Schmetterlinge in Glenshire - Franziska Wickihalder - E-Book

Schmetterlinge in Glenshire E-Book

Franziska Wickihalder

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Beschreibung

"Madam, sind Sie bereit?" War ich es? Ich wusste es nicht und schaute mich um. All die Blumen, das weiße Kleid, welches ich trug. Zuvor wurde ich frisiert und geschminkt. War es Realität oder ein Traum? Mit dem Leben unzufrieden, beschließt Melissa ins südamerikanische Glenshire auszuwandern, wo sie ihre große Liebe, Dauphin Philippe, findet. Nach einem Anschlag auf dessen Leben retten Chris und Colm den Thronfolger, worauf eine Freundschaft entsteht. Was niemand wissen darf, Chris und Colm sind queer, was im Königreich als Krankheit gilt. Philippe macht Melissa einen Heiratsantrag und erfährt, dass sie Europäerin ist, was eine Ehe zunächst unmöglich macht. Zudem leidet er an Depressionen und hat mehrere Suizidversuche hinter sich. Ist Melissa der Aufgabe am Hof gewachsen?

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Seitenzahl: 510

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-247-6

ISBN e-book: 978-3-99130-248-3

Lektorat: Dr. Annette Debold

Umschlagfotos: Iuliia Diakova, Adrian Matthiassen, Anitasstudio | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Einleitung

„Madam, sind Sie bereit?“ War ich bereit? Ich konnte es nicht sagen. Ich schaute mich um. All die Blumen im Raum, das weiße Kleid, welches ich anhatte. Zuvor wurde ich frisiert und geschminkt. War es Realität oder ein Traum? Wie in Trance folgte ich der Dame aus dem Zimmer. Alle Leute, denen wir begegneten, lachten und klatschten. Warum? Wegen mir? Ich versuchte, mich zu fassen und zu erinnern.

Kapitel 1

In Glenshire, Südamerika

„Kolleginnen und Kollegen. Danke, dass ihr alle gekommen seid. Es wird langsam ernst. Unser König ist nicht mehr der Jüngste. Dieses Jahr werden wir sein 35-jähriges Thronjubiläum sowie den 40. Hochzeitstag feiern. Wie wir aus sicheren Kreisen erfahren haben, macht er sich Gedanken über seine Abdankung. Diese Quelle hat uns ebenfalls bestätigt, dass die ersten Dossiers an den Dauphin übergeben worden sind. Ich fordere daher jeden von euch auf, sich Überlegungen zum weiteren Vorgehen zu machen. Uns bleiben 8 Jahre bis zum runden Geburtstag des Dauphins. Diese 8 Jahre werden schneller vorüber sein, als dass es uns lieb ist. Es wird zweifelsohne passieren bis dahin. Nichtsdestotrotz. Ich benötige Vorschläge! Wir müssen vorbereitet sein!“ Frank schaute in die Runde und ließ das Gesagte seiner Wirkung walten. Viele nickten zustimmend, andere schienen mit den Gedanken überall, nur nicht hier zu sein. Dann verließ er das Rednerpult und setzte sich zu seinen Kollegen und gönnte sich ein Glas Rotwein. Zufrieden war er mit der Reaktion der Gruppe nicht. Aber dies war er noch nie gewesen.

„Was guckst du dir da an?“ „Wie? Sorry, Roger. Ich war mit den Gedanken an einem anderen Ort.“ Verwirrt schaute ich auf den Bildschirm und dann zu Roger. Unbewusst war ich von der geplanten Jobsuche abgedriftet und hatte den Streamingdienst geöffnet. Auf meinem Laptop lief eine Dokumentation über irgendwelche Reiseziele. „Das ist mir aufgefallen. Daher streame ich auf dem TV. Ich will den Beitrag ebenfalls sehen. ‚Unbekannte Länder‘, so was gibt es?“ Roger saß schon auf dem Sofa und deutete mir an, mich neben ihn zu setzen. „Zudem, ganz so ernst waren deine Absichten mit der Stellensuche nicht, sonst hättest du nicht zum Streaming gewechselt. Daher komm.“ Eigentlich hatte ich keine Lust auf einen weiteren Abend vor dem TV. Noch weniger motivierend fand ich jedoch meine ursprüngliche Idee, die offenen Stellen in der Gegend anzuschauen. Einmal mehr hatte ich einen bescheidenen Tag bei der Arbeit erlebt und nahm mir vor, dieses Wochenende erneut die Jobbörsen zu kontaktieren. Seis drum. Ich setzte mich zu Roger, kuschelte mich an ihn und sah mir den Bericht an. Er war Feuer und Flamme. Ich hingegen schaute nur mit einem Auge hin. Die meisten der gezeigten Staaten waren mir nicht fremd, aber zugegeben, viel vermochte ich spontan nicht über sie zu sagen. Bhutan? Schon gehört, liegt im Himalaja zwischen Nepal, Bangladesch und Tibet. Suriname? Ebenfalls nicht unbekannt, hätte ich jedoch in Afrika und nicht in Südamerika gesucht. Mehrheitlich wurden Inseln gezeigt, hauptsächlich im Pazifik, wie z. B. Niuë, Palau oder die Antillen. Alles exotische Orte und beliebt, wenn man eine Briefkastenfirma aufzumachen plante. Ein Leben vor Ort war sicherlich kein Zuckerschlecken. Eine Industrie oder Tourismus gab es selten. Entsprechend hoch war die Armut auf diesen Inseln. So viel wusste ich durch den Job als Treuhänderin. Und dann wurde ich hellhörig. Meine Sinne waren angespannt, und meine ganze Konzentration galt der Dokumentation. Es wurde ein Land namens Glenshire vorgestellt. Als ich von dieser Nation zum ersten Mal hörte, wurde ich regelrecht magisch angezogen. Es hatte etwas Spezielles, ich wusste nur nicht, was es war. Zudem, noch nie von Glenshire gehört? So erging es Roger und mir ebenfalls. Und man beachte, es handelte sich dabei nicht um irgendeine Insel im Pazifik, sondern um einen Staat in Südamerika, am Rand der Anden, zwischen Chile und Argentinien. Für südamerikanische Verhältnisse winzig klein. Aber mit nicht 40 km2doch zu Recht als Nationalstaat zu bezeichnen. Es lässt sich mit der Schweiz vergleichen. Flächenmäßig. Einwohner hat es nur halb so viele wie die Eidgenossen. Knapp 5 Millionen seien es bei der letzten Volkszählung zum Anlass des 35. Thronjubiläums des Königs diesen Frühling. Ich wurde hellhörig. Ein Königreich mitten in Südamerika, von dem ich noch nie etwas gehört oder gelesen hatte? Gespannt schaltete ich auf Vollbildmodus und verfolgte den Beitrag. Kurz nach der Gründung wurde die Monarchie eingeführt, und seither regierte die gleiche Königsdynastie, welche, wenn auch weit außen, mit der britischen verwandt sei. Es handle sich um die einzige Monarchie auf dem amerikanischen Kontinent. Meine Gedanken waren vollständig bei dieser Dokumentation. Die Jobsuche rutschte in der Prioritätenliste nach hinten. Während der Unabhängigkeitskriege in Südamerika schien dieser Teil der Erde übersehen worden zu sein. Rundherum wurden blutige Kriege geführt, und mittendrin lag dieses kleine Land, es wurde von einer Monarchie regiert und überstand alles schadlos. Vergessen von Spanien, vergessen von England und später vergessen oder ignoriert von Chile und Argentinien und bis heute: vergessen von der Welt. Mehr wurde in der Dokumentation leider nicht gesagt. Dann war die ganze Sendung vorbei, und Roger zappte umher. Mich ließ dieses Glenshire nicht los, und so setzte ich mich erneut an den Esstisch, nahm den Laptop und öffnete den Internetbrowser. Ich war erstaunt, was mir das Internet alles für Treffer anbot. Gelinde ausgedrückt: nichts.

Der Artikel bei Wikipedia war ebenfalls dürftig. Ich erfuhr nicht mehr, als schon in dem kurzen Beitrag in der Doku gesagt wurde, bis auf dass die Nationalsprache Englisch ist. Dies hatte mich doch etwas verwundert, da im TV jeder Einwohner, den sie gezeigt haben, Spanisch gesprochen hatte. Beim Eintrag gab es ein älteres Foto der Königsfamilie. Das Bild betrachtete ich nur oberflächlich. Mich faszinierten mehr Fakten. Der König hieß Alois Aite Breagha und war bereits 72, seine Ehefrau, Königin Arabella Aite Breagha, 65 Jahre alt, und gemeinsam hatten sie einen Sohn, den Thronfolger, Dauphin genannt, Philippe, er war aktuell 32.

„Kommst du auch ins Bett? Es ist kurz vor Mitternacht. Ich gehe nicht davon aus, dass du heute nach Hause fährst, oder?“ „Wie? Ja, nein. Sorry. Nein, ich bleibe hier, und ja – ich bin gleich so weit.“ Wenige Minuten später schnarchte Roger neben mir, während ich hellwach im Bett lag. Der Schlaf ließ lange auf sich warten, denn die Gedanken wanderten, ganz atypisch für mich, immer nach Glenshire. Ich war kein Reisetyp. Meinen Urlaub verbrachte ich jeweils zu Hause. Das höchste der Gefühle war ein Wellnesshotel im Schwarzwald oder in Tirol. Wozu auch verreisen? Alles, was ich brauchte, war ein gemütlicher Stuhl, eine kalte Cola und ein Buch. Zu Hause genoss ich dies, ohne dass ich mir mit nervigen Touristen in einem unpersönlichen Hotel im Weg stand. Um meine Gedankengänge zu verstehen, muss man einiges über mich wissen.

Ich wuchs, gut behütet, als Einzelkind auf. Meine Eltern vertraten die Ansicht, Leistungen müssten mit Extras belohnt werden. Dies hatte zur Folge, dass ich eine exzellente Schülerin war, denn ich wusste ganz genau, so bekam ich, was immer ich wollte. Diese Tochter wuchs zu einer egoistischen Teenagerin heran. Während des Studiums war ich eines der angesagtesten Mädels auf dem Campus, und mir gefiel dieser Status. Denn wer mit mir zu tun haben wollte, musste nach meiner Pfeife tanzen, und dies wollten erstaunlich viele. Da Vater und Mutter die Ausbildung finanzierten, genoss ich das Studentenleben in vollen Zügen – bis ich eines Tages ins Büro des Rektors gerufen wurde. Mit einem Schlag wurde ich ins wahre Leben katapultiert. Mir wurde offenbart, dass meine Eltern am Morgen bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Der Schulleiter versicherte mir zwar, für mich da zu sein. In Tat und Wahrheit war ich ab sofort alleine auf der Welt. Mutter hatte keine Geschwister mehr, ihr Bruder verstarb als Kind an Krebs. Vater hatte eine Schwester, zu der hatten wir jedoch nie Kontakt. Ich kannte sie nicht. Dies hieß für mich, zum ersten Mal musste ich Verantwortung übernehmen und mir Gedanken darüber machen, wie ich meinen Lebensunterhalt bestreiten würde. Sachen, mit denen ich mich bis Mitte 20 nie beschäftigte. Mit beidem wurde keine Freundschaft geschlossen. Ich suchte mir einen Job, das heißt, es waren innert kürzester Zeit einige Jobs, welche ich ausübte. Solange ich den legendären „Welpenschutz“ genoss, waren Firma und Arbeit in Ordnung. Sobald mir mehr Befugnisse übertragen wurden oder ich mich hätte ins Zeug legen müssen, um einen Auftrag entsprechend abzuschließen, schmiss ich den Job hin und suchte mir etwas Neues. Da die Stellen selten rund um den Wohnort lagen, wurde ich zur Nomadin und zog im ganzen Land umher. Vom Norden in den Osten, weiter in den Süden und dann in den Westen. Mit so vielen Umzügen ist es schwierig, einen Freundeskreis aufzubauen. Daher grenzt es fast an ein Wunder, dass ich seit 4 Monaten in einer Beziehung mit Roger lebte. Er arbeitete als Buchhalter in einer Firma, welche sich im gleichen Gebäude wie das Treuhandbüro, in dem ich tätig war, untergebracht war. So haben wir uns kennen- und mit der Zeit auch lieben gelernt.

Es war Samstag, und ich wachte kurz vor Mittag auf. Zumal der Schlaf erst in den Morgenstunden kam. Roger war längst beim Fußballtraining, und später würde er ein Turnier haben. So genoss ich die Einsamkeit der Wohnung und wunderte mich etwas über den Traum der vergangenen Nacht. Ich träumte davon, nach Glenshire gereist zu sein, und vor Ort hätte ich die beste Zeit meines Lebens gehabt. Irgendetwas an diesem Land ließ mir keine Ruhe, zumindest was mein Unterbewusstsein betraf. Auf dem Weg ins Bad kam ich am Spiegel im Korridor vorbei und blieb stehen. Ich betrachtete mich. Anfangs 30, Figur o. k. bis auf ein paar Problemzonen, die Größe war für eine Frau perfekt, haselnussbraunes, bis an die Ellbogen reichendes, leicht gewelltes Haar. Ich fand mich gut aussehend, jedoch etwas verbittert. Ich lebte zwar in einer Beziehung, doch glücklich war ich mit meinem Leben nicht.

Mit einer heißen Dusche versuchte ich, die düsteren Gedanken abzuschütteln. Es gelang mir, doch dann kehrten die Bilder aus der Dokumentation über Glenshire zurück. Daher beschloss ich, den Vorsatz, endlich aktiver zu sein und mein Dasein nicht zu vergeuden, in die Tat umzusetzen. Bis zum Jahreswechsel in 4 Monaten hatte ich noch 4 Wochen Urlaub übrig. So beschoss ich, das unbekannte Land kennenzulernen. Vorher würde ich keine Ruhe mehr finden, so viel war klar. Irgendetwas zog mich dahin, nur was war es? Mein Haar tropfte noch immer. Es war mir egal, einen schnellen Kaffee, und dann nahm ich den Bus ins Stadtzentrum und suchte ein Reisebüro, um eine 4-wöchige Reise nach Glenshire zu buchen. Roger hatte mal wieder ein Turnier, und so würde ich das Wochenende alleine verbringen. Da er seine Freizeit verplante, wie es ihm gefiel, machte ich es genauso. Nur mit dem Unterschied, er war 2 Tage abwesend, ich würde einen ganzen Monat unterwegs sein.

„Es tut mir leid, Frau Taubert, aber ich kann nirgends einen Ort namens Glenshire ausfindig machen. Ich habe zuerst in Großbritannien gesucht, anschließend in den USA, Kanada, Australien und Neuseeland. Ich finde nichts. Sind Sie sicher, dass es sich um einen Ort und nicht einen Stadtteil handelt?“ Die Dame riss mich aus meinen Gedanken. Ihre Brille war ihr während der mühsamen Suche in diversen Systemen auf die Nase gerutscht. Besserwisserisch, wie ich halt war, antwortete ich schnippisch: „Es ist weder ein Ort noch ein Stadtteil, sondern ein Land. Die Hauptstadt heißt Luklana. Suchen Sie in Südamerika.“ Die Dame sah mich ungläubig über den Rand ihrer Brillengläser an und fing wieder an zu tippen. Doch dann sah ich, wie sie erstaunt die Augenbrauen hob. „Tatsächlich, ich habe etwas gefunden. Kaum zu glauben. Von diesem Land habe ich noch nie gehört und arbeite schon über 20 Jahre in dieser Branche.“ Die Dame fand einen Flughafen in Glenshire. Man kam nur via Chile oder Argentinien hin. Pro Woche gab es eine Verbindung von Santiago de Chile und eine von Córdoba in Argentinien. Ansonsten existierten 2 Bahnlinien ins Ausland sowie diverse Straßenverbindungen. Ich entschied mich für eine Flugreise via Santiago. Zugfahren war gar nicht meins, zu lange und zu ungemütlich, und in einem fremden Land traute ich mich nicht gleich hinter das Steuer. Ich gab die Zustimmung zur Buchung und fühlte eine gewisse Nervosität und Vorfreude in mir hochsteigen. Meine erste Flugreise, und diese würde ans andere Ende der Welt führen. Spanisch sprach und verstand ich, in der Theorie. Im praktischen Gebrauch konnte noch keine Erfahrung vorgewiesen werden. Während der Ausbildung besuchte ich einen Spanischkurs. Im Alltag wurde Spanisch selten bis nie benötigt. Daher wusste ich nicht, was noch alles präsent war. Das Reiseziel hieß aber auch nicht Chile, sondern sein Nachbar, und dort sprach man Englisch, wie ich gestern gelernt hatte. Ein kleiner Dämpfer meiner Freude und Zuversicht folgte sogleich, als mir die Dame weder in Luklana noch in Glenshire ein Hotel oder eine Pension reservieren konnte. Keine der Applikationen der Reiseveranstalter ergab irgendwelche Treffer bei der Suche nach einer Unterkunft. Es gab von der Fluglinie allerdings den Hinweis, Übernachtungsmöglichkeiten könnten an der Information am Flughafen Santiago de Chile oder Córdoba gebucht werden. So blieb mir nichts anderes übrig, als mit viel Vertrauen um die halbe Welt zu fliegen, um dort erst ein Quartier im Zielland zu finden. Die Dame im Reisebüro versicherte mir, sollte es am Flugschalter nicht möglich sein, ein Zimmer zu buchen, gäbe es die Alternative, den Weiterflug nach Luklana vor Ort zu stornieren. Dort könne ich mich auch an die Reiseleitung oder Botschaft wenden, es würde mir geholfen werden, ein Hotel in Santiago zu finden sowie den Flug entsprechend umzubuchen. Dies war beruhigend, und so besuchte ich auf dem Heimweg das Passbüro, um meinen ersten Reisepass überhaupt zu beantragen. Wieder zurück in der Wohnung schrieb ich eine Liste mit Angelegenheiten, welche vor Abreise zu erledigen waren. Wie zum Beispiel die Versicherung betreffend Auslandsreisen zu kontrollieren, die Gültigkeit der Kreditkarte zu prüfen oder einen Reisekoffer zu besorgen. Ich war erfahren, was das Kistenpacken anging, nicht aber in Bezug auf Ferienreisen ins Ausland.

Am Abend traf ich Roger und ein paar Kumpels vor einer Bar. Voller Freude offenbarte ich ihm, was am Morgen gebucht wurde. Sagen wir mal so, er war mäßig begeistert. Da er praktisch keinen Urlaub mehr hatte, bis Ende des Jahres, bestand keinerlei Möglichkeit, mich zu begleiten. Dies war, auch wenn ich es ihm gegenüber nicht zugab, meine volle Absicht. Ich war mir nicht sicher, wie es in unserer Beziehung weitergehen sollte, und daher sah ich in der Reise die Chance, den Status nochmals zu überdenken und gegebenenfalls nach der Rückkehr anzupassen.

Ein paar Wochen später war es endlich so weit. Mein Reisepass kam einige Tage, bevor die Reise losging. Am besagten Tag fuhr ich mit dem Taxi zum Flughafen. Vor lauter Nevosität konnte ich kaum stillsitzen, und die Fahrt kam mir ewig vor, auch wenn es nur 15 km ohne Stau waren. Bis zum Abflug nach Madrid hatte ich noch 2 Stunden Zeit. Sobald wir gelandet waren, hieß es, sich beeilen. Mir blieben 90 Minuten, und ich hatte keine Ahnung, wie weiter. Musste das Gepäck entgegengenommen und neu eingecheckt werden? Beim Abflug konnte mir niemand eine Antwort darauf geben. Mir war wieder bewusst, warum ich Ferien zu Hause so mochte. Nach einer Flugreise bräuchte ich mindestens eine Woche Erholung von diesem Stress. Es klappte alles. Das Gepäck wurde automatisch zum Anschlussflug gebracht. Der Flug Madrid–Santiago war mit 13 ½ Stunden der längste dieser 3-teiligen Reise. Ich hatte nur 3 Bücher eingepackt, diese mussten für die Hin- und Rückreise reichen. Niemand sagte mir, dass im Flieger Filme gezeigt würden. Somit waren die Sorgen unbegründet, und die Zeit verging, sprichwörtlich, wie im Flug. Das Flugzeug landete in Santiago, und ich erhaschte zum ersten Mal einen Blick von Südamerika. Was ich in der ganzen Aufregung um meine Reise vergessen oder besser gesagt nicht bewusst wahrgenommen hatte, war der Zeitunterschied. Das Essen im Flieger war, sagen wir mal, bescheiden, und so hatte ich Hunger, es war für mich Mittagszeit. Hier erwachte das Leben erst langsam, und so ziemlich alle Restaurants und Kioske am Flughafen waren noch geschlossen. Bis ich mich orientiert, den Koffer vom Band gehievt und die Immigration hinter mich gebracht hatte, waren die ersten Imbisse offen, und ich gönnte mir ein kleines Frühstück. Mein Spanisch schien so weit verständlich, als dass ich effektiv bekam, was ich gedachte zu bestellen. Gesättigt suchte ich den Touristservice. Noch benötigte ich eine Übernachtungsmöglichkeit in Glenshire. Bevor ich es richtig realisierte, waren die ersten 2 von insgesamt 6 Stunden Aufenthalt bereits vorüber. Dann begann der Stress. Die Dame der Airline, mit der ich angereist war, meinte, der Touristservice sei im andern Terminal. Also machte ich mich auf den Weg dahin, um dort zu erfahren, dass ich ganz falsch sei und die Unterkünfte im Terminal, wo ich ankam, gebucht werden müssten. So hieß es, alles wieder zurück. Immer mit dem Koffer im Schlepptau und durch sämtliche Sicherheitskontrollen. Bei der besagten Information erfuhr ich dann, Hotels in Glenshire könnten nur direkt am Desk der entsprechenden Fluglinie gebucht werden. So suchte ich das Check-in der „Glen-Air“ auf und endlich: Der freundliche Herr checkte mich zuerst auf den Flug ein, nahm mir meinen Koffer ab und reservierte mir ein Zimmer in einer kleinen Pension inmitten der Altstadt von Luklana. Vom Flughafen zur Unterkunft könne ich vor Ort ein Taxi nehmen, versicherte mir der Herr zudem. Nun musste ich nur noch 2 Stunden vor dem Gate totschlagen. Ich war so was von nervös und gleichzeitig auch müde. Aus purer Angst, einzuschlafen, trank ich einen Espresso nach dem anderen, und dies, obwohl ich Kaffee gar nicht so sehr mochte. Auf dem Weg zu einem meiner vielen Toilettenbesuche kam ich an einem Bücherkiosk vorbei, der ein Buch über Glenshire anpries. Genau, was ich in den letzten Wochen immer gesucht hatte! Mit einer weiteren Tasse Kaffee in der Hand setzte ich mich auf einen der Sitzplätze vor dem Gate, begann gespannt zu lesen und brachte Folgendes in Erfahrung: Luklana, die Hauptstadt von Glenshire, hatte knapp 1 Mio. Einwohner und war mit Abstand die größte Stadt des Landes. Alles floss hier zusammen. Ähnlich wie früher in Paris, oder wie schon die alten Römer sagten: Alle Wege führen nach Rom. Oder eben hier: Alle Wege führen nach Luklana. Es ist, wie ich damals in der Dokumentation erfahren hatte, eine Monarchie. Der König regiert nicht nur sinnbildlich, sondern ist das politische Staatsoberhaupt. Gleichzeitig existiert ein vom Volk gewähltes Parlament. Der König ist der ‚Parlamentsvorsitzende‘ und hat somit das letzte Wort. Glenshire ist ein stolzes und modernes Land, gleichzeitig sehr darauf bedacht, nicht beachtet zu werden im Weltgeschehen. Es besitzt auf jedem Kontinent nur eine Botschaft oder ein Konsulat und ist weder bei der UNO noch sonst wo ein Mitglied. Ihr Motto ist: möglichst nicht aufzufallen, um so in Ruhe gelassen zu werden. Nun, soweit ich es beurteilen konnte, ist ihnen dies bis jetzt sehr gut gelungen, denn egal wo ich Glenshire erwähnte: Niemand hatte bisher etwas von diesem Land gehört. Jemand tippte mir auf die Schulter und sprach mich auf Spanisch an: „Entschuldigung, Señora, fliegen Sie nach Luklana? Nur, weil Sie ein Buch über Glenshire lesen. Das Boarding ist schon fast abgeschlossen.“ Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und schaute in das Gesicht einer älteren Dame, welche mich soeben vor meinem Albtraum gerettet hatte. „Ja, vielen Dank für den Hinweis. Ich war so in die Lektüre vertieft, dass ich den Aufruf zum Boarding gar nicht mitbekommen habe“, antwortete ich ihr erleichtert und total außer Atem, da ich kurzzeitig in Panik geriet. Sie meinte lächelnd: „Ach, schon gut. Ich dachte nur, da Sie das Buch meines Mannes lesen, reisen Sie eventuell nach Glenshire, und wir möchten doch nicht, dass unsere Gäste den Flug verpassen. Zudem wird das Buch meiner Heimat absolut nicht gerecht, sie ist in Wirklichkeit noch viel schöner und spannender. Gerade jetzt, wo wir Frühling haben und alles blüht und duftet.“ Wie toll ist das denn? Ich habe soeben meine erste Bewohnerin von Glenshire kennengelernt, und sie ist gleich noch die Frau des Buchautors. Während wir zusammen in den Flieger stiegen, plauderten wir, und sie erzählte mir einiges über ihre Heimat. Ich konnte es kaum erwarten, endlich in Glenshire anzukommen.

Wie die Dame aus dem Flugzeug mir schon gesagt hatte, in Glenshire fing der Sommer an. Viel sah ich noch nicht davon, denn es war bereits dunkel, als wir ankamen. In der Luft lag der Duft eines warmen Tages, der sich langsam davonschlich, um der Kühle der Nacht Platz zu machen. Mit dem Taxi fuhr ich vom Flughafen zur Pension „Ses McDonovan“. Die Fahrt dauerte knapp 30 Minuten und führte durch eine einsame Gegend. Erst als wir an die Stadtgrenze kamen, herrschte eine gewisse Lebendigkeit in den Straßen. Die Leute waren trotz der Kühle und Dunkelheit draußen unterwegs. Links und rechts säumten altmodische Laternen den Straßenrand. In ihrem Schimmer konnte ich viele Bäume entlang des Weges ausmachen. Die Häuser dahinter schienen aus Stein zu sein. Diverse Leuchtreklamen über den Schaufenstern verrieten mir, dass praktisch jedes Gebäude im Erdgeschoss ein Geschäft beherbergte. Der Fahrer hielt vor einem alleinstehenden 3-stöckigen Fachwerkhaus. Das Schild neben der Tür wies in großen Lettern auf den Namen hin: „Ses McDonovan“. Ich war in meinem Hotel angekommen. Die Besitzerin Elise begrüßte mich herzlich und führte mich in einen Raum, der als Rezeption, Speisesaal sowie Gemeinschaftsraum diente. In der rechten Ecke stand ein Pult mit Computer und zwei Sesseln davor, links davon eine bequem aussehende Polstergruppe mit niedrigem Couchtisch. Daneben war ein kleines Büchergestell platziert worden. Der hintere Teil des Raumes war mit einigen Esstischen und Stühlen vollgestellt. Dort wurde, so schien es, das Frühstück serviert. Elise erklärte mir alles, verstanden habe ich jedoch fast nichts. Zuerst wusste ich nicht, ob es an meiner Müdigkeit oder an ihrem Akzent lag. Das Englisch in Glenshire erinnerte mich sehr an die Akzente Nordschottlands, und für ungeübte Ohren war dieser fast nicht zu verstehen. Ich hoffte, dass ich mich schnell an die Aussprache gewöhnen würde, denn sonst würde es ein einsamer und harter Urlaub werden. Irgendwie verstanden wir uns dann doch, und ich konnte das Zimmer mit Blick auf die Hauptstraße raus beziehen. Nach der Reise war ich zu müde, um meine Aussicht zu studieren. Es war ja schon 22 Uhr, und ich hatte eine über 24 Stunden andauernde Reise sowie eine Zeitverschiebung von 6 Stunden hinter mir. So beschloss ich, eine Dusche zu nehmen und das nächstgelegene Pub aufzusuchen, um etwas zu essen und mich dann ins Bett zu legen und einfach glücklich zu sein.

Der nächste Morgen war genauso herrlich und erfrischend wie der Abend zuvor. Elise bereitete mir ein ausgiebiges Frühstück, welches ich effektiv in der Lobby zu mir nahm. Wenn ich nicht genau gewusst hätte, dass ich in Südamerika bin, hätte ich wiederum auf Schottland getippt. Denn mir wurde ein typisch schottisches Frühstück serviert. Spiegeleier, Toast, Baked Beans, Black Pudding und Pilze. Ich war aktuell der einzige Gast, sodass Elise mir sehr viel Aufmerksamkeit schenkte. Im Verlauf des Essens gewöhnte ich mich langsam an den Akzent und verstand schon einiges mehr von dem, was sie mir erzählte. Da ging mir ein kleines Lichtlein auf. In der Doku hatten alle Spanisch gesprochen, nun war mir bewusst, warum. Kaum ein Ausländer verstand diesen Akzent. Elise erklärte mir, dass sämtliche Einwohner aus Glenshire schottische Vorfahren hatten. Daher sehe Luklana etwas wie Schottland aus. Die Leute seien stolz hierauf und würden strikt darauf achten, die Traditionen und Akzente ihrer Herkunft zu bewahren. Wobei es regional sehr starke Unterschiede und bald mehr Einwohner geben würde, welche besser Spanisch als Englisch sprächen. Elise gab mir dann einige Tipps bezüglich Besuchen in und um Luklana, so sei z. B. der Schlosspark ein absolutes Muss, gerade im Frühling, wenn alles blüht und summt. Und eventuell könne ich auch den Dauphin antreffen, er gehe oft im Schlosspark ausreiten. Oder die Universität mit ihrer Bibliothek sei sehr beeindruckend. Oder die Altstadt im Allgemeinen sei ein Nachmittag des Besuches wert. Etwas außerhalb von Luklana gäbe es auch bezaubernde Wasserfälle, die an ein Zauberreich erinnern würden. Eine Wanderung dahin lohne sich auf jeden Fall. Dann natürlich die Hügel rund um Luklana mit den versteckten Höhlen, und jetzt im Frühling würde ich überall die Nationalblume von Glenshire, die Passionsblume, bewundern können. Ich merkte schon, Elise liebte und kannte ihre Heimat, und langweilig würde es mir während meines Urlaubs nicht werden. So beschloss ich, zuerst einmal etwas durch die Stadt zu schlendern. Viel Verkehr gab es nicht. Die meisten Leute waren mit dem Rad und zu Fuß unterwegs. Die Häuser waren mehrheitlich aus grauem oder rotem Stein gebaut. Ab und zu verirrte sich ein Fachwerkhaus in die Häuserzeilen. Das Erdgeschoss beherbergte meist ein Geschäft oder eine Firma und gelebt wurde im 1. Stock. Als Abtrennung von der Straße zum Gehweg hin waren überall Bäume und Sträucher gepflanzt. Es war eine sehr grüne Stadt. An fast jedem Fenster hingen Blumenkästen, und vor den Eingangstüren standen große Kübel mit kleineren Bäumchen. Elise hatte recht, nur schon der Hauptstraße entlangzugehen war interessant. Ich studierte die Ware in den Schaufenstern und staunte nicht schlecht. Das Neuste vom Neuen wurde angepriesen. Glenshire wusste, wie man sich versteckt – aber auch wie man sich auf dem Laufenden hielt. Und offenbar führten die großen Firmen auf der Welt einen erfolgreichen Handel mit diesem kleinen Land. Wie ich erfuhr, war die Stadt zurzeit besonders aufwendig geschmückt, denn der Geburtstag des Dauphins stand kurz bevor. Dieser Tag sei ein Nationalfeiertag, und daher würde die Stadt jeweils rausgeputzt werden.

Während der folgenden Tage lernte ich viele freundliche Luklaner kennen. Ich weiß nicht, wer neugieriger war. Die Luklaner auf mich – oder ich auf die Luklaner. Sie waren es nicht groß gewohnt, mit Ausländern zu sprechen, da fast niemand herkam. Im Gegenzug war ich neugierig auf sie, da auf der Welt fast nichts über sie bekannt war. Ich wurde oft zu einem Kaffee oder einem Pint eingeladen. So lernte ich schnell, welches die angesagten Pubs waren und welche ich eher meiden sollte, gerade wenn es um ein gutes Essen ging. Dieser Urlaub war entspannend und aufregend zugleich, denn so viel gelacht wie hier hatte ich schon lange nicht mehr. Langsam verstand ich, warum mein Unterbewusstsein so darauf drängte, hierherzureisen.

Nach ein paar Tagen traute ich mich etwas weiter weg als nur gerade die Straßen rund um die Pension, und so besuchte ich den Königspalast mit dem dazugehörigen Schlosspark. Auf das Gelände vor dem Schloss gelangte man durch ein großes, schmiedeeisernes Tor. Der Bereich war zudem von einer hohen Mauer umgeben. Diese wurde jedoch durch diverse Büsche und Bäume praktisch verdeckt. Die Zufahrt vom Tor zum Palast war mit hellen Kieselsteinen befestigt. Als Abgrenzung von der Einfahrt zu dahinterliegender Wiese und Bauwerken waren Blumenbeete angelegt worden. Alles in allem gab dies ein durch und durch harmonisches und farbenfrohes Bild, und es duftete herrlich nach diversen Blüten. Das Gebäude selbst erinnerte mich stark an die französischen Schlösser der Loire. Sandsteinfarben mit vielen Erkern und Türmchen. Die Fenster reichten entweder bis an den Boden des jeweiligen Stockwerkes oder waren mit Blumenkisten geschmückt. Klassisch, wie man es sich von den Märchenschlössern her vorstellt, wuchsen Efeu, Rosen sowie mir unbekannte Blumen vom Boden die Wände hoch. Das Schloss war riesig. Um die Größe einigermaßen einzuschätzen, zählte ich meine Schritte. Sage und schreibe 140 Schritte. Demnach war der Palast ca. 140 m lang. Die Tiefe respektive Breite konnte ich nicht einschätzen, da einige Bereiche für die Öffentlichkeit gesperrt waren. Es gab jedoch an einem Ort einen Durchlass, damit man hinter das Schloss, also zum Schlosspark, gelangen konnte. Das Gebäude selbst war mindestens 4 Stockwerke hoch. 3 waren normal und aus Sandstein gebaut. Bei den obersten 2 Etagen war ich mir nicht sicher. Diese befanden sich bereits in der Dachschräge. Beim genaueren Betrachten fiel mir auf, dass es einen Nord- sowie einen Südflügel gab. Zumindest standen am Nordtor Soldaten in blauer Uniform, und die Vorhänge im Innern waren ebenfalls blau. Ziemlich in der Mitte des Palastes änderte sich die Farbe der Vorhänge und Uniformen der Wachen zu Rot. Leider konnte das Schloss selbst nicht besichtigt werden, außer man wurde von der Königsfamilie eingeladen. Im Gegensatz dazu war der Schlosspark hinter dem Gebäude offen für die Bevölkerung. Es sei der größte Park im Land, und er war effektiv riesig. Man konnte Tage darin verbringen und hatte noch nicht alles gesehen. Es gab kilometerweite Wanderwege, weite Wiesen, Wälder, Seen und Bäche. Am Wochenende traf sich halb Luklana in diesem Park, und es gab kleinere Feste mit Wurstbuden, Konfiserieständen, einem Riesenrad und Karussell. Der Dauphin würde fast täglich in dem Schlosspark ausreiten, wurde mir mehrfach gesagt. Gesehen habe ich ihn allerdings nie. Er war mir auch egal. Ein Prinz in den 30ern und Single? Da musste was nicht stimmen, er würde sicherlich massenhaft Frauen finden. Es war nicht meine Angelegenheit, und ich beschäftigte mich lieber mit dem Park und seinen Highlights. Denn es gab so viel zu sehen und erleben, und ich fühlte mich sofort wohl. Einziges Hindernis war am Anfang wieder einmal die Sprache. Als Nicht-Native-Speakerin tue ich mich manchmal schwer mit zu intensiven Akzenten. Aber daran gewöhnt man sich, und es machte mir Spaß, am Abend im Hotelzimmer etwas mit der Betonung zu spielen und zu versuchen, einzelne Wörter „Glenshireisch“ auszusprechen. Kurz vor dem Ende des Urlaubs war ich doch in der Lage, meine Gastgeberin Elise im Hotel mit einem waschechten „Howdy“ zu begrüßen. Sie hatte unheimlich Freude daran, und so kamen wir ein weiteres Mal ins Gespräch. Die meisten Gäste seien Leute aus Glenshire, welche die Hauptstadt besuchten. Ausländische Kunden hätte sie eher selten. Einerseits sei sie froh, dass Glenshire nicht von fremden Leuten überschwemmt werde, andererseits würde sie sich freuen, mehr mit Fremden plaudern und über die Welt erfahren zu können. Dies würde vielen Mitbürgern so ergehen. Daher sei es bei den jungen Leuten üblich, nach dem Studium zuerst 1–2 Jahre herumreisen. Die meisten würden danach wieder zurückkommen, da ihnen die Welt doch zu groß und zu unpersönlich sei. Es gehe halt nichts über die wahre Heimat. Ich konnte mir dies gut vorstellen. Luklana war eine eigene kleine Welt, es kam mir so vor, als würde hier jeder jeden kennen. Sie waren zufrieden mit sich und ihrem Leben. Von einem solchen Dasein träumte ich, gab mir jedoch viel Mühe, genau das Gegenteil davon zu machen. Während meiner Zeit in Glenshire kam ich nicht groß aus Luklana heraus. Es gab so viel zu sehen und zu entdecken. Die Stadt war reich an Kulturschätzen und spannenden Ecken. Ich war neben dem Schlosspark die Universität besichtigen. Nahm an Führungen durch die Kathedrale und dem Kulturmuseum teil. Schloss mich einer Wandergruppe zu Wasserfällen im Westen sowie den Höhlen im Norden an, und dennoch hatte ich das Gefühl, nichts gesehen zu haben, obwohl ich jeden Tag von früh bis spät unterwegs war. Mein Vorsatz, aktiver zu werden, hatte ich definitiv umgesetzt. Während der ganzen Zeit schaute ich weder TV, noch surfte ich im Internet. Den Laptop hatte ich dabei, er blieb jedoch im Koffer verstaut. Ich hatte weder Lust noch Zeit, mich einem Bildschirm zu widmen. Zu interessant war die Welt vor der Hoteltür. Kurz vor meiner Abreise kam der Höhepunkt. Zumindest für die Glenshire. Der Dauphin feierte seinen 32. Geburtstag. An besagtem Tag stand ich etwas abseits und bestaunte, wie die Menge dem Dauphin sowie seinen Eltern, also dem König und der Königin, zujubelte, als diese in einer Kutsche die Straße entlangfuhren. Es war für mich der erste Anblick eines Monarchen und, zugegeben, es hatte etwas Spezielles und Aufregendes. Obwohl ich hier im Urlaub war und nichts mit der Königsfamilie anfangen konnte, war ich doch nervös, als ich die Kutsche sah. Um genauere Details sehen zu können, war ich jedoch zu weit weg. Ich fand jedoch schon das Schauspiel an sich interessant.

Nach viel zu schnell vorübergehenden 3 Wochen und nach einer nicht enden wollenden Heimreise kam ich doch zu Hause an. Inzwischen hatte sich der Winter breitgemacht. Es war, wie üblich, kalt, nass und grau, und schon am ersten Tag sehnte ich mich nach dem Frühling in Glenshire. Roger freute sich unheimlich, dass ich endlich wieder zurück war. Über unsere Beziehung hatte ich mir wenig Gedanken gemacht. Ich war zu sehr mit dem Erkunden von Luklana beschäftigt gewesen. Er hingegen hatte sich intensiv Gedanken bezüglich unserer nicht existenten Liebesbeziehung gemacht. Sein Entschluss begeisterte mich nur mäßig. Während wir bei einem gemeinsamen Essen bei ihm in der Wohnung saßen, offenbarte er mir seine Pläne. Er wollte mit mir eine Zukunft aufbauen. Es war nicht direkt ein Heiratsantrag, kam einem solchen aber nahe. Ich war nicht abgeneigt, jedoch ging er mir zu schnell vorwärts. Wie fast jedes Wochenende wenn wir uns trafen, zogen wir uns nach dem Essen in sein Schlafzimmer zurück. Geschlechtsverkehr wollte ich noch nicht. Während des Studiums gab es etwas, was mich daran hinderte, mich voll und ganz einem Mann hingeben zu können. Nach einer Studentenparty überfielen mich mehrere Studenten und wollten mich vergewaltigen. Ich entkam nur durch einen glücklichen Umstand. Seither hatte ich Angst vor dem Sex. Dem richtigen Sex. Hände und Mund waren in Ordnung. Mehr ließ ich aber noch nicht zu, da stieg leise Panik in mir auf. Ich wurde katholisch erzogen und nutze gerne und oft die Ausrede ‚kein Sex vor der Ehe‘, zudem wollte ich mein erstes Mal bewusst erleben, und es sollte definitiv mit dem richtigen Mann sein. Abgesehen davon hatte ich Angst, schwanger zu werden und dann plötzich mit einem Kind alleine dazustehen. Da man für Sex nicht zwingend Geschlechtsverkehr braucht, war es für Roger bis anhin nie ein Problem. Wie ich nach der Rückkehr feststellen musste, war damit nun Schluss. Er wollte mehr. Ich hingegen nicht. „Jetzt hab dich nicht so, Melissa. Wir sind uns doch einig, und du lässt mich schon zu lange warten.“ „Du weißt, dass ich das noch nicht möchte. Ich bin noch nicht bereit dazu!“ „Wie lange willst du mich noch warten lassen? Wir beide sind in den 30ern!“ „Ich weiß. Aber ich bin einfach noch nicht so weit. Bitte versteh das.“ Er tat es nicht. Im Gegenteil. Er wurde rabiat und drückte mich auf das Bett nieder. Ich war mir nicht sicher, ob er mich nun dazu zwingen wollte, mit ihm zu schlafen, oder was genau seine Absichten waren. Da er vom Sport ziemlich müde war und der Wein ebenfalls seine Wirkung zeigte, konnte ich mich befreien, schnappte die Kleider, rannte ins Bad und zog mich notdürftig an. Etwas verwirrt kam er mir hinterher. Vor der Haustür wollte er mich zurückhalten. Ich war jedoch schneller und verließ die Wohnung. Was er mir genau nachrief, verstand ich nicht mehr. Mir war jedoch bewusst, meine Beziehung zu Roger fand vor wenigen Minuten ein Ende.

Kapitel 2

Weinend kam ich zu Hause an. Ich liebte Roger, aber so, wie er sich heute verhalten hatte, wollte und konnte ich keine Beziehung mit ihm führen. Warum verstanden Männer dies nicht? Küssen war kein Problem, Petting war ebenfalls kein Thema. Er durfte und konnte alles mit mir machen, bis auf den Geschlechtsverkehr. Da ich ihm nicht sagen konnte, warum, zeigte mir die Situation auf, dass er nicht der Richtige war. Denn sollte es die wahre Liebe sein, würde ich mit meinem Partner darüber reden können. Da dies mit Roger nicht möglich war und aufgrund der Ereignisse vor wenigen Minuten, war ich mir sicher, dass ein gemeinsames Leben keine Zukunft gehabt hätte. Mir war bewusst, davonrennen war für mich einfach, aber zugleich feige gewesen und ich würde mit ihm darüber reden müssen. Er hatte ein Recht zu erfahren, was in mir los war und warum ich nicht wollte und nicht konnte. Dieses Gespräch musste noch etwas warten, noch war es zu früh für mich. Ich schaute mich in meiner Wohnung um. Sie hatte nichts Persönliches von mir. Es hingen keine Bilder an den Wänden, ich hatte keine Fotos aufgestellt, und es gab nirgends eine Pflanze, nicht mal eine verdorrte. Was hielt mich hier? Außer meinem Hang zur Bequemlichkeit? Die Beziehung war zu Ende. Auch wenn das Aus noch sehr frisch war und ich ihr nachtrauerte. Aber das Vertrauen war, von meiner Seite her zumindest, nicht mehr vorhanden. Die Arbeit wollte ich ja schon vor meinen Ferien kündigen. Im Gegenteil, ob es am Urlaubsfeeling lag oder am Land und der Stadt, ich fühlte mich in Glenshire glücklicher und freier als hier zu Hause. Selbst das Hotelzimmer empfand ich persönlicher als diese kalte Wohnung, und so beschloss ich, ein neues Projekt zu starten: Ich sehnte mich nach Luklana zurück, und so wollte ich versuchen, dort einen Neuanfang zu wagen. Einmal mehr vor allem wegrennen. Dieses Mal jedoch sehr gründlich, und es sollte das letzte Mal sein. Ich wollte weg, einfach alles vergessen und als ein neuer Mensch einen Neubeginn wagen. Im TV guckte ich immer wieder Auswanderersendungen. Manche dieser Protagonisten waren vor dem Auswandern nie vorher vor Ort gewesen, manche sprachen kaum die Landessprache. Ich jedoch war zumindest 3 Wochen im Urlaub dort, und ich war fließend in Englisch und Spanisch, wenn auch mit vielen Stolpersteinen. In Luklana sah ich nur glückliche Menschen, und ich selbst fühlte mich dort ebenfalls wohl und frei. Als ich vor Ort mal einen Blick in die Zeitung warf, habe ich zufällig einen Artikel über die Arbeitslosenquote von Glenshire gelesen. Diese war verschwindend klein. Nicht einmal einen Monat nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub stand mein Entschluss fest: Ich werde auswandern.

Mein Projekt stellte sich aber als nicht ganz so einfach auszuführen heraus. Da Glenshire wenig Kontakt zum Rest der Welt pflegt, gab es fast keine Vertretungen, wo ich ein Visum hätte beantragen können. Respektive die einzige Botschaft in Europa befand sich, wie nicht anders zu erwarten, in Schottland. Genauer gesagt in Edinburgh. Ich rief an und hatte eine nette und sehr erstaunte Dame am Apparat. Bisher hätte sie noch nie jemandem erklären müssen, wie er zu einem Aufenthalts- und Arbeitsvisum in Glenshire kommen würde. Kompliziert sei es absolut nicht: „Sie brauchen nur einen Arbeitgeber, der Ihnen so viel zahlt, dass Sie Ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können. Es spielt dabei keine Rolle, ob Sie im Supermarkt an der Kasse stehen oder in der Bank bei einem Pensum von 20 % arbeiten. Sobald Sie mir einen Arbeitsvertrag mit entsprechendem Einkommen vorweisen können, werden wir Ihnen ein Visum ausstellen.“ Klingt einfach und unkompliziert. Aber habt ihr schon einmal versucht, einen Job in einem anderen Land, welches nicht in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten will, zu finden? Online Jobsuche war kaum möglich, da nur einzelne Großfirmen ihre Jobs entsprechend ausschrieben, und diese Stellen waren nichts für mich, da es sich meistens um Auslandsvertreter handelte. Sprich, ich wäre zwar in Glenshire angestellt, arbeiten würde ich im Ausland. Meine Absichten sahen jedoch genau andersrum aus. So musste ich mir überlegen, wie weitermachen. Ganz typisch für mich, zog ich bereits wieder in Erwägung, die Pläne doch hinzuschmeißen, änderte daher die Jobsuche von Glenshire zurück auf Deutschland. Dann fiel mein Blick auf den Reisepass, der noch immer neben meinem Laptop lag, und ich ließ die vergangenen Wochen nochmals Revue passieren. Ich fühlte mich glücklich, zufrieden und entspannt während des Aufenthalts. Klar, es war Urlaub; der Sinn und Zweck von Ferien war, sich so zu fühlen und sich zu erholen. Dennoch, hier sah ich für mich zum jetzigen Zeitpunkt keine Zukunft. Die täglichen Anrufe von Roger unterstützten mich zudem bei meiner Entscheidung. Er ließ nicht locker, verständlich. Er war der festen Überzeugung, es sei nur sein Fehler gewesen, und er versprach, sich zusammenzureißen. Es war nicht nur sein Vorpreschen, und mir war bewusst, vor meiner Abreise würde ich mit ihm darüber sprechen müssen. Nun gab es für mich zwei Möglichkeiten. Die einfachere: Ich suchte mir hier einen neuen Job und machte mit dem Leben weiter, würde mich mit Roger über mein Erlebtes aussprechen und hoffen, er zeige Verständnis dafür. Oder ich nahm die Herausforderung an und würde hier alles abbrechen, nach Glenshire reisen und vor Ort einen Job suchen. Eine vorübergehende Aufenthaltsbewilligung konnte ich online beantragen. Dies war ohne größere Probleme möglich. So beantragte ich ein 3-Monats-Visum für Luklana zur Stellensuche. Der Plan war einfach. Sobald ich einen Job fand, mit dem ich meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, wurde ein Aufenthaltsvisum ausgestellt. Dieses war so lange gültig, wie ich einen Job haben würde. Klang simpel. Mit meiner Berufslehre im Büro würde ich gute Chancen haben, denn Buchhalter brauchte man immer. In den letzten Jahren hatte ich zudem in diversen Branchen gearbeitet und konnte so eine breite Palette an Erfahrung bieten. Dies war zumindest meine Meinung. Als vorübergehende Unterkunft wählte ich wieder Ses McDonovan und schrieb sogleich eine E-Mail an Elise. Das Reisebüro würde ich erst am nächsten Tag anrufen können. Heute war es schon zu spät. Reisen würde ich wie beim ersten Mal via Madrid und Chile. Auf dem Papier sah es einfach und durchdacht aus. Ich schaute auf meine Liste. Die Kündigung für Job und Wohnung war geschrieben und musste nur noch zur Post gebracht werden. Den Flug würde ich morgen buchen, für eine Unterkunft war gesorgt. Ich fühlte mich vorbereitet und freute mich auf die erneute Reise und mein neues Abenteuer. Ganz so einfach sollte es jedoch nicht werden. Dies musste ich schnell feststellen.

Ende Februar war es so weit. Meine Wohnung und mein Job waren längst gekündigt, die Möbel verkauft, und ich lebte „aus dem Koffer“, wie man so sagt. Der Flug nach Santiago de Chile und weiter in die neue Heimat waren gebucht, bezahlt, und es sollte in 2 Wochen losgehen. Es war Sonntagmorgen, als es an meiner Tür klingelte. Erstaunt schaute ich aus dem Fenster. Unten stand Roger mit einem Blumenstrauß. Ich ließ ihn ins Haus. In der Tür blieb er überrascht stehen: „Du ziehst um?“ „Um genau zu sein, ich wandere aus.“ „Wie? In ein anderes Land?“ „Ja, ich starte nochmals neu.“ „Aber nicht wegen mir, oder?“ „Jein. Ein klein wenig schon. Ich …“ Er unterbrach mich: „Melissa. Ich sagte doch, es tut mir leid, und ich war zu ungestüm. Das hätte nie passieren dürfen. Bitte gib mir nochmals eine Chance.“ „Es ist nicht wegen dem, was damals passiert ist. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“ „Am besten, ohne um den heißen Brei zu sprechen. Sag mir geradeheraus, was ich falsch gemacht habe.“ „Es hat nur wenig mit dir zu tun. Bitte setz dich. Halt leider auf den Boden. Die Möbel sind alle verkauft.“ Wir setzten uns einander gegenüber auf den Boden. „Als ich in meinem 2. Studienjahr war, gab es eine große Party auf dem Campus. Ich war natürlich ebenfalls da. Es floss viel Alkohol. Ich war damals eins der angesagtesten Mädels, und diverse Typen standen auf mich. Ein paar hatten zu viel getrunken und fanden, sie müssten mich erobern, um zu zeigen, wem das It-Girl der Uni gehört. Sie passten mich ab und schleppten mich in ein Nebengebäude. Während sie mich auszogen, fingen die Jungs bereits an, zu masturbieren, und versuchten, mir diverse Dinge einzufügen. Die Details weiß sich nicht mehr. Will sie auch nicht mehr wissen. Ein paar anderen Partyteilnehmern ist das Licht im Gebäude aufgefallen, und sie kamen nachschauen, ob hier eine zweite Party stattfinden würde. Nur dank dem kam es nicht zu einer Vergewaltigung. Seither habe ich ein Problem mit dem Thema Geschlechtsverkehr. Die Religion und die Angst vor einer Schwangerschaft schiebe ich jeweils vor.“ Während ich ihm dies offenbarte, schaute ich auf den Boden. Nun jedoch richtete ich meinen Blick in seine Augen und sah Entsetzen. „Melissa. Ich weiß … Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Warum hast du mir nie etwas davon gesagt? Ich hätte nie … Ich hätte mich ganz anders verhalten.“ „Ich weiß. Ich weiß nicht, warum ich mit dir nicht davor darüber sprechen konnte. Ich denke jedoch, da ich es während unserer Beziehung nicht konnte, stimmte etwas nicht in unserer Beziehung. Es lag nicht an dir, du hast nichts falsch gemacht. Es liegt allein an mir. Daher habe ich beschlossen, ich gehe fort, ich will ganz neu anfangen und alles, was war, vergessen.“ „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin ziemlich enttäuscht. Nicht nur, dass du mir nie etwas davon gesagt hast, aber anscheinend vertrautest du mir zu wenig, und so hätte eine Beziehung so oder so keinen Sinn. Ich wünsche dir alles Gute bei deinen Plänen.“ Er stand auf und ging. Es gab keine Umarmung, kein ‚Melde dich mal‘, nichts. Er ging einfach. Irgendwie war ich aber froh darüber. Ich hätte nicht gewusst, was ich weiter hätte sagen können oder sollen. Mit diesem Gespräch war mein Leben hier abgeschlossen. Ich freute mich zwar riesig, endlich wieder nach Glenshire zu kommen und einen Neuanfang zu wagen. Meine Staatsbürgerschaft und den Pass behielt ich, also konnte ich jederzeit wieder zurückkommen. Auch wenn ich nicht hoffte, dass dies nötig sein würde. Mir war jedoch bewusst, Roger würde nicht mehr da sein. Diese Zeit war definitiv vorbei, und es tat mir weh, ihn so verletzt zu haben.

Endlich in Luklana angekommen ging es gleich los. Jedoch musste ich bereits am ersten Tag feststellen, einen Job in einem Büro zu finden war fast unmöglich. Die Glenshire-Leute waren um einiges besser ausgebildet als ich, und meine Berufslehre lag schon viele Jahre zurück. Mir fehlte es somit an Ausbildung wie auch an Erfahrung. Ich schnupperte zwar in diverse Einsatzgebiete hinein, dies galt hier allerdings nicht als Erfahrung, sondern eben als „Schnuppern“. Auch sonst gestaltete sich meine Jobsuche nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Meine vielen Jobwechsel zu Hause stellten sich hier als ein negativer Punkt im Lebenslauf heraus. Zudem hatten die Glenshire-Stellen hohe Anforderungen, welche ich meist nur im Ansatz erfüllte. Es schien hoffnungslos zu sein. So konzentrierte ich mich nicht nur auf Bürojobs, sondern auf alles Mögliche, Hauptsache, ich fand etwas. Viele Firmen wollten mich nicht einstellen, da sie es als Risiko sahen, dass ich kein Dauervisum hatte und ich, wie schon gesagt, in der Vergangenheit meine Stelle sehr oft gewechselt hatte. Kurz vor Ablauf des Touristenvisums wurde ich doch noch fündig und unterschrieb einen Vertrag als Teilzeitverkäuferin in einem Bücherladen. Mit dem Gehalt würde ich mir knapp eine kleine Wohnung und meinen Lebensunterhalt leisten können. Aber besser als nichts, denn nun bekam ich das gewünschte Dauervisum für Glenshire. Danach folgte die Wohnungssuche. Mit dem Lohn eine bezahlbare Wohnung zu finden, war nicht so einfach. Einige Monate nachdem ich das Visum erhalten hatte, zog ich in mein eigenes Studio in Luklana. Zwar recht abgelegen und etwas außerhalb des Zentrums. Es war ein kleines 2-Zimmer- und schon möbliertes Appartement. Zu Fuß brauchte ich 40 Minuten zur Arbeit. Das war mir egal. Hauptsache ich hatte wieder meine eigene Wohnung, und ich freute mich auf den Arbeitsweg, hatte ich doch zu Hause die Parks so vermisst. Ab jetzt begann mein neues Leben erst richtig, und ich freute mich auf die Zukunft, wie ein kleines Kind sich auf Geburtstag oder Weihnachten freut.

Wie schon gesagt, mein Arbeitsweg führte quer durch den Park vom Schloss. Das Wundervollste am Weg war, dass ich einem der drei Bäche folgen konnte, bis dieser in den See mündete. Weiter folgte ich dem Seeufer, vorbei an der alten Mühle inklusive Mühlrad. Ab da musste ich leider die Gewässer verlassen und links in einen Weg, der durch die Blumenwiese und hinein in den Wald führte, nehmen, welcher mich an den Rand der Innenstadt brachte. Von da waren es nur noch 300 m bis zur Bücherei. Der Garten direkt vor dem Schloss war abgesperrt und der Königsfamilie vorbehalten. Es handelte sich dabei um einen klassischen Barockgarten. Auf dem Papier gezeichnet war er das pure Gegenteil der Parkanlage. Strikte Formen von Blumenbeeten. Die Wege waren in Winkeln angelegt, und es gab keine Kurven. Der Anblick war harmonisch, wenn auch nicht sehr natürlich. Er hatte etwas von einem Labyrinth mit seinen vielen kleinen Wegen, welche von niedrigen Hecken gesäumt wurden. Ich liebte den Arbeitsweg durch den Park, vor allem am Abend ging ich extra langsam, um den Duft der Blumen und des Waldes einzusaugen und einfach runterzufahren. Nicht, dass mein Arbeitstag im Bücherladen stressig war, überhaupt kommt mir das Leben in Glenshire entschleunigend vor. Als ich auf Job- und Wohnungssuche war und eine Absage nach der anderen erhielt, war ich mir öfters unsicher, ob es klug war, alles hinzuschmeißen und hierherzukommen. Seit ich jedoch in meine Wohnung gezogen bin, war ich mir sicher, den richtigen Schritt gemacht zu haben. Ich war zwar erst wenige Monate hier, fühlte mich aber mehr zu Hause, als ich es in den vergangenen Jahren in meiner Heimat tat. Im Wohnzimmer hingen sogar bereits zwei Bilder. Eines vom Schloss und eines von irgendeinem Dorf. Den Namen des Dorfes konnte ich nicht aussprechen, da er gälisch war. Mir gefiel das Gemälde, und ich wollte mich verändern und heimischer fühlen als früher. Dies war zumindest ein Anfang. Dank meines Jobs hatte ich bereits einige Leute kennengelernt, die ich nach der Arbeit ab und zu in einem Pub traf. Gerade jetzt im Spätsommer waren wir öfters noch im ‚Caledonian‘, und ich begab mich erst spät auf den Heimweg. Nur nicht am Mittwoch, dieser war mein ‚Leseabend‘. Ich nahm ein Buch mit von der Bücherei und setzte mich im Schlosspark an den See und las. Die Luft und der Boden waren herrlich warm vom Sommer, und es blieb relativ lange hell. Bis 23 Uhr war es praktisch taghell. Anders als in Europa, wo wir im Oktober meist schon graue und triste Herbsttage hatten. Glenshire hätte zwar auch Schnee, und es gäbe einen gewissen Ski-Tourismus, und selbst Luklana erhielte jedes Jahr für ein paar Wochen einen weißen Flaum. Mein Geburtstag war im europäischen Sommer, hier würde ich jedoch im Winter feiern. Infolge des Klimawandels und des immer später einsetzenden Schnees in Europa witzelte ich öfters: „Bald werde ich an meinem Geburtstag anfangs Juli in den Alpen Skifahren gehen. Nun, hier würde ich es machen können. Juli war Winter, und in gewissen Regionen würde dann Schnee liegen. Daran wollte ich jetzt aber noch nicht denken. Erst mal mein neues Leben und die kommende Trockenzeit genießen.

Es waren schon einige Monate ins Land gegangen, und der Winter hatte Einzug gehalten. Obwohl ich ein ausgesprochener Sommermensch war, war mir die kalte Jahreszeit hier ziemlich egal. Bis jetzt zumindest. Zu Hause wäre ich längst wieder auf Stellensuche. Nicht so hier. Nicht nur dass mir mein Job gefiel, nein, ich hatte sogar Freunde gefunden, und es war das erste Mal seit Langem, dass ich meinen Geburtstag mit echten Freunden feierte. Wie jeden Freitag trafen wir uns nach der Arbeit im Caledonian. Ein Pub zwischen dem Buchladen und „Ses McDonovan“. Im Gegensatz zu unseren üblichen Treffen würden heute alle Drinks auf mich gehen, und wie die Schotten waren auch die Glenshire dem Alkohol nicht abgeneigt und vertrugen einiges. Es war mir egal. Heute würde so richtig gefeiert werden. Kaum öffnete ich die Tür, rief es auch schon aus einer Ecke: „Hey, Melissa. Hier hinten. Wir haben uns etwas versteckt. So musst du nicht für das ganze Pub zahlen, und es bleibt für uns mehr, da nicht gleich jeder sieht, was abgeht.“ Freudig ging ich zum Tisch. Chris, Tom und Natalie waren schon da. Meine besten Freunde hier in Luklana. Wir verbrachten viel unserer Freizeit zusammen. Kennengelernt hatten wir uns im Bücherladen. Ich unterhielt mich gerne mit den Kunden, und so kam ich mit Natalie und Chris ins Gespräch. Tom lernte ich später erst kennen, als Natalie und ich uns im Pub verabredeten. Sie und Tom führten zu diesem Zeitpunkt eine On-off-Beziehung. Ihr Status war nie genau festgelegt. Auf Facebook hätten sie ‚kompliziert‘ angegeben. Chris hingegen sah ich nie in Begleitung. Da er auch keinen Ehering trug, ging ich davon aus, er habe einfach noch nicht die Richtige gefunden, was mich erstaunte. Er sah gut aus, groß, schlank, blond mit kurzen Haaren, rundes Gesicht und blaue Augen. Er war Arzt an der Universitätsklinik Luklana. Neben seinem charmanten Aussehen hatte er Humor und war ein Mann, mit dem man gerne Zeit verbrachte. Kurz gesagt, er war genau das, was sich eine Frau wünschte. Ich versuchte, einige Male etwas mit ihm zu flirten. Es kam nie etwas zurück. So ließ ich es bleiben und erfreute mich jedoch seiner Freundschaft. Als zufällig einmal Natalie und Chris gemeinsam im Bücherladen waren, lud ich beide zum Essen ein, und so entstand unser Quartett, welches sich nun regelmäßig auf ein Bier traf. Ich freute mich riesig, dass die Verbindung zwischen uns sogar mein Verdienst war. Jedoch musste ich mich erst daran gewöhnen, oder besser, schmerzlich lernen, dass dies nicht zwangslläufig zur Folge hat, dass gemacht wurde, was ich wollte, oder es nicht meine Entscheidung war, welchen Film man im Kino gucken geht. Wir hatten am Anfang öfters heftige Diskussionen, aber ich lernte und passte mich an. Zum Glück nahmen es die anderen mir nicht übel und waren auch nicht nachtragend. Wir begrüßten uns, und mir wurde fleißig gratuliert. Geschenke gab es keine. Dies war in Glenshire nicht üblich unter Freunden. Kaum war ich beim Tisch, hielt mir Natalie einen Flyer entgegen: „Hast du schon gesehen, Melissa? Der König gibt wieder einen Ball. Der Dauphin hat noch immer keine Partnerin gefunden. Das wäre doch etwas für dich.“ Ich hob erstaunt die Augenbrauen: „Einen Ball? So wie früher an den Königshöfen? Zu welchem Anlass? Aber nein, das ist nichts für mich. Danke.“ Während uns der Kellner ein kühles Bier brachte, erzählte mir Chris das Dilemma des Königs: „Seit Glenshire existiert, werden wir von der gleichen Königsfamilie regiert. Wie es der Zufall wollte, jeder Regent hatte einen männlichen Nachfolger gezeugt, und so haben wir eine reine Dynastie. Auch unser jetziger König, Seine Majestät, König Alois Aite Breagha, hat einen Sohn. Den Dauphin Philippe. Nur, der Dauphin ist noch immer Single, und der Monarch macht sich langsam Sorgen um das Fortbestehen der Dynastie.“ Natalie prustete dazwischen: „Genau, und unsere Melissa ist ebenfalls Single, und sie haben nur, was sind es? Drei, vier Jahre Altersunterschied. Also perfekt!“. „Nicht so stürmisch, Nat. Lass es mich in Ruhe erklären, du möchtest doch, dass Meli auf den Ball geht und nicht einen großen Bogen darum macht.“ Wollten die echt, dass ich auf diesen Ball ging und den Dauphin kennenlernte? Einen Thronfolger, für den verzweifelt eine Partnerin gesucht wurde? Ich habe den Dauphin auf einem Foto gesehen. Dieses Foto war aber fast 5 Jahre alt. Zugegeben. Mein Typ, aber dennoch. „… Daher gibt die Königin in regelmäßigen Abständen einen Ball, um möglichst viele junge Frauen anzusprechen. Die heiratswilligen Damen kommen aus dem ganzen Land nach Luklana. Es ist jeweils ein Fest für die ganze Stadt. Nicht nur für den Palast.“ Tom riss mich aus meinen Gedanken, dabei muss ich wohl etwas verwirrt geguckt haben, denn er präzisierte: „Ja, die Leute kommen von allen Provinzen hierher. Jedes Gästezimmer in Luklana ist jeweils belegt, und alle Frauen möchten sich von ihrer besten Seite zeigen. Daher sind diese Bälle auch für uns normalsterbliche Männer ein absoluter Höhepunkt. So viele junge, hübsche und heiratswillige Damen sieht man selten. Darauf ein Prosit. Cheers.“ Wir stießen an. „Sláinte. Aber ich nehme an, einfach so kann man da nicht hingehen, oder? Auf dem Flyer steht ‚in entsprechender Kleidung‘. Was ist darunter zu verstehen?“ Nati konkretisierte: „Kennst du unsere Königin? Sie steht total auf dieses Renaissancezeugs aus Europa. Die Damen müssen in einem Ballkleid wie im tiefen Mittelalter kommen und sich auch so benehmen.“ Tom schüttelte den Kopf: „Nati, wie viele Biere hast du schon getrunken? Renaissance und tiefes Mittelalter sind etwa so nah zusammen wie Luklana und Terzi. Aber recht hast du, die Königin wünscht sich, dass die heiratswilligen Damen in einem Ballkleid wie in der Renaissance vorsprechen.“ „Ich glaube nicht, dass der Dauphin so jemals eine Braut finden wird. Wie viele dieser Bälle hat sie schon gegeben? Acht oder neun? Und der Dauphin ist noch immer Single. Der hat doch einen an der Waffel. Ich habe ihn gerade gestern im Schlosspark ausreiten sehen.“ „Zudem, bedenke. In einer Beziehung leben, ohne einander zu berühren. Welche Frau macht dies schon mit?“ In Gedanken gab ich eine Antwort: „Ich.“ Dies wäre genau die Art Liebesbeziehung, welche ich gerne führen würde. Ich wurde neugierig. „Was heißt ‚Sie dürfen sich nicht berühren‘?“ „Nun, der Dauphin muss höflich und vornehm sein. Dazu gehört, er darf keine Frau, sofern sie nicht zur Familie gehört, anfassen. Es ist ihm unter bestimmten Umständen gestattet, einen Handkuss zu geben oder einer Frau beim Spazieren den Arm als Stütze anzubieten. Ansonsten sind Berührungen absolut tabu. Finde heute mal eine Frau, welche das mitmacht. Ach ja, und sie muss jungfräulich in die Ehe. Da die heutigen Mädchen alle schon mit 15 oder 16 ihr erstes Mal hatten, hat er es noch schwerer, eine zu finden. Der wird ledig bleiben. Wetten wir?“ Dann fiel das Gespräch auf den Schlosspark und weg von diesem Ball, und schon bald waren wir wieder beim Üblichen, nämlich Polospiel und Golf. Bei den Nationalsportarten hier in Glenshire, von welchen ich praktisch nichts wusste. Pferde waren in meiner Jugend zwar ein großes Hobby, mit Polo konnte ich jedoch nie etwas anfangen und mit Golf schon gar nicht. Aber ich lernte dazu, und daher hörte ich einfach meinen Freunden zu, wie sie diskutierten, ob gestern der Schiedsrichter richtig entschieden hatte oder nicht und ob die Pferde vom Gestüt Breach zu dick waren oder nicht.

Schon kurz nach der Ankunft in Glenshire hörte ich, dass die Königin einen Ball geben würde. Es sei ein Tanzabend wie damals, zur Zeit der großen Könige Europas. Klar, ich war neugierig. Aber meine Situation ließ es nicht zu, dass ich unnötig Geld für ein Kostüm ausgab, nur um mal ins Schloss zu kommen. Einige Wochen später gab es bereits den nächsten Ball – und immer sei der Ball sehr gut besucht gewesen, hieß es am Tag danach. Nach ein paar Monaten fragte ich den Inhaber des Buchladens, was es mit diesen Veranstaltungen genau auf sich habe. „Der König ist in Ordnung und ein guter Monarch. Wir mögen ihn. Die Königin jedoch ist etwas speziell. Sie war ursprünglich eine Bürgerliche vom Westen, welche immer von den großen Zeiten der Könige träumt. Irgendwie hat sie es geschafft, dass der damalige Dauphin Alois auf sie aufmerksam wurde und sich sogar in sie verliebte. Seit der Heirat sah man die Dauphine nur mit diesen alten, protzigen Kleidern. Als der Dauphin gekrönt wurde, wurde es noch schlimmer. Jeder am Hof musste sich so anziehen, auch die Bediensteten bekamen neue Uniformen. Kostete den Steuerzahler ein Vermögen. Die Schneider von Luklana freute es. Sogar ihr Sohn musste entsprechende Fummel tragen. Den Dauphin Philippe sieht man nur in mittelalterlichen Königskleidern – selbst an der Uni. Schon speziell. Der Dauphin ist noch nicht verheiratet, was dem König und der Königin Sorge bereitet. Er ist bereits in seinen 30ern und noch immer ledig. Daher gibt die Königin regelmäßig Bälle, damit möglichst viele heiratswillige Frauen kommen und der Dauphin sich endlich verliebt.“ Aha, klingt nach Heiratsvermittlung. Aber es schien, als hätte die Königin das Sagen am Hof und alle müssten sich ihr unterordnen. Und dieser Dauphin Philippe musste schon speziell sein. Er kannte die meisten jungen Frauen von Glenshire und hatte dennoch die Passende nicht gefunden? Gut, ich war in der Zwischenzeit auch in meinen 30ern angekommen und noch immer ledig und nicht verliebt. Immerhin bin ich vor etwas über einem Jahr erst ausgewandert, kenne noch nicht sehr viele Leute hier und lebte bis vor Kurzem in einer Beziehung. Ich traf mich zwar mit Freunden, allerdings waren dies mehrheitlich die gleichen 3 Personen. Vielleicht müsste ich mich etwas mehr unter die Bevölkerung wagen und nicht nur immer mein Lieblingspub aufsuchen. Mit Chris versuchte ich mehrfach zu flirten. Er erwiderte meine Versuche nicht, und daher ließ ich es irgendwann.

Kapitel 3