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Sophie möchte das, was sich jede Frau wünscht. Eine Familie mit wunderbaren Kindern, einen Mann, der sie liebt und das perfekte Leben dazu. Doch es scheint, als würde es das Schicksal nicht gut mit ihr meinen. Gepeinigt und gedemütigt muss sie die Attacken ihrer großen Liebe aushalten. Sie bricht mit ihren Eltern und wendet sich auch von anderen Familienmitgliedern ab. Schnell bereut sie diesen Entschluss und beginnt für ihr Leben zu kämpfen. Sophie begreift immer mehr, sie gehört niemanden! Sie ist wertvoll und sie hat ein Recht auf ihre Träume!
Die Schicksalhafte Begegnung mit einem jungen Mann verändert sie. Endlich wächst sie aus sich heraus und beginntn sich auf den Weg zu machen, um ihre Ziele zu erreichen.
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Schicksal und Wille
Die Kunst aus Verletzlichkeit zu wachsen
Mailisa Lind
Impressum
Text: © Mailisa Lind 2022
Lektorat: Angelnova-Verlag
Korrektorat: Angelnova-Verlag
Verlag: Angelnova-Verlag, 25879 Stapel
ISBN E-Book: 978-3949255076
ISBN Taschenbuch: 978-3949255069
Die andere Seite der Angst
Ihr wurde immer wärmer und obwohl sie nur ein leichtes Sommertop anhatte, schnürte ihr die Hitze den Hals zu.
Trotzdem rannte sie, als sei der Teufel hinter ihr her.
Ihr Herz pochte bis zum Hals und erst als es zu zerreißen drohte, blieb sie stehen und rang nach Luft.
Mitten im Nirgendwo, umgeben von Wiesen und vereinzelten Bäumen.
Sobald sich die Atmung wieder beruhigt hatte, legte sich ihre Anspannung und sie schrie. Es war ein Befreiungsschlag und die Tränen brachen, wie ein wilder Strom, aus ihr heraus. Obwohl es schon spät am Abend und dunkel war, konnte sie noch nicht zurück zu Pierre, denn die Begegnung erforderte all ihren Mut.
An sich war Sofia eine offene und meistens gut gelaunte junge Frau, sportlich und elegant gekleidet. Sie maß ein
Meter sechsundfünfzig, war von schlanker Statur und ihr kupferrotes, lockiges Haar fiel auf die Schultern herab.
Gerade achtzehn geworden dachte sie, sie könne nun endlich ihre eigenen Entscheidungen treffen, ihre kleine Welt erobern und sie so machen, wie sie ihr gefällt.
Sie wollte es Pippi Langstrumpf, ihrem Idol aus Kindertagen, gleichtun. Wenn sie das konnte, warum dann nicht auch Sofia!
Carpe diem – Nutze den Tag, so könnte man die Lebenseinstellung von Astrid Lindgrens literarischer Tochter beschreiben. Die Welt entdecken und nach eigenen Ideen gestalten. Damit das gelang, fing man zunächst einmal an, das Beste aus dem Tag herauszuholen. Es war schließlich kein Zufall, dass sie die gleiche, auffällige Haarfarbe hatte wie Pippi.
Ja, Sofia war sehr naiv. Das Erwachsensein gestaltete sich aber schwieriger als angenommen.
Seit einigen Monaten war sie mit dem zwei Jahre älteren Pierre zusammen. Ein unglaublich charmanter und liebevoller Franzose. Gefühle zeigte er zum Beispiel nur, als das Paar allein war. Ansonsten trat er als der Starke, Unnahbare auf, dem seine Freundin zu gehorchen hatte.
Sofias Mutter Elke war gegen die Beziehung der beiden. Er tat ihrer Tochter nicht gut. Diese Meinung entsprach ihrer Lebenserfahrung und, wie sie selbst sagte, ihrer weiblichen Intuition.
Andauernd flehte sie Sofia an, es endlich einzusehen. „Dieser junge Mann ist nichts für dich. Du bist traurig und verschließt dich immer mehr. So leise und unscheinbar, ich erkenne dich kaum mehr wieder. Kind, du bist doch viel mehr als die Frau, die jemandem gehorcht.“ Elke wiederholte diese Worte so oft sie konnte, weil sie spürte, dass ihr Einfluss auf ihre Tochter geringer wurde.
Sofia dagegen war sich ihrer Gefühle sicher und erwiderte die Ermahnungen ihrer Mutter selbstbewusst und entschlossen: „Mama, ich liebe diesen Mann. Ich bin jetzt erwachsen und kann machen, was ich will. Außerdem weiß ich genau, was ich tu.“
Zum Glück kannte Sofia das kleine Dorf, in dem sie gerade mit Pierre wohnte, wie ihre Westentasche. Sie war wie in Trance mal gerannt, mal gegangen, erinnerte sich nicht mehr, wie sie hierher gelangte, aber wenigstens, wo sie sich befand. Das Herz pochte wild in ihrer Brust.
Die Kirchglocken drangen an ihre Ohren.
Sie wohnte erst seit Kurzem bei Pierre und wusste, was passieren würde, wenn sie um Mitternacht nach Hause käme.
Also machte Sofia sich auf den Weg. Sie musste sich ständig ermahnen, keine Zeit zu verlieren, denn die Gedanken an das, was passiert war, wirkten lähmend auf ihre Knochen.
Auf dem Heimweg versank sie in ihnen. Sie und Pierre gerieten oft in Streit, aber kommt das nicht in den besten Beziehungen vor?
Doch heute eskalierte der Streit. Es war Samstag Abend und sie hatte ihn auf die Geburtstagsparty von André begleitet. Er war sein bester Freund.
Anfangs geschah nichts Ungewöhnliches, jeder amüsierte sich, bis plötzlich die Stimmung kippte.
Pierre beobachtete argwöhnisch, wie sich Sofia angeregt mit dem Geburtstagskind unterhielt und ihn kurz, freundschaftlich umarmte. Auf den hochgradig eifersüchtigen Franzosen wirkte das wie ein rotes Tuch. Sein Kopf glühte wie Feuer, seine Halsschlagader schwoll bedrohlich an. Er drängte sich zwischen sie und André und zerrte sie von ihm weg.
Dann ohrfeigte er sie vor allen Freunden.
Mehrmals.
Sein Wutanfall traf sie wie aus heiterem Himmel.
Wie oft er zuschlug, daran vermochte sie sich nicht mehr zu erinnern. Mit diesem Gewaltausbruch hatten seine Eifersuchtsanfälle eine neue Dimension erreicht, die Sofia in Panik versetzte.
Als die Glocken verstummten, war es geradezu gespenstig still.
Sie eilte von Angst getrieben nach Hause. Sie steckte den Schlüssel sachte ins Schlüsselloch und schloss die Haustür behutsam auf. So leise es ging, stieg sie die knarrende Treppe des alten Einfamilienhauses von Pierres Familie hinauf und schlich zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer.
Ihr hüpfte fast das Herz aus der Bluse, als sie die Klinke in Zeitlupe herunterdrückte. Aber eine neuerliche Auseinandersetzung blieb ihr vorerst erspart.
Pierre schlief tief und fest.
Bevor Sofia noch voller Unsicherheit ebenfalls einschlief, wunderte sie sich, wo die Zeit geblieben war. Es kam ihr nicht so vor, aber sie war fast vier Stunden umhergelaufen. Sie hoffte, dass morgen alles wieder gut wäre und er sich Gedanken über das, was passiert war, gemacht hat. Anders konnte sie es sich nicht erklären, dass er jetzt schon zu Hause war und schlief.
Am Morgen wurde Sofia sanft von den einfallenden Sonnenstrahlen in der Nase gekitzelt.
Sie schlug die Augen auf. Sofort sprang ihr die Erinnerung an den gestrigen Abend ins Gedächtnis. Kein Wunder, die Szene von seinem Gewaltausbruch war auch im Traum wieder und wieder an ihr vorbeigezogen.
Sie schielte vorsichtig zur anderen Seite des großen Doppelbettes und stellte erleichtert fest, dass Pierre vor ihr aufgewacht war und das Zimmer bereits verlassen hatte. Sie hoffte immer noch, dass sich ihr Freund beruhigt hatte, vielleicht sogar eine Entschuldigung oder dass er ihr zumindest die Gelegenheit gäbe, das Missverständnis aus der Welt zu räumen.
Sie kleidete sich rasch an und schlich die Treppe hinab, wo er mit seiner Mutter Maria, die ebenfalls hier wohnte, am Esstisch saß und gemeinsam frühstückte.
Auf dem Weg hörte Sofia ihren Namen in Verbindung mit dem des Aschenputtels. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie bereits, dass das kein gewöhnlicher Tagesbeginn war. Der gestrige Abend und die Tatsache, dass sie nach den Ohrfeigen, ohne ein Wort zu sagen, verschwunden war, blieben nicht folgenlos.
Als sie die Küche betrat, war das Frühstück beendet und der Tisch abgeräumt.
Auf der Suche nach etwas Essbarem grummelte sie „Guten Morgen“ und schlurfte zum Kühlschrank. Sie gehörte quasi zur Familie und durfte sich ungefragt bedienen. Doch als sie die Tür öffnete, grinste sie nur die eisige Leere an.
Frostig waren auch die Blicke von den beiden, die sie erntete und denen sie auszuweichen versuchte.
In ihrem Portemonnaie befanden sich nur noch zwei Euro, ihr letztes Geld für diesen Monat, dabei war erst der Fünfzehnte. Um der Situation zu entkommen, sagte sie unsicher: „Nicht schlimm, ich hole mir schnell was beim Bäcker um die Ecke“.
„Nein, das tust du nicht! Du wartest bis zum Abendbrot!“, fauchte Pierre und zog sie, die sich bereits abgewandt hatte, gewaltsam am Arm zurück.
Mit Tränen in den Augen wollte sie zur Treppe, um sich nach oben in ihr Zimmer zurückzuziehen.
„STOP“, schrie Maria ihr auf der Türschwelle zu. „Da du ja jetzt viel Zeit hast, nicht vollgefressen bist und damit du nicht auf dumme Gedanken kommst, wirst du das alles heute noch erledigen.“ Sie drückte ihr eine Todo-Liste in die Hand. „Natürlich fängst du sofort damit an. Ich veranstalte mit Pierre einen Spieletag mit vielen lustigen Brettspielen. Das braucht er jetzt nach deiner ungeheuerlichen Aktion gestern Abend zur Beruhigung.“ Sofia blickte auf den Zettel. Darauf stand: Waschen, Bügeln, Staub wischen im ganzen Haus, Boden wischen im ganzen Haus.
Sie ging nach oben, um sich alte Kleidung anzuziehen. Beim kurzen Blick aus dem Fenster liefen ihr die Tränen die Wangen hinab. Sie setzte sich traurig auf das Bett und verlor sich in Gedanken.
Es war so ein schöner Tag, Sommer, Sonne und Wärme. Und sie …
Na ja, sie musste sich ihrem Schicksal wohl oder übel beugen. Träumend näherte sie sich dem Glasfenster. Immer wieder erinnerte sie sich daran, wie ihre Mutter sie gewarnt hatte. Aber sie hatte sich für Pierre entschieden und so verließ sie mit ihren Siebensachen das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
„Ich kann nicht mehr. Ich kann dich nicht beschützen, wenn du das nicht willst. Mein Therapeut sagte mir, du musst deine eigenen Erfahrungen machen, egal wie weh es mir tut.“ Diese Worte waren die letzten, die Sofia von Elke seit ihrem Auszug hörte.
Seitdem war ein halbes Jahr vergangen. Der Kontakt abgebrochen. Längst bereute sie ihren Entschluss.
Während sie das Echo der Worte ihrer Mutter hörte, wurde sie brutal aus ihren Gedanken gerissen.
Pierre betrat so ungestüm das Zimmer, dass die Tür mit einem Knall gegen die Wand flog. Drohend baute er sich vor ihr auf und brüllte: „Was hast du an dem Wort SOFORT nicht verstanden? Oder bist du jetzt nicht nur untreu, sondern auch noch zu dumm, um die Hausarbeit zu erledigen, die man dir aufgetragen hat?“ Sofia erstarrte. Mit zitternder Stimme quälten sich „Nein, ich fange direkt damit an“ ergeben aus ihr heraus.
Es vergingen Stunden, in denen sie sich immer wieder fragte, wie es so weit kommen konnte.
Am Anfang lief es bestens in ihrer neuen Familie, aber nach der ersten Euphorie schlich sich die Harmonie wie eine Katze davon. Vor allem Maria zeigte ihr wahres Gesicht und drangsalierte sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Was hatte sie falsch gemacht, fragte sich Sofia, oder wollte sie Marias fiesen Charakter vorher nur nicht wahrhaben? Dieser färbte zusehends auf Pierre ab, der sich vom zärtlichen Kavalier zum Grobian verwandelte. Manchmal glaubte sie, die heckten zusammen die Quälereien gegen sie aus. Aber anstatt eines Schlussstriches zu ziehen, blieb sie bei ihnen wie ein geprügelter Hund, als gäbe es keine andere Hand, die sie ernähren konnte. Sofia bemühte sich redlich, alles zur vollen Zufriedenheit Marias zu erledigen. Sie hörte die beiden lachen, sie waren vergnügt und freuten sich.
Bis zum Abendbrot hatte sie noch immer nicht ihre Aufgaben beendet.
Bevor Sofia fragen konnte, ob sie die anderen Arbeiten am nächsten Tag abschließen dürfe, warf Maria ihr einen hämischen Blick zu. „Du isst erst, wenn alles fertig ist.“
Es vergingen weitere quälende Stunden, in denen Sofias Magen knurrte.
Als sie das letzte Teil der Wäsche zusammenlegte, wurde ihr schwindlig vor Schwäche und schwarz vor Augen.
Marias prüfendem Blick war das nicht entgangen. Sie ging in die Küche und reichte ihr zwei Scheiben Brot. „Was anderes ist nicht mehr da. Morgen gehst du direkt von der Schule aus zur Lebensmittelausgabe der Caritas und bringst alles heim. Dann lernst du vielleicht, was es bedeutet, sich für seine Familie aufzuopfern“.
Erst bei näherem Hinsehen bemerkte sie, dass es zum überwiegenden Teil bereits verschimmelt war. Sofia zwang es sich trotzdem rein, der Hunger war einfach zu stark.
Sie hoffte vergeblich auf eine Entschuldigung von Pierre. Auch später, im Bett, zeigte er sich unversöhnlich. Von ihm erntete sie nur weitere Vorwürfe. Unter Tränen schlief sie schließlich ein und freute sich auf den Unterricht am nächsten Tag.
Sofia ging schon immer gerne zur Schule und die Hausaufgaben fielen ihr leicht.
Bildung war der Schlüssel zum Erfolg, und sie war fleißig und willig, sich weiterzubilden. Denn nur so ließ sich ihr Traum erfüllen, eines Tages in den oberen Chefetagen eines Unternehmens zu sitzen oder sogar ihr eigenes Geschäft zu besitzen.
Gegen ihre Überzeugung blieb der Morgenmuffel chancenlos.
Die Vorstellung, Tag für Tag ihrem Ziel einen Schritt näher zu kommen, trieb sie jeden Morgen aus dem Bett zur Fachoberschule. Ihr Streben forderte auch seinen Tribut. Freunde hatte Sofia schon ewig nicht mehr. Seit der Realschule stand Mobbing auf der Tagesordnung. Ihre Mitschüler, die kaum strebsam wie sie waren, mieden sie aber nicht nur deswegen, sondern vor allem, weil sie sich nicht einzig in ihrem Wesen von ihnen unterschied und ebenfalls äußerlich. Sie hatte diese langen, kupferroten Haare und litt unter einem seltenen Gendefekt. Dieser war nur bei zweihundert Menschen weltweit verbreitet und so wenig erforscht, dass sie zu ihrer eigenen Sicherheit vom Sportunterricht freigestellt war.
Das genügte ihren Mitschülern, um sie auszugrenzen, und mit boshaften Sprüchen zu beleidigen. Ihrer Kreativität waren keine Grenzen gesetzt. Von Rotkehlchen und Arielle ging es weiter bis zur Frage, wo Sofia denn ihren Mann Aladin versteckt habe.
Auch an diesem Montag nach der Geburtstagsparty und den Demütigungen am Sonntag freute sich Sofia auf die Schule. Grund dafür war nicht nur ihr ungebrochener Drang in Richtung oben, sondern zusätzlich Miguel. Er war Sofias Jugendliebe, sie waren sogar sechs Monate zusammen, als sie siebzehn war und er erst fünfzehn. Sie war bis über beide Ohren in ihn verknallt.
Aber Miguels Liebe war nicht so groß wie der Altersunterschied. Außerdem waren ihre Interessen zu unterschiedlich, und Liebe allein war eine Beziehung ohne Zement und hielt den äußeren Einflüssen nicht stand. Sie trennten sich im Guten, ließen jedoch den Kontakt nicht abreißen.
So trafen sie sich weiterhin vor der Schule am Bahnhof, denn gleich, was vorgefallen war, die Freundschaft verblieb. Miguel blieb nach der Trennung Sofias bester Freund und ihr größter Halt. Er bemerkte, dass Sofia bedrückt war.
Mit einer Engelsgeduld bat er sie, ihm zu sagen, warum. „Egal, was ist, du weißt, ich werde immer für dich da sein, dich beschützen, wenn nötig und jeden deiner Schritte gemeinsam mit dir gehen. Auch wenn du jetzt noch nicht so weit bist, ich weiß, eines Tages bist du bereit, mit mir zu reden, und dann finden wir gemeinsam eine
Lösung.“
Sofia wusste, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen, aber sie war viel zu stolz, um ihm ihren Kummer zu gestehen. Stattdessen versuchte sie, die eine Stunde am Tag, in der sie mit Miguel zusammen sein konnte, zu genießen, denn bei ihm fühlte sie sich in Sicherheit und geborgen.
Wochen vergingen. Das Wochenende, an dem in Sofias Herz ernsthafte Zweifel an seiner Liebe aufkeimten, bildete nicht die Ausnahme einer ansonsten harmonischen Partnerschaft. Sondern die Demütigungen durch ihn und seine Mutter wiederholten sich immer häufiger und wurden mit der Zeit zur Regel.
Ihr Selbstbewusstsein schmolz, ihre Ziele rückten in weite Ferne, und das ging auf Pierres Konto. Sie führe nicht mehr ihr eigenes Leben, nur noch das des Aschenputtels.
Inzwischen tauchte der Herbst die Bäume in leuchtende Farben. Die näher kriechende dunkle Jahreszeit weckte die Lust auf Tee. Sie bekam schon seit Wochen jeden Tag eine Thermoskanne Kamillentee mit in die Schule.
Die ungewöhnliche Fürsorge Marias freute Sofia, sie dachte sich nichts weiter dabei.
Der Tee schmeckte gut, aber sehr bitter für Sofias Geschmack. Noch nicht einmal Zucker vertrieb es und Maria bestand immer darauf, dass sie ihn komplett austrank. Der Versuch, ihn wegzuschütten, brachte ihr eine Woche „schulfrei“ inklusive eines blauen Auges ein. Seitdem sie Marias Tee trank, fühlte sich Sofia kränklich, jeden Tag ein wenig mehr. Ob das nur daran lag, dass sie sich vor dem bitteren Geschmack des Tees ekelte?Aber davon kamen weder Bauchkrämpfe, noch fühlte man sich müde und schlapp.
Als sie Miguel eines Tages die leere Thermoskanne zum Festhalten in die Hand drückte, bemerkte er ein weißes Pulver, das sich am Boden abgesetzt hatte. Auf seine Frage hin, was das sei, konnte Sofia ihm keine Antwort geben und beide bekamen es mit der Angst zu tun.
Aber sie trank den Tee weiterhin, wie eine Willenlose.
Am Ende des Monats freute sie sich, mit Pierre auf eine Party zu gehen, und hoffte, ihm endlich beweisen zu können, dass sie nur ihn will. Sie hatten sich in den vergangenen Wochen wieder etwas angenähert, und Sofia schöpfte neue Hoffnung.
Die Ernüchterung folgte auf dem Fuß, als sie ihren Kleiderschrank öffnete, um das perfekte Outfit zu suchen.
Der Schreck fuhr ihr in die Glieder, als sie feststellte, dass all ihre schönen Kleider verschwunden waren.
„Maria“, schrie sie, weil ihr klar war, dass niemand sonst dahinterstecken konnte.
„Hast du gerade deine neue Garderobe entdeckt?“, spottete diese nur.
„Was ist mit meinen Klamotten passiert? Wo ist alles hin?“, brauste Sofia auf, „Was hast du getan, Maria?“
„Du weißt, der Erste ist noch lange hin, und wir brauchten Geld. Ich habe deine Schickimicki-Sachen verkauft. Pierre wird sich freuen, wenn er hört, dass du dich so für deine Familie aufopferst.“ Sie deutete auf den geöffneten, nahezu leeren Kleiderschrank und verlieh dem Hass gegen sie ein weiteres Mal deutlich Nachdruck. „Das passt schließlich auch besser zu einem Aschenputtel als all diese edlen und glitzernden Fummel, nicht wahr?“
„Natürlich, Maria!“, schluchzte Sofia der bösen Schwiegermutter in Spee zu, die mittlerweile neben ihr stand. Sie wusste, dass jeder Widerspruch sie zum Ausrasten bringen könnte und eine Ohrfeige aus dieser Distanz ein Leichtes gewesen wäre. Zum Selbstschutz vermied sie eine weitere Demütigung und schwieg. Sie war am Boden zerstört.
Es waren Kleidungsstücke darunter, die sie von Willi hatte, ihrem Opa. Er war neben Miguel die zweite Person, die stets zu ihr gehalten hat, auch heute noch. Sie besuchte ihn jeden Tag, heimlich. Und telefonierte mit ihm so oft es möglich war. Aber was momentan mit Sofia geschah, verriet sie ihm nicht. Zu groß waren ihr Stolz und die Scham.
Sie zog das Beste an, was ihr Schrank jetzt zu bieten hatte und ging mit Pierre zur Party.
Zu ihrer Überraschung war es für sie angenehm. Sie tanzte mit ihm und sie lachten ausgelassen. Er entschuldigte sich sogar für seine ständigen Wutanfälle. So sehr sich Sofia auch wünschte, dass es ihm damit ernst war, fiel er danach wieder in die gewohnten Verhaltensmuster zurück. Sie erledigte die Hausarbeit und als Arbeitslohn erhielt sie das zu essen, was die beiden ihr übrigließen. Verschämt aß sie ihr karges Mahl allein in ihrem Zimmer. Während sie sich im Haushalt den Rücken krumm schuftete, führten die anderen Familienmitglieder auf die Kosten ihres Kindergeldes ein angenehmes Leben.
Die Gemeinheiten von der Mutter schlugen ihr zusehends aufs Gemüt und Pierre hatten seinen Spaß, traf sich mit Freunden, ging seinen Hobbys, wie Fußball und Tennis, nach und genoss sein Dasein.
Zuneigung von ihm gab es nur, wenn sich Sofia für ihre neue Familie aufopferte, wie Maria es herablassend zu sagen pflegte.
Bereits am nächsten Tag rückte sie mit dem neusten Einfall heraus. „Du gehörst jetzt zur Familie, also bist du auch mitverantwortlich für den finanziellen Unterhalt. Die paar Kröten von deinem Kindergeld reichen da bei weitem nicht aus. Da dir der Abschluss der Fachoberschule so wichtig ist und du deswegen kein Einkommen hast, gehst du Dienstag mit mir zum Anwalt. Deine überaus geizige Mutter hat schon bei deinem Auszug jede finanzielle Unterstützung für dich abgelehnt, solange du hier wohnst und mit Pierre zusammen bist. Daher wirst du deine Eltern auf einen monatlichen Unterhalt verklagen. Deine Mutter hat dich schließlich rausgeschmissen, also muss sie zahlen! Vielleicht lassen wir dich demnächst als Gegenleistung auch mit uns gemeinsam am Tisch essen.“
„Maria, ich kenne meine Eltern. Die werden mir nie Unterhalt zahlen. Es würde mit Sicherheit zu einer Gerichtsverhandlung kommen und das will ich nicht“, versuchte Sofia ihr diesen Gedanken ganz schnell wieder auszureden.
„Hast du dich schon einmal im Spiegel betrachtet? Du bist abgemagert, hast Augenringe wie Bergarbeiter und stehst völlig neben dir. Wenn sie nicht freiwillig zahlen, dann gelangen diese Fotos eben zu deinem Rechtsbeistand und dann müssen sie zahlen, ob sie wollen oder nicht.“
Sie legte Sofia Bilder vor, die alle Verletzungen zeigten, die Pierre ihr zugefügt hatte. Mehrere blaue Augen, ein gebrochener Arm, Brandwunden und sogar das Essen von verschimmelter Nahrung wurde heimlich dokumentiert. Nun aber war sie starr vor Angst, zitterte am ganzen Körper und wusste nicht, was sie tun sollte. Maria wollte die Blessuren und Misshandlungen Thomas und Elke in die Schuhe schieben, falls sie nicht das täte, was von ihr verlangt wurde.
Sie wusste, dass ihre Eltern sie liebten und niemals körperlich angreifen würden. Niemand hatte zu ihr gesagt, dass sie ausziehen muss. Ihre Mutter wollte lediglich Pierre nicht akzeptieren und sie entschied sich aus freien Stücken für diesen Schritt. Hätte sie aber damals schon die Kenntnis, die sie heute hat, wäre Sofia in ihrem behüteten Elternhaus geblieben und hätte ihn gehen lassen. Auch wenn die Tochter enttäuscht war, dass sie jetzt fallen gelassen wurde, tief im Innern war ihr mittlerweile klar geworden, dass ihre Eltern sie nur schützen wollten. Und dies gelang nur, so gut kannten Thomas und Elke sie, indem sie ihre Fehler macht. Sofias Mutter hatte eine ausgeprägte Menschenkenntnis, sie erkannte schon frühzeitig das Böse in Pierre. Allmählich durchschaute sie ihn nun auch. Aber gelangte sie zu dieser Erkenntnis zu spät?
Wenn sie doch damals bloß auf ihre Mama gehört und ihrem Feingefühl vertraut hätte. Um sich und ihre eigene Familie zu schützen, willigte Sofia ein, und das Unheil schien zunächst seinen Lauf zunehmen.
Am nächsten Morgen sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Voller Panik berichtete sie Miguel, was Maria von ihr verlangte. „Diese Familie kann mein Leben zerstören, wenn ich dagegen nichts tu. Ich habe den Tee, eben als ich angekommen bin, in einen verschließbaren Becher vom Kiosk gekippt. Bitte frage deine Mutter, ob sie diesen auf Rückstände untersuchen kann. Ich muss diese Anklage irgendwie verhindern und ich habe nur bis nächste Woche Dienstag Zeit.“
Miguel war fassungslos und konnte nicht glauben, was seine beste Freundin ihm da erzählte.
Sofia wusste, dass Renate, seine Mutter, seit kurzem einen neuen Job in einem Labor hatte. Da sie der Meinung war, dass sie ein in allen Maßen guter Umgang für ihren Sohn war, würde sie der Bitte bestimmt nachkommen. „Ja, natürlich. Ich bin sicher, dass Mama uns helfen kann. Ich gebe dir die Ergebnisse am Montag“, stimmte er in dem Plan zu.
Um den beiden am Wochenende wenig über den Weg zu laufen und so nicht der Gefahr ausgesetzt, sich zu verplappern, täuschte Sofia Bauchschmerzen vor. Sie bat Maria, am Montag nach der Schule zum Arzt gehen zu dürfen.
Diese willigte nur ein, so sagte sie, damit ihr Hausmädchen so bald, wie möglich wieder volle Leistung erbringen könne. Und sie stellte eine Bedingung:
„Ich hole dich von der Schule ab und begleite dich zum Frauenarzt. Nicht, dass du schwanger bist.“ Maria war unwissend darüber, dass Pierre und Sofia noch keinen Sex hatten.
Samstag und Sonntag verbrachte die ungeliebte Schwiegertochter in Spee in ihrem Zimmer und hoffte in ihrem Inneren, dass Renate etwas in dem Tee finden würde.
Am Montagmorgen war Sofia noch nicht richtig aus dem Bus ausgestiegen, stürmte Miguel auf sie zu. „Das ist unglaublich. Die haben dir Schlafmittel verabreicht. Über Monate hinweg, und das in solchen Mengen, dass es bei deiner Erkrankung leicht hätte Schäden verursachen können. Jetzt ist mir auch klar, warum du so müde und ab und zu auch wie weggetreten warst.“
„Sehr gut, dann weiß ich jetzt, wie ich meine Eltern schützen kann. Ich meine, überleg mal. Mama arbeitet in einem katholischen Kindergarten. Wenn da auch nur der Verdacht besteht, dass sie ihre Tochter schlägt, darf sie ihren Beruf nie wieder ausüben!“ Sofia war erleichtert, dass sie nun darüber in Kenntnis war, was ihre körperlichen Beschwerden verursacht hatte. Miguel überreichte seiner besten Freundin einen Brief, indem Renate den Laborbefund dokumentiert hatte.
Nach der Schule stand der Termin beim Frauenarzt an.
Als Sofia das Wartezimmer betrat, traute sie ihren Augen nicht. Es lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Vor dieser Begegnung hatte sie sich seit Monaten gefürchtet.
Zum ersten Mal seit ihrem Auszug sah sie ihre Mutter wieder und wusste nicht, wie sie ihr gegenübertreten soll.
Maria zog sie möglichst unbemerkt am Arm zu den Stühlen, die am weitesten von Elke wegstanden.
Wie es der Zufall wollte, setzten ihre Tage am Morgen ein, sodass sie dem Arzt nichts vorspielen musste. Sobald dieser körperliche Zustand bei Sofia eintrat, fühlte sie sich, als ob jemand mit dem Messer in ihren Bauch sticht und tausend Mal herumdrehen würde.
Die Untersuchung ergab aber nicht das geringste Auffällige.
Die Patientin bekam Schmerztabletten verschrieben und den Rat, dass sie diese, während ihrer Periode, einnehmen soll. Sie reagierte, so der Arzt, sehr empfindlich auf diese Art von Schmerzen, das war bei manchen Frauen der Fall.
Bevor sie und Maria wieder den Heimweg antraten, entschuldigte sich Pierres Mutter kurz, um die Toilette aufzusuchen.
Sofia setzte sich neben Elke, die immer noch im Wartezimmer saß.
Plötzlich ertönte diese liebevolle, wohltuende, vertrauliche Stimme und sie spürte eine Hand sanft auf ihrem Knie. Die unsichere junge Frau, die die ganze Zeit auf den Boden starrte und auf Maria wartete, blickte auf.
„Egal, was war, du kannst jederzeit nach Hause kommen. Du musst nur anrufen und dann wird alles wieder gut. Du bist und bleibst unsere Tochter und wir lieben dich, für immer“.
Ihr liefen die Tränen über die Wange und zum ersten Mal, seit Monaten, war ihr warm ums Herz. Trotz der psychischen Distanz, die zwischen ihr und Elke gerade bestand, fühlte sie sich wohl und geborgen.
Kurz bevor Maria die Unterhaltung bemerkte und sie wütend zu sich zitierte, flüsterte sie: „Danke Mama!“
Zu Hause angekommen, suchte Sofia gleich die Konfrontation mit ihr. „Ich gehe morgen nicht mit dir zum Anwalt. Es ist eine Sache, dass ihr wie ein Tornado durch mein Leben fegt, aber meine Eltern haltet ihr aus dem ganzen Elend heraus. Die Fotos, auf denen die Verletzungen zu sehen sind, zerstörst du und löscht sie auf dem Handy von deinem Sohn. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass diese Blessuren von euch stammen. Ich bin bei Mama und Papa ausgezogen und habe mich somit für Pierre entschieden. Außerdem habe ich in einem Jahr den Fachhochschulabschluss und kann mir sofort einen Job suchen und noch mehr Geld in die Familienkasse einbringen“, sagte Sofia und stand selbstbewusst neben Maria.
Diese fing lauthals an zu lachen. „Und warum denkst du, dass ich das tun werde und dich nicht dazu bringen kann, auf Unterhalt zu klagen? Ich bin hier die Frau im Haus und bestimme. Du wirst schön das machen, was ich dir befehle, sonst wirst du dich vor Schmerzen nicht mehr regen können.“
„Ändert das vielleicht deine Meinung?“, entgegnete Sofia mit Nachdruck und zeigte Maria den Laborbefund von ihrem Tee. „Mit diesem Dokument ist es für mich ein Leichtes, Anzeige gegen dich zu erstatten. Diese Schlafmittel hätten irreparable Schäden in meinem Körper anrichten können. In Zukunft nimmst du das Mittel selbst oder entsorgst es.“
Sie hatte den Satz kaum beendet, stolperte Pierre in die Küche. Er stand seit einigen Minuten vor der Türe und belauschte das Gespräch zwischen ihr und seiner Mutter. Außer sich tobte er: „Was hast du getan? Wieso verabreichst du ihr Schlafmittel? Sie soll gute Noten in der Schule schreiben, dass später ein guter Job auf Sofia wartet. Nur so kann sie mich und meinen gewünschten Luxus finanzieren. Ist sie aber weggetreten und ständig müde, geht das nicht.“
„Was hätte ich denn bitte tun sollen, du bist doch viel zu lasch für dieses Weibsbild. Sie tanzt dir nur auf der Nase herum und hat immer noch einen eigenen Willen. Wenn du so weitermachst, ist sie schneller weg, als du dich umschauen kannst und dein gutes Leben verschwindet mit ihr.“
„Ich weiß schon, was ich tue. Und sie weiß sehr gut, wozu ich im Stande bin. Aber wie du meinst, ich kann auch härter durchgreifen“, schnauzte Pierre seine Mutter an und nickte ihr bejahend zu.
Er verstand ihre Äußerung als Handlungsanweisung.
Sofia, der in diesem Moment klar wurde, wusste zwar, dass sie ihre Eltern gerettet hatte, aber mit ihr selbst ging es jetzt sicherlich steil bergab. Sie riss Maria den Laborbefund aus der Hand und verzog sich zum Nachdenken in ihr Zimmer.
Es vergingen Monate, eine Kommunikation zwischen Sofia und ihren Eltern gab es noch immer nicht.
Unterdessen versuchte Eleonore, ihre Tante und ihr Opa sie zur Vernunft zu bringen.
Willi holte seine Enkelin, so oft er konnte, von der Schule ab und machte ihr Essen. Richtiges, leckeres Essen. Spätzle mit Gulasch, Pommes mit Schnitzel und Salat, Pizza oder Pilzragout. Ihr Opa war ein begnadeter Koch. Außerdem besorgte er Sofia alles, was sie brauchte oder worum sie ihn bat. Neue Schuhe, neue Kleider oder andere Utensilien.
Das verblieb aber in seinem Haus, sie wollte unter keinen Umständen, dass bei Maria oder Pierre dahinterkamen.
Willi brachte ihr eine Zeit langtäglich Essen zur Schule.
Sofia die ganze Woche über das Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Das stellte sich am Wochenende als wahr heraus.
„Ich habe gesehen, dass du jeden Morgen mit diesem Miguel abhängst und du dich auch in der Schule nicht von anderen Männern fernhalten kannst. Scheinbar wissen diese Typen nicht, mit wen du zusammen bist“ schrie er Sofia an.
Ihr Freund war so eifersüchtig, dass er sie nun morgens bis an das Klassenzimmer brachte und Maria sie mittags dort wieder abholte.
Sofias Tante rief jede Woche auf ihrem Handy an und bat sie, nach Hause zu kommen. Sie wusste nicht, wie es ihrer Nichte ging und, dass sie sich zum Schutz ihrer Eltern, dem Willen von Pierres Familie untergeordnet hatte. Deswegen gab es für sie kein Zurück mehr.
„Sofia, bitte, deine Mutter ist mit den Nerven fertig. Sie nimmt Beruhigungsmittel, geht kaum noch ihrer Arbeit nach und weint ständig. Dein Vater und ich sind machtlos. Nur du kannst ihr jetzt noch helfen.“
Ihr trafen die Worte mitten ins Herz. Aber ihr Mut und ihr Selbstbewusstsein waren gleich Null. Sie konnte ihrer Mutter nicht mehr helfen, als sie es schon getan hatte.
Dabei wollte sie nichts lieber auf der Welt, als nach Hause zurückzukehren.
Sie hatte Angst, vor dem, was jetzt noch kommen würde. Schließlich hatte sie sich gegen die Familie gestellt. Würde Pierre sie nun mehr verprügeln oder sie gar einsperren, damit sie ihm nicht wegläuft? Außerdem wusste Sofia, dass ihr Freund durch sie nur ein luxuriöses Leben haben will.
Aber wenn sie sich so für ihren Abschluss ins Zeug legt, dann mochte sie das Geld auch für sich ausgeben und für sich sorgen. Nicht für andere.
Doch immer, wenn sie kurz davor war, anzurufen, stellte sie sich vor, wie es danach weiterginge. Nichts wäre mehr, wie zuvor.
Sie war verschlossen, in sich gekehrt, ängstlich. Sie hatte schäbige Kleidung an, manchmal trug sie eine Woche lang die gleichen Sachen. Sie war abgemagert, wog gerade noch dreißig Kilogramm. Ihre Haare waren mittlerweile so spröde, dass Sofia sie nur im Zopf tragen konnte. So konnte sie ihren Eltern nicht unter die Augen treten. Sie wollte sie nicht enttäuschen oder womöglich für ihren Lebenswandel von ihnen gehasst werden.
Der Einzige, der noch für die da sein würde, wäre Miguel.
Sofia war weiterhin der Meinung, dass Eleonore sich in ihrer Schwester täuscht. Sie glaubt nicht daran, dass Elke und Thomas ihre „verlorene Tochter“ wieder aufnehmen würden.
Einige Wochen später war es Winter geworden. Der erste Schnee war bereits gefallen. Die junge Frau liebte diese Jahreszeit, vor allem Weihnachten.
In vier Tagen war Heiligabend und in sieben wurde Sofia neunzehn.
Die Adventszeit lag ihr besonders am Herzen, denn da hatte sie sich immer mit Miguel in der Kirche getroffen und sie war glücklich gewesen, anschließend mit ihm über den Weihnachtsmarkt zu schlendern.
Das war dieses Jahr anders. Sie war weiterhin Aschenputtel, und seitdem sie sich so gegen Maria behauptet hatte, konnte nicht einen Schritt ohne Beobachtung gehen.
Pierre und seine Mutter wollten auf keinen Fall riskieren, dass der Fahrschein für sein besseres Leben wegläuft.
„Eeeey Aschenputtel! Aufstehen, du hast heute noch viel zu tun!“, brüllte Maria durchs Treppenhaus und riss Sofia aus dem Schlaf.
Sie knipste die Nachttischlampe an und blinzelte müde neben sich auf den Wecker, der auf der Kommode am Bett stand.
Es war sechs Uhr morgens am vierundzwanzigsten Dezember.
„Ja, Maria, ich komme sofort“, sagte sie halb im Schlaf und ging hinunter in die Küche.
„Setz dich und iss das, nicht, dass du mir noch völlig vom Fleisch fällst“, giftete sie und warf ihr zwei Scheiben
Brot und etwas Käse auf den Tisch. Es war Frisches, ohne Schimmel. Das sollte wohl ein
„Weihnachtsgeschenk“ sein oder man wollte, sie nur bei Laune halten. Sofia aß rasch auf.
„Komm mit, du bekommst dein Geschenk heute zuerst, damit du uns heute Abend nicht mit deiner Anwesenheit belästigst“.
Es hatten sich ein paar Freunde aus der Nachbarschaft zum Essen angemeldet.
Maria führte Sofia ins Erdgeschoss und öffnete die Tür zu einem kleinen, dunklen Raum ohne Fenster. Darin befanden sich ein Klappbett und ein Schrank.
„Ich war so freundlich und hab meine Abstellkammer für dich freigeräumt. Du wirst nun schon bald neunzehn und brauchst bestimmt auch mal etwas Ruhe für dich. Außerdem muss Pierre dich dann nicht mehr in seinem
Bett ertragen. Aber keine Sorge, viele Paare schlafen getrennt. Du hast eine halbe Stunde, um dich einzurichten. Danach kommst du hoch und ich sage dir, was zu tun ist.“ „Ja, Maria“, antwortete sie mit zittriger Stimme.
Sofia erstarrte angesichts dieser neuerlichen Grausamkeit, sie fühlte sich wie in einem schlechten Horrorfilm.
Es gab in diesem Raum, der jetzt ihr Zimmer war, kein Licht, keine Fenster und keine Heizung.
Nur das Klappbett, auf dem eine Wolldecke lag, und den kleinen Schrank, in dem sie ihre wenigen Kleidungsstücke verstauen konnte.
Den restlichen Tag verbrachte sie damit, das Haus auf Vordermann zu bringen und für Maria, Pierre und die Gäste ein Drei-Gänge-Menü zu kochen.
Bevor die am Nachmittag eintrafen, wurde sie mit etwas Brot, Wurst und Wasser auf ihr Zimmer geschickt. Sie hatte in ihren Schulsachen heimlich Fotos von ihren Eltern und von Miguel und sich aufbewahrt.
Als Maria den Gästen die Haustür öffnete, sah sie, dass Sofia diese Bilder mit Klebestreifen an der Wand in ihrem neuen „Zimmer“ befestigte. Um wenigstens Tageslicht abzubekommen, hatte sie die Türe offenstehen lassen.
Die Mutter führte den Besuch nach oben und spottete ihr von der Treppe aus zu: „Denkst du wirklich, dass dich irgendjemand von diesen Personen liebt oder nochmal sehen will? Du bist doch zu nichts zu gebrauchen, außer zum Putzen.“
Ihren neunzehnten Geburtstag wenige Tage später verbrachte Sofia allein, eingeschlossen in ihrem Zimmer, in völliger Dunkelheit.
Maria hatte ihr mittags das Handy weggenommen. Sie war immer noch der Meinung, dass ihr Sohn bei seinem Aschenputtel nicht hart genug durchgreifen würde. Durch diese Auslagerung ins Erdgeschoss befürchtete sie, dass Sofia mit dem Smart Phone Hilfe rufen würde. Sie war schlau und wusste sicher, dass das nicht in Ordnung war.
Am Abend brachte Pierre ihr, etwas zu essen und eine Flasche Sprudel. Hinter sich verschloss er die Tür mit der Bemerkung: „Wenn du mal aufs Klo musst, dann schieb ein Zettel durch die Tür durch. Wenn ich Zeit habe, schaue ich, ob was daliegt.“ Er war gefühlskalt, schmiss ihr ein paar kleine, leere Zettelchen und einen Kugelschreiber auf das Bett und schloss die Türe wieder ab.
Sofia lag den ganzen Tag und hörte mit dem MP3-Player, den sie an Marias Adleraugen vorbei in die Kammer schmuggeln konnte, über Kopfhörer Musik. In ihren Träumen war sie mal zu Hause, mal bei Miguel, an den sie immer häufiger denken musste. Wie viel besser würde es ihr bei ihnen ergehen?
Mit den Stöpseln im Ohr weinte sie sich in den Schlaf. Auch ihren Geburtstag verbrachte sie, wie die anderen Tage, mit Hausarbeit und danach allein in ihrem dunklen Gefängnis.
So trostlos und ereignisarm quälten sich die Zeit dahin, mittlerweile war der Frühling eingezogen und die ersten warmen Sonnenstrahlen lockten zu Spaziergängen.
Sie hatte vor ein paar Tagen herausgefunden, wo der Zweitschlüssel der Haustür aufbewahrt wurde. Da sie sich in den letzten Monaten das Vertrauen von Maria und Pierre durch Gehorchen erobert hat, wurde ihre Kammer seit kurzen nicht mehr zugeschlossen und Sofia hatte ein wenig Freiheit zurückgewonnen. So konnte sie von da an jede Gelegenheit nutzen, um sich aus dem Haus zu schleichen. Das war meistens abends, wenn alle anderen schliefen und niemandem auffiel, wenn sie sich heimlich davonstahl.
Sofia begab sich dann immer in die Wiese, die in der Nähe war. Sie saß einfach nur so da, blickte in den Himmel.
Die Grünfläche lag auf einem Hügel, von wo aus, bei guter Sicht, das Sternenmeer unendlich war.
Sie verlor sich in diesen Freiräumen, träumte vor sich hin und vergaß die Zeit.
Hier oben genoss sie den weiten Blick, fühlte sich frei und nicht so erdrückt, wie in ihrer Kammer, wo die Wände näher rückten.
Sie träumte von den glücklichen Momenten mit Pierre. Sie waren einst ein Paar, dass sich perfekt ergänzte. Er der starke Mann mit handwerklichem Geschick und sie die intelligente Frau, die Karriere machen wollte. Anfangs hielt ihr Freund Sofia noch den Rücken frei, damit sie lernen konnte. Das war aber schon lange Vergangenheit.
Am Beginn war er stolz, sie zur Freundin zu haben. In seinen Augen war sie eine schlaue, junge Frau, die von den anderen um ihr attraktives Aussehen beneidet wurde. Hierzu zählten ihre gertenschlanke Figur und die seltenen, kupferrot schimmernden Haare, außerdem mochte er ihre apfelförmigen Brüste. Sie waren so groß, dass sie jeweils genau in eine seiner Hände passten. Sie hingen nicht herunter. Das gefiel Pierre sehr, aber Sofia war bisher noch nicht dazu bereit, den letzten Schritt bis hin zum Sex zu gehen.
Bevor sie sich jemandem ganz hingab, wollte sie sicher sein, dass er der Richtige war. Denn er, wer immer das sein würde, sollte auch derjenige sein, mit dem sie eine Familie gründen wollte.
Sofia wollte, dass ihr erstes Mal unvergesslich sein würde. Romantisch, sanft und schmerzfrei. Sie hatte zugehört, wie sich manche Mitschülerinnen frustriert untereinander über die Entjungferung unterhielten. Daher erforderte es ein hundertprozentiges Vertrauen zu dem Jungen, für den sie ihre Jungfräulichkeit opferte. Sie merkte selbst, dass es ein langwieriger Prozess war, dieses Bedingungslose aufzubauen. Sie hatte schon erlebt, wie es sich anfühlte, hintergangen, angelogen und ausgenutzt zu werden. Ihr erster Freund, schlief mit ihrer besten Freundin, weil sie noch nicht bereit dazu war und der Mann ihrer letzten Beziehung trennte sich von Sofia, als sie es ablehnte.
Die Kirchenglocken schlugen sechs Mal.
Die junge Frau schreckte auf. Um halb sieben würden alle wach sein und man würde ihr Verschwinden bemerken. Sie nahm die Beine in die Hand und flitzte zurück zum Haus. Pünktlich und ohne Schlaf ging sie, wie jeden Tag, wie von ihr gefordert, ihrer täglichen Arbeit nach. Den fehlenden Schlaf gönnte sie sich nach ihrer Tätigkeit als Aschenputtel.
Hin und wieder bekam Sofia mit, dass Pierre Besuch empfing von anderen Mädchen aus ihrer Schule. Alle sahen sie in ihrer Rolle als Aschenputtel, bevor sie in seinem Zimmer verschwanden.
Mittlerweile hatte sich in der gesamten Bildungseinrichtung herumgesprochen, in welcher Hölle sie feststeckte. Aber niemand ihrer Mitschüler fragte nach den Hintergründen. Keine wollte mit einer Person sprechen, die sowieso schon ein Opfer war und sich somit selbst zu einem solchen heruntergradieren. Neben den Beleidigungen, die sie kannte, kam jetzt das Aschenputtel hinzu. Nur ihr unzerstörbarer Wille blieb, um wenigstens im beruflichen Sinn etwas aus ihrem Leben machen zu können, brachte die mitgenommene Schülerin zur Fachoberschule.
Es fehlte ihr nicht an Fantasie, sich auszumalen, was hinter der Tür passierte, aber sie zeigte keine Spur von Eifersucht. Im Gegenteil, solange die Mädchen Pierres Gelüste befriedigten, musste sie es nicht tun.
Romantische Gefühle für ihn hegte Sofia schon lange nicht mehr.
Die Einzigen, die sie empfand, waren Hass und Angst. Hass für all das, was er ihr angetan hatte. Die ständigen Demütigungen, die Überwachungen, körperlichen und seelischen Verletzungen und Grausamkeiten. Die Angst vor der Ungewissheit, welche Gemeinheiten sie als Nächstes erwarteten, fraß sie auf.
Tausende Male spielte sie in ihrem Kopf das Szenario der Rückkehr in den Schoß ihrer Familie durch. Wie froh ihre Eltern wären, sie wiederzusehen, und wie sie langsam anfangen könnte, ihr eigenes Leben aufzubauen. Frei von der Abhängigkeit von Pierre und Maria, die sie kontrollierten und in ihr Ängste hervorriefen, die sie daran hinderten, sich von ihrem Joch zu befreien.
Elkes versöhnende Worte im Ohr, die sie im Wartezimmer des Frauenarztes zu ihr geflüstert hatte, verliehen ihr die Gewissheit, zuhause nicht unerwünscht zu sein. Wenn sie genau darüber nachdachte, würde man sie sogar mit offenen Armen empfangen, und das nach allem, was sie ihrer Familie unter Marias Druck antun wollte. Ihr wurde klar, dass ihre Eltern immer zu ihr stehen würden, egal was sie getan hatte. Sofia konnte nicht verstehen, womit sie diese Gnade, das Verzeihen verdient hatte, das sie so selbstlos nur aus der Bibel kannte.
Der Sommer war da und in Sofias Bauch wuchsen einige kleine Schmetterlinge heran. Morgens, wenn Pierre sie nicht ans Klassenzimmer bringen konnte, traf sie sich heimlich mit Miguel am Bahnhof. Dieser wartete jeden Tag, mit der Hoffnung, dass sie kommen kann, auf seine beste Freundin, um ihr den benötigten Halt zu geben und sie ein spärlich von den Qualen abzulenken. Aus diesen kurzen, aber aufmunternden Begegnungen, schöpfte Sofia die Kraft, um ihre Leidenszeit in Pierres Gewalt zu ertragen. Das waren die wenigen Minuten, in denen sie fröhlich war und lachte.
Dennoch war ihre Beziehung rein platonisch.
Die Schmetterlinge in Sofias Bauch vermehrten sich unaufhörlich, sobald sie mit Miguel zusammen war, aber sie traute sich nicht, ihm ihre Gefühle zu gestehen, da sie die Enttäuschung nicht verkraften würde, falls er sie nicht erwiderte.
So genoss sie wenigstens die kleinen Fluchten aus dem tristen Alltag.
Sofia hielt viel auf seine Worte. Obwohl sie einsah, dass er recht hatte, widersetzte sie sich seinem Rat, zu ihren Eltern nach Hause zurückzukehren.
Miguel verstand nicht, was sie noch bei diesem Grobian und Egoisten festhielt. Er flehte sie an, Pierre zu verlassen und sich mit ihren Eltern zu versöhnen. Um ihr den Entschluss leichter zu machen, versprach er ihr, Tag und Nacht für sie da zu sein und sie zu beschützen, wenn sie sich bloß einen Ruck gäbe.
Er ließ nicht locker. Seine Beharrlichkeit fiel auf fruchtbaren Boden, als sie beim übernächsten Treffen sich endlich traute, ihm von all den seelischen Grausamkeiten, die ihr in Pierres Familie widerfuhren, zu berichten. Mehrmals brach sie dabei in Tränen aus. Sobald sie an all die Demütigungen dachte, setzten die Gemeinheiten und Misshandlungen ihr körperlich und mental zu.
Obwohl er innerlich bebte, da die Torturen, von denen sie mit zitternden Lippen berichtete, so schrecklich klangen, ja beinahe unglaublich, blieb er äußerlich gelassen.
Das beruhigte Sofia ein wenig, denn er war in diesem Sturm der Emotionen ihr Fels in der Brandung. Aber würde er nach ihrem Geständnis nicht die Achtung vor ihr verlieren, weil sie so schwach und nahezu ohne Selbstwertgefühl war?
Er hörte ihren Ausführungen schweigend zu, nickte nur manchmal zur Bestätigung.
An seinem Blick erkannte sie, wie er in Gedanken Bilder formte, und, als er endlich Worte fand, hätte sie sich am liebsten an seine starke Brust geworfen.
"Ich komme heute Nacht zu dir, um Mitternacht, wenn alle schlafen, und dann entreiße ich dich dieser Hölle!" Das war viel mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. Es klang wie Musik in ihren Ohren. Ihr Schicksal war ihm demnach keineswegs gleichgültig. Er traf sich nicht nur mit ihr, weil er nett sein wollte.
Sie sahen sich lange in die Augen.
Während Miguel sich fragte, ob sich Sofia darauf einließe, war sie sich nicht sicher, ob sie sich seine Worte bloß eingebildet hatte. Aber als er mit seinen warmen Augen eine Antwort einforderte, wich die Furcht vor Pierres Familie aus ihren Gliedern. Sie fiel in seine Arme und war über ihren Mut erschrocken, als sie die ihren fest hinter seinem Rücken verschränkte.
"Ich wusste, dass die Vernunft über deine Angst triumphiert", sagte Miguel und schloss ebenso seine um Sofia. Diese schloss die Augen und es fühlte sich so an, als ob sie schweben würde. Die Sonne schüttete ein Bad aus Glück und Geborgenheit über ihr aus.
Plötzlich wurde sie aus seinen Armen entrissen. Sie riss erschrocken die Augen auf und blickte in das blendende Sonnenlicht. Ein Schatten bewegte sich rasch auf Miguel zu, der mit dem Rücken auf dem Boden vor ihr lag. Als sie sich an das gleißende Licht gewöhnt hatten, erkannte sie, dass dieser zu niemand anderem als Pierre gehörte.
Er tobte und verlor die Beherrschung, wie damals auf der Party. „Du betrügst mich kein zweites Mal. Du gehörst mir, und ich kann mit dir machen, was ich will!“ Er brüllte so laut, dass man ihn bis ans Ende des Bahnhofsvorplatzes klar und deutlich verstehen konnte.
Ein paar junge Menschen gingen amüsiert vorbei, mischten sich aber nicht ein. Auch die Erwachsenen, die auf den Bus warteten, schauten in eine andere Richtung und dachten nicht daran, den Streit zwischen zwei halbstarken Jugendlichen zu beenden.
Pierre ohrfeigte Sofia und zerrte sie am Arm mit sich weg.
Miguel rappelte sich auf und stürzte sich wutentbrannt auf seinen Feind, um ihn von seiner besten Freundin abzudrängen. Die schmächtige Statur seines Körpers glich er mit seiner Entschlossenheit aus und stieß den kräftigen und robusten Freund Sofias, der so gar nicht dem Klischee des kleinen, federleichten Franzosen entsprach, zur Seite. Sein Plan funktionierte. Pierre knallte mit dem Kopf gegen einen stehenden Bus.
Mit einem Schlag wich all der Mut wieder aus Sofia, wie Wasser aus einem zerbrochenen Krug. Ihre Beine übernahmen das Denken und ließen sie Schutz im Bus suchen.
Sie wusste, dass er sich Miguels Gegenwehr nicht bieten lassen würde.
Als dieser ihr zum Bus hinterher sah, nutzte Pierre seine Ablenkung und rammte ihm die Faust dreimal hintereinander so heftig in die Magengrube, dass er mit den Füßen abhob. Nur der Tatsache, dass der Busfahrer den Motor anließ und gleich losfahren wollte, verdankte Miguel, dass Pierre von ihm abließ.
Er reihte sich ans Ende der letzten Fahrgäste, die einstiegen und rief hm, der sich am Boden krümmte, zu: "Dein Glück. Aber Aschenputtel kommt mir nicht so leicht davon! Sie wird dafür büßen, dass du dich in Dinge einmischst, die dich nichts angehen!"
Miguel konnte nicht tief atmen, als er sich aufrichtete und dem abfahrenden Bus hinterher sah.
Nur ließ er sich von Sofias Peiniger nicht einschüchtern. Er würde einen Weg finden, um seine Freundin aus der Höhle des Löwen zu befreien.
Einige Fahrgäste, die den Streit verfolgt und seine Drohung vernommen hatten, blickten ihn verstohlen an.
"Was gibt's da zu klotzen", blaffte er sie an und sie duckten sich weg.
In der Zeit der Busfahrt und des Weges von der Haltestelle bis zum Haus der Familie ließ Pierre Sofia nicht eine Minute aus den Augen. Er zog sie wie ein Tuch hinter sich her.
Sie versuchte, ihr ganzes Gewicht einzusetzen, sie wollte raus aus diesem Albtraum und nach ihrem Miguel sehen. Wie sehr sie sich aber auch bemühte, sie kam gegen diesen Koloss nicht an. Innerlich sah sie sich schon im Krankenhaus liegen.
Jetzt war er verletzt und das ließ er auf keinen Fall auf sich sitzen.
Auf der einen Seite freute sich Sofia, dass er mal sah, was er ihr die ganze Zeit angetan hatte und wie demütigend das war.
Andererseits wusste sie, dass sie diesen Vorfall schwer büßen muss. Vielleicht nicht heute, denn er hatte Geburtstag und wünschte diesen ausdrücklich ohne sie verbringen. Aber die Strafe war mit Sicherheit nur aufgeschoben.