Sarah - Zeit zum Aus(auf)brechen - Sigrid Wagner - E-Book

Sarah - Zeit zum Aus(auf)brechen E-Book

Sigrid Wagner

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Beschreibung

Sarah, eine clevere Steuerfachfrau, steht mit Anfang 40 vor einem Scherbenhaufen. Der frühe Tod ihrer Eltern und ein unerfüllter Kinderwunsch lasten seit Jahren auf ihr. Aber der unverzeihliche Ehebruch ihres Mannes stürzt sie für lange Zeit in ein freudloses, zurückgezogenes Dasein. Erst die Auswanderung ihrer besten Freundin rüttelt sie wach und sie beschließt, endlich neue Wege zu gehen und wieder mit offenen Augen am Leben teilzunehmen. Auf ihren Streifzügen durch die Stadt lernt sie wunderbare Menschen kennen und eingefrorene Emotionen tauen auf. Aber auch mit den Schattenseiten der verschiedenen sozialen Milieus kommt sie ständig in Berührung, gerät in abenteuerliche, gefährliche Situationen und landet mitten zwischen jungen Menschen, die in der Gemeinschaft und mit sozial pädagogischer Betreuung ihren Platz in der Gesellschaft finden wollen. Mit Herz und Verstand gibt Sarah alles, um sie dabei zu unterstützen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

1

Bedrohlich nah rückten ihr die hässlich grauen Betonmauern links und rechts auf den Leib und entsetzt über sich selbst verharrte Sarah. Es war nur eine Empfindung, wie sollten sich dicke Mauern ohne Erdbeben aufeinander zubewegen, nur ein Gefühl, das ihr Schauer über den Rücken jagte. Welcher Teufel hatte sie wohl geritten einem fremden Mann bis in diese Gasse zu folgen, ihm einfach hinterherzulaufen und dabei in dieser unheimlich düsteren Gegend zu landen. Blitzartig erinnerte sie sich an einen Schriftzug am Anfang der Gasse; „yok bölge“ stand an der Wand. Sie hatte davon gehört, verbotene Zone bedeutete es übersetzt, und jeder normaldenkende Mensch mied diese Ecke in der Stadt. Dafür trieben sich jede Menge zwielichtiger Personen hier herum, wickelten dubiose Geschäfte ab, dealten und blieben so gut wie unbehelligt dabei.

Sie musste sofort weg hier, ob es nun der Mann war oder nicht, der ihr vor Wochen einmal beigestanden hatte, als sie vor Marys Bar von zwei Männern belästigt wurde. Heute hatte sie ihn in der Stadt gesehen und wollte es herausfinden.

Es war zu spät! Sirrende Geräusche kamen auf sie zu, gespenstisch tanzten Schatten hin und her im trüben Licht der Straßenlaterne. Die Geräusche wurden lauter, kamen schnell näher und ihr blieb nur die Flucht nach vorn. Sie drückte sich an die alten Mauern und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Drei E-Roller sausten an ihr vorbei, dann war Ruhe und langsam beruhigte sich auch ihr Puls. ‚Mein Gott, wir waren doch nicht in Chicago. Sie hatte wohl zu viele Krimis gesehen.‘ Sarah kicherte vor sich hin und legte im Eiltempo die letzten Meter in der engen Gasse zurück. Das flaue Gefühl in der Magengegend blieb.

Auf der linken Seite öffnete sich ein kleines Wäldchen. Der Weg hindurch führte über den Bahnhof zur Stadtmitte. Aber das war ihr zu unheimlich. Am Gebäudeende gabelte sich ein anderer Weg, scharf rechts an einer Baustelle vorbei oder noch ein Stück gerade aus an einem bunkerähnlichen Gebäude vorbei, die führten auch in der Stadt. Sie ging erst einmal geradeaus und blieb wie angewurzelt stehen. An der Hausmauer leuchtete ihr flammendrot ein großes Herz entgegen mit den Buchstaben „ask“ in der Mitte. Fasziniert schaute sie darauf.

„Was machst du hier, spionierst du herum?“

Erschrocken drehte sie sich um und schaute einem jungen schwarzhaarigen Burschen direkt ins Gesicht. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, schob er sie sanft durch eine Tür, in einem Raum, der erfüllt war von Stimmengemurmel und von Ausdünstung geschwängerter Luft, die ihr fast den Atem nahm. Dann flogen Worte durch die Luft, wie: Batu, wer ist die Lady, wem schleppst du da an? Was sucht die hier, braucht sie Abwechslung und ähnliches mehr. Plötzlich war sie von 10,12 jungen Leuten umringt. Sie starrten sie neugierig an, liefen um sie herum, scherzten und lachten. Das gefiel ihr gar nicht und ihr Kampfgeist erwachte. Angst verspürte sie nicht, aber wohl fühlte sie sich auch nicht in ihrer Haut. Das vage Gefühl mochte sie nicht und je näher sie zusammenrückten, umso ärgerlicher wurde sie auf sich selbst. Warum rannte sie auch einen Fremden hinterher und brachte sich in eine derart blöde Lage. ‚Aber es waren noch halbe Kinder und die würde sie wohl in ihre Schranken weisen können‘, dachte sie, und schaute gelassen in die Runde. Sie musste ihn Ruhe darüber nachdenken, wie sie den Jugendlichen entgegentreten wollte. Es war hier wohl ihr Revier und sie der Eindringlich. Also, die Autoritätsmasche wäre unangebracht, zu locker sollte es auch nicht sein. Der harmlose Mittelweg musste her, sie einfach überrumpeln mit einer einfachen Frage.

„Habt ihr vielleicht einen Schluck Wasser für mich? Die Luft ist hier ziemlich dick.“

„Da schau, da wird sie munter, die Lady“, knurrte einer aus der Runde und griff nach ihrem Arm.

„Lass das, Aky, die Lady sucht mich, sie gehört zu mir, ist das angekommen?“, mischte sich ein großer, dunkelhaariger Mann ein, schob die anderen zur Seite und dirigierte sie an einen kleinen Tisch in der Ecke. Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, vor allem wie er sie aussprach. Die Jungs verkrümelten sich ohne Widerspruch. Und beim Klang seiner Stimme war sie sich 100% sicher, es war der Fremde, der ihr vor „Marys Bar“ beigestanden hatte, als zwei Männer sie am Einsteigen ins Taxi hindern wollten. Diesen Machos hatte Sarah in der Bar eine deftige Ansage gemacht, laut und deutlich, alle bekamen es mit. Und warum, die hatten sich auf die übelste Weise und sehr obszön über jede Frau in der Bar ausgelassen, und das hatte Sarah maßlos geärgert. Jetzt saß er vor ihr, der Fremde, konnte sich wohl nicht an sie erinnern, und sie rannte ihm durch die halbe Stadt hinterher.

Eine gefühlte Ewigkeit musterten sie sich ohne Worte und Sarah wich seinem durchdringenden Blick nicht aus. Leichtes Kribbeln breitete sich in ihr aus und schüttelte einige Emotionen durcheinander. Darüber wurde sie wütend, wütend auf sich selbst, weil ihr einfach die Worte fehlten, um ein Gespräch zu beginnen. Sie war doch sonst redegewandt und nicht auf dem Mund gefallen. Er schien sich darüber zu amüsieren. Kleine Fältchen legten sich um seine dunkelbraunen Augen und das ärgerte sie noch mehr.

„Tee oder Kaffee?“

„Tee, am besten mit Schuss!“, knurrte sie gereizt zurück und schaute ihm mit gemischten Gefühlen hinterher, als er hinter einer Tür verschwand. Nur ein paar Minuten ließ er sie allein. Aber die reichten aus, um sich genau an die Nacht zu erinnern, als er plötzlich neben ihr stand. Es war an einem ihrer „furchtbaren Tage“ im Jahr, mit denen sie seit 4 Jahren immer noch nicht zurechtkam.

Schon am Freitagabend verschlechterte sich Sarahs Laune von Stunde zu Stunde. Und der einzige Mensch, der sie da rausholen könnte, war sehr weit weg, ihre Freundin Maren. Maren, eine wunderbare, wenn auch etwas durchgeknallte Künstlerin machte Urlaub mit Jose in seiner Heimat. Sie gönnte es den beiden von Herzen, aber heute trauerte sie ihr nach, der lustigen, warmherzigen Freundin, die sie in jeder Lebenslage zum Lachen brachte und immer sagte; irgendwann hört das auf. Da hatte sie wohl Recht, aber trotzdem graute es Sarah vor ihrem Hochzeitstag morgen, der seit 4 Jahren keiner mehr war.

Mit schwerem Kopf quälte sie sich am Samstagmorgen aus den Federn. Das letzte Glas Wein war wohl zu viel, egal. Eine warme Dusche, starker Kaffee, Herumkramen und Klamotten aussortieren in ihren Schränken brachten sie wieder ins Gleichgewicht, ein guter Anfang. Eigentlich kam sie mit ihrem Singledasein sehr gut zurecht, außer an den furchtbaren Tagen, die sie immer wieder zurückwarfen. Die musste sie endlich aufarbeiten und genau heute würde sie damit beginnen. ‚Jawoll, heute Abend würde sie in „Marys Bar“ gehen, das erste Mal nach 4 Jahren, und endlich den Restmüll entsorgen. Mentalen Restmüll, den ihr Ex Ehemann nach 20 gemeinsamen Jahren zurückgelassen hatte.‘ Laut trällerte Sarah durch ihre Wohnung, putzte sich später heraus und zog gegen 20 Uhr die Tür hinter sich zu.

Mary, die Seele der Multi Kulti Kneipe war leider nicht da. Aber Jo, ihr Lebensgefährte, er starrte sie an wie einen Geist. Sein Blick sprach Bände, drückte Überraschung, ehrliche Freude und gleichzeitig schlechtes Gewissen aus. „Sarah, was für ein wunderbarer Abend“, rief er überschwänglich aus, eilte hinter dem Tresen hervor, nahm sie fest in die Arme und schob sie dann ein Stück von sich. „Du siehst toll aus, wie geht es dir?“

„Willst du das tatsächlich wissen? Ihr habt es alle gewusst, nur die treudoofe Sarah nicht, oder?“ Mit Absicht dämpfte Sarah sehr kühl die Wiedersehensfreude ihres Lieblings Barkeepers und amüsierte sich, wie kleinlaut er plötzlich wurde, einen Gin Tonic mit Eis und Zitrone mischte und mit Dackelblick vor ihr abstellte. „Na wenigstens das hast du nicht vergessen, herzlichen Dank!“, rief sie laut, packte lachend seine Hand und strahlte ihn an. „Du kannst ja nichts dafür, dass mein Freddy sich ein anderes Kuscheltier gesucht hat.“

„Oh Gott“, stieß Jo erleichtert aus, „alles gut zwischen uns? Mary liegt mit Grippe zuhause, schade, sie hätte sich auch gefreut, dich endlich mal wiederzusehen. Wie lange ist das jetzt her, doch bald 4 Jahre, oder?“ Jo plapperte und plapperte bis ein Gast ungnädig wurde, er wartete auf seine Bestellung und in dem Moment platzierten sich noch mehrere Männer am großen Tisch in der Ecke.

Sarah war das sehr recht. Sie nippte genüsslich an ihrem Lieblingsgetränk, drehte ihren Barhocker und schaute sich in aller Ruhe um. Es hatte sich kaum etwas verändert, vielleicht die liebevoll ausgesuchte Deko, die auf den Fensterkonsolen stand, aber die Poster mit Künstlern aus aller Welt zierten immer noch die Wände. Genau hier fing es vor 26 Jahren an. Sie lernte ihre erste große Liebe kennen und blieb an ihr hängen wie eine Klette, und das sehr glücklich. Aber wie jeder weiß, ist das Leben kein Wunschkonzert. Sie musste einige Tiefschläge einstecken und der zweite „furchtbare Tag“ brachte sie aus dem Gleichgewicht und hinterließ tiefe Spuren bis heute. Nach 5 Ehejahren kündigte sich endlich Nachwuchs an, sie freuten sich wahnsinnig, aber es sollte nicht sein, sie verlor das Kind und die Gebärmutter gleich mit, aus der Traum. Gemeinsam standen sie die traumatische Zeit durch, doch einige Steinchen bröckelten aus den festen Mauern. Immerhin hatten sie noch 15 schöne Jahre standgehalten, dachte sie immer, bis heute vor vier Jahren, als sie gnadenlos zusammenbrachen.

„Ist Ihnen kalt?“ Die dunkle Stimme holte sie aus den unschönen Erinnerungen zurück in die Wirklichkeit und das Frösteln ebbte ab. „Nur Schatten der Vergangenheit, die ich endlich abschütteln will“, antwortete Sarah, zog eine Grimasse und beobachtete den Mann. Er stellte zwei Teegläser auf den Tisch, setzte sich ihr gegenüber, musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. Sarah nippte an ihrem Glas, schmeckte Rum heraus und spürte Wärme, die sich sofort in ihr ausbreitete und sie fühlte sich wohl dabei. Er quittierte es mit einem Lächeln, wurde gleich darauf wieder ernst.

„Warum sind Sie hier, was suchen Sie hier, haben Sie sich verlaufen? Sie sollten diese Gegend meiden, hier gehören Sie einfach nicht hin, glauben Sie das nicht auch?“

„Reden Sie nicht mit mir wie mit einem Kind, verdammt. In meiner Stadt kann ich herumlaufen, wo ich will und wann ich will! Wer will mir das verbieten?“, protestierte Sarah laut und nahm einen großen Schluck.

Etwas überrascht von dem Ausbruch bewegte ihr Gegenüber die Hände auf und ab, wollte sie so beruhigen, da die Szene von allen anderen im Raum grinsend beobachtet wurde. „Klar können Sie das, aber ein bisschen nachdenken vielleicht, und an einem sicheren Ort oder in einer Bar mitten in der Stadt die Schatten der Vergangenheit bewältigen, oder Sarah.“

Das gab ihr jetzt noch den Rest, er hatte sie im Café am Marktplatz also doch erkannt, wusste sogar ihren Namen. Jetzt wurde sie richtig wütend. Sie beugte sich ein wenig vor und zischte mit verhaltener Stimme. „Ach, sicherer Ort, mitten in der Stadt, nirgends ist man heute noch ganz sicher, oder? Und außerdem sind Sie schuld, dass ich hier gelandet bin. Und was sollte dieser bescheuerte ZIK ZAK Lauf durch die halbe Einkaufsstraße? Ein kleines Hallo hätte gereicht, dann würde ich wohl nicht hier sitzen an diesem unheimlichen Ort.“ Sarah lehnte sich zurück und schaute ihm gerade ins Gesicht. Das musste jetzt einfach raus und sie war sehr gespannt auf seine Reaktion. Bis jetzt schwieg er, aber sie konnte sehen, dass es in seinem Kopf arbeitete. Sie betrachtete ihn in aller Ruhe, forschte in seinem Gesicht. Und was sie sah, gefiel ihr. Da wurde ihr klar, dass es der erste Mann seit Jahren war, der ihr Interesse am männlichen Geschlecht überhaupt wieder wachrüttelte.

„Touché“, ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er nahm die leeren Gläser, stand auf und schaute sie fragend an. Sarah hob abwehrend die Hand und er kam nach wenigen Minuten zurück. „Ich bin Wolf und ich wollte dich auf jedem Fall abschütteln, was ja wohl nicht gelungen ist.“

„Warum?“, schoss es aus Sarah heraus. Diese Frage stand für Sekunden zwischen ihnen. Er schlug die Hände vors Gesicht, nahm sie wieder runter und kam ihrem Gesicht ganz nah. „Nicht alle Menschen in dieser Stadt mögen Wolf. Genügt das als Antwort?“ Sarah begriff den Sinn dieser Worte sofort und sie fühlte eine nicht zu erklärende Erleichterung. „Das reicht mir.“ Entspannt hielt sie seinen erstaunten Blick stand und drehte sich dann zum Billardtisch, der gerade frei wurde. Wolf schüttelte den Kopf und sah auf seine Uhr. „Nicht heute, ich muss weg. Kann ich dich zuhause absetzten, oder möchtest du noch in die Stadt?“

„Nach Hause ist okay, aber das nächste Mal…“ Sie versuchte grimmig zu schauen und zeigte zum Billardtisch. Er reagierte nicht darauf, keine Miene verzog er und wechselte noch ein paar Worte mit dem Kerl am Tresen. Ein Dutzend Augenpaare beobachtete sie, musterte sie von oben nach unten und ihre Nackenhaare sträubten sich. Trotzig warf sie die dunkelblonde Mähne nach hinten, wollte gerade etwas sagen, da packte Wolf ihren Arm und schob sie zum Ausgang.

„Es gibt wie überall auch hier Gute und Böse, glaube mir das, Sarah.“

Der Ton gefiel ihr gar nicht, doch sein Gesichtsausdruck war eindeutig und sie schwieg lieber. Sie hätte gern etwas über das rote Herz an der Hausmauer gewusst, aber na ja….

Fragen über Fragen schwirrten in Sarahs Kopf herum, als sie vor dem Hauseingang stand und dem schwarzen Auto hinterherschaute, bis es in der Linkskurve ihren Blicken entschwand. Er hatte nicht einmal nach ihrer Adresse gefragt, er wusste es einfach. ‚Such mich nicht, ich finde dich‘ waren seine letzten Worte, oder besser gesagt, die einzigen Worte überhaupt, die er nach Verlassen des Bunkers an sie gerichtet hatte.

Mit langen Schritten, so dass sie kaum folgen konnte, war er ein Stück durch die kleine Gasse gelaufen. Dann hatte er sie durch eine Pforte in einen Werkstatthof geschoben, da stand das Auto. Die Fahrt hatte keine 10 Minuten gedauert. Er hatte sie beim Aussteigen angelächelt und erst als sie den Schlüssel in der Hand hielt, war er losgefahren und sie blieb ziemlich verwirrt zurück, wusste nicht was sie davon halten sollte. Aber eins wusste sie genau, dass war sicher nicht das letzte Mal, dass sie diesen Menschen, der sie einige Zeit schon durcheinanderbrachte, sehen würde.

2

Irgendetwas war anders an diesem Sonntagmorgen. Lange betrachtete Sarah ihr Ebenbild im Spiegel, nahm akribisch jeden Gesichtszug unter die Lupe. Die Einkerbung zwischen den Augenbrauen war tiefer als früher, einige Krähenfüße in den Augenwinkeln dazugekommen und die Mundwinkel hingen leicht herunter, betont von sichtbaren Linien links und rechts zur Kinnspitze. Also keine Veränderungen und trotzdem spürte sie tief in sich drin; der gestrige Abend hatte etwas mit ihr gemacht. Mechanisch beendete sie die Morgentoilette, nahm ein leichtes Müslifrühstück im Stehen zu sich, so wie sie es immer machte in ihrer Miniküchenecke, und rauchte eine Zigarette auf der kleinen Terrasse, ihr tägliches Morgenritual an den Wochenenden.

Einer Eingebung folgend ging sie zum Schlafzimmerschrank, holte aus der hinteren Ecke einen größeren Karton hervor und stellte ihn auf den Wohnzimmertisch. Sie zögerte nicht lange, öffnete den Karton und verteilte den Inhalt auf Tisch und Couch. Kleine Geschenke ihres Mannes und Souvenirs aus vielen Ländern, in denen sie in glücklichen Zeiten den gemeinsamen Urlaub verlebt hatten, Jahr für Jahr. Beim Umzug in die neue Wohnung hatte sie den Karton, erfüllt von Wut, Verletztheit und tiefer Enttäuschung, schon in der Mülltonne entsorgt und holte ihn später wieder heraus, warum auch immer. Ganz entspannt nahm sie jedes einzelne Teilchen in die Hand und Erinnerungen überwältigten sie, schöne Erinnerungen. Und da wurde es Sarah bewusst, sie begann die Altlasten eines ihrer „furchtbaren Tage“, endlich abzustoßen, und genau das spürte sie tief in ihrem Inneren. Ein unangenehmer Schauer rieselte doch durch ihren Körper bei dem Gedanken, ob Fred ihr letztes Geschenk auch aufbewahrte.

In Berlin hatte sie es eigens anfertigen lassen, einen vergoldeten Kompass, eingebettet in einem roten Herzen mit der Aufschrift „Immer auf Kurs bleiben, in Liebe deine Sarah“ Sie war dort zu einer Weiterbildung und am Wochenende wollten sie in „Marys Bar“ ihren 20. Hochzeitstag feiern. Aus den Telefonaten hörte sie heraus, dass ein wichtiger Auftrag kurz vor dem Abschluss stand und in der Firma der Teufel los sei. Da nahm sie sich einen halben Tag frei, fuhr kurz entschlossen nach Hause, um mit ihrem Fred in den denkwürdigen Tag hin einzufeiern.

Herr Bertram, der nette Hausmeister der Firma „Strakmann & Co“, schaute sie völlig verdutzt an, als sie mit leichtem Handgepäck auftauchte, er wollte gerade abschließen. Frau Winter, rief er schon von Weitem, die feiern doch heute alle bei Strakmann den letzten Vertragsabschluss, wussten sie das nicht?

Sie bedankte sich und machte auf dem Absatz kehrt. Die alleinstehende Villa mit einem riesigen Anwesen war zu Fuß in gut 20 Minuten zu erreichen. Die brauchte sie jetzt auch. Bei jedem Schritt schwand ihre Wiedersehensfreude etwas mehr. Fred hatte ihr nichts gesagt davon und sie verstand es nicht. War das Absicht, oder was war das? Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrem Körper breit, je näher sie dem Ziel kam. Aber wenn sie geahnt hätte, was sie dort erwartete, wäre sie stehenden Fußes umgekehrt.

Auf ihr Läuten reagierte niemand. Sarah war schon öfters in diesem Haus und kannte den Nebeneingang, der direkt in den Wellness Bereich führte mit Swimming Pool, Wörl Pool und großzügiger Ausstattung zum Relaxen. Laute Musik und Stimmengewirr drangen herüber aus dem Wohnbereich und da sah sie es. Ihr Freddy und eine junge Bauzeichnerin hingen im Wörl Pool wie zwei Frösche im Liebesspiel übereinander und durch das brodelnde Wasser drangen laute, verzückte Töne an ihr Ohr. Zur Steinsäule erstarrt starben alle nur denkbaren Regungen in ihr ab. Die wenigen Sekunden kamen ihr vor wie Stunden. Dann trafen sich ihre Augen, sein Blick erschrocken, fast entsetzt. In ihrem Kopf hämmerte nur der eine Satz; diesen Verrat verzeihe ich dir nie. Plötzlich kam Strakmann, sein Chef, auf sie zu mit erhoben Armen. Wie sie später mal erfuhr, hatte der Pförtner ihn wohl angerufen und er war im Begriff seinen Mitarbeiter zu warnen, zu spät. Hocherhobenen Hauptes drückte sie ihm das Geschenk in die Hand, durchquerte die Party Szene und verschwand durch den Haupteingang.

Lange quälte sie der Gedanke, ob es besser gewesen wäre, auf diesen Überraschungsbesuch zu verzichten. Aber wie wäre es weitergegangen, sein Verrat an sie stand im Raum. Und heute wusste sie, es sollte wohl so sein. Naja, Schnee von gestern. Die Erinnerungen hatten sie so überfallen, aber zum ersten Mal tat es nicht mehr weh. Sie spürte es deutlich, einige bedrückende Schatten ihrer Vergangenheit lösten sich einfach auf. In dem Moment klingelte das Telefon, wie an jedem Sonntag, Punkt 11 Uhr.

‚Hallo my Dear, wie geht es dir‘, zwitscherte Marens Stimme ihr ins Ohr, klar und deutlich, als würde sie neben ihr stehen, dabei trennten sie gerade über 2000 km. Ehe sie die richtigen Worte finden konnte, schwärmte ihre beste Freundin geschlagene zehn Minute von einer fantastisch gelegenen Finca, von traumhaft schönen Olivenhainen und Stränden am blauen Meer und wie glücklich sie hier sei. Plötzlich war Funkstille.

„Sarah, bist du noch da, warum sagst du nichts?“

„Wie könnte ich denn, meine Süße, du lässt mich ja nicht zu Wort kommen“, reagierte sie und lachte, „und ja, mir geht es gut.“ Mit wenigen Worten erzählte sie von ihrem Besuch in „Marys Bar“, schilderte ganz undramatisch die Belästigung zweier Männer beim Nachhauseweg und von einem Unbekannten, der ihr beigestanden hatte. Und sie erwähnte auch, dass sie gerade im Begriff sei Schatten der Vergangenheit zu verjagen. Den gestrigen Abend verschwieg sie ihr, warum auch immer. Nach ein wenig Hin und Her Geplänkel beendete Maren das Gespräch, ihr Jose wartete. Sarah war nicht enttäuscht darüber. Sie hatte wohl bemerkt, dass Maren nur halbherzig heute bei ihr war und ganz andere Sachen im Kopf hatte, genau wie sie selbst. Dafür verspürte sie jetzt richtig Hunger und beschloss, sich eine Pizza frisch vom Holzkohleofen zu gönnen bei ihrem Lieblingsitaliener in der Einkaufsstraße.

Lecker, das würde sie jetzt öfter tun, passte doch genau zu den positiven Schwingungen, die seit heute Morgen ihr eingestaubtes Innenleben in Wallung brachten. Langsam kam Bewegung auf, Menschen spazierten hin und her, genossen die Aprilsonne beim Schaufensterbummel oder verschwanden in einem der Restaurants. Gegenüber saß ein Straßenmusikant. Er saß öfter da, hatte einen Blindenstock neben sich stehen. Ob er nun blind war oder nicht, sein Gitarrenspiel gefiel ihr. Sie schmiss auch heute 1 Euro in seinen Becher und drehte sich noch einmal um. Zwei junge Männer, die lungerten länger schon herum, gingen über die Straße auf den Musiker zu. Der eine legte kumpelhaft die Hand auf seine Schulter, der andere bückte sich im Gehen, schnappte den Becher und weg waren sie. Was war das denn, Sarah konnte es nicht glauben, es dauerte nur Sekunden und keiner der Passanten hatte es mitbekommen. Empörung brodelte in ihr hoch, aber was hätte sie denn tun können, nichts. Krampfhaft versuchte sie sich an die Kerle zu erinnern, dunkelhaarig, dunkle Klamotten und ein orangener Aufdruck am Jackenärmel, das war alles.

Die Freude am Stadtbummel war ihr nach diesem Vorfall vergangen und auf dem kürzesten Weg eilte sie nachhause. In ihrem Kopf kreiselten die Gedanken. Was war los mit ihr? Unzählige Delikte, Übergriffe, Diebstähle, Rempeleien, Schlägereien bis hin zu Attacken mit Messern oder anderen Waffen, fanden täglich irgendwo statt, auch in ihrem Städtchen. War sie so naiv, lief sie blind durch den Tag, oder schaute sie einfach weg so wie die meisten Mitbürger. Dabei hatte sie es am eigenen Leib schon gespürt. Drei Tage vor Weihnachten wurde ihr an der Bushaltestelle sekundenschnell das Portmonee mit allen Ausweisen entwendet und das Konto leergeräumt.

An der Haustür schaute Sarah suchend die Straße hinunter bis zu der Linkskurve und eine dunkle Stimme drängte aus ihrem Unterbewusstsein hervor. ‚Es gibt wie überall auch hier Gute und Böse, begreife es endlich, Sarah‘, vernahm sie ganz deutlich, und die Erinnerung an den gestrigen Abend überrollte sie mit aller Macht. Ihr Inneres füllte sich mit Sehnsüchten; Sehnsucht nach Nähe, nach Berührung und Abenteuer, nach einem neuen Leben. Ihr eigenes war einfach in den letzten vier Jahren leergelaufen. Verlangte sie da zu viel, mit Mitte 40?

Fröstelnd verließ Sarah ihre kleine Terrasse, es war spät geworden. Hunger verspürte sie nicht und auch keine Lust auf Fernsehen. Ohne Groll packte sie die Geschenke und Andenken wieder in den Karton. Sie war schon lange auf der Suche nach einer schmalen, hohen Vitrine, darin würden sie dann ihren Platz finden. Das Mallorca Käppi hängte sie lächelnd an die Garderobe und atmete tief durch. Es war ein Anfang.

3

Am Freitagmorgen knisterte es im Büro. Der Chef rief sie zu sich und sie spürte die Blicke ihrer Kolleginnen im Rücken.

„Guten Morgen Sarah, wie geht es dir heute?“, forderte er sie mit den üblichen Floskeln zum Sitzen auf und sortierte Unterlagen dabei. Ein sicheres Zeichen, dass er sich nicht wohlfühlte in seiner Haut, so gut kannte sie ihn. Sie machte es ihm auch nicht leichter und wartete stumm wie ein Fisch darauf was er zu sagen hatte. Er rutschte im Sessel hin und her, hüstelte und nahm einen Schluck Wasser zu sich. „Also kurz gesagt, heute ist ja Frau Wellers letzter Arbeitstag. Wir verabschieden sie gebührend um 15 Uhr nach 30 Jahren Zugehörigkeit in den Ruhestand. Und wir müssen uns neu aufstellen. Ab sofort wird mein Sohn Frank gleichberechtigter Partner und seine jetzige Planstelle wird Frau Wilke einnehmen, als Abteilungsleiterin. Das wollte ich dir vorab schon mitteilen und ja ich weiß, den Posten hatte ich dir nach der Weiterbildung in Aussicht gestellt, aber…“

Sarah hatte es schon längst geahnt, drückte die aufsteigende Enttäuschung weg und bremste ihn aus, „Lassen Sie es gut sein, Herr Theusdorf, die Kollegin ist bestens qualifiziert, absolvierte auch Weiterbildungen und stolperte durch Juniors Bett zwei Gehaltsgruppen höher, ist doch so, oder Chef?“

„Sarah, bitte, wir bieten dir eine Gehaltserhöhung und die Stellvertretung an, ist doch eine Anerkennung, oder?“

„Gehaltserhöhung sehr gerne, Stellvertretung nein!“ konterte Sarah, ohne zu überlegen und verließ lächelnd sein Büro. Das musste sie jetzt auch, denn der Enttäuschung folgte die Wut, und die ließ sich nicht einfach so wegdrücken. Mit einem Espresso aus der Kaffeeecke ging sie auf den kleinen Flurbalkon und genehmigte sich eine ausgedehnte Raucherpause. Sie würde sich nichts anmerken lassen, ihre Arbeit korrekt wie immer erledigen, aber mehr auch nicht. Dienst nach Vorschrift, nicht mehr freiwillig einspringen, wenn mal Not am Mann war, oder Fehler anderer ausbügeln, ehe sie schlechtes Licht auf die Chefetage werfen konnten. Der Alte wusste, was er an ihr hatte, sie war nach Frau Weller die meisten Jahre dabei, fast 20 Jahre. Der Seniorchef hatte sich verändert seit ihm vor 5 Jahren seine Frau, eine sehr feine, kluge und diplomatische Dame, weggestorben war. Das hat er bis heut noch nicht verwunden. Sarah konnte das gut verstehen. Aber dass er sich suggestiv von seinem Sohn das Ruder aus der Hand nehmen ließ, der mit ach und krach gerade mal den Abschluss geschafft hatte, das bekümmerte sie tief. Die Fluktuation bei den Angestellten war gestiegen. Und sie hatte das Gefühl, dass Frau Weller ohne Herzschmerz die Arbeit hier beenden würde. Darüber gesprochen hatten sie nie, als rechte Hand des Chefs war sie viel zu loyal.

Dr. Theusdorf verabschiedete mit wenigen aber herzlichen Worten seine langjährige Mitarbeiterin Frau Weller. Kurz und knapp teilte er die personellen Veränderungen mit und erhob das Glas auf weitere gute Zusammenarbeit. Sein Sohn Frank schwenkte stolz das neue Firmenschild, „Theusdorf & Partner“ durch den Raum und eröffnete den gemütlichen Teil.

Mit gemischten Gefühlen beobachtete Sarah das Szenarium. Früher waren die kleinen Feiern schön, sehr familiär und doch professionell, aber heute… Die hübsche Anja, gerade mal 5 Jahre dabei, genoss ihren Aufstieg, hatte sich extra umgezogen und herausgeputzt. Sie scharwenzelte ständig um den Senior herum, hatte wohl schon den Schwiegerpapa in Spee im Kopf, was dem sichtlich unangenehm war. Er wollte sich in Ruhe mit Frau Weller unterhalten und gab seinem Sohn ein Zeichen. Der entführte sein Betthäschen zum kleinen Büfett am anderen Ende des Konferenzraumes. Insgesamt tummelten sich incl. Gästen und Servicepersonal etwa 15 Personen herum, lachten und scherzten und je öfter die Sektgläser nachgefüllt wurden, umso lauter wurde es.

Sarah hielt sich zurück, packte sich 3 Kanapees auf den Teller, mischte sich noch einen Sekt mit Orangensaft und platzierte sich nahe der Tür. Von Frau Weller hatte sie sich schon verabschiedet. ‚Vielleicht gehen wir mal einen Kaffee trinken und quatschen über alte Zeiten‘, schlug ihr die langjährige Kollegin schmunzelnd vor, und Sarah stimmte erfreut zu.

„Das hättest du auch haben können, liebe Sarah“, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr. Sie hatte wohl bemerkt, dass der Juniorchef sie beobachtete und jetzt spürte sie eine Hand auf ihrem Po.

„Ach wirklich? Warum hast du nichts gesagt?“, rief sie laut, drehte sich ruckartig um und der Inhalt ihres Glases verteilte sich auf Franks blütenweißem Hemd. „Oh, sorry, das wollte ich nicht“, reagierte sie zerknirscht, schnappte eine Serviette und putzte an ihm herum. Alle Augenpaare im Raum waren auf sie gerichtet und einige grinsten dabei.

„Kannst du nicht aufpassen“, zischte Frank wütend, schubste sie leicht weg und entschwand durch die Tür. Frau Anja Wilke schleuderte ihr einen bösen Blick entgegen und folgte ihm. Geraune und Gekicher war nicht zu überhören, der ungnädige Blick des Seniorchefs auch nicht zu übersehen. ‚Na und‘, dachte Sarah, Strafe muss sein. Sie füllte ihr Glas noch einmal nach, zog es in einem Zuge weg und verließ lächelnd die Veranstaltung.

Der kleine Triumph hielt nicht lange an, dienlich für das zukünftige Arbeitsklima war ihr Abgang allemal nicht. Das war Sarah klar, machte ihr aber keine Kopfschmerzen. Der Seniorchef hatte es sicher längst vergessen und das zählte. Beim Junior war sie sich nicht so sicher. Nach ihrem Ehe Aus hatte er sich sehr bemüht um sie, wollte für sie da sein, sie trösten und mehr. Aber sie hatte null Interesse, an ihm nicht und an keinem anderen. Er versuchte es trotzdem immer wieder, bis ihr es zu viel wurde und sie sich dem Seniorchef anvertraut hatte. Der pfiff damals seinen Sohn zurück und das verübelte Frank ihr bis heute, und jetzt ein nasses Hemd.

Hängengeblieben in ihren Gedanken bemerkte Sarah zu spät, dass sie viel zu weit gelaufen war und gerade am Ende der Einkaufsmeile landete. Hier war Schluss, links ein großes Baugebiet, hier sollten 60 behindert gerechte Wohnungen entstehen, rechts ging es zum Bahnhof und zurück in die Stadtmitte. Dazwischen lag eine ehemalige Autowerkstatt. Werkstatthof. Da klingelte es bei ihr, Werkstatthof, natürlich. Sie suchte Deckung und starrte hinüber. Das Tor war offen, aber zu weit weg. Und da war es wieder, das Kribbeln unter der Haut, die Sehnsucht nach Abenteuer, nach etwas erleben wollen mit erhöhtem Puls und Vibrationen bis in die letzte Nervenspitze. Nannte man das nicht Adrenalin, dachte sie belustigt und gleichzeitig rieselte ein Schauer durch ihren Körper. Da müsste doch hinter den Mauern die verbotene Zone liegen und das Haus mit dem roten Herz. „Nein, verdammt! Das kann ich nicht tun“, rief Sarah sich halblaut zur Ordnung. Nicht jetzt und nicht in diesem Outfit.

Eigentlich wollte sie noch etwas einkaufen und danach bei Mary den Büro Frust ertränken. Einkauf gestrichen, doch einen kurzen Blick würde sie vorher in die Werkstatt werfen. Und tatsächlich, da stand ein schwarzes Auto. Eine heiße Welle fuhr ihr durch den Körper und die Neugier trieb sie weiter. Sie schaute sich um in der menschenleeren Werkstatt und dann hinein in den Wagen.

„Was suchen Sie hier, kann ich helfen?“

„Weiß ich noch nicht, bin irgendwie hier reingestolpert“, reagierte Sarah spontan, und versuchte damit ihre Unsicherheit abzuschütteln. Mit einem schiefen Grinsen schaute sie hoch zu dem Mann, der zwei Köpfe größer, rothaarig und im ölverschmierten Overall misstrauisch auf sie herabsah „Eigentlich wollte ich einen Gin Tonic trinken gehen.“

„Gin Tonic möchte die Dame trinken, Jungs kommt doch mal, haben wir vielleicht Gin Tonic?“, rief der Riese lachend in den Raum hinein. Drei junge Burschen kamen johlend näher und umringten sie, den einen kannte sie. Vielleicht trinkt sie ein Bier mit uns, rief der andere und rückte ein Stück näher zu ihr. „Lass das, Ronny, ich kenne sie, das ist die Lady von …“

„Hi Aky, schön dich zu sehen“, fiel Sarah ihm ins Wort und blitzte ihn vielsagend an. „Und jetzt Tschüss Jungs, vielleicht beim nächsten Mal ein Bier?“ Sie grinste in die Runde und marschierte ganz gelassen zum Tor hinaus. Keine Ahnung was Aky, den sie vom „ask“ Haus ja kannte, den dreien erzählen würde. War ihr auch egal, sie brauchte jetzt einen Gin Tonic mit Eis und Zitrone. Sie lief zurück bis zum Taxistand am Ende der Meile und fuhr zu Marys Bar.

Ein wenig enttäuscht hockte Sarah sich ans Ende der Theke. Es war rappelvoll. Mary begrüßte sie herzlich, umarmte sie und bedauerte, dass sie im Moment keine Zeit zum Quatschen hatte. Jo habe sich den Fuß gebrochen erzählte sie, fiel seit Tagen aus und mit einer jungen Aushilfe versuche sie den Laden am Laufen zu halten.‘ Wie immer‘, rief sie ihr noch zu und eilte hinweg. Tja, kann man nichts machen, sinnierte Sarah vor sich hin, nahm einen großen Schluck, genoss das Rieseln im Hals und schaute sich erst einmal um. Zwei Tische weiter fiel ihr ein Mann auf, der sie voll im Visier hatte, seinen Nachbarn etwas zuflüsterte und richtig dämlich grinste. Sarah kniff die Augen etwas zusammen und sie bekam eine Gänsehaut. Tatsächlich, die kannte sie, die Machos vom letzten Mal. Sie schnaufte tief durch die Nase, hob Zeige und Mittelfing in Richtung Augen und ließ ihren Blick weiterwandern. Sie blieb völlig unaufgeregt dabei, wachsam würde sie natürlich bleiben.

Der bescheuerte Büro Tag holte sie wieder ein und so langsam kam doch etwas Besorgnis hoch, wie es wohl weiter gehen sollte. Früher hatte die Arbeit Spaß gemacht. Sie war weit mehr als nur eine gute Steuerfachfrau, sie war auch so etwas wie eine Vertraute des Seniorchefs, aber jetzt… Vielleicht musste sie da auch neue Wege gehen. Aber was dachte sie sich mit „auch“? Ein glucksendes Lachen schüttelte Sarah als eine Vision in ihr hochstieg, ‚sie stand plötzlich in einer großen Werkstadt und wollte Gin Tonic trinken.‘

„Liebes, geht es dir gut?“ Etwas besorgt schaute Mary sie an und stellte ein neues Getränk ab.

„Alles gut, den noch in Ruhe genießen und dann ab nach Hause“, beruhigte Sarah immer noch lachend ihre Freundin, „Aber das nächste Mal müssen wir plaudern, ich glaube Maren kommt in zwei Wochen zurück, sie ist schon wieder auf der Insel.“ Mary warf ihr ein Handküsschen zu und zapfte weiter. Sie selbst verschwand kurz auf der Toilette, nicht ohne sich genau umzuschauen beim Zurückkommen. Ein Zweimanntisch in der Ecke wurde gerade frei, sie schnappte ihr Glas und wechselte den Platz, endlich rückenfrei. Und da spürte sie es, sie wurde beobachtet. Nicht vom zweiten Tisch, die Kerle waren voll beschäftigt drei junge Frauen abzufüllen und mit ihnen zu flirten. Es kribbelte ihr unter der Haut und suchend ließ sie den Blick durch den Raum schweifen.

„Wer hat dich geärgert, Sarah?“ Lächelnd stand er vor ihr und ein Gefühlschaos machte sie unfähig gelassen darauf zu reagieren. Er setzte sich ihr gegenüber und impulsiv griff sie nach seiner Hand, spürte die Wärme, die Kraft und seinen erstaunten Blick. Gott bin ich bescheuert, dachte sie nur und zog etwas beschämt ihre Hand zurück. „Nun sag schon, Sarah, was hat dich geärgert“, fragte er wieder und half ihr aus der Verlegenheit. ‚Hi Wolf, schön dich mal wieder zu sehen‘, platze Mary dazwischen und stellte ein Glas vor ihm ab. Er nickte lächelnd, wechselte ein paar wenige Worte mit ihr. Das verschaffte Sarah Zeit, um sich wieder in den Griff zu bekommen.

„Geärgert kann man so nicht sagen, hat mich eher nachdenklich gemacht“, ging sie entspannt auf seine Frage ein. Sie erzählte von ihrem Büro Tag, angefangen vom Gespräch mit dem Chef und hörte beim nassen Hemd des Junior Chefs auf. Fast hätte sie weitergeredet und stoppte sich in letzter Sekunde. „Wolf, wusstest du, dass ich hier bin, oder ist es der reine Zufall?“ Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und fixierte ihn mit Blicken.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich finde“, wich er aus, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gelassen zurück. Missmut machte sich in ihr breit. „Das war nicht meine Frage, verdammt!“ Sie klatschte mit den Händen auf den Tisch und starrte provokant in seine Augen. Jetzt fing er an zu lachen und die tiefen glucksenden Töne brachten sie richtig in Rage. Doch ehe sie reagieren konnte, beugte er sich vor, packte ihre Hände und erwiderte den Blick, aber warm und freundlich. „Sarah die Rebellin, ab jetzt Karten auf den Tisch, ist das in Ordnung?“ Sie nickte verhalten und er sprach leise weiter. „Meine Jungs erzählten mir, dass eine gewisse Lady in einer Werkstatt Gin Tonic trinken wollte, mehr muss ich ja wohl nicht sagen. Aber reden müssen wir, Sarah, nicht jetzt und nicht hier.“

Sie horchte eine Weile in sich rein. Der Magen knurrte leise. In der Firma hatte sie nur ein paar Kanapees während Frau Wellers Verabschiedung zu sich genommen und der Alkohol wirkte langsam. Bleierne Müdigkeit legte sich auf ihre Glieder und eigentlich wollte sie nach Hause, einfach schlafen. Sie riss sich zusammen und hielt seinem Blick stand. Augen, die sie sicher heute Nacht wieder im Traum verfolgen würden. Und was sie in letzter Zeit für Träume hatte; starke Hände, die sie streichelten, warme Lippen, die sie liebkosten und eine dunkle Stimme, die ihr zärtliche Worte zuflüsterten. Und er saß ihr gegenüber, freundlich, verständnisvoll, kühl und auf Distanz, wie absurd. Plötzlich fing sie an zu lachen, in was war sie da nur reingeraten.

„Natürlich müssen wir reden, Wolf, aber jetzt will ich gar nicht reden, ich habe Hunger, bin langsam angedudelt und brauche dringend eine Zigarette.“ Sie stand auf, rief Mary noch zu sie solle bitte anschreiben und marschierte zur Tür hinaus. Dreimal atmete sie tief ein und aus, der Puls normalisierte sich wieder und voller Genuss sog sie den Zigarettenrauch ein.

„Immer noch Hunger, oder doch nach Hause?“ Sie hatte auf diese Frage gehofft, und war innerlich doch noch aufgekratzt. Konnte er vielleicht Gedanken lesen, das fehlte auch noch. Stumm hob sie den Daumen und die Müdigkeit war wie weggeblasen. Wir laufen, die frische Luft wird dir guttun, sagte er. Und ehe sie mit spitzer Zunge etwas erwidern konnte, umschloss er ihre Hand und lief los. Wärme durchflutete sie vom Kopf bis zu den Füßen und sie spürte Geborgenheit. Das „gute Gefühl“, das vor Jahren verschütt gegangen war, kehrte allmählich zurück. Sie durchquerten kleine Nebenstraßen, die sie noch gar nicht kannte, und sie versuchte so viel wie möglich abzuspeichern. Plötzlich standen sie mitten auf der Einkaufsmeile. Die Geschäfte kannte sie alle und die Seitenstraße neben dem Gemüseladen führte direkt zu ihrem Haus. Dort bog er ein, schmunzelte, als er ihr ins Gesicht sah, und blieb nach wenigen Metern vor „Yemek“, ihrem Dönerladen um die Ecke, stehen.

Der kleine Raum war voll besetzt. Eskil, der Inhaber, zeigte nach hinten und Wolf wechselte ein paar Worte mit ihm. Sarah setzte sich. Es war die Personalecke, durch einen Serviceschrank abgetrennt vom übrigen Lokal, das gefiel ihr. Ehe Wolf zurückkam, stellte Eskil Tee und Raki ab und strahlte sie wortlos an. Er erkannte sie, obwohl sie sich selten mal einen Döner holte.

Wolf setzte sich ihr gegenüber und schon standen einige lecker angerichtete Platten auf dem Tisch. Es schmeckte köstlich, aber sie war schnell gesättigt und spülte es mit einem Raki runter. Sie beobachtete Wolf dabei wie er bedächtig Teller für Teller leerte und manchmal trafen sich ihre Blicke. Sie wurde nicht schlau aus ihm, man wusste nie, was als nächstes kam. Genüsslich schlürfte sie den süßen, heißen Tee und unzählige Emotionen hüpften durch ihr Innenleben. Etwas Mystisches ging von ihm aus, düster und hell zugleich, und das zog sie magisch an.

Eskil räumte den Tisch ab, füllte die Gläser nach, rief fröhlich ‚serefe‘ und schon flitzte er wieder weg. Ob es ihr gut gehe, wollte Wolf wissen und forschte in ihrem Gesicht.

„Erzähle mir etwas von „yok bölge“ und „ask“, forderte sie ihn auf, ohne auf seine Frage einzugehen. Ihr entging nicht der Schatten, der über sein Gesicht huschte. Mit leicht geneigtem Kopf und treuem Dackelblick schaute sie ihn an, bis er lachen musste und sein Gesicht sich entspannte. So erfuhrt sie von einer jungen Türkin, die sich vor etwa 20 Jahren in einen deutschen Jungen verliebt hatte, und mit 16 Jahren, obwohl sie hier in dieser Stadt geboren war, in ihre Heimat zurückgeschickt werden sollte. Dort sollte sie zwangsverheiratet werden mit einem Cousin, dem sie von klein an versprochen war. Man sperrte sie wochenlang im Haus ein, der junge Mann wurde von den Brüdern bedroht und verprügelt. Als ihr eines Nachts die Flucht gelang und die beiden die Stadt verlassen wollten, spürte die Sippe das Pärchen auf, jagte es durch die ganze Stadt. Die beiden Liebenden flüchteten durch die kleine Gasse in das leerstehende Haus und verbarrikadierten sich. Nach kurzer Zeit verschafften sich die Brüder mit ihren gleichgesinnten Freunden gewaltsam Zutritt und sie fanden ein engumschlungenes Pärchen das lieber den Freitod gewählt hatte, als getrennt zu werden, erzählte Wolf mit dunkler rauer Stimme, die ihr unter die Haut ging.

Schnell sprach sich das Drama herum und das Entsetzen war groß, fuhr er fort. Es bildeten sich rivalisierende Gruppen von Jugendlichen. Sie trafen in der Gasse, am und im Haus aufeinander und lieferten sich derbe Schlägereien. Durch ständige Kontrollen der Stadt und Polizeieinsätzen, wurde es in der Gegend ruhiger. Am 10. Jahrestag prangte plötzlich dieses Herz an der Hausmauer und wird seitdem von Jugendlichen gepflegt. Sie brachten auch das Haus so gut es ging in Ordnung und es wurde ihr Treffpunkt, später dann ein von der Stadt betreutes Quartier. Die Schrift am Anfang der Gasse sprühte irgendjemand, wahrscheinlich für ungebetene Gäste, beendete Wolf mit lauter Stimme die Geschichte.

Still hatte Sarah zugehört, sie war etwas aufgewühlt und ihre Augen glänzten verdächtig. Aber bei seinen letzten Worten zuckte sie hoch. Da entdeckte sie den Schalk in seinen Augen und grinste schwach. „Jetzt gehe ich nach Hause.“ Sie stand auf, verabschiedete sich von Eskil und zündete sich vor der Tür eine Zigarette an, die brauchte sie dringend. Dann spürte sie den festen Griff seiner Hand und stumm legten sie die wenigen Meter bis zu ihrer Wohnung zurück. Vor der Haustür schaute er sie sehr ernst an.

„Sarah, wir müssen reden. Ich bin ein paar Tage nicht in der Stadt, doch vorher müssen wir reden, morgen 20 Uhr holt dich ein Taxi ab, einverstanden?“

„Einverstanden, und danke Wolf, danke für alles“, antwortete sie mit belegter Stimme, stellte sich spontan auf die Zehenspitzen und umarmte ihn ganz kurz. Lautlos verschwand er in der Dunkelheit und der Duft seines gut riechenden Aftershaves verfolgte sie bis in die Wohnung.

4

Tief und vor allem traumlos hatte Sarah diese Nacht geschlafen, wie schon lange nicht mehr. Den Rest Müdigkeit spülte sie mit Wechselduschen weg und fühlte sich voller Energie. Sie schlüpfte in den bequemen Hausanzug, der durchaus stadttauglich war, schnappte sich den Einkaufskorb und lief ins Städtchen, vorbei an „Yemek“. Das triggerte sie kurz, der gestrige Tag wollte sich aufdrängen, aber sie ließ die Erinnerungen ganz schnell weiterziehen. Das Kapitel schlug sie heute Abend erst wieder auf. Doch was sie im Moment beschäftigte, war ihr Umfeld. Sie entdeckte Dinge die sicher nicht erst seit gestern dazugehörten; ein Haufen Müll im Hauseingang einer leerstehenden Pizzeria, die Graffitis an einer frischgestrichenen Mauer oder den Obdachlosen, der im Schlafsack eingerollt im Vorraum einer Bankfiliale lag. Und das war lange nicht alles. Sie hatte es nie bewusst wahrgenommen. Lief sie denn mit geschlossenen Augen durch die Straßen, fragte sie sich, wollte sie es nicht sehen oder schaute sie einfach weg.