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"Was würde sie jetzt geben, einfach einschlafen zu können. Was hatte das Ganze für einen Sinn? Das Leben war schwer. Der Tod war plötzlich so einfach. Wenigstens er würde sie mit offenen Armen empfangen". Für einen grossen Teil der Geschichte steht Ellena im Mittelpunkt, die sich durch eine Reihe von unglücklichen Vorfällen von einer geliebten Schülerin zu einer Person, die durch Mobbing und Familienprobleme Schwierigkeiten hat, sich am Leben zu halten, verwandelt. Glücklicherweise lernt sie Emilia, die sie aus dem tiefen Loch zieht und schützt, rechtzeitig kennen. Allerdings erfährt man sehr schnell, dass sie sich in keiner besseren Verfassung befindet als Ellena.
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Seitenzahl: 212
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Diese Geschichte beinhaltet Mobbing, Selbstmord, sexuelle Übergriffe und häusliche Gewalt.
Solltest Du diese erfahren haben, lies die Geschichte nicht alleine.
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Rückblickend auf ihre Entscheidung kann sie nur zugeben, dass sie nie hätte zustimmen sollen. Wie blöd war sie auch? Wie blöd war er?
Es war ein kalter Sonntagabend. Eine sanfte Brise wehte durch die Stadt und liess alle Menschen sich in ihren wohligen Betten einkuscheln. Der zunehmende Mond wurde immer wieder von Wolken überdeckt, welche die Welt in einen dunklen Umhang eintauchten, nur durch Strassenlampen, die die leeren Strassen bewachten, durchbrochen.
An jenem Sonntagabend tanzte Ellena, als wären Ferien. Sie tanzte auf der Tanzfläche eines Clubs, der für gute Musik und lange Abende bekannt war. Spotlights flackerten in allen Farben, die Nebelmaschinen liessen Nebelschwade entstehen, die über den polierten Tanzboden waberten. Laute Musik sorgte für eine gute Stimmung. Ellena schwang ihre Hüften zum Takt und sang zu unzähligen Liedern, egal, wer ihre schwachen Versuche, Lady Gaga nachzuahmen, hören konnte.
Dass sie überhaupt im Club war, grenzte an ein Wunder. Der Club war ab achtzehn und sie war erst sechzehn. Zum Glück hatte der Guard keine allzu guten Augen.
«Hey», ertönte schwach die Stimme von Theo, der sich einen Weg durch die tanzende Menschenmenge suchte. «Ich habe dir eine Mische mitgebracht». Er reichte Ellena einen halbgefüllten Becher. Sie griff danach, schnupperte daran und runzelte lächelnd die Stirn. «Wodka»?
Theo lachte. «Na logisch? Denkst du, ich kaufe Bier?» Ellena schüttelte den Kopf und roch erneut an dem Getränk, was sie stark an die vielen gemeinsamen Saufabende erinnerte. Was sie alles schon erlebt hatten, war erstaunlich: Schlägereien, Verletzungen, Krankenhaus und noch viele andere vergessene Erinnerungen.
Doch dieser Sonntagabend war anders als die bisherigen: Am nächsten Tag war Schule.
War das schlau? Nein. Machte es Spass? Aber hallo. Es war das Unvernünftige, was diesen Abend zu etwas Besonderem machen sollte. Es war das Verbotene, das Blödsinnige, was sie antrieb. Und natürlich Theo, der sich keine Mühe gescheut hatte, sie zum Kommen zu überreden.
«Du weisst schon, dass wir morgen wieder Schule haben, oder?», fragte Ellena lächelnd und blickte auf den Becher in Theos Hand, der bis an den Rand gefüllt war. Wodka tropfte über seine Hand, immer dann, wenn jemand ihn tanzend anrempelte.
«Ist ja erst morgen, nicht? Wir haben noch den ganzen Abend Zeit, uns zu besaufen und noch die ganze Nacht, um auszunüchtern». Theo nahm einen grossen Schluck. Sie setzte ihre Lippen an den Becher und nahm ebenfalls einen Schluck.
Die Mische schmeckte vorzüglich und brannte leicht in der Kehle, was sie aber schon gewöhnt war.
«Tanzen?», fragte Theo nur. Ellena nickte und beide tranken auf ein Zeichen hin in schnellen Zügen den Becher leer. Was der DJ für Lieder aufsetzte, wusste sie nicht. Es war ihr auch egal, aber sie waren perfekt für diesen Abend.
Wie schön sie doch ist, dachte Theo. Ihre blonden Haare flogen hin und her, auf und ab. Die braunen Augen, die mit einem leichten Teint von Grün durchzogen waren, leuchteten, wie Theo es bei niemandem zuvor gesehen hatte. Ihr rundliches Gesicht wurde von einem wunderschönen Lächeln und strahlend weissen Zähnen vollendet. Ellenas sportliche Statur machte ihre Erscheinung perfekt. Was ihren Charakter anging?
Sie war lustig, cool, nett und verrückt auf ihre Art und Weise.
Aber was Theo am meisten schätzte: Sie war immer für ihn da.
Das Ding war nämlich, dass Theo vor einigen Jahren gemobbt worden war. Aber es war nicht zu schlimm für ihn, weil Ellena an seiner Seite war und immer für Ablenkung gesorgt hatte.
Nie verlor sie das Gute in ihm aus den Augen. Sie war auch noch an seiner Seite, als sie ebenfalls ins Rampenlicht des Mobbings geriet. Ellena war da. Immer. Solange er sich erinnern konnte. Sie war wie eine Schwester für ihn und noch mehr.
Ja, Theo fühlte die Liebe in sich, wie sie jedes Mal wuchs, wenn er sie lächeln sah, wenn er in ihre Augen blickte.
Aber wie sagt man das jemandem, den man schon so lange kennt?
Was er aber nicht wusste – Ellena stand nicht auf ihn. Er war nicht hässlich. Er hatte blonde, stark gelockte Haare, die auf seine Schultern fielen. Seine blauen Augen waren wie der weite Ozean. Seine Statur war zwar nicht sehr sportlich und er hatte seine Schwimmreifen um seinen Bauch, was ihn aber nie weniger wertvoll gemacht hatte. Nicht für seine beste Freundin.
Der Grund, wieso Ellena Theo nicht liebte, war ein anderer: Sie stand auf keinen Jungen. Sie wusste es schon länger, aber hatte niemandem etwas gesagt, aus demselben Grund, wieso man sich zuerst verstellt, bevor man sein wahres Ich zeigt: Was mochten die Anderen denken?
Sie hatte ganz einfach Angst. Angst, wie sich ihr Umfeld verändern würde, wie ihre Eltern reagieren würden, wie sich Theo verhielt. Ja, es galt als etwas ganz Normales, jedoch nur solange, bis sich jemand im eigenen Umfeld outete. Das war jedenfalls das, was sie dachte.
Nur schade, dass ihre Ängste sich bestätigten… Sie tanzten weiter, tranken weiter. Beide fühlten den Alkohol und wie er ihr Gemüt veränderte und sie zum Sklaven der Gesprächigkeit machte.
Ellena fühlte sich leicht, vollkommen schwerelos und einfach nur glücklich. Aus dem einfachen Grund, da sie sich keine Sorgen machen musste, wie sie mit ihrer Sexualität umgehen sollte. Hier, mit Theo und dem Einfluss von Alkohol war es einfach eine kleine Sache im Hinterkopf, die an einer eisernen Tür klopfte. Es war nicht mehr von Bedeutung.
«Komm mit», sagte Theo plötzlich, nahm Ellena an der Hand und führte sie über die immer voller werdende Tanzfläche.
Erstaunlich, wie viele Menschen sonntags noch Party machten.
Ellena folgte ihm und entschuldigte sich unaufhörlich bei den tanzenden Menschen, die sie anrempelte. Ihre Gangart war ungeschickt und kurvig.
«Hey, wo gehen wir hin?», lallte sie. Theo lief weiter.
Schliesslich standen sie auf der Terrasse. Ihr Blick schweifte über die Gebäude, die um sie in die Höhe ragten. Viele der Fenster waren erhellt, nur noch wenige Autos waren auf den Strassen unterwegs, die an anderen Tagen mit langen Staus belastet wurden.
Die kalte Luft wehte durch die stille Nacht. Sanft ertönte die Musik aus dem Treppenhaus hinter ihnen. Ellena atmete die frische Luft tief ein und wieder aus. Was für ein schöner Abend.
«Hast du kalt?», fragte Theo, der sich die leuchtende Stadt ebenfalls anschaute. Ellena, die ihre Arme um ihren Körper geschlungen hatte, nickte. Theo legte seine Gucci Jacke um ihre Schulter, die er für wertvoller hielt, als es ihr Aussehen zuliess. Still beobachteten sie die Stadt.
Nach wenigen ruhigen Minuten holte Theo ein Plastiksäckchen aus seiner Hosentasche hervor.
«Was ist das?», fragte Ellena. Ihr Kopf klärte sich schnell vom Alkohol an der frischen Luft. Misstrauisch schaute sie sich den Inhalt an.
«Ecstasy», antwortete Theo, «bereit für ein Abenteuer»?
Er schüttelte das Säckchen. Es erinnerte sie an Brausetablette.
Ellena schüttelte den Kopf. «Theo», begann sie, «du weisst, dass morgen Schule ist, oder? Ich will nicht unter Drogeneinfluss in die Schule».
Was genau dachte er sich dabei? Ja, er war immer der Rebell, der sich mit verschiedensten Partydrogen und Rauschmitteln eingedeckt hatte, aber er hatte immer Rücksicht auf seine Zukunft genommen, hatte immer vernünftig gehandelt. Wieso heute nicht?
«Ach, komm schon. Es ist nicht viel», erwiderte er und nahm eine kleine Pille hervor. Giftgrün schien sie zu leuchten, als wollte sie sagen: «Schluck mich nicht».
«Theo, nein», sagte Ellena entschieden und umschloss seine Handgelenke mit einem festen Griff. Ihre Augen tränten. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte. Mit Theo. Sein Konsum hatte sich verstärkt, aus welchem Grund auch immer, und sie machte sich Sorgen um ihren besten Freund. Sie war oft mit ihm unterwegs und hatte viele Abende erlebt, an denen er reichlich konsumierte, aber dass es so viel wurde und so oft, das machte ihr Angst.
«Du musst ja nicht», sagte er, löste sich aus Ellenas Griff und schluckte die Pille.
Sie stand wie geschockt da, hatte ihren Mund zu einem lautlosen «Ah» geöffnet.
«Du machst mir langsam Angst, Theo», sagte sie, als sie ihre Stimme wiederfand.
Er nahm einen Schluck aus einem Becher, welcher mit einer Flüssigkeit gefüllt war, bei dem es sich sicher nicht um Wasser handelte.
«Theo», rief sie jetzt. «Hör auf». Ellena riss den Becher aus seiner Hand und schüttete dabei den halben Inhalt auf die betonierte Terrasse. «Hey», rief er nur.
«Es reicht», sagte Ellena mit strenger Stimme, die sich um Theos Gesundheit sorgte. «Was ist nur los mit dir»?
«Ich bin nervös, okay?», antwortete er nach kurzem Zögern.
Ellena sah ihn verdutzt an. «Wieso»?
Sie ahnte weshalb.
Nervös, trotz den vielen alkoholgefüllten Bechern und der Ecstasy-Pille, die jedoch noch keine Wirkung zu haben schien, rieb er sich seine Hände.
Theo wich Ellenas Blick aus und schaute auf die Stadt hinab, ihre Frage ignorierend. Er atmete mehrmals tief ein, während sie auf eine Antwort wartete, interessiert, aber auch mulmig, was aus seinem Mund kommen könnte.
«Hör zu», begann dieser schliesslich zitternd. «Ich will nicht, dass es zwischen uns komisch wird, aber wir haben uns immer alles erzählt und ich denke, dass es besser ist, wenn du es auch weisst».
Er stützte sich plötzlich auf das Geländer. «Boah, die Pille drückt rein, eh».
Ellena näherte sich ihm und legte sanft ihre Hand auf seine Schultern. «Setz dich. Bevor du mir noch von der Terrasse fällst», sagte sie und begleitete Theo zur Wand, wo sie sich beide herabgleiten liessen.
Er atmete weiter tief ein und aus, die Augen geschlossen, versuchend, den Herzschlag zu verlangsamen. Er schwitzte.
Ellena wusste nicht, wie lange sie dasass und die Wolken beobachtete, die am dunklen Nachthimmel vorbei flogen, während die Wirkung der Pille sich bei Theo entfaltete.
Dreiviertel Stunde? Eine Stunde?
Jedenfalls war sein Kopf plötzlich auf ihrer Schulter. Schwer lag er da und drückte auf den Knochen.
«Ellena?», begann er. Er blickte in ihr Gesicht. Was es für Liebesgefühle in ihm auslöste. Sein Herz sprang, hüpfte auf und ab.
«Ich liebe dich», sagte er.
«Ich liebe dich auch», erwiderte Ellena.
Und plötzlich war er da. Der Moment. Der Kuss.
Es war, als wären sie im Himmel. Die Gefühle herumschwirrend und kreisend, laut schreiend nach mehr. Jedoch nur für Theo, jedoch nur für einen ganz kurzen Augenblick, bis Ellena sich zurückzog und aufstand.
«Als Freund», rief Ellena, die sich überrannt fühlte, überrascht.
Theo blickte enttäuscht auf. Schwankend kam er auf die Beine.
«Tut mir leid», entschuldigte sie sich, die Theo falsche Hoffnungen gemacht hatte. War ihre Freundschaft nun zerstört?
«Ich dachte…», begann Theo, der sich abstützen musste.
«Es tut mir leid, aber ich kann dich nicht lieben», erklärte sie.
Im Nachhinein war es der Satz, den sie nie hätte aussprechen sollen. Hätte sie doch nur gesagt, dass es ihr leidtue, dass sie nicht bereit war, oder etwas in der Art.
Theo runzelte die Stirn. «Wieso nicht? Bin ich zu fett für dich?», fragte er, in dem die Wut zu wachsen schien, gemischt mit Enttäuschung und Trauer.
«Nein, es ist nicht das».
«Hast du einen Freund»?
«Es ist…».
«Bist du in jemand anderes verliebt»?
«Nein, ich…».
«Liam? Jakob? Alexander? Claudio? Tim? Lukas»?
«Ich liebe keine Männer, okay?», rief Ellena schlussendlich und erzählte so ihr grösstes Geheimnis, das, was sie noch nicht hätte tun sollen, wozu sie noch nicht bereit war. Nun war es zu spät.
Theo blieb in der Bewegung stecken, den Mund geöffnet, die Augen geweitet. «Oh», hauchte er nur und stolperte einige Schritte zurück, die Hände Gleichgewicht suchend ausgestreckt. Ellenas Herz pochte, als würde ein Krieg darin wüten, in dem immer wieder Handgranaten losgingen. Ihre Angst wuchs auf ein Maximum. Adrenalin schoss durch die Adern, feuerspeiend und schmerzend, als würde Lava dickflüssig ihren Weg freifressen. Sie bekam Gänsehaut, sie schauderte. Die verschiedensten Geräusche der Stadt ertönten, als kämen sie aus einer anderen Welt, fernab der Kälte, die sie ebenfalls nicht mehr wahrnahm.
Der ungläubige Ausdruck in Theos Gesicht, in seinen Augen, machte sie verrückt.
Nur ein «Oh» mehr kam aus seinem Mund.
«Ich meine…, dass… ist okay»? Er fuhr sich durch die gelockten Haare, ein schwach erzwungenes Lächeln zeigte sich. Während Theo sprachlos dastand, fiel bereits eine enorme Last von ihren Schultern. Schon nur dieser Satz war für sie besser als die vielen Szenarien, die sie sich überlegt hatte.
«Schau mich nicht so an».
«Wie denn»?
Sie rollte mit den Augen. «Als würdest du mich nicht kennen».
Nickend setzte sich Theo wieder, den Kopf gesenkt. «Wieso hast du es mir nicht früher gesagt»? War er verletzt? Beleidigt?
Ellena zuckte nur mit den Schultern.
«Weil ich nicht wusste, wie du reagieren würdest», erklärte sie und setzte sich ihm gegenüber. «Ich hatte Angst, okay? Ich hatte Angst, dass du es nicht verstehen würdest, dass du dich von mir abwendest».
Diesmal war er es, der die Schulter zuckte. Zitternd versteckte er sein Gesicht in seiner Jacke und fing zu schluchzen an.
«Theo!», sagte sie leise. «Es tut mir leid. Ich wollte nie, dass es so weit kommt. Ich wusste einfach nicht, wie ich es sagen konnte. Und es tut mir leid, dass du deswegen weinen musst.
Es tut mir leid, Theo. Bitte».
Wieder hob er nur seine Schultern und wehrte ihren Arm ab, den sie tröstend um ihn legen wollte.
«Sag was».
Er schüttelte den Kopf, während er schniefte und sich tiefer in seiner Jacke versteckte. Wie eine Kugel sah er aus. Ellena kannte dieses Verhalten bereits von ihm und setzte sich deshalb neben ihn und hielt sich mit Worten zurück, während sie wartete.
Still sassen sie da, gelegentlich ertönte ein Schniefen. Während sie sich über die kommende Zukunft Sorgen machte, versuchte Theo sich zu beruhigen, sich so gut wie möglich mit der Tatsache abzufinden, dass Ellena, die Liebe seines Lebens, homosexuell war. Für den Moment war es unmöglich. Auch Ellena verlor einige Tränen. Das war eine ihrer Charakterschwächen: Sie sah sofort immer das Schlimmste in jeder Situation, ob sie jetzt realistisch war oder nicht, echt oder nur ein Hirngespinst.
Beide schauderten in der Kälte, doch niemand fand, dass sie bereit waren, sich zu erheben und sich von den wohltuenden Temperaturen des Clubs wärmen zu lassen.
Nach etlichen weiteren Minuten durchbrach sie die Stille: «Willst du noch einen Shot»? Ein kurzes Zögern folgte.
Schliesslich nickte er.
Es dauerte trotzdem noch einige Minuten, bis sie sich schliesslich erhoben. «Komm her», sagte Ellena und zog Theo in eine herzliche Umarmung, die er erwiderte. «Es tut mir leid», entschuldigte sie sich ein weiteres Mal.
Nur ein Schulterzucken erhielt sie von dem Jungen, der mit roten verweinten Augen plötzlich ganz schwach wirkte.
«Willst du lieber nach Hause?» Leise antwortete er: «Bleiben».
Gemeinsam verliessen sie die Terrasse und tauchten wieder in die Welt der lauten Musik und Gelächter ein. Währenddessen hatte sich die Tanzfläche auf nur wenige Menschen reduziert, die allerdings eher herumtorkelten als tanzten. Stickige Luft machte das Eintreten unangenehm.
«Zwei Shots bitte». Ellena musste beinahe schreien, damit der Kellner sie hören konnte. Sie setzten sich auf die Barstühle und warteten auf die Getränke.
«Ich gehe schnell auf das WC», sagte Theo abwesend und verschwand, ohne auf eine Antwort zu warten.
«Zwölf Franken». Der Kellner stellte zwei kleine Gläser mit einer orangen Flüssigkeit auf die Bar und nahm das Geld entgegen.
Ellena fühlte sich so schlecht wie seit langem nicht mehr. Sie hatte jemandem das Herz gebrochen. Theo war jetzt sicher im WC und heulte sich weiter die Augen aus, dachte Ellena, die überlegte, ob sie ihm hinterhergehen sollte. Doch kurz darauf setzte er sich auf den Barhocker, verstaute seine Brieftasche und rümpfte die Nase. Er nieste.
Er bedankte sich für das Glas, das vor ihm stand, und trank es mit einem Zug. Er bestellte sich gleich zwei weitere.
«Theo. Ich…», begann Ellena. «Ist schon gut. Ich werde darüber hinwegkommen». Er lächelte plötzlich über beide Backen, als hätte er sein gebrochenes Herz vergessen. «Geniessen wir den Abend noch».
Die restliche Zeit des Abends, beziehungsweise des Morgens, hatten sie Spass und erfreuten sich, der Vorfall nur noch eine Erinnerung aus der Vergangenheit. Tanzend, lachend, redend, trinkend. Es war plötzlich wieder ein gewöhnlicher Saufabend zwischen zwei besten Freunden.
Um zwei Uhr nachts verliessen sie den Club und machten sich auf den Weg nach Hause. In paar Stunden war ja schliesslich Schule.
«Hör zu». Theo suchte nach den geeigneten Worten. «Du sollst wissen, dass es zwischen uns nichts ändern wird, nur weil du homosexuell bist, okay»?
Sie nickte glücklich und fiel in seine Arme.
Wie konnte sie an Theo zweifeln? Er war ihr bester Freund, und besten Freunden erzählte man alles. Man vertraute ihnen. Wie konnte sie das nur hinterfragen?
Der nächste Morgen war hart. Ellena stand um sieben Uhr mit pochenden Kopfschmerzen und einem leeren Magen auf, der nach Essen rief. Nur wusste sie aus Erfahrung, dass sie nichts zu sich nehmen sollte, da er nach einem alkoholisierten Abend immer empfindlich war. Sie zerrte sich aus dem Bett, den gestrigen Abend nur noch verschwommen in ihren Gedanken.
Was war passiert?
Sie wusste nur noch, dass sie, aus welchem Grund auch immer, ihr Geheimnis ausgeplaudert hatte. Oder war das nur ein Traum?
Jedenfalls ging sie gähnend in die Küche, wo ihre Eltern bereits am Tisch sassen und still an ihrem Frühstück kauten. «Hmm».
«Dir auch einen guten Morgen, Ellena. Gut geschlafen?», fragte ihre Mutter, ohne aufzusehen. Beide lasen Zeitung.
«Hmm».
«Du warst lange weg».
«Hmm».
Ellena war nicht in der Stimmung, ihren Mund aufzumachen.
Nicht um mit anderen Menschen zu sprechen. Sie holte ihr Müsli hervor, schüttete sich Orangensaft in ein Glas und setzte sich zu ihren Eltern. Weiterhin waren sie auf die Zeitung fokussiert.
«Warst du mit Theo unterwegs»?
Sie nickte.
«Ich hoffe, ihr wurdet nicht intim»?
Wie bereits gesagt: Niemand wusste von ihrer Sexualität.
Schon gar nicht ihre Eltern. Um das verstehen zu können, muss man die Beziehung zwischen Heidi und Peter kennen:
Sie waren nicht das perfekte Liebespaar, wie sie sich üblicherweise versuchten darzustellen. Sogar vor Ellena versuchten sie ihre Probleme und die unzähligen Affären zu verstecken, die ein und aus gingen.
Heidi und Peter hatten sich in der Kirche kennengelernt, wo sie jeden Sonntag zum traditionellen Gebet gegangen waren. Man könnte sagen, dass sie sich nicht wirklich geliebt hatten oder sich besonders attraktiv fanden. Wahrscheinlich war es nur die Gesellschaft und die Eltern der beiden, die ihre Liebe aufgezwängt hatten.
«Ach, wie schön sie doch als Paar sind». Diesen Spruch kriegten sie oft zu hören, obwohl sie nicht einmal ein Paar waren.
Aber sie gaben sich einen Versuch, gaben der Hoffnung auf Liebe eine Möglichkeit, ihre Wirkung zu entfalten.
Es hatte für eine kurze Zeit geklappt, immerhin wurde Heidi auf einmal mit Ellena schwanger. Die Liebe jedoch hielt nicht lange an, verschwand schnell wieder.
Was sie noch beisammenhielten, war ihre Tochter und die Angst einer Ablehnung der Gesellschaft. Wie würde das aussehen? Zwei erwachsene und verheiratete Personen, die sich nicht so verhalten, die nicht so leben, wie es die Kirche oder wie es die eigenen Eltern beigebracht hatten?
Sie bleiben zusammen, jedenfalls im Schein nach.
Das einzige Problem, war das Ziel, das sie versuchten zu erreichen: Eine perfekte Tochter. Ihre ganze Philosophie beinhaltete dieses fehlerlose Kind.
Wenn sie schon ein ungewolltes Kind hatten, dann eines, das nicht viele Probleme verursachte. Das war der Grundgedanke, den sie verfolgten.
Ellena hatte dies schnell gelernt und war deshalb immer vorsichtig, was sie ihnen erzählte und was sie für sich behalten sollte. Ihre Sexualität war etwas davon. Eine frauenliebende Tochter passte einfach nicht in das Bild der perfekten Tochter.
«Dad», rief sie, «wir sind nur Freunde».
Der Kuss.
Sie erinnerte sich plötzlich wieder daran, als wäre ein Vorhang gefallen, der alles verdeckt hatte. Ihr Herz fühlte sich plötzlich ganz schwer an.
«Alles in Ordnung? Du bist plötzlich ganz blass», bemerkte ihre Mutter.
Ellena ass schweigend weiter und machte sich für die Schule bereit. Wie konnte das passieren?
Sie ging warm gekleidet aus dem Haus und wartete nervös auf Theo, der für gewöhnlich immer frühzeitig vor ihrer Haustür stand. Heute erschien er mehrere Minuten zu spät. «Hallo», sagte er nur und begrüsste sie mit einer verschlafenen und schwachen Umarmung. Seine Augen waren klein und rot. Sein Atem stank nach Alkohol und seine teure Jacke verströmte einen ätzenden Geruch. Seine Füsse latschten über das Trottoir.
«Du siehst aber kaputt aus, ey».
Theo zuckte mit den Schultern. Gelassen machten sie sich auf den Weg zur Orientierungsschule.
«Gestern war voll cool», sagte er.
«Ja, war es». Stille. «Was ist genau passiert?» Er rollte die Augen, was bei seinen kleinen Augenschlitzen nicht spektakulär aussah. «Zusammengefasst? Ich habe dich geküsst und du hast verraten, dass du auf Frauen stehst». Er lächelte.
Da war die Bestätigung, dass alles kein Traum war. Wie konnte sie so fahrlässig handeln?
Theo musste ihren Blick und ihre Körpersprache gedeutet haben, denn er versicherte ihr erneut, dass es für ihn kein Problem sei.
Sie liefen durch das Quartier, durchquerten einen menschenleeren Park und tauchten schliesslich in das Stadtzentrum ein, wo sich die hohen Gebäude und die Schule befanden. Nach rund zehn Minuten erreichten sie den Menschenstrom, der sie direkt in das Innere der neuen Schule leitete. Strahlendweisse Wände waren mit farbigen Gemälden geschmückt, Lampen erhellten den grossen Eingang und die dahinterliegenden Korridore, die sich wie ein Labyrinth durch das Gebäude schlängelten. Braune Türen öffneten die Schulzimmer, die für viele wie ein Folterkeller waren.
«Geht’s dir gut, Theo?» Er war plötzlich ganz rot im Gesicht und hatte Schweissperlen auf der Stirn. Er hielt sich den Bauch.
«Jaja», antwortete er nur und lief in das Schulzimmer, wo Frau Heimlich sich für die kommende Biologiestunde einrichtete.
Theo liess sich auf seinen üblichen Platz fallen.
Während die anderen Schüler sich um die Hausaufgaben kümmerten, drehte sich plötzlich alles. Es fühlte sich so an, als würde er in einen Strudel fallen, der sich mit hoher Geschwindigkeit um sich selbst drehte. Sein Blick wurde verschwommen, unscharf. Mit beiden Händen hielt er sich am Pult fest und wartete auf ein Abklingen des Schwindels. Theos Herzschlag beschleunigte sich. Er schloss die Augen, bemerkte, dass es die Sache nur noch verschlimmerte und riss sie so weit wie möglich auf.
«Ey, Theo», ertönte eine Stimme, wie durch eine Wand.
«Gestern einen heftigen Abend gehabt»?
Er ignorierte die Rufe und das Gelächter und atmete stattdessen tief ein und aus.
«Ich muss aufs WC», sagte er, als sich plötzlich sein Magen bemerkbar machte. Speichel war plötzlich in Unmengen vorhanden. Schnell bahnte er sich den Weg durch das Klassenzimmer, stiess an Pulte und rannte durch die sich leerenden Flure auf das WC zu.
Für eine kurze Zeit konnte er sich im Spiegel anschauen, bevor sich sein Mageninhalt entleerte.
Erschöpft lehnte er sich über die Kloschüssel.
«Theo». Ellena stand kurze Zeit später hinter ihm und drückte ihm Wasser und Tücher in die Hand, die er, wieder erbrechend, entgegennahm.
«Was hast du alles zu dir genommen»?
Sie rüttelte an ihm, um ihn wach zu halten. Er antwortete nur, indem er ihre Hand verärgert wegstiess. Er wollte nicht mit ihr sprechen. Nicht weil er enttäuscht, beleidigt war, sondern weil er sich müde fühlte und die Kloschüssel bequemer war als ein Kissen.
«Was ist los mit dir? Du machst mir Angst».
Genervt hievte sie seinen massigen Körper von der Schüssel auf und lehnte Theo vorsichtig an die Wand. Ellena machte sich ernsthafte Sorgen.
«Lass mich!», sagte er nur, kämpfte aber nicht gegen sie an.
Sein Kopf prallte gegen die Holzwand, was ihn aber nicht weiter zu stören schien. Schweissflecken zeigten sich jetzt sogar durch den Pullover. Sein Blick verlor sich in den Tiefen von Ellenas Augen, schien sie aber nicht wahrzunehmen, als würde er hindurchblicken.
«Geht’s besser»?
Er reagierte nicht.
«Theo», rief sie und schüttelte ihn. Sein leerer Blick verängstigte sie. Er hatte Ähnlichkeiten mit den Augen einer Leiche.
Langsam regte er sich wieder und antwortete mit leiser Stimme: «Das war doch etwas zu viel, nicht»?
«Ach, was du nicht sagst. Was hast du alles genommen?
Jedenfalls nicht nur Ecstasy, oder»?
Er zuckte mit den Schultern.
Die Schulglocke läutete zum Unterricht. Ellena betätigte die Spülung.
«Naja…», begann er, «Alkohol, Ecstasy, Koks». Er zählte die Drogen mit den Fingern auf, so, als müsse er nachdenken, ob er nicht noch etwas vergessen hatte. Es blieb bei Alkohol, Ecstasy und Kokain. So war jedenfalls der Stand seines Wissens.
«Koks»? Ellena flüsterte, sollte ein Lehrer nach ihnen suchen.
«Hätte ich lieber nicht mehr genommen».
Was hatte sich Theo nur dabei gedacht? Normalerweise blieb es bei nur einer Droge pro Nacht, eventuell wurde er zu einer weiteren überredet, aber noch nie hatte er aus freien Stücken so viel zu sich genommen.
«Ich rufe deine Eltern an. Sie sollen dich abholen». Sie holte ihr Handy hervor.
Theo war anderer Meinung.
«Nein», sagte er nur. «Du kannst in deinem Zustand nicht hier bleiben. Die Lehrer werden es merken. Sie sind nicht blöd».
Er schüttelte nur den Kopf.
«Es geht nicht um die Lehrer. Denen ist eh alles egal. Meine Eltern dürfen nichts erfahren». Vergebens versuchte er sich zu erheben, fiel aber immer wieder auf seinen Hintern.
«Sie denken immer noch, dass du ein unschuldiger Engel bist?
Sie müssen es wissen»!
Er versuchte abermals aufzustehen und schaffte es schliesslich nach unzähligen Versuchen. Schwankend und wohl auch etwas schwindelig kam er auf die Beine.
«Ich glaube nicht, dass ich mich nochmals so zudröhnen werde.
Also wird nicht nötig sein».