Schatten hinter dem Fenster - Jörg Niemann - E-Book

Schatten hinter dem Fenster E-Book

Jörg Niemann

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Beschreibung

Ich wollte das alles nicht denken, doch ich musste. Mehrfach tauchten unangenehme Emotionen auf, insbesondere über die Sinnlosigkeit meines Lebens. Ich versuchte krampfhaft, gesunde Gedanken zu finden. Doch das, was ich nicht denken wollte, das kam immer wieder zurück. Ich fühlte mich wie ein Haufen Kot und meine Gedanken charakterisierten nervige, umherschwirrende Fliegen. Meine Gefühlslage glänzte insoweit mit Positivität wie eine lange nicht geputzte Bahnhofstoilette mit Sauberkeit. Zukunftssorgen boykottierten meine Freude über den Hochschulfeierabend.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1: Unbequemes Stuttgart

2: Kopf hoch

3: „Wann ist die Party“?

4: „Crazy in Love“

5: Gangster-Rap und Bauerngeburtstag

6: Auftritt in der Hölle

7: Ich hole kurz Milch

8: Italienischer Fußball und die Englischklausur

9: Die Knarre

10: Lost in Karneval

11: Schiefe Augen

12:

Danksagung

Epilog/Nachwort

Prolog

„Ist das denn alles wirklich auch so, wie in der beschriebenen Form, passiert?” Diese, sich aufdrängende Frage, möchte ich gerne beantworten. Die Menschen, die mich jahrelang begleitet haben, werden sich an die Umstände der nachfolgenden Geschichten erinnern. Sei es aus Erzählungen oder aus dem Grund, dass sie sich an Ort und Stelle der geschilderten Momente mit mir befanden. Sicher haben sie meine innerlichen Qualen nicht so wahrnehmen können, wie ich es hier beschreibe. Ich habe das selten groß thematisiert, da mir diese Emotionen zutiefst unangenehm waren. Dabei blieben sie lange Zeit für viele Außenstehende ein dunkles, großes Geheimnis. Ich habe leider oft die Erfahrung machen müssen, dass Menschen mit diesen Inhalten nicht gut umgehen können. Eine gute Therapeutin hat nach Jahren des Leidens zu mir gesagt, dass ich diese abscheulichen Gefühle versuchen sollte, irgendwie zu akzeptieren, „denn dann sollte es mir doch auch besser gehen mit den Tiefs“, sagte sie immer wieder zu mir. Am Anfang dachte ich: „Sie ist wieder so eine Komikerin, die mir erzählen will, dass es einen Ausweg aus den chronischen, wiederkehrenden und lästigen, wohl unheilbaren Zuständen gibt.” Letztendlich habe ich es aber irgendwann geschafft, diese unerwünschten Emotionen als einen Teil von mir anzuerkennen, obwohl ich die hier beschriebenen Stimmungstiefs hasste wie die oft zitierte Pest. Als ich aber erkannte, dass das tatsächlich funktioniert, habe ich, durch jahrelange Arbeit an mir selbst, das Außergewöhnliche vollbracht. Ich bin gesund geworden. Im Vergleich zu früheren Episoden fühlt sich das wie ein Märchen an. In meiner Zeit als Mitarbeiter in einer Nervenklinik beobachtete ich, dass diese Symptome bei Patienten nicht selten vorkommen. Es gibt viele Personen, die Ähnliches erleiden müssen. Neben der Selbsttherapie war das meine größte Intention für das Aufschreiben der Geschichten. Ich möchte insbesondere Personen, die Vergleichbares erfahren, hier abholen. Des Weiteren will ich sie ermutigen, den Kopf nicht in den Sand zu stecken. Ich denke, ob gesund oder krank, wir alle haben einen Schatten. Dabei unterscheidet sich lediglich die Größe des Schattens interindividuell. Es wird aber in unserer Gesellschaft leider viel zu selten offen und ehrlich darüber gesprochen. Die Namen von Personen in den Darstellungen sind allesamt frei erfunden. Ich bin mir der Brisanz der Inhalte bewusst. Aus dem Grund will ich unangenehme Gefühle bei beteiligten Menschen vermeiden. Sollte sich dennoch jemand verletzt fühlen, ist das absolut nicht meine Absicht. Mit den Geschehnissen, die hier am Rande der Legalität beschrieben werden, habe ich nichts zu tun. Die Geschichten beinhalten nicht den absoluten Wahrheitsgehalt. In den Erzählungen wird sehr viel geraucht. Der Nikotingenuss soll jedoch keineswegs glorifiziert werden. Allerdings waren die Gefühle beim Rauchen in diesen Krisenzeiten oft positiv. Im Sinne der Authentizität habe ich das exakt so aufgeschrieben. Die folgenden Schilderungen habe ich aus dem Chaos meiner Erinnerungen rekonstruiert, als ich mich in Ausnahmesituationen befand. Mir ging es nicht darum, die Vergangenheit eins zu eins abzubilden. Das primäre Ziel war, die Tiefs zu beschreiben und sichtbar für die Außenwelt zu machen. Gedächtnislücken habe ich kreativ aufgefüllt. Ich habe die fehlenden Erinnerungen dann frei ergänzt, so dass die Geschichten stimmiger und im Sinne eines roten Fadens erscheinen. Ich schätze, 95 Prozent waren korrekte Erinnerungen aus meinem Gedächtnis. Der Rest wurde „passend“ gemacht.

Viel Spaß beim Lesen.

Jörg

1

Unbequemes Stuttgart

Obwohl ich am Samstag früh aufstehen wollte, konnte ich der lukrativen Disko-Anfrage meiner partymotivierten Freunde nicht widerstehen. Sascha bekam telefonisch ohne langes Zögern meine Zusage. „Ich bin dabei, aber lasst uns nicht zu spät heimkommen, denn ich will morgen früh nach Stuttgart City starten“, übermittelte ich stolz durch die Telefonleitung. Dieser spontane Discoabend entwickelte sich unerwartet zu einer der besten Nächte seit langer Zeit. Das “Jolly Joker” in Braunschweig galt zu der Zeit als Partyhochburg. Hier befand sich unser zweites Wohnzimmer, da wir den schmuddeligen Laden in- und auswendig kannten, wie die sprichwörtliche Westentasche. Die Veranstaltung und unsere Laune verliefen an diesem Abend extrem steil, denn das „Joker“ zog viele gut gelaunte Partygäste in ihren riesigen Räumlichkeiten an. Trotz des Termins am nächsten Tag, gelang es mir natürlich nicht, frühzeitig einen “langen Schuh“ zu machen. Meine Freunde störte dies ganz und gar nicht. Die Fete lief derart auf Hochtouren, dass ich auch gar nicht nach Hause wollte. Deshalb sagte ich mir irgendwann zu späterer Stunde, als die vereinbarte Deadline längst überschritten war: „Egal, was kümmert mich das Morgen, man lebt nur einmal.” Somit zelebrierten wir die Nacht maximal und mit einer Intensität wie eines Strebers, der für eine 1,0 Klausur lernt. Wir verließen die Disco erst, als das ausgeknipste, grelle Licht vom Disco-Personal uns das deutliche Signal zum Verlassen der Veranstaltung gab. Gegen 05:30 Uhr kam ich „geschädigt“ zu Hause bei meinen Eltern an. Ich dachte nun doch etwas besorgt an den nächsten Tag. Mein Kumpel Bali aus Berlin wollte mich mit seinem Auto um 08:30 Uhr abholen, um in Richtung Süden zu reisen. Das bedeutete, dass ich mir noch maximal 2 Stunden Erholungsschlaf genehmigen konnte. Das hätte aber nur in der Form funktioniert, wenn ich sofort eingeschlafen wäre. Nach den zwei Litern Kaffeekonsum, über die Nacht verteilt, stellte das allerdings eine immense Herausforderung dar. Zudem fürchtete ich mich schon jetzt vor dem grausamen Gefühl, 2 Stunden später wie ein Haufen Elend aufzuwachen. Normalerweise zog ich nach einer so intensiven Nacht 10 Stunden Schlaf am Stück durch und vor. So entwickelte ich die Idee, einfach durchzumachen und dann gegebenenfalls bei der Autofahrt ein wenig zu regenerieren. Dann brauchte ich auch keine Angst davor haben zu verschlafen. Kurz gedacht, und damit ging es direkt in die Umsetzung. Ich setzte mich, und die Sonne schien schon wieder hell auf die weiß lackierte Holzbank vor dem Haus meiner Eltern. Begleitet wurde diese Szene akustisch von dem munteren Vogelkonzert der singenden Schwalben. ´Hammer Typ´, mit zwei Worten feierte ich mich für die clevere Vermeidung der unangenehmen Aufstehgefühle. Während ich in Gedanken über den tollen Abend schwelgte, vernichtete ich zwei Zigaretten der Marke Dunhill. Alsbald kam wieder solide Langeweile auf, denn ich empfand es als äußerst unspektakulär, nur dazusitzen und zu Rauchen. Da fiel mir spontan ein, dass Andi bei uns an der Dorftankstelle seinen Frühdienst absolvierte. Die Tankstelle öffnete auch bereits um 06:00 Uhr. Das traf sich wie der Burger auf dem Käse, denn die „Tanke“ war der ideale Ort, um eine halbe Stunde Zeit zu überbrücken. Dort konnte ich einen kostenlosen Kaffee mit einem freundschaftlichen Gespräch kombinieren. Ich verweilte häufig dort und kannte mittlerweile fast alle Personen, die dort arbeiteten. Für einen chronisch anschlussmotivierten und gelangweilten Menschen wie mich, war dieser Ort ein kleines Paradies, so wie ein Kiosk im Ghetto für gesellige Alkoholiker. Zudem durfte ich da auch noch rauchen. Ich spazierte los und sah schon von Weitem Andis Auto. Kurz darauf stürmte ich seinen Arbeitsplatz mit einem überdrehten „Guten Morgen“. Noch leicht müde reagierte er nüchtern mit „Hallo.” In der Folge unterhielten wir uns bei einem Heißgetränk über coole Discotanzschritte. Durch das angeregte Gespräch verging die Zeit wie im Fluge. Ich verabschiedete mich nach dem Morgengespräch von meinem Kumpel, dem Oktansaftkellner, wie Atze Schröder einen Tankwart einst titulierte. Wieder zurück bei meinen Eltern, hatte ich noch einige Minuten, um meine nötigen Reiseutensilien zu packen für den bevorstehenden Trip. Dafür verteilte ich demotiviert Stoffobjekte in meiner Adidas-Sporttasche. Ich fragte mich, warum ich die Aufgabe nicht schon tags zuvor erledigt hatte. Es war schlicht Faulheit! Bali klingelte dann zeitig durch und ich kommunizierte mit ihm via Nokia 3210. Ich erwartete, dass er bereits bei mir vor der Tür stand, doch er war woanders. „Ne, am Sportplatz wohne ich nicht“, sagte ich voller Erheiterung. Ich erklärte ihm den Weg zu meinen Eltern präzise und verpeilt. Ich war erleichtert, dass er die Beschreibung schnell geschnallt hatte. Fünf Minuten später erreichte er dann die richtige Adresse. Daraufhin stieg ich in sein Vehikel ein, wonach wir das Abenteuer „Stugi“ starteten. Mit erhöhter Restenergie von dem Morgengespräch mit Andi versuchte ich, lebhafte Gespräche zu initiieren. ´Leben auf der Überholspur.` Ich fühlte mich toll, doch sehr schnell bemerkte ich, dass er das Radio stückweise subtil lauter drehte und ihn mein Gerede wenig bis gar nicht interessierte. ´Na ja, um 08:30 Uhr Gespräche auf Disco-Niveau zu führen, das ist nicht jedermanns Sache.` Mangelnde Euphorie bezüglich meiner spannenden Themen hatte ich bei Andi zuvor nicht gespürt. Bali untermalte seine geringe Redebereitschaft überdies, indem er mir mit Minimalwortschatz antwortete. Somit offenbarte sich seine Gesprächsbereitschaft voll und ganz. Insofern zog er konsequent alle Optionen des passiven Zuhörens. Das nervte mich schon. Doch ich konnte es einigermaßen nachvollziehen und zeigte Verständnis für ihn. Vielleicht war 08:30 Uhr wirklich nicht die beste Zeit für solche Themen. Selbst meine Überlegungen zu: „Wie wirke ich cooler beim Tanzen als die Anderen”, führte zu wenig Erheiterung bei meinem überforderten Fahrer. Ich hatte ihn verstanden; deshalb verzichtete ich auf weitere verbale Kommunikationsversuche. Die daraus resultierende Stille führte zu nervender Langeweile. Daraufhin bemerkte ich einige Minuten später, wie schlagartig die Müdigkeit in mir aufkam. Ich konnte kaum noch meine Augen offenhalten und entschied, mich nicht gegen diesen Impuls zu wehren. ´Was bleibt mir anderes übrig, wenn er nicht reden will, dann genehmige ich mir halt ein Nickerchen.` Das tat ich dann auch umgehend. Bis auf einige Wachmacher, durch Balis Stop-and-Go-Bremsen an diversen Baustellen, schlief ich die Zeit bis zur Ankunft durch. Er tat mir ein wenig leid, doch ich fand es besser, ihm etwas vorzuschnarchen, als ihm permanent Gespräche aufzuzwingen. Ich hasste selber diese Leute, die einem immer Belangloses erzählten und dabei nie bemerkten, wenn das auf Desinteresse stieß. Zudem stellte dieses Vorgehen eine probate Flucht vor dem unangenehmen Schweigen dar, denn Stille konnte ich damals immer schwer ertragen. Bali hatte sich das sicher anders vorgestellt, dennoch meisterte mein Kumpel die lange Tour tapfer. Wir schafften es, zügig durchzukommen. Nach circa fünf Stunden Fahrtzeit erreichten wir die Landeshauptstadt von Baden-Württemberg. Etwas außerhalb des Zentrums fanden wir unser Ziel, die Hausmeisterwohnung unseres Kumpels. Unser Freund Dennis absolvierte dort seinen Bundesfreiwilligendienst als Techniker für alle anstehenden Aufgaben in einem Heim. Sebastian, unser Vierter im Bunde für den Wochenendausflug, war auch schon aus Ulm angereist. Wir begutachteten nach der Begrüßung detailliert die schlichte Dienstwohnung unseres Hausmeisterkumpels. Parallel dazu erblickte ich die Sporttasche meines schweigsamen Fahrers. Ich staunte nicht schlecht, dass Balis Tasche doppelt so groß wie meine war. „Da werde ich ja neidisch“, kommentierte ich etwas ironisch. Er entgegnete verwundert: „Die Luftmatratze nimmt ziemlich viel Platz weg. “Hast du etwa keine dabei?” Mir fiel ein, dass da was war. Dennis ergänzte: „Wie gesagt, Bezug habe ich da, aber der Boden ist extrem hart.” „Eine Decke reicht mir“, sagte ich unbeeindruckt. Tatsächlich hatte ich das durch meine durchgemachte Nacht vollkommen vergessen. „Ist nicht so wild“, fügte ich hinzu, „ich werde es überleben ohne Luftmatratze.” Es blieb nicht viel Zeit, um Wurzeln zu schlagen. Schließlich stand das Bundesligaspiel VFB Stuttgart gegen SC Freiburg für 15:30 Uhr auf der Agenda. „Macht euch fertig, wir müssen los“, wies Dennis uns an. Ich überlegte hin und her, ob ich das Spiel sausen lassen sollte. So ein Mittagsschlaf hätte sich sehr, sehr komfortabel angefühlt nach der harten Nacht und dem schäbigen Schlaf im Auto. Ausgelaugt sagte ich mir jedoch: ´Ich bin nicht nach Stuttgart gekommen, um zu schlafen. Das wäre ja absolut idiotisch.` Demzufolge entschied ich mich, auf die Zähne zu beißen, um den Stadionbe-such nicht zu verpassen. Ich hätte es als viel zu armselig empfunden, nach Stuttgart zu reisen und dann zu schlafen, statt ein Bundesligaspiel zu verfolgen. Wir marschierten dann zur Straßenbahnhaltestelle, wo wir punktgenau das Schienenfahrzeug nach Bad Cannstatt erwischten. Die Vorfreude innerhalb unserer Gruppe auf das Wochenende spiegelte sich in unseren lebhaften Gesprächen wider. Ich fand es schön, die Jungs wiederzusehen. Seit der Alibi-Sprach-Urlaubs-Party-Reise nach England, wo wir uns kennengelernt hatten, hatten wir uns nicht mehr gesehen. Wir tauschten begeistert Urlaubseindrücke aus, so dass die Fahrt zum Gottlieb-Daimler-Stadion schnell verging. Aus der Straßenbahn heraus sah ich, dass es neben der Arena schon lebhaft zuging. Die „Cannstadter Wasen“, das Stuttgarter Äquivalent zum Münchner Oktoberfest, liefen auch gerade auf vollen Touren. „Da gehen wir nach dem Spiel noch hin”, jubelte Bali. ´Bitte nicht, ich hasse Rummel´, dachte ich verzweifelt, wie Muffi bei den Schlümpfen, der immer mit dem Satz: „Ich hasse…“ sämtliche Aktionen in der Serie kommentiert. Ich konnte gar nicht so genau sagen, warum ich solche Veranstaltungen so verachtete. Doch für mich waren die Besucher von Schützenfesten alles entweder obercoole, halbstarke Affen vor dem Autoscooter oder besoffene Schlager-Touristen in stinkenden Zelten auf Bänken. „Ja, ich zeige euch dann, was ich für ein guter Rummelboxer bin“, sagte ich sarkastisch und versuchte, meinen Ärger über Volksfeste mit diesem Witz zu überspielen. Ich sah tausend Leute, hörte laute Musik und bemerkte durch die Reize, wie kaputt ich mich doch tatsächlich fühlte. ´Wärst du mal zu Hause geblieben. Hauptsache, ich bekomme keine Kopfschmerzen´, dachte ich erschöpft. Ich schleppte meinen energiearmen Körper aus der Straßenbahn heraus, an den ganzen Menschen vorbei auf die Stehtribüne. Ich überlegte, aus Erschöpfung heraus, tatsächlich einen Mittagsschlaf zu halten und mich irgendwo hinzulegen, doch die Schüssel war im Derby gut besetzt. Auch den Gedanken, mich auf der Toilette einzuschließen, verwarf ich sofort wieder, als ich olfaktorischen Ekel antizipierte. Ich fühlte mich wie ein 25 Jahre alter Wagen, der bei Höhenmetern mit zu wenig PS und kaputtem Motor, vollgepackt mit Gewicht, kurz davor ist, den Geist aufzugeben. ´Ich bin ein Totalschaden.´ Daraufhin begann der Auftakt, eingeleitet durch den schrillen Pfiff des Referees. Gereizt versuchte ich, mich auf das Spiel zu konzentrieren, dass mich plötzlich nicht mehr interessierte. Ein Fan neben mir fing an, etwas von „heute ist es besonders wichtig zu gewinnen“ zu faseln. Meine gekonnte Passivität, gemixt mit mimischer Unfreundlichkeit, unterbrach den Konversationsversuch des Nachbarn bereits im Ansatz, was mir mehr als lieb war. Allerdings bedauerte ich es auch, da ich an sich sehr gerne mit Fremden redete. ´Wenn die Gewalttäter hier merken, dass dich der sportliche Wettkampf nicht interessiert, kann es gefährlich werden. Beim Fußball gibt es schon häufiger mal in die Fresse.´ So harmlos sah der Typ neben mir nun auch nicht aus. Ich begann damit, so zu tun, als sei ich ein Groundhopper. Das sind Menschen, die extrem viel um die ganze Welt reisen, um sich vorrangig viele Fußballstadien anzuschauen. Ich blickte nach rechts und nach links und tat so, als würde ich die gegnerischen Fans ganz genau studieren. Dabei dachte ich ferner über die Stadionarchitektur nach. Ich kam mir dabei interessant vor und ich konnte mein, an sich absolutes Desinteresse, kurz verdrängen. Daraus folgend drehte ich mich um und schaute als Einziger im ganzen Block in die entgegengesetzte Richtung des Spiels in die Gesichter der Zuschauer. Ich stellte mir vor, dass ich der Capo wäre, der die Leute zum Singen animierte. Währenddessen spürte ich tiefste Einsamkeit, doch ebenso auch ein Gefühl der Verbundenheit mit allen. Diese Emotionen irritierten mich. Mit meiner weißen Mütze fühlte ich mich cool in meiner Einbildung, der Fangesanginitiator zu sein. ´Du siehst aus wie „der Anton aus Tirol“ und hast einen Deckel für Klorollen auf dem Kopf; damit kannst du zum Rummel, du Spacko´. Ich fühlte mich erniedrigt. Jetzt war die Angst, die Reue meiner ganzen Existenz, auf einmal wieder da. ´Die ganze Nacht durchgemacht, das ist viel zu viel für mich hier.´ Sorgen um meine Gesundheit traten auf. Schließlich stellte die Situation Stress in Reinform dar. Die Gedanken wurden stärker und stärker. Ich konnte nicht mehr in die falsche Richtung schauen, das wurde mir sehr schnell viel zu albern. ´Ich bin ein Möchtegern, was bilde ich mir ein, wer ich bin.´ Die Groundhopper Maske fiel beschämt ab. Ich verkroch mich wie eine Maus in ihrem Loch, indem ich den Kopf herunter nahm und meine weiße Wollmütze so weit wie möglich über mein Gesicht zog. Dabei starrte ich frustriert auf den tristen Betonuntergrund des Stadions. Ich empfand tiefe Schuld für mein Leben. ́So ein Dreck mit der Krankheit, womit habe ich das nur alles verdient, wie gerne wäre ich tot. Warum habe ich denn nicht geschlafen heute Nacht?´ Das Spiel plätscherte vor sich hin wie ein leichter Sommerregen. Die negativen Emotionen wie Hass und Wut im Stadion, nahm ich viel feinfühliger wahr als sonst. Angst, dass Hooligans den Block stürmen würden, machte sich bei mir breit, einfach so. Der Abpfiff klang dann nach der Hölle, nach einer gefühlten Ewigkeit voller Qual wie eine Erlösung. Ich wollte nur noch weg und Ruhe finden vor all den Menschen, all den Tyrannen. Bali brachte derweil erneut die große Kirmes ins Gespräch. Der meinte das total ernst. „Ich bin kaputt“, sagte ich und untermalte die Aussage mit einem gespielten Gähnen. Nach einigen Diskussionen gab mir mein Hausmeisterfreund den Schlüssel für seine Wohnung, denn die Jungs hatten verstanden, dass die Wasen nichts mehr für mich waren. Ich ließ mir den Weg zur Wohnung erklären und verabschiedete mich schmerzvoll. Ich fühlte mich wie der größte Verlierer von allen. Wie ich die Haltestelle erreichte, weiß ich nicht mehr. Ich muss mit Tunnelblick an den ganzen Leuten vorbei geflüchtet sein. Völlig panisch stieg ich in die Bahn und prüfte dreimal, ob ich auch in die korrekte Richtung eingestiegen war. Die Bahn fuhr los. Sicher war ich mir immer noch nicht, ob ich in dem richtigen Fahrzeug saß. Doch scheinbar musste die Wahl stimmen. Gefühlt war hier jeder Mitfahrer ein Vergewaltiger oder Mörder, obwohl das ganz normale Menschen waren. Trotz starker