.« Es gab inzwischen eine lange Liste an Ausflügen und Reisen, die nachgeholt werden mussten. Einige davon waren endlich gestrichen worden, weil Sandira von anderen dorthin mitgenommen worden war. Die Eisriesenwelten in Österreich? Check. Tanjas Eltern hatten sie eingeladen. Kletterpark? Check. Sie war zu Ninas Geburtstag da gewesen. Bogenschießen? Gut, dass es ihre Patentante Ronja gab. Neben dem Bogenschießen hatte sie sie nach Griechenland, nach Kanada und auf die Philippinen mitgenommen. Wie gerne säße sie jetzt mit ihr in deren Wintergarten. Sie dachte wohlig an die dicken Sitzkissen und die gemütliche Hängematte, die zwischen zwei aufstrebenden Königspalmen baumelte und für Urlaubsfeeling sorgte. Das Schmieden von Reiseplänen mit Ronja war genial.

Zwar hatte Omabesuchen auch auf der Ausflugsliste gestanden, doch dies erledigte man an einem Wochenende. Sommerferien waren einfach dazu gemacht, mehr zu erleben. Sicher hätte es gereicht, wenn sie in den Herbstferien bei Großmutter Ingeborg aufgetaucht wären. Auf die paar Wochen kam es nun wirklich nicht an.

Nach einer weiteren Straßenbiegung holperte das Auto auf den Vorhof. Indessen Mitte lag ein Vorgarten, um den herum die Einfahrt verlief.

»Wie bei einem Hotel«, dachte sich Sandira, als sie den Kopf von der Blütenpracht abwandte und zum alten Landhaus rübersah.

Das Erdgeschoss wurde von einer dunklen Holzfassade eingefasst. Weiter oben wichen die Bretter Erkern, die sich nahtlos an eine Fachwerkfassade anschlossen. Unter dem Dachansatz war ein zweiflügeliges Giebelfenster eingelassen. Das Dach selber wurde von zahlreichen Dachgauben geziert, in denen Sprossenfenster saßen.

Konnte es nicht wenigstens ein modernes Haus sein? Musste es so eine alte Absteige sein?

Sandira verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Mundwinkel wanderten ein Stück weiter nach unten. Fehlte nur noch der Sonntagsrentnerclub, der sich über Rollatoren, Zahnprothesen und die letzten Lottozahlen austauschte. Sie hoffte wenigstens, dieser und eine Runde Bingo bliebe ihr erspart.

Ihr Vater bremste und das Auto kam abrupt zum Stehen.

»Etwas sanfter ging das Bremsen wohl nicht?«

»Nicht, wenn der Petunientopf deiner geliebten Mutter heil bleiben soll.«

Sandira lehnte sich nach vorne. Am Rand des Vorgartens, knapp neben der Motorhaube, war ein Topf, der mit rosa Blüten überquoll.

Ihr Vater stellte den Motor ab.

Sandira drückte die Autotüre auf und stieg aus. Vor ihr führten drei Treppenstufen zu einer verschnörkelten Holztüre hinauf.

Ein kühler Wind zog an ihren nussbraunen Haaren, die zu einem lockeren Zopf zusammengebunden waren. Die Eingangstür des Landhauses öffnete sich einen Spalt weit. Es dauerte einen Moment, bis die Türe ganz aufgeschoben wurde. Ihnen trat eine alte, rüstige Frau entgegen. Ihren weißgrauen Haarschopf hatte sie zu einem strengen Dutt hochgesteckt. Auf ihrer Nase saß eine Brille, die Sandira an eine in die Jahre gekommene Ärztin denken ließ. Über ihrer Alltagskleidung trug sie eine weiße Küchenschürze, ähnlich einem Laborkittel, mit abgeschnittenen Ärmeln.

Sandiras Vater tippte sich zum Gruß kurz mit Zeige- und Mittelfinger gegen die Stirn.

»Ingeborg.«

Er schlenderte zum Kofferraum, ohne seine Schwiegermutter eines weiteren Blickes zu würdigen. Er klappte den Kofferraumdeckel auf und hievte zwei Koffer heraus, die mit Leichtigkeit Sandiras halben Kleiderschrank beinhalteten, inklusive Laufklamotten.

Sandira ging zu ihrem Vater und nahm einen der Rollkoffer entgegen. Neben ihren Anziehsachen hatte sie einen Laptop, ihre externen Festplatten, Duschzeug, ihren Schminkkram (auch wenn sie nicht wusste, wofür sie ihn hier brauchen würde), Sonnencreme, Anti-Mückenspray und ihr Lieblingskopfkissen eingepackt. Nicht zu vergessen der Antistressball, den Nina ihr mit einem breiten Grinsen kurz vor der Reise geschenkt hatte. Während sie ihren Koffer über die holprigen Pflastersteine zerrte, ging Sandiras Mutter lächelnd auf Ingeborg zu und umarmte diese.

»Es freut mich, dass du auf unsere Kleine aufpasst. Ich hätte mir niemand Besseren vorstellen können.«

Ingeborgs strenger Blick wurde für einen Moment sanfter. Fast glaubte man, ein Lächeln würde sich auf ihr Gesicht schleichen. Bevor es sich entfaltete, verdrängte die Strenge es.

»Mach dir keine Gedanken. Ich weiß doch, was dir die Firma abverlangt. Es ist gut, dass du mit Leidenschaft deine Ziele verfolgst.«

»Danke, Mama. Ich habe schon so viel Arbeit in die Firma gesteckt. Sie ist für mich wie ein zweites Kind. Und leider fordert dieses manchmal mehr Aufmerksamkeit, als man denkt.«

Sandiras Faust schloss sich enger um den Griff des Koffers.

»Sie ist für mich wie ein zweites Kind«, äffte Sandira ihre Mutter nach.

Dieses zweite Kind, wie ihre Mutter so schön sagte, stand bei ihr auf jeden Fall an erster Stelle. Das Kind aus Fleisch und Blut konnte man ja so viel leichter loswerden. Sie würde sich nicht wundern, wenn sie das kommende Schuljahr in einem Internat verbrächte. Perfekt untergebracht, ohne dabei ihre Mutter von ihrem Karrierewahn abzuhalten.

Sandira kniff die Augen zusammen. Ihre Oma schien vom selben Schlag zu sein. Karriere, Karriere, Karriere.

Sie lehnte ihre Ellenbogen auf den Koffer und starrte zu ihr hinauf.

»Hallo«, presste sie zwischen ihren Lippen hervor. Die beiden Frauen schnatterten munter weiter über die Firma.

»Wie wäre es mit schön, dass du da bist. Herzlich willkommen. Hallo?«, grummelte Sandira vor sich hin.

Ein sanfter Druck an ihrer Schulter ließ sie den Kopf drehen. Sie schaute in das Gesicht ihres Vaters. Er lächelte beruhigend.

»Deine Mutter meint es nicht so. Sie macht sich nur Sorgen wegen der Firma. Du wirst immer ihr Lieblingskind sein.«

Sandira versuchte sich an einem Lächeln. Wie gerne sie das glauben würde. Sie hievte den Koffer die Treppe hinauf. Neben ihrer Mutter blieb sie stehen. Keine Reaktion.

»Schön dich zu sehen, Großmutter Ingeborg«, fiel sie ihnen ins Wort.

Die beiden drehten sich zu ihr. »Sandira, wie oft soll ich dir noch sagen, man unterbricht eine Unterhaltung nicht.«

»Man begrüßt im Normalfall auch seine Gäste.«

Großmutter Ingeborg zog eine Augenbraue hoch.

»Das Fräulein hat Temperament.«

»Sie wird sich wieder beruhigen. Dass wir nicht an die Nordsee fahren, hat ihre gute Stimmung ruiniert. Ich kann es verstehen, immerhin hat sie sich so viel Mühe gegeben, die Strandhütte rauszusuchen. Mein Einsatz für die Firma fordert in letzter Zeit einige private Opfe ...«

Das Klingeln eines Smartphones unterbrach ihre Mutter. Hektisch fummelte diese es aus ihrer Hosentasche.

Sandira verdrehte die Augen.

»Liebling, wir müssen langsam los, wenn wir unseren Flug bekommen möchten«, rief ihre Mutter.

»Oh, schon so spät!«

Sie wirbelte zu Sandira herum. »Falls du etwas brauchst, scheu dich nicht davor, deine Großmutter zu fragen. Du kannst uns mit dem Smartphone erreichen.«

»Wirklich jetzt. Man kann sich nicht mal mehr ordentlich verabschieden, ohne dass das blöde Ding klingelt. Aber wenn ich euch versuche, anzurufen, seid ihr so disconnected wie im realen Leben. Bis ihr antwortet, ist eine Woche rum.«

Ihre Mutter ignorierte Sandiras Redefluss. Sie nahm Sandira in die Arme und drückte sie fest. »Und vergiss nicht, deiner Großmutter das Geschenk von uns zu geben.«

»Keine Sorge, ich denk schon dran.«

Oder: Es wird meine Nervennahrung, je nachdem, wie schrecklich mein Zimmer ist.

Sandiras Mutter löste die Umarmung, schob Sandira ein Stück nach hinten und schaute ihr fest in die Augen.

Ein breites Lächeln lag auf ihrem Gesicht. »Ich bin so stolz, dass du schon so selbstständig bist!«

Vögel, die aus dem Nest geworfen werden, müssen ja auch schnell fliegen lernen. Sandira lächelte traurig.

Ihre Mutter schien es nicht zu bemerken. Sie gab ihr ein Küsschen auf die linke und die rechte Wange. Dann eilte sie zum Auto.

»Mach es gut, Große!« Ihr Vater umarmte sie fest. Noch bevor sie die Umarmung erwidern konnte, hastete er hinter seiner Frau her. Der Motor startete. Ihr Vater setzte zurück und umfuhr den Petunientopf. Sandira blickte dem Wagen hinterher, als er vom Hof rollte. Wenige Sekunden später wurde es von den dicht stehenden Bäumen, die das Grundstück umrandeten, verdeckt.

Jetzt galt es, Großmutter Ingeborg für die nächsten Wochen zu ertragen.

Einzelne Schweißtropfen rannen Sandiras Rücken herunter. Zwei Treppen hatte sie die Koffer hochgeschleppt. Zwei! Es war ja nicht so, dass es genügend andere Räume in diesem gottverdammten Haus gab.

Sie zerrte den zweiten Koffer über die Türschwelle ihres Zimmers. Kopfschüttelnd betrachtete sie den Türrahmen. Das Holz war abgesplittert, bearbeitet durch kleine, spitze Krallen. Mister Miez’ inoffizieller Kratzbaum. Wo der Kater wohl steckte?

»Miez, Miez! Wo steckst du, Mister Miez?«

Sandira lauschte. Kein Kater weit und breit. Sie zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich trieb sich das Fellknäuel im Garten herum.

Sie trat in ihr Zimmer und schob den zweiten Koffer neben ihren anderen. Die Räder hinterließen Spuren in der dünnen Staubschicht, die sich wie ein Seidenschleier über den Boden gelegt hatte. Sandiras Lippen kräuselten sich. Mit ihrem Zeigefinger strich sie über den Bettpfosten zu ihrer Linken. Als sie ihren Finger hob, war er mit Staub überzogen. Sie rieb Daumen und Zeigefinger übereinander. Der samtene Staub wurde zu groben Klumpen und fiel auf die Holzdielen.

Ein absoluter Staubrekord. So viel lag nicht einmal auf ihrem Computerbildschirm. Sie ließ sich auf das schmale Bett an der Wand plumpsen. Eine Staubwolke hüllte sie ein. Sie nieste. Es schüttelte sie. Widerwillig stand sie auf und öffnete das vorderste Fach ihres Koffers. Elendige Absteige. Das ist ja versiffter als das Hostel, in dem ich mit Lena auf Malle untergekommen bin, und da sind uns die Kakerlaken morgens über die Füße getanzt.

Sie kramte im Koffer, bis sie eine Packung Taschentücher fand. Sie schnäuzte sich. Ich hätte besser eine Jumbopackung mitgenommen. Ihr Blick wanderte, an dem hohen Einbauschrank vorbei, zum Schreibtisch am Giebelfenster. Unter diesem stand ein zerbeulter Mülleimer. Das hier war eine einzige Bruchbude.

Sandira knüllte das Taschentuch zusammen und warf es durch die Luft. Es streifte den Rand des Eimers, nur um schließlich auf dem Zimmerboden zu landen. Haben meine Eltern auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wo sie mich abgeben? Haben sie sich diesen Saustall einmal angesehen? Sie bezweifelte es stark. Aber was kümmerte es ihre Alten schon, wo sie landete, solange sie ihrem Traumberuf nachgehen konnten.

Blöde Firma! Sandira hätte am liebsten gegen den Koffer getreten, ließ es dann aber doch bleiben. Er konnte ja nichts für den Mist, den ihre Eltern bauten. Sie stapfte Richtung Schreibtisch und hob das Taschentuch auf. Mit Schwung pfefferte sie es in den Mülleimer. Anschließend wandte sie sich dem Fenster zu. Es war nicht das Giebelfenster, welches sie vom Hof aus gesehen hatte. Der Staub klebte am Glas und ließ die Sicht verschwimmen. Die Umrisse eines Gartens erahnte sie bloß. Sie beugte sich über den Schreibtisch, um einen Teil der Staubschicht fortzuwischen, die ihr einen besseren Blick auf die Grünfläche verwehrte. Ihre Handfläche berührte eine klebrige Schicht aus Staub. Diese erinnerte sie an die Fettschicht auf den Küchenschränken, die ihre Mutter mit ausgelegtem Zeitungspapier zu bekämpfen versuchte. Ihre Hand hinterließ eine verschmierte Spur. Das kann doch nicht wahr sein. Nicht einmal ein ordentlicher Blick aus dem Fenster war ihr vergönnt. Sie ballte ihre Hand zur Faust und rieb energischer über das Glas. Keine Chance. Frustriert ließ sie ihre Faust sinken. Sie würde es nur noch mehr verschmieren.

Sie schlug sich gegen die Stirn. Warum war sie nicht früher darauf gekommen? Sie kletterte auf den Schreibtisch und packte die Fenstergriffe. Sie zog und zerrte an ihnen, bis sie sich knarzend bewegten. Mit einem Ruck öffneten sich die beiden Fensterflügel. Der Geruch einer frisch gemähten Wiese strömte ins Zimmer. Unter ihn mischte sich der süßliche Duft von Petunien.

Von hier oben schaute sie in einen weiten Garten, er war von ordentlich geschnittenen Hecken eingerahmt und um ein Vielfaches größer als der bei ihr Zuhause. In ihm wuchsen Zwergobstbäume und Beerensträucher. In seiner Mitte war eine Kräuterspirale aus Backsteinen errichtet worden. In der rechten, hinteren Ecke des Gartens ruhte ein Teich, der von Schilf und Schlick umgeben war. Sie beugte sich noch ein klein wenig weiter vor, sie blickte geradewegs auf unzählige Blumenkästen, in denen sich Großmutter Ingeborgs geliebte Petunien tummelten. Tief sog sie die frische Luft ein. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben. Solange die Sonne schien, würde der Garten ihr Zimmer sein. Wenn ihre Oma glaubte, sie würde drinnen versauern, hatte sie sich geschnitten.

Sie warf noch einmal einen Blick aus dem Fenster, bevor sie vom Schreibtisch stieg, und sich umsah. Eine schmale, mahagonifarbene Holztüre blitzte am Rand ihres Gesichtsfeldes auf. Sie legte ihren Kopf schräg. Was sich hinter ihr wohl verbarg?

Sie schlenderte zur Tür. Als sie diese öffnete, schlug ihr der Geruch von abgestandenem Wasser entgegen. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Von der Decke baumelnd flackerte eine Glühbirne und sorgte für spärliches Licht.

Sie trat einen Schritt zurück. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in das dürftig ausgestattete Badezimmer. Waschbecken, Toilette, verschimmelte Duschwanne ohne Vorhang. Die Wände glotzten ihr in einem knalligen Rot entgegen. Ihre Großmutter sollte dringend einen Innenraumdesigner zurate ziehen. Nun wusste sie auch, woher ihre Mutter den Hang zur grauenhaften Wohnungsgestaltung hatte.

Sie schloss die Tür wieder. Ob ihre Oma wohl eine Putzfrau hatte? Eher nicht. Wer war schon so irre und ging freiwillig in ein abgelegenes Haus irgendwo im Wald? So dumm waren nur Menschen in Horrorfilmen. Sie zog eine Grimasse. Wer bin ich, darüber zu urteilen? Immerhin bin ich es, die in diesem verdammten Gruselhaus festsitzt.

Sie wandte sich ihren Koffern zu, unsicher, ob sie ihre Kleidung in den staubigen Schränken verstauen sollte.

Eher nicht.

»Sandira, Kaffee und Kuchen!« Die Stimme ihrer Großmutter schallte aus dem Erdgeschoss zu ihr herauf.

Sie warf einen letzten Blick auf ihre Sachen, bevor sie aus dem Zimmer stiefelte und die Treppe hinunterlief. Gepackte Koffer hatten einen Vorteil. Sie konnte schneller von hier abhauen. Sie lächelte. Sie bräuchte nur die Nummer eines Taxiunternehmens und schon ginge es zurück in die Stadt.

Am Fuß der Treppe angekommen, stieß sie gegen eine halbgeöffnete Tür. Knarzend schob sie sie auf. Vor ihr lagen Betontreppenstufen, die ins Dunkle hinabführten. Von unten drang ein monotones Summen an ihre Ohren. Wahrscheinlich eine alte Tiefkühltruhe, die so viel Strom frisst, dass man damit ein ganzes Dorf versorgen kann. Warum die Dinger noch zugelassen waren, war ihr ein Rätsel. Sie drückte die Tür wieder zu. Hinter ihr entdeckte sie einen Fressnapf mit Katzenpfotenmuster. Er war randvoll mit Nassfutter. Welche Katze ließ sich nicht durchs Futter anlocken?

Sie wanderte den Flur entlang und spähte in die Zimmer. Ein Vorratsraum, ein Abstellraum, ein Lesezimmer, dessen Regale sich unter dem Gewicht der Bücher bogen. Sie folgte dem Geruch nach frisch gebackenem Kuchen und betrat das Wohnzimmer, welches nahtlos in ein Speisezimmer überging. Alte, nussbraune Schränke standen an den Wänden. Zu ihrer Rechten ragte eine antike Standuhr auf, die fast doppelt so groß war wie sie. Unterhalb des Panoramafensters, welches einen Blick über den gesamten Vorhof ermöglichte, kauerte eine niedrige Kommode. Auf dieser waren unzählige selbstgehäkelte Tischläufer ausgestellt. In der Mitte des Zimmers stand ein Tisch mit sechs Stühlen aus massivem Holz. Der Esstisch wurde von einer besonders großen, grau angelaufenen Häkeldecke geziert.

Sandiras Oberlippe zuckte. Was sollte sie ihren Freunden vom Sommer erzählen?

Ich hab mit Großmutter Ingeborg gehäkelt. Übrigens ... ich bin richtig gut darin geworden. Hier hast du auch eine Decke.

Sie schnaufte. Auf gar keinen Fall würde sie auch nur eine Häkelnadel anrühren. Entweder Großmutter Ingeborg fiel eine andere Beschäftigung für sie ein oder das nächstbeste Taxi brachte sie zu ihrer besten Freundin. Sie schnupperte in der Luft. Der Kuchengeruch mischte sich mit dem von Schokolade. Na ja, zu Kuchen würde sie nicht Nein sagen. Zumindest nicht zu einem Stück Schokokuchen.

Sie betrachtete das Gedeck auf dem Tisch, bei dem Tassen, Teller und selbst das Besteck mit Blümchen bemalt waren.

»Hilfst du mir bitte, den Kuchen ins Esszimmer zu bringen?«

Sandira ging ein Stück weiter durch das Speisezimmer, bis sie an einen Türrahmen innehielt. Sie spickte durch ihn hindurch. Ihre Großmutter schob den Kuchen auf eine Tortenplatte. Als er sicher auf dieser ruhte, trat sie auf ihre Enkelin zu und reichte ihr die Platte. Sandira blieb nichts anderes übrig, als sie entgegenzunehmen.

»Backst du gerne?«, stolperten die Worte unbeholfen über ihre Lippen.

»Ja, es ist wie Chemie. Mit den richtigen Zutaten ist es ganz leicht und als Pluspunkt gibt es noch etwas Leckeres zu essen«, entgegnete ihre Oma.

»Ähh, ja. Wo soll ich den Kuchen hinstellen?«

»In die Mitte des Esstisches. Ich bring den Rest mit.«

Sandira balancierte die Tortenplatte auf einer Hand. Am Tisch angekommen schob sie einen Stuhl zur Seite und gab dem Kuchen einen Schubs, sodass er über das polierte Holz schlitterte. Unschlüssig darüber, wo sie sich hinsetzen sollte, blieb sie stehen. Zu Hause hatten alle ihren festen Platz. Ihre Mutter saß am Kopfende, zu ihrer Rechten Sandiras Vater und links von ihr Sandira. Ihre Eltern bestanden auf eine gemeinsame Mahlzeit am Tag. Dabei konnte von gemeinsam wohl kaum die Rede sein. Ihr Vater blätterte durch seine neueste Ausgabe der Wirtschaftszeitung und das Smartphone ihrer Mutter summte elendig in der Mitte des Tisches, zumindest so lange, bis diese dem Drang nicht zu widerstehen vermochte und das Telefonat annahm. Anschließend tigerte sie mit langen Schritten im Esszimmer auf und ab und diskutierte mit einem ihrer Manager. Ihr Vater schaute dann immer wieder zu ihr hin, tippte mit seinem Finger gegen die Zeitschrift und manövrierte parallel das Essen in seinen Mund. Neunzig Prozent der Gespräche endeten damit, dass beide so schnell wie möglich ins Büro mussten. So zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk erkannte ihr Vater den Moment des Aufbruchs und streifte sich die Jacke über. Kurze Zeit später donnerte die Haustür zu. Sandira schnappte sich dann ihr Essen und setzte sich vor den Laptop.

Gedankenverloren sah sie, wie ihre Großmutter mit einer dampfenden Kaffeekanne aus der Küche kam. »Setz dich.«

»Wohin?«

»Wo du möchtest. Es gibt hier keine Sitzordnung.«

Sandira zog den Stuhl vor sich zurück und setzte sich. Von hieraus hatte sie eine herrliche Aussicht auf den Vorhof.

Ihre Großmutter schnitt den Kuchen an und deutete ihrer Enkelin an, ihr den Teller anzureichen. Diese streckte ihn zögernd ihrer Oma entgegen. Ingeborg schob sorgfältig ein Kuchenstück auf ihn.

»Danke.«

Sandira stellte den Teller ab und griff nach der Kaffeekanne.

»Heiße Schokolade. Deine Mutter meinte, die trinkst du gerne.«

Für einen Moment stieg ein wohliges Gefühl in ihr auf. Ihre Großmutter reichte ihr eine Serviette mit Blümchenmuster. Noch mehr Blümchen. Sie schüttete sich den Kakao ein. Vorsichtig nippte sie an der Tasse. Ein kräftiger Schokoladengeschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Überrascht schaute sie auf.

»Schokolade aus dem Bioladen«, sagte ihre Großmutter.

»Hast du die extra für mich gekauft?«

»Ich habe es passend gefunden. Immerhin interessierst du dich für die Umwelt, oder?«

»Wo gibt es hier denn Geschäfte?«

»Im nächsten Dorf. Da ist ein Biobauer mit Hofladen.«

»Können wir dahin?«

»Schauen wir mal. Ich habe kein Auto. Und die zwanzig Kilometer wären mir etwas zu viel zu Fuß. Als ich jünger war, bin ich öfters mit dem Fahrrad dort hingefahren, aber das alte Klappergestell hat seine besten Tage hinter sich. Eine Freundin aus dem Dorf bringt mir meine Einkäufe vorbei.«

Sandira verzog das Gesicht.

Hier ist gar nichts los. Kann hier nicht wenigstens einmal am Tag ein Bus vorbeikommen? Trampen wäre vielleicht eine Idee?

»Deine Mutter meinte, du hättest mit deinen Klassenkameraden ein Projekt zum Plastikmüllsammeln ins Leben gerufen und in den Osterferien im Tierheim ausgeholfen.«

Sandira grübelte. Es war ja nicht neu, dass ihre Mutter von ihren Leistungen berichtete. Sie waren immerhin das Einzige, was man als erwähnenswert erachtete. Für das Plastikmüllprojekt hatte ihre Mutter sich erst interessiert, als es in der Zeitung stand. Von da an konnte sie stolz erzählen, dass ihr Kind im Tageblatt war, ohne selbst den Artikel gelesen zu haben. Vorher hatte sie rumgenörgelt, dass ihre Tochter die ganze Zeit das Arbeitszimmer besetzt hielt, um an dem Projekt zu feilen.

Im Tierheim hatte sie in der Tat ausgeholfen. Ursprünglich hatte ihr Vater sie auf den Weg zur Arbeit abgesetzt, mit der Zusage, sie nach Dienstende abzuholen. Was er dabei nicht bedachte, war, dass seine Dienstzeiten die Öffnungszeiten des Tierheims überschritten. Ihre Mutter, die innerorts Termine hatte, und sie theoretisch mitnehmen konnte, hatte vergessen, wann sie Schluss hatte.

»Ja, meine Mama ist begeistert von meinen Projekten.«

Großmutter Ingeborg hob eine Augenbraue. »Ich bin mir sicher, dass du Großes leisten wirst.«

Entgeistert blickte Sandira zum Fenster, sah dort ein Bild einer schwarz-weißen Katze, ähnlich gemustert wie ein drolliger Panda, die mit olivgrünen Augen in die Kamera starrte.

Sie ließ ihren Blick suchend durchs Wohnzimmer wandern.

»Wo ist Mister Miez?«

»Mister Miez ist leider von einem seiner Spaziergänge nicht heimgekehrt. Aber weite Strecken machen ihm nichts aus. Er stromert irgendwo umher.«

Sandira stocherte in ihrem Kuchen herum, bis von ihm nur noch ein Trümmerhaufen übrig blieb.

»Weißt du, ich bin schon lange beim Umweltschutz. In meinem Refugium leben Tier- und Pflanzenarten, die vom Aussterben bedroht sind.«

»Und welche sollen das sein?«

Der strenge Blick ihrer Großmutter erweichte sich ein wenig. »Im Garten wachsen Wildorchideen und ich züchte Alpensalamander. Im Moor hinter dem Grundstück brütet ein Pärchen Goldregenpfeifer. Hierzulande eine bedrohte Art.«

»Kann ich sie mir mal anschauen?«

»Nach dem Essen werde ich dir alles ums Haus herum zeigen.«

»Was kann man hier sonst so machen?«

»Hier gibt es Bussarde, die man beim Vorbeifliegen und Jagen beobachten kann.«

Sandira pfiff wie ein rauschender Teekessel durch den Raum. »Spannend ... Wie lautet dein WLAN-Passwort?«

Ingeborg zupfte eine Strähne zurecht, die sich aus dem Dutt zu lösen drohte. »So etwas Neumodisches habe ich nicht, aber dafür einen Farbfernseher. Mit vier Sendern! Die Gebühren für die Privaten habe ich ausgelassen. Da läuft ja nur Unsinn.«

Sandira kribbelte es in den Fingern. Der Gedanke, ihre Lieblingsserie auf dem Streaming-Portal nicht gucken zu können, ließ eine Ader an ihrer Stirn pochen. Allein die Überlegung, dass man für gepflegtes Seriengucken eine feste Uhrzeit brauchte, hatte nicht viel mit Retrocharme zu tun, sondern grenzte an Folter.

»Großmutter Ingeborg, kein Wunder, dass du nur Häkeldeckchen im Kopf hast.«