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Berlin 1929: Eine neue Zeit bricht an. Die Gesellschaft sehnt sich nach Wohlstand und Glamour, manche streben sogar nach Macht. Mit Spannung wird ein neuer Film der UFA erwartet, der im größten Studio der Universal-Filmstudios in Babelsberg gedreht wird. Doch die Dreharbeiten rufen finstere Gestalten auf den Plan, die dunkle Drohungen gegen alle Beteiligten ausstoßen. Als eine Mitarbeiterin im Studio tot aufgefunden wird, beginnt Harry Schneider, der Sicherheitschef der UFA, auf eigene Faust in einschlägigen Geheimclubs und unter zwielichtigen Gestalten nach einer Erklärung für Tanyas seltsamen Tod zu suchen, der von einem berüchtigten Illusionisten prophezeit wurde. Dabei lent Harry die sinnlich schöne Lara kennen und gerät nicht nur in ihren Bann, sondern auch in einen Sumpf aus Intrigen, Lügen und eiskalter Grausamkeit. Perfekt rekonstruierte Schauplätze, großer filmischer Respekt und erzählerische Spannung: Schatten des Todes ist ein exzellenter historischer Spannungsroman, in dem sich überraschende Handlungen vor einem historischen Hintergrund abspielen und reale Personen und Fiktion zu einem rätselhaften und faszinierenden Schattentheater verschmelzen. (Brigitte)
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Inhaltsverzeichnis
Über das Buch
Impressum
Der Tod…
KAPITEL 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Anmerkung der Autorin
Personen
Berlin 1929: Eine neue Zeit bricht an. Die Gesellschaft sehnt sich nach Wohlstand und Glamour, manche streben sogar nach Macht. Mit Spannung wird ein neuer Film der UFA erwartet, der im größten Studio der Universal-Filmstudios in Babelsberg gedreht wird. Doch die Dreharbeiten rufen finstere Gestalten auf den Plan, die dunkle Drohungen gegen alle Beteiligten ausstoßen.
Als eine Mitarbeiterin im Studio tot aufgefunden wird, beginnt Harry Schneider, der Sicherheitschef der UFA, auf eigene Faust in einschlägigen Geheimclubs und unter zwielichtigen Gestalten nach einer Erklärung für den seltsamen Tod der Bühnenbildnerin zu suchen, der von einem berüchtigten Illusionisten prophezeit wurde.
Harry lernt dabei die schöne, geheimnisvolle Lara kennen und gerät nicht nur in ihren Bann, sondern auch in einen Sumpf aus Intrigen, Lügen und eiskalter Grausamkeit.
Perfekt rekonstruierte Schauplätze, großer filmischer Respekt und erzählerische Spannung: Schatten des Todes ist ein exzellenter historischer Spannungsroman, in dem sich überraschende Handlungen vor einem historischen Hintergrund abspielen und reale Personen und Fiktion zu einem rätselhaften und faszinierenden Schattentheater verschmelzen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Lektorat/Korrektorat: Stefanie Müller
Die Erde steht wie eine dunkle Botin hoch am nächtlichen Kulissenhimmel im Universal Filmstudio. Ein schwaches Licht erhellt leise die karge Mondlandschaft und erfüllt die Finsternis des Bösen. Es lauert zwischen vielen Schatten und nähert sich auf leisen Sohlen einem Krater, bereit, seine boshaften Pläne auszuführen.
Kurz blickt das Böse in seinem nächtlichen Gewand zur Erde empor, dann schleicht es über die sandige Mondlandschaft auf eine Gestalt zu…
Später, inmitten dieser bedrohlichen Atmosphäre, lauscht die Welt im Schatten ehrfürchtig dem stillen Tanz des Todes.
Kaltes, gestreiftes Licht erhellte die seltsame Landschaft und modellierte sie mit einer Textur aus Schatten. Im Hintergrund war der Himmel vollkommen schwarz, aber die Sicht reichte bis zum Rand, wo ein Kreis aus felsigem Gebirgskamm die Kulisse umschloss.
Ein hochgewachsener Mann mit sorgfältig zurückgekämmten schwarzen Haaren, der die Gruppe anführte, verlangsamte seinen Schritt und blieb stehen. Der Aufstieg hatte ihm den Atem geraubt. Er beugte sich vor, um Luft zu holen, die Hände auf die Knie gestützt, die Füße bis zu den Knöcheln im weichen Mondstaub.
Fußspuren markierten den Weg, den die Gruppe zurückgelegt hatte, um diesen Ort unter dem Sternenhimmel zu erreichen. Sie führten vom sandigen Grund eines scheinbar ausgetrockneten Sees, in dem der Metallkegel der Rakete halb versunken war. Aus der Ferne konnte die Gruppe durch die geöffnete Bugluke einige Elemente der Innenausstattung erkennen: Rohre, Schalter und Regler, die an die Schalttafeln einer Fabrik oder eines Kraftwerks erinnerten. Die dunkle Masse des kosmischen Schiffes ragte wie ein verlassener Turm aus dem Boden, der durch den ruckartigen Schub der Triebwerke, die seinen Abstieg begleiteten, gefährlich geneigt war.
Zusammen mit den Fußspuren waren sie die einzigen Hinweise auf menschliche Anwesenheit in dieser unwirtlichen Landschaft.
Der Mann, der den Marsch zum Mondkrater anführte, blickte kurz zum Raumschiff zurück. Der Anblick der vertrauten Präsenz auf dem Satelliten beruhigte ihn offenbar, dann wandte er sich wieder schweigend seinen Begleitern zu, als würde er sie um Rat fragen, was nun zu tun sei. Doch niemand sagte etwas.
Mit jedem Schritt gab der instabile Boden unter dem Gewicht der Gruppe nach, als versuche eine böse Macht, sie zurückzudrängen und sich zwischen sie und den Kratergipfel zu stellen. In der Mitte eines Wendepunktes, an dem sich alle perspektivischen Achsen dieser ungewöhnlichen Filmszene trafen, war in einer Entfernung - durch einen besonderen optischen Effekt unüberbrückbar - unterhalb der Gipfelkette auf der weißen Fläche etwas zu sehen, wie ein zurückgelassenes zerbrochenes Spielzeug. Ein junger Mann im blauen Overall, der als Erster die Stelle erreicht und Alarm geschlagen hatte, winkte die Gruppe mit Rufen und großen Gesten herbei.
Der hochgewachsene Mann wischte sich die schweißnassen Handflächen am Stoff seiner Hose ab, bevor er sich an einem der aus dem Boden ragenden Felsvorsprünge festhielt. Er hievte sich auf die obere Ebene des Felsvorsprungs und drehte sich um die scheinbaren Überreste eines Meteoriten. Dann begann er den Abstieg entlang der Erdspalte, die sich wie eine riesige Wunde durch die Landschaft zog und eine Schlucht bildete. Hinter sich hörte er die stockenden Atemzüge und die aufgeregten, aber gedämpften Stimmen der anderen. Ein kleiner Mann, aufgeblasen wie Zuckerwatte, folgte ihm keuchend, während die anderen hinter ihm blieben.
Vor ihren Augen brach die scharfe Silhouette der Bergkette an einer Stelle ab. Hinter der engen Schlucht öffnete sich eine neue, scheinbar grenzenlose Ebene, die sich in geraden Linien bis zum Himmelsgewölbe emporzog, hervorgerufen durch den eindringlichen Farbwechsel zwischen dem blendenden Weiß des Staubs, dem leuchtenden Schwarz der Lavafelsen und dem unbeweglichen Himmel im Hintergrund.
„Hier drüben, Herr Lang, hier drüben!“, rief der Mann in der blauen Latzhose.
Je kürzer die Distanz, desto deutlicher wurden die Details der Szene. Zuvor unsichtbare Veränderungen durchbrachen nun die kristalline Stille der Kulisse. Die leuchtende Schicht aus Silizium und Quarzsplittern, aus denen der Mondboden bestand und die bei der Annäherung so kalt wirkte, wurde durchbrochen von einer Reihe makabrer Anspielungen auf das Drama, das sich hier abgespielt hatte.
Die Frau lag auf dem Grund des Kraters, direkt unter der Felswand, die Arme weit von sich gestreckt, das Gesicht von ihrem langen, zerzausten, rotblonden Haar verhüllt. Um ihren Körper herum war der Boden völlig aufgewühlt von den Schritten der kleinen Gruppe, die sich entsetzt über die Leiche beugte. Die Tote hatte sich wohl noch mit aller Kraft an der zerklüfteten Kante des Kraters festgehalten, bevor sie abgerutscht und den steilen Abhang hinuntergestürzt war und eine tiefe Spur aus Sand und Kreidesplittern hinterlassen hatte. Eine der Felskanten war abgebrochen, verzweifelt musste sie mit der Hand danach gegriffen haben, die hellere Bruchlinie war deutlich zu erkennen, die Scherben lagen verstreut herum. Auf dem Boden waren die Abdrücke ihrer Finger zu sehen, die sich in den weichen Mondstaub gekrallt hatten, bevor sie im künstlichen Licht der Morgendämmerung der Kälte des Todes erlag. Der Astronautenhelm – eine
dünne Metallkugel mit einem großen durchsichtigen Fenster an der Vorderseite – lag zerschmettert einige Meter von ihrem Körper entfernt, das Visier zerbrochen und die Sauerstoffschläuche von der Wucht des Aufpralls und des Sturzes zerrissen.
Eine fantastische Sternenpracht, die sich vom schwarzen, stillen Himmel abhob, wölbte sich gleichgültig über die Szene des Todes. Tief am Horizont dieser künstlichen Welt schwebte die Erde, ein dunstiger Lichtfleck, von zarten Nebelschleiern verhüllt, wie ein fernes Auge, das um den zerfetzten Frauenkörper trauerte, der noch in dem schweren Raumanzug gefangen war. Sie erschien Lang wie eine von einem Kind gekritzelte Figur, wie die unzusammenhängenden Arme und Beine einer zerbrochenen Puppe. Der lange Schatten einer der Zinnen aus Vulkangestein, scharf wie das Obsidianmesser eines alten Opfers, senkte sich auf ihr Gesicht und schwärzte ihr blondes, von Blut und Hirnmasse durchtränktes Haar.
Eine zweite Frau stand an dieser Stelle des Mondes, aber sie hielt Abstand zu den anderen Männern. Sie reckte nur den Hals, um über die Schultern ihrer Kollegen zu blicken. Sie war die einzige, die den seltsamen Lichteffekt bemerkt hatte. Ihr Verstand beeilte sich, dieses Bild in die Handlung eines ihrer künftigen Romane einzubauen, während sie den Ellbogen des großen Mannes fest umklammerte, als wolle sie ihm mit ihrem Entsetzen den Gedanken mitteilen, der ihr gerade durch den Kopf gegangen war. Lang, ihr Ehemann rief – von den Schatten der Obsidianspitzen vollkommen unbeeindruckt – stattdessen den Techniken etwas zu, die plötzlich hinter dem Horizont in der Nähe des Raumschiffs auftauchten.
Der kleine, rundliche Mann beugte sich über den Körper, um ihn besser sehen zu können. Sein Mund verzog sich zu einer Grimasse, als er sich auf den Boden kniete. Er führte seine zitternde Hand an den Kopf der Toten, als wollte er sie berühren, sie vielleicht auf den Rücken drehen, um zu sehen, wer sie war, zog sie aber sofort wieder zurück. Ihr halboffener Mund war mit Mondstaub gefüllt. Mit einem schweren Seufzer erhob er sich.
Er führte die staubigen Finger an den Mund. „Salz“, murmelte er erstaunt.
Auch Fritz Lang kniete nieder. Auch er streckte zögernd die Hand zum Gesicht der Toten aus, aber anders als der Zuckerwattemann hatte er die Kraft, die Geste zu vollziehen. Behutsam entblößte er ihre Wange von der rotblonden Haarpracht und gab das Profil der Toten frei.
„Das ist Tanya!“, rief er und verlor für einen Moment die Fassung. Das Monokel rutschte ihm vom Auge und blieb an der Kordel hängen, die am Revers seiner Tweedjacke befestigt war, während seine Frau Thea die Hand an den Mund führte.
„Das russische Mädchen...?“, murmelte sie. Ein Schluchzen erstickte ihre Stimme.
„Macht das Licht rechts an“, rief Lang den Technikern zu. Einen Augenblick später wurde die Bühne von dreihunderttausend Watt starken Scheinwerfern erhellt, die in rascher Folge aufblitzten und die gigantische Konstruktion aus Rohren und Trägern über dem Raum enthüllten, an denen Hunderte von Glühbirnen hingen.
Der Schatten des Finger Gottes war verschwunden und der am Boden liegende Körper hatte seinen dramatischen Reliefcharakter verloren. Er war zu einem Element des gigantischen Bühnenbildes geworden, verlassen wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, zwischen den Gips- und Pappmaché-Formen der Mondfelsen, die unter dem Gewölbe des größten UFA-Studios geduldig rekonstruiert worden waren. In Babelsberg, nur wenige Kilometer vom Herzen Berlins entfernt.
„Rufen Sie die Kriminalpolizei“, sagte der korpulente Mann mit zittriger Stimme, als wäre die bloße Erwähnung der Strafverfolgungsbehörden ein Gräuel.
„Und suchen Sie Harry Schneider! Sofort!“, sagte Lang entschlossen.
Der Regisseur hatte sich wieder beruhigt, bückte sich und hob einen himmelblauen Zettel auf, der unter der Leiche hervorlugte und den die anderen nicht bemerkt hatten. Er betrachtete ihn genau, zeichnete mit dem Zeigefinger die feinen, verschlungenen Linien der Zeilen nach und steckte ihn in die Innentasche seines Jacketts.
Ich weilte zu dieser Zeit am anderen Ende der Stadt, im Varieté Scala, einem Theater in der Lutherstraße, das auch Palast des Okkultismus genannt wurde, weil im Foyer die kreisrunde, beleuchtete Bar aus Glas bestand und mit mystischen Tierkreiszeichen verziert war. Ich schüttelte die Regentropfen von meinem Mantel und legte ihn neben mich auf die Armlehne des leeren Sitzes. Dann streckte ich mich in dem schmalen roten Samtsessel aus und unterdrückte den Schmerz, den die regennasse Nacht in meiner alten Kriegsverletzung geweckt hatte. Endlich schafften es meine langen Beine in den beengten Raum.
Für einen Moment fühlte ich mich zurückversetzt in das glühend heiße Cockpit des Sturmwagens A7V in jener Nacht, als ich versuchte, den Fluss Piave zu überqueren. Der einzige kaiserliche Panzer an der italienischen Front, ein Wunderwerk preußischer Ingenieurskunst. Zwei 100-PS-Motoren, 30-Millimeter-Geschütze, sechs wassergekühlte 7,92-Maxim-Maschinengewehre, eine 88-Schnellfeuerhaubitze. Ein verdammter Blechkadaver, der auf der anderen Seite im Schlamm stecken geblieben war und den Feind in Verona mit einem entsetzlichen Getöse aufgeschreckt hatte…
Tatsächlich war das Theater Varieté Scala bis auf wenige Plätze leer. Das höllische Wetter mit seinen eiskalten Regenschauern hatte das Publikum nicht hinter dem Ofen hervorgelockt – trotz der neuen Bestuhlung: ein neues amerikanisches Modell: klappbare Sitze, die mit dem Boden verschraubt waren. Jeder hatte seinen festen, identischen Platz. Der Klappstuhl – eine
weitere Errungenschaft der Moderne.
Das Licht im Saal war schon eine Weile gedämpft, aber es reichte noch, damit die letzten Nachzügler ihre Plätze finden konnten. Ich nutzte die Gelegenheit, um einen Blick auf das Prospekt zu werfen, das man mir am Eingang des Theaters ausgehändigt hatte und auf dem das Bild eines Mannes in Abendgarderobe zu sehen war, dessen klare, hypnotisierende Augen den Betrachter fixierten: eine imposante Gestalt mit in Stein gemeißelten Gesichtszügen, ganz anders als der nervöse, trockene Typ, den ich sonst mit der Vorstellung von spirituellen Fähigkeiten verband. Unter dem Foto stand ein Name in Frakturschrift: Hanussen, und weiter unten: ‚Der Mann, der alles sieht und alles weiß.‘
Ich wusste nicht genau, warum ich die Darbietungen von Zauberern, Astrologen und Scharlatanen immer noch so amüsant fand, dass ich in jedes drittklassige Theater ging, um ihre Kunststücke zu bewundern. Obwohl das hier alles andere als ein drittklassiges Theater war, dachte ich mir, als ich mich in den aufwendig dekorierten Logen umsah. Ich betrachtete die anderen Fotos des Mannes, die vor dem Hintergrund schwerer Bühnenvorhänge aufgenommen worden waren, und überflog die fantasievollen Prosapassagen, über die die Zeitungskritiker berichtet hatten.
Im Zuschauerraum wurden die Lichter gelöscht. Bis zu einem gewissen Grad hielt ich mich für einen Experten auf dem Gebiet der Illusion. Während des Ersten Weltkriegs, als ich im Schlamm der Schützengräben an der italienischen Front auf den Angriffsbefehl wartete, hatte ich, um nicht an diese Hölle denken zu müssen, in einem Zug ein außergewöhnliches Buch gelesen, das ich zufällig in einer Buchhandlung in Triest entdeckt hatte. In Professor Hoffmanns Moderne Zauberei entdeckte ich die Geheimnisse all jener Wunder, die mich als Kind auf Jahrmärkten und im Zirkuszelt vor schnauzbärtigen Zauberern mit offenem Mund fasziniert und in Atem gehalten hatten.
Ich las leidenschaftlich weiter, während die Bücher von Nietzsche und die Verse von Rilke in meinem Leinenrucksack ignoriert blieben. Vielleicht hatte ich mich damals in diese Fragmente der Unwirklichkeit vertieft, um das Grauen zu vergessen, das hinter den Stacheldrahtlinien lauerte, in meinem magischen Graben aus Verhüllungen, Spielkarten und bunten Kugeln, die in einem sinnlosen Schauspiel auftauchten und verschwanden. Ich lernte, sichtbar zu machen, was nicht vorhanden war, und zu verbergen, was nicht sichtbar sein durfte. Im Grunde suchte ich wie alle anderen nach einem Weg, den Tod mit meinem eigenen kleinen, individuellen Ritual zu überlisten. Das erinnerte mich an Feldwebel Mahler, der sich vor jedem Angriff einen Helm mit eiskaltem Wasser über den Kopf goss, weil er überzeugt war, dass der Tod sich ärgern würde, wenn er ihn an den nassen Haaren packen müsste.
Armer Mahler, arme Kameraden.
Hanussen. Ich sah auf meine Taschenuhr. Man hatte den Künstler warten lassen. Ich wandte mich wieder dem Foto zu und hielt es in das spärliche Licht der Theaterbeleuchtung. Im Schatten hatte sein Antlitz eine fast magische Ausstrahlung. Als würde der Glanz des Fotopapiers ihn wie eine Erscheinung hervorheben. Ja, dieser Mann war wirklich anders als die vielen skrupellosen Scharlatane, die die Berliner Theater und Konzertcafés bevölkerten. Hanussen war in mancher Hinsicht außergewöhnlich.
Ich hatte in letzter Zeit viel über den Illusionisten gelesen. Die Zeitungen überboten sich mit Interviews und Kommentaren zu allen möglichen Themen, von der Meteorologie bis zur internationalen Politik: Hanussen beschwört Bismarcks Geist. Hanussen prophezeit den Untergang Nürnbergs voraus. Hanussen weiht den Sitz der Deutschen Astrologischen Gesellschaft ein und gibt eine neue Zeitschrift für metapsychische Forschung heraus. Es hieß, er sei sich während des Krieges seiner Kräfte bewusst geworden. Als er die Fähigkeit entdeckte, vorhersagen zu können, wo die Haubitzen einschlagen würden, als er im Kampf unverwundbar gegen Treffer wurde, als er lernte, die Gedanken seiner Kameraden zu lesen. Erik Jan Hanussen, der Mann, der mit unglaublichen Vorhersagen an der Börse ein Vermögen gemacht hatte, der Katastrophen vorhersagte, als erkannte er den Tod schon von weitem, als witterte er ihn hinter jeder Ecke, der Mann, der Politiker und Wirtschaftskapitäne beriet, ein Illusionist, der die Wahrheit der Geschehnisse kannte: Erik Jan Hanussen, das Superhirn.
Heute Abend alles für mich, für zweieinhalb Mark.
Ein Scheinwerfer bewegte sich langsam über den hinteren Teil der Bühne bis zu einem leuchtenden Kreis in der Mitte des Vorhangs. Sekundenlang herrschte Stille, nur unterbrochen von leisem Gemurmel und vereinzelten Hustenlauten, dann begann das Orchester im Orchestergraben einen klingenden Marsch. Auf dem Vorhang leuchtete ein vibrierendes, flimmerndes Relief auf, als versuchte sich der Schatten eines Gespenstes vor dem Publikum zu materialisieren. Der Effekt hielt einige Sekunden an, dann wurde der schwere dunkelrote Vorhang mit einer entschlossenen Geste beiseitegeschoben und ein Mann erschien in einem Lichtkreis, während sich der Vorhang hinter ihm wieder schloss.
Der Kreis zog sich um sein Gesicht zusammen und verwandelte seine Züge in eine Art Totenmaske, die an einen von Schiele gezeichneten Nahtoderfahrenen erinnerte. Um ihn herum standen zwei große Holzstühle mit hohen Lehnen, ein dreibeiniger Tisch und eine große Standuhr, deren Messingpendel in seinem dunklen Holzgehäuse hin und her schwang und bei jedem Vorbeigehen unter dem Lichtstrahl aufleuchtete.
Langsam ließ er seinen Blick über die Gesichter der Zuschauer in den vorderen Reihen schweifen, als wolle er von ihren Seelen Besitz ergreifen. Einen Moment verharrte Hanussen in dieser Haltung, dann kehrte er aus der Geisterwelt zurück. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich vertrauensvoll dem Publikum zuwandte, es begrüßte und für sein Kommen dankte. Er zwinkerte den Anwesenden zu, um sie näher an sich heranzuführen und ihnen die Angst vor der Dunkelheit und der Nacht zu nehmen.
Vielleicht wollte er andeuten, dass es sich nur um ein Spiel und eine Mystifikation handeln könnte, wie seine Kritiker behaupteten. Vielleicht wollte er den Zuschauern versichern, dass sie zwar Außergewöhnliches erleben würden, aber mit gutem Geschmack und Maß, gemildert durch den bürgerlichen Anstand, den jeder mit ihm durch den Kauf einer Eintrittskarte für diesen Abend eingegangen war.
Weil jeder von der Zukunft fasziniert war, dachte ich, aber niemand sie wirklich wissen wollte. Denn niemand wollte für sein Schicksal nur ein paar entwertete Mark für den Eintritt in ein Varieté bezahlen.
Der Lichtkegel des Scheinwerfers hatte seinen Kreis erweitert und den mittleren Teil der ersten Parkettreihe in das Lichtspiel einbezogen. Die Männer und Frauen, durch das unerwartete Schauspiel plötzlich aus ihrer Anonymität gerissen, tauschten verstohlene Blicke aus. Die Frauen lehnten sich schutzsuchend an die Schultern ihrer Begleiter, die Männer richteten ihre Oberkörper auf oder sanken noch tiefer in ihre Sitze, um den neugierigen Blicken im Parkett zu entgehen.
Ich glaubte, die Schützengräben noch einmal zu sehen, wie in einem Film, die Augenblicke vor dem Angriffsbefehl, kurz nach der letzten Artilleriesalve im Niemandsland. Diese unglaubliche Stille der Angst, die nur von einem Kichern unterbrochen wurde, war wie eine obszöne Parodie.
Ich horchte auf, als Hanussens Stimme ertönte. „Ich sehe heute Abend ein außergewöhnliches Publikum im Saal! Hellwach, kultiviert und mit scharfem Urteilsvermögen, wie immer bei meinen Darbietungen! Oder sollte ich besser sagen, bei meinen Experimenten, denn wie ich bereits mehrfach erklären konnte, bleibt die Gabe, die mir unverdienterweise von höheren Mächten verliehen wurde, unerklärlich und ihre Grenzen zweideutig und ungewiss. Diese Abende sind daher eine wertvolle Gelegenheit für mich, meine Grenzen mit Ihnen zu erforschen, indem ich mit Ihrer freundlichen Unterstützung einige außergewöhnliche Experimente durchführe. Ich bin mir sicher, dass es zwei freundliche Zuschauer im Saal gibt, die bereit sind, mir bei meinem Versuch zu helfen, in die Geheimnisse des Bewusstseins einzudringen. Sie, junge Dame, und Sie, Sir? Ja? Sehr gut! Einen großen Applaus für unsere beiden Gäste, die bereit sind, die Grenzen des Unbekannten zu überschreiten!“
Das Licht fiel wieder auf den Magier und verbannte die Menschen, die eben noch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden hatten, in die Anonymität. Zwei neue Lichtstrahlen fielen durch die Reihe der Sessel und erhellten die Gesichter der beiden Auserwählten, die erst jetzt bemerkten, dass sie in das Schauspiel hineingezogen worden waren. Die ablehnende Reaktion der jungen Frau wurde sofort durch die Hand eines livrierten Kammerdieners unterbunden, der wie aus dem Nichts an ihrer Seite erschien, ihre Hand fest ergriff und sie zwang, sich zu erheben, um zur Bühne zu gehen, während ihr lässiger Begleiter von der gegenüberliegenden Seite kam.
„Applaus für unsere Freunde!“, rief Hanussen erneut und bat die beiden, auf den hochlehnigen Stühlen Platz zu nehmen. „Können Sie den Anwesenden im Saal bestätigen, dass wir uns nicht kennen und Sie noch nie in einer direkten Beziehung zu mir gestanden haben? Obwohl ich sehr hoffe, dass Sie mich zumindest vom Hörensagen kennen.“ Mit einer leichten Handbewegung und einem schelmischen Blick erntete er weiteres Gelächter und Beifall, während die beiden Assistenten seine Aussage bestätigten.
Dann wandte sich Hanussen wieder dem Publikum zu. „Nun, meine Damen und Herren, können Sie an unserem Experiment teilnehmen. Beim Betreten des Theaters wurden einigen zufällig ausgewählten Zuschauern Zettel und Umschläge ausgehändigt. Sie wurden gebeten, auf diese Zettel - völlig anonym - eine Frage zu schreiben, auf die sich meine Macht konzentrieren soll, und dann den versiegelten Umschlag an meine Mitarbeiter im Parkett und in den Logen zurückzugeben. Ist alles klar? Hat das freundliche Publikum seine Aufgabe erfüllt? Ja, gut, fahren Sie fort“, schloss er und wandte sich an die livrierten Diener, die aus verschiedenen Teilen des Theaters zurückkehrten, jeder mit einem Bündel weißer Umschläge in der Hand.
Ich verfolgte die Vorstellung aufmerksam, fasziniert von der Mischung aus Genie und Theatralik, die von der imposanten Gestalt des Magiers ausging.
Währenddessen schuf Hanussen mit unschuldigen Gesten und Worten die Voraussetzungen für den magischen Effekt. Ein Diener betrat die Bühne und hielt eine große, dunkle Glasschale in der Hand, in der Umschläge gesammelt worden waren. Er stellte sie auf den Tisch neben Hanussen, während der Mann und die Frau neugierig seine Bewegungen verfolgten, dann verschwand er hinter der Bühne.
„Ihre Zeit ist gekommen“, sagte der Magier. „Jeder von Ihnen wählt nach dem Zufallsprinzip einen Umschlag aus und übergibt ihn mir. Ich werde mich nicht einmischen und keine Anweisungen geben. Ich brauche nur einen Moment der Konzentration. Fangen Sie an, junge Dame.“
Nach einem Moment der Stille, in dem er mit geschlossenen Augen und leicht geneigtem Kopf seine ganze Kraft sammelte, hob der Magier seinen rechten Arm bis auf Brusthöhe und verharrte in dieser Position. Dann streckte er den Arm langsam in Richtung der Schale aus und – immer noch mit geschlossenen Augen – ergriff er den Umschlag, den ihm die junge Frau reichte, und hob ihn hoch, bis eine Ecke seine Stirn berührte.
Einen Augenblick stand er regungslos da, dann öffnete er langsam seine hellen Augen, der Blick leer und ausdruckslos, wie der eines Schlafwandlers, der blind durch die Nacht streifte. Langsam bewegten sich seine Lippen, fast zitterten sie, während ein verwirrtes Murmeln von Worten die absolute Stille des Theaters durchbrach. Er führte ein privates Gespräch mit den Schatten der Finsternis, ein Gespräch, von dem der Rest der Menschheit aufgrund der seltsamen und geheimnisvollen Kräfte, die ihm von höheren Mächten verliehen worden waren, ausgeschlossen war.
Was für ein Spaßvogel, dachte ich. Wirklich außergewöhnlich. Hätte ich den Trick nicht gekannt, hätte auch ich wie die anderen mit offenem Mund dagestanden und mir wer weiß was vorgestellt.
Ein paar Augenblicke tiefer Suggestion vergingen, dann wurde der Illusionist wieder verständlich. „Diese Frage kommt von weit her“, sagte Hanussen und zeigte lächelnd auf den versiegelten Umschlag in seiner Hand. „Sie kommt aus den Tiefen des Weltalls und wurde im kalten Licht ferner Sterne geschrieben. Der Verfasser dieser Zeilen fragt mich, wann die Menschheit ihren Fuß auf unseren Trabanten, den Mond, setzen wird! Ich möchte es auch wissen, um mit meinen Koffern bereit zu sein!“ Höfliches, leises Gelächter begleitete seinen Scherz. „Aber ich habe das Gefühl, dass wir uns bald zumindest ein Bild vom Mond machen können, denn der große Fritz Lang wird ihn uns in seinem nächsten Film zeigen, wie Sie sicher aus der Zeitung erfahren haben! Und von seinen Bewohnern, die bestimmt genauso neugierig auf uns sind wie wir auf sie. Und was die nette junge Dame betrifft, die mir diese Frage gestellt hat, eine junge Frau, die sicher ebenso faszinierend und wandelbar ist wie der Himmelskörper, der ihr Interesse so sehr geweckt hat, und die wissen möchte, ob sie ihn eines Tages besuchen kann…“
Plötzlich überschlug sich die Stimme des Illusionisten, seine Augen weiteten sich, als wäre er von einer Vision des Grauens überrascht worden. Er hob die Hände und bedeckte sein Gesicht mit einer melodramatischen Geste, die der Magier von Mephisto übernommen hatte, während ein Raunen der Verwunderung durch das Publikum ging. Mit einem Mal verwandelte sich die Szene um ihn herum in einen düsteren mittelalterlichen Holzschnitt, in dem Finsternis, Angst und Tod in den friedlichen Ort der bürgerlichen Muße einbrachen, um ihre Herrschaft über die Menschen zu behaupten.
Schweißperlen standen auf der Stirn des Magiers und tropften über sein Gesicht. Er schwankte leicht, als die Spannung im Theater spürbar zunahm. Doch dann fuhr Hanussen leise, aber dank seiner schauspielerischen Fähigkeiten gut verständlich fort.
„Nein, ich sehe, dass Sie sich diesem Himmelskörper nie nähern werden. In seinem kalten Licht wütet der Tod. Deshalb sage ich Ihnen: Verstecken Sie sich vor dem Mondlicht, vor seinem fahlen, bösen Schein…“
Hanussen klemmte den Umschlag in einen Schraubstock, als wollte er ihn aus seinem Blickfeld verbannen. Normalerweise bestand das Spektakel an dieser Stelle darin, dass der Illusionist irgendein Detail aus dem Leben des Zuschauers enthüllte. Eine heiße Liebe, eine Reise in ferne Länder. Und das alles in einem brillanten Ton der Komplizenschaft. Denn niemand wollte seine wahre Zukunft kennen.
Hanussens Stimme überschlug sich, fast hysterisch. „Fliehe vor diesem Licht, der Tod folgt dir auf Schritt und Tritt…“
Ein immer lauter werdendes Gemurmel breitete sich zwischen den Stuhlreihen aus, unterbrochen von Kichern und Ausrufen: Keine Heiterkeit lag in den Kommentaren, eher eine subtile Unruhe, hervorgerufen durch diesen plötzlichen Aufschrei, der eine Tür zur Angst aufgestoßen hatte.
Niemand hatte mit einer so unheimlichen Warnung gerechnet. Selbst ich rätselte noch über die Bedeutung dieser Worte, als jemand im Halbdunkel meinen Namen flüsterte. „Herr Schneider, sind Sie das?“
Bevor ich antworten konnte, fuhr der Mann fort. „Sie müssen sofort zur UFA kommen, es ist ein schreckliches Unglück passiert, Herr Lang will Sie sofort sehen.“
Wir eilten zu dem Wagen, der hinter der Kurve auf uns wartete. Ich setzte meinen Hut auf und zog meinen Mantel enger um den Körper, um mich so gut wie möglich vor den wütenden Sturmböen und dem eiskalten Regen zu schützen. Erst jetzt bemerkte ich ein großes Plakat an der Backsteinmauer, das ich vorher nicht gesehen hatte. Es zeigte eine schöne, halbnackte Frau, die sich tanzend an ein Skelett klammerte. Darunter stand: Berlin, du tanzt mit dem Tod.
Als das Auto mit hoher Geschwindigkeit davonfuhr, drehte ich mich noch einmal um und betrachtete das Plakat durch die regennasse Scheibe.
Ich ging auf die Gruppe von Männern in Zivil und die uniformierten Polizisten zu, die am Boden des Kraters um die Leiche herumstanden. Es war, als würde jemand vor ihnen eine surreale Szene filmen, ähnlich und doch anders als die vielen, die ich seit meiner Zeit bei Universum gesehen hatte.
Kameraleute filmten versteckt im Hintergrund. Die Schauspieler sprachen leise miteinander, aber die Entfernung ließ die Geräusche verstummen, so dass ich den Eindruck hatte, es handele sich um eine Filmsequenz, die auf einen falschen Hintergrund projiziert wurde.
Die Mitarbeiter des Studios hatten Matten auf dem Mondsand ausgebreitet, um den Aufstieg zum Kraterrand zu erleichtern. Außerdem waren ein Mondbrocken und eine sechs Meter hohe bemalte Tafel entfernt worden, um einen direkten Zugang zum Kreis des Todes zu ermöglichen. Nun, da das Streiflicht der Dreharbeiten durch eine vollständige Oberbeleuchtung ersetzt worden war, zeigte sich der Ort wieder in seiner banalen Realität aus Sand und Pappmaché. Er erinnerte, wenn überhaupt, eher an die Arena eines Vorstadtzirkus oder bestenfalls an den unbeholfenen Versuch, ein zerstörtes antikes Amphitheater mit einem Rahmen aus abgebrochenen Zähnen zu rekonstruieren, als an das Tal eines fernen Planeten.
Die Magie des Kinos, dachte ich. War der große Georges Méliès nicht auch ein Illusionist, bevor er Regisseur wurde? In Gedanken kehrte ich zu Hanussens Szene im Varieté zurück, zu seinem Mond aus Stimme und Gesten, und verglich sie mit diesem schmutzigen, kalten, toten Strand in diesem Studio. Nein, niemals würde der Film über das Theater triumphieren. Wenigstens gaben die gemalten Kulissen im Theater nicht vor, echt zu sein, und der Mann, der von der Bühne zu dir sprach, war ein lebendiger Mann, der sich beleidigt fühlte, wenn man ihn auspfiff. Ich habe einmal eine junge Frau auf der Bühne gesehen, die wegen eines Fehlers in Tränen ausbrach: ihr Gesicht von Wimperntusche verschmiert, dann der Zorn des Regisseurs, das Gelächter und die Buhrufe des Publikums, kurz, das wahre Theaterleben mit all seinen Wunden. Wie, fragte ich mich, kann man einen Film ausbuhen, ein Stück Licht, das an einer Plane hängt?
Aber vielleicht lag gerade darin die Faszination des Kinos, in dieser nur vorgetäuschten Präsenz, deren unwirkliche Dimensionen auf der Leinwand die Abwesenheit der Realität in einer Welt verbargen, die immer enger wurde, die aus kleinen, verrauchten Räumen bestand, aus Baracken voller Arbeitsloser, aus Straßen, die von lärmenden Märschen gesäumt waren, aus Menschen, die einander gegenüberstanden und ihre eigenen Zukunftsvisionen sangen, ohne zu wissen, dass es vielleicht keine Zukunft gab, weder für sie noch für irgendjemanden. Die Realität war eine Welt des Gestanks und der Hitze, der Beleidigungen, der Zwänge des Fleisches, der Qualen der Körperlichkeit. In Wahrheit war das Kino die Kunst des Jahrhunderts, die Kunst der Toten, der Hohepriester, der Unsterblichen, deren physische Form das Hotel der Seele bewahrte.
Ich betrachtete die liegende Gestalt. Noch ein Leichnam, noch ein blutiges Kino der Toten. Ich schüttelte mich, um die Angst loszuwerden, die mich befiel, eine plötzliche Bewegung, die das Stechen in meinem Bein wieder hervorrief, als sei die Wunde plötzlich wieder aufgebrochen. Ich wollte nicht mehr sterben.
Als ich näher kam, erkannte ich zwischen den Männern in dunklen Polizeiuniformen das unverkennbare Profil von Fritz Lang. Er unterhielt sich angeregt mit zwei älteren Herren, vermutlich zwei Kriminalbeamte. Neben Lang winkte mir Rolf Mayer zu, ein untersetzter, unbeholfener Mann, der bei der UFA für die Produktion von 'Die Frau im Mond' verantwortlich war. Ein paar Schritte weiter hatte ein kleinwüchsiger Fotograf im Trenchcoat gerade seine Arbeit beendet und verstaute die Platten in einem schwarzen Lederkoffer. Im Hintergrund erkannte ich die schlanke Gestalt von Thea von Harbou, Langs Ehefrau und Drehbuchautorin des Films. Einer der uniformierten Polizisten warf ein Tuch über die Leiche.
Ein Beamter in Zivil stellte sich mir in den Weg. Ich zeigte ihm meinen Sicherheitsausweis, aber der Mann war nicht sonderlich interessiert. Er warf einen kurzen Blick auf das Dokument und nickte. Ich deutete die Geste als stillschweigende Erlaubnis, mich der Leiche zu nähern, ging ein paar Schritte auf sie zu, blieb dann aber stehen und suchte nach einem Grund, mich nicht weiter nähern zu müssen.
Unter dem Tuch, das zu klein war, um die Tote vollständig zu bedecken, sah ich die Füße in den schweren Schuhen und die behandschuhten Hände. Irgendetwas in diesem Körper lehnte sich noch gegen den Tod auf. Die Finger der rechten Hand hatten sich in den Boden gekrallt, als wollten sie sich mit letzter Kraft aufrichten. Aber auch diese gespenstische Geste zeigte keine Wirkung, alles blieb still, inmitten der Gleichgültigkeit der Anwesenden.
„Guten Abend, Herr Lang, Herr Mayer.“
Mayer wischte sich mit einem Taschentuch über die schweißnasse Stirn, Lang nickte knapp.
Dann wandte ich mich wieder dem Mann zu, der mich aufgehalten hatte und offenbar den Einsatz leitete. „Ich bin Harry Schneider, Leiter der Sicherheitsabteilung bei Universum.“
„Bruno Vossler, Kriminalkommissar. Sie sind also für die Sicherheit zuständig.“
Vossler musterte mich einige Sekunden, dann richtete er seinen Blick wieder auf die Leiche.
Ich vernahm einen ironischen Unterton in Vosslers Stimme und fühlte mich genötigt, meinen Aufgabenbereich zu präzisieren. „Ich bin für die Sicherheit und den Schutz der Einrichtungen und Sachwerte der UFA zuständig, natürlich nicht...“
„Nicht wofür?“
„Nicht für die Verhinderung von Straftaten.“ Ich ging instinktiv in die Defensive, der inquisitorische Ton meines Gegenübers ärgerte mich.
Vossler musterte mich stumm von Kopf bis Fuß, als interessiere er sich mehr für meine Kleidung als für meine Worte.
„Tanya wurde letztes Jahr von der UFA als Mitarbeiterin in der technischen Abteilung für die Produktion des Fritz-Lang-Films eingestellt, der in diesem Studio gedreht wird. Ich nehme an, Sie haben davon gehört?“
„Wie ich erfahren habe, handelt es sich bei der Toten um Tanya Kritskaja, eine Mitarbeiterin unserer Firma“, fuhr ich fort. „Steht die Todesursache schon fest?“
„Der Gerichtsmediziner sprach von Hirnblutungen nach schwerem Schädeltrauma und weiteren multiplen Frakturen“, antwortete Vossler und deutete auf einen Mann, der gerade ein Paar Schutzhandschuhe abstreifte und die Aussage mit einem Nicken bestätigte.
„Können Sie mir etwas über diese Kritskaja sagen?“, fragte Vossler und betonte ‚diese Kritskaja‘ mit einer seltsamen Gereiztheit, als würde der Klang des slawischen Namens seine innere Harmonie stören. In Vosslers Welt war offenbar kein Platz für Akzente, die dem germanischen Kanon fremd waren.
Ich spürte sofort, dass Vossler zu denen gehörte, die die Flüchtlingsströme, die Deutschland nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg überschwemmten, mit Abscheu betrachteten.
Fieberhaft überlegte ich, was ich dem Mann antworten sollte. Tanya war eine hochgewachsene junge Russin, an die ich mich gut erinnerte. Die Goldene Horde der Tataren hatte Spuren in ihrem Blut hinterlassen, bevor sie sich nach Osten zurückgezogen hatte. Blondes Haar, traurige, traumlose Augen. Ein schmaler, fast zerbrechlicher Körper.
„Tanya Kritskaja war Ingenieurin. Sie hatte am Polytechnikum studiert. Nach dem Krieg fand sie Arbeit bei einer Filmfirma in Moskau und wurde eine hervorragende Kamerafrau. Aus Abneigung gegen das kommunistische Regime verließ sie 1925 die Sowjetunion und lebte seitdem in Berlin“.
„Was, noch eine Enttäuschung aus dem bolschewistischen Volksparadies?“, warf Thea mit einem spöttischen Lächeln ein.
„Tanya wurde letztes Jahr von der UFA als Mitarbeiterin in der technischen Abteilung für die Produktion des Fritz-Lang-Films eingestellt, der in diesem Studio gedreht wird. Ich nehme an, Sie haben davon gehört?“
„Nein, ich verfolge das Showgeschäft nicht so genau“, antwortete er. "Aber ich habe darüber in der Zeitung gelesen."
Fritz Lang hörte uns aus einiger Entfernung zu, blieb aber teilnahmslos. Vossler hingegen sah sich aufmerksam um, als würde ihm die Einzigartigkeit dieses Ortes erst jetzt bewusst.
„Das ist also der Mond, nehme ich an. Ein seltsamer Ort, um einen Film zu drehen.“
„Ein seltsamer Ort zum Sterben“, antwortete ich.
Vossler beugte sich wieder über die Leiche und legte ihr Gesicht frei. „Eine sehr schöne Frau.“
„Ja, vielleicht ...“, antwortete der Arzt.
Ich zuckte zusammen, als auch ich zum ersten Mal in das von Qualen verhärtete, von Staub und Blut durchtränkte Gesicht blickte. Ja, vielleicht war sie eine schöne Frau gewesen. Gedanken wie ein Epitaph.
In diesem Moment trat Lang vor, entschlossen, seine Autorität wieder herzustellen. „Ich kann alles erklären, Kommissar Vossler. Tanya hat im Labor von Sergei Romanov gearbeitet, meinem Cheftechniker für Spezialeffekte. Mein Film basiert zum großen Teil auf der streng wissenschaftlichen Rekonstruktion der ersten echten Reise eines Menschen zum Mond. Ich wollte, dass die besten Wissenschaftler auf diesem Gebiet als Berater mitwirken, damit jedes Detail der Konstruktion des Raumschiffs den absoluten Kriterien wissenschaftlicher Genauigkeit entspricht. Ich wollte, dass der Hermann Oberth, der größte Wissenschaftler auf dem Gebiet des Raketenantriebs, sich für meinen Film engagiert und alles getreu nach seinen Plänen ausgeführt wird. Diese Kulisse...“, er deutete mit einer ausholenden Handbewegung auf die Kulisse, „entstand nach Vergrößerungen von Fotografien der Mondoberfläche, die das Lowell-Observatorium eigens für uns angefertigt hatte: dreißig Eisenbahnwaggons voll Sand und Steinsalz allein für den Kraterboden, Tonnen von Gips und Pappmaché für die Mondgesteine, Tausende von Quadratmetern Leinwand für die Kulissen.“
Vossler ließ sich von Langs Aufzählung nicht beeindrucken. Er starrte weiter auf das Gesicht der Toten, deren Schläfe von der schweren Verletzung zerfetzt waren, während er den Namen des Technikers in sein Notizbuch kritzelte. Ich konnte seine Gedanken förmlich hören: Noch ein Russe, als ob eine russische Leiche nicht schon genug wäre.
Vossler sah müde aus. Er legte das Notizbuch beiseite und beugte sich ein letztes Mal über die Leiche, mit der trockenen, mitleidlosen Geste eines Ermittlers, der ein langweiliges Buch zuklappte.
„War die Tote auch Raketenwissenschaftlerin?“, fragte er.
Lang überlegte einen Moment. „Nein, das glaube ich nicht. Tanya war Bauingenieurin, sie wurde eingestellt, um die verkleinerten Modelle für die Szenen zu bauen, in denen die Rakete zum Einsatz kommen sollte, und um die Masken für die Truka-Aufnahmen anzufertigen. Dabei handelt es sich um ein System, bei dem die Schauspieler während der Dreharbeiten neben Miniaturmodellen platziert werden. Die lebensgroßen Modelle sind nur für die letzte Szene vorgesehen, also für die Verladung auf dem Mondboden und das Innere des Flugdecks.“ Er deutete auf den großen Zylinder, der aus dem Sand ragte.
Lang blickte Vossler durch das Monokel an, das in sein linkes Auge zurückgekehrt war. „Wie werden Sie bei Ihrer Untersuchung vorgehen?“
„Es wird keine Untersuchung geben“, antwortete Vossler.
Er musste Langs Überraschung gespürt haben, zog ein Notizbuch aus seiner Manteltasche, löste das Gummiband und begann zu lesen, wobei er Passagen mit einem Bleistiftstummel, der zwischen den Seiten steckte, unterstrich.
„Der Drehtag endete um 17:00 Uhr, und das gesamte Personal, einschließlich der Schauspieler, verließen das Studio. Es gab keine Zwischenfälle. Um 17:30 Uhr unternahm der Wachmann seinen ersten Kontrollgang, nachdem er die Eingangstür vorschriftsmäßig von innen verriegelt hatte. Seine Arbeit besteht aus fünf aufeinanderfolgenden Einträgen auf ebenso vielen Kontrolluhren, die entlang einer festgelegten Route verteilt sind. Von seinem Posten aus kontrolliert er das gesamte Gelände. Er gibt an, nichts Ungewöhnliches gesehen zu haben, niemand sei im Studio gewesen, er habe alle Räume sorgfältig inspiziert: In der Vergangenheit sei es im Studio immer wieder zu Materialdiebstählen gekommen, für deren Wert er persönlich habe aufkommen müssen, er wolle kein weiteres Risiko eingehen. Alles andere ist unwichtig.“
Er blickte sich um, als wolle er sich vergewissern, dass das Gelesene der Wahrheit entsprach. „Das Studio ist ein völlig offener Raum, den jeder betreten kann“, fuhr Vossler fort. „Die einzigen geschlossenen Räume sind das Wachhäuschen und der Requisitenraum, in dem die Bühnenkostüme aufbewahrt werden. Aber die hätte er überprüft. Im letzteren haben wir die Uhr des Hausmeisters gefunden, die 17.38 Uhr anzeigte. Um 18:05 Uhr hat er von seinem Wachposten aus die Frau gesehen, die sich dem Eingang des Studios näherte: Sie bat ihn, sie einzulassen, da sie angeblich noch einige Details des Bühnenbildes fotografieren müsse. Da es nicht das erste Mal war, dass sie sich nach Feierabend im Studio aufhielt, um in Ruhe ihre Arbeit zu erledigen, öffnete der Wachmann die Tür, zu der nur er und die Direktion einen Schlüssel besitzen. Er ließ sie herein, schloss die Tür hinter sich und begleitete sie in den Requisitenraum, wo er ihr beim Tragen half. Sie zog sich um und trug wenige Minuten später den Raumanzug. Das Stativ stellte sie neben dem Krater in den Sand, dann ging sie zurück, um die Kamera und die restliche Ausrüstung zu holen.“
Vossler kniff die Augen zusammen, als hätte er Mühe, seine Notizen zu entziffern. „Der Wächter sagte, es sei ihm nicht merkwürdig vorgekommen, da die Frau diese Maskerade schon bei einer anderen Gelegenheit benutzt habe.“ Er blickte auf. „Der Täter ist jemand, der Ihre Arbeit nicht allzu sehr schätzt, Herr Lang“, fuhr er fort: „Der Wachmann ist danach wieder in das Wachhäuschen neben dem Tor gegangen, wo er sich laut Vorschrift zwischen den Kontrollgängen aufzuhalten hat. Er hat sich nicht weiter um die Frau gekümmert. Der Bereich, in dem sich der Vorfall ereignet habe, sei von dort ohnehin nicht einsehbar. Er habe sich erst gegen 20:30 Uhr wieder gerührt, als er in das Innere des Studios zurückkehrte, um den planmäßigen zweiten Kontrollgang durchzuführen. Dabei habe er die Leiche auf dem Boden entdeckt und sofort den Ernst der Lage erkannt. Da die Telefonverbindung im Wachhäuschen seit Tagen gestört war, lief er direkt zum Wachposten am Tor, von wo aus er den Alarm auslöste.“
Vossler blickte zu Fritz Lang auf, um sich zu vergewissern, dass dieser seine Worte gehört hatte und zu den gleichen Schlüssen gekommen war. „Die Frau war allein im Atelier. Das Gebäude hat nur einen Eingang, der von einem Wachmann bewacht wird, und nur zwei Notausgänge, die, wie sich herausstellte, von innen verschlossen waren. Es gibt keine Fenster, die Oberlichter sind verschlossen und mit Planen abgedeckt, die keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens aufweisen und sich zudem in einer Höhe befinden, die ohne Leiter nur schwer zu überwinden wäre. Im Sand wurden keine anderen Fußabdrücke als die der Toten gefunden. Sie kletterte den Felsvorsprung hinauf, verlor den Halt und rutschte ab. Keine Verletzung an ihrem Körper ist mit Verletzungen vereinbar, die nicht von einem Sturz herrühren können. Es gibt nichts Verdächtiges.“ Er klappte das Notizbuch zu und verschloss es mit dem Gummiband. „Es gibt keinen Grund für eine Untersuchung wegen Fremdverschulden.“
Schweigen. Alle blickten betroffen zu Boden.
„Wir haben Tanyas Kamera am Boden des Kraters gefunden, auf einem Stativ befestigt und auf die Stelle gerichtet, an der die arme Frau zu Tode kam. Als hätte sie beschlossen, sich selbst am Ort des Unglücks zu filmen“, warf Mayer ein und wandte sich dem Regisseur zu, als wollte er die Argumente des Polizisten bekräftigen.
Wie die anderen hatte ich mir die Schlussfolgerungen angehört und bis dahin geschwiegen, um dem Polizisten nicht die Show zu stehlen. Natürlich war es möglich, dass sich alles so zugetragen hatte. Denn wer hätte diese wunderschöne Frau töten sollen, und das unter derart haarsträubenden Umständen? Es war entsetzlich. Aber etwas in mir sträubte sich gegen eine so eindeutige und vor allem überstürzte Schlussfolgerung. Ich glaubte nicht, dass die Sache so schnell aufgeklärt werden könnte. Vielleicht, weil ich mich dieser jungen Frau verpflichtet fühlte, die so weit aus ihrer Heimat gekommen war. Um hier zu sterben? Nein! Und noch etwas kam mir merkwürdig vor. Ich wandte mich an den Kommissar, der sich gerade auf den Weg zum Ausgang machte.
„Warum hat sie den Raumanzug angezogen, wenn sie doch nur Fotos für den nächsten Dreh machen wollte, Herr Vossler? Dieser Anzug ist furchtbar unbequem: Ich habe gehört, dass sich die Schauspieler vom ersten Tag an beschwert haben, in dieser Zwangsjacke unter der Hitze der Scheinwerfer spielen zu müssen. Gerda Maurus, die Hauptdarstellerin, fiel beim Dreh der Mondlandungsszene fast in Ohnmacht, die Arbeit musste für zwei Tage unterbrochen werden.“
Ich spürte, dass Vossler hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch, den Einwand zu ignorieren und dem Bedürfnis, sich selbst eine Erklärung für das zu geben, was er offensichtlich übersehen hatte.
Es war Thea, die dem Polizisten zu Hilfe kam. „Ja, es ist seltsam, aber ich glaube, es gibt eine Erklärung dafür.