Schmikalings Reise - Ricarda Wullenkord - E-Book

Schmikalings Reise E-Book

Ricarda Wullenkord

4,9

Beschreibung

Mika war ein normaler kleiner Junge von 4 Monaten. Doch von einem Tag auf den anderen fiel diese normale kleine Welt in Scherben, denn er wurde schwer krank. Seine Eltern brachten ihn ins Krankenhaus und nach kurzer Zeit der Unklarheit kam seine niederschmetternde Diagnose: Mika hatte Krebs. Er litt an einem extrem seltenen und extrem bösartigen Hirntumor – einem atypischen teratoiden Rhabdoidtumor. Mika ist 3 Wochen nach der Diagnose Krebs im Alter von nur 5 Monaten und 27 Tagen umgeben von seiner Familie und in den Armen seiner Mutter gestorben. Dieses Buch erzählt seine Geschichte. Von seiner Geburt, seinem Leben, seinem harten und tapferen Kampf, und seinem Sterben. Und es erzählt die Geschichte seiner Eltern, von ihrem Kampf, der mit seinem Tod erst richtig begann. Dem Kampf gegen die Trauer und die Hilflosigkeit. Dem Kampf mit dem Alltag. Aber das Buch erzählt auch eine andere, eine wunderbare Geschichte. Die Geschichte davon, wie das Leben mit dem Tod nicht vorbei ist. Wie Mika weiterlebt und seinen Eltern Zeichen schickt. Wie er sagt: Ich bin bei euch, auch wenn ihr mich nicht mehr sehen könnt. Und ich werde auf euch warten.

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Für Mika. Mein Kämpfer, mein geliebtes Kind, mein Schmetterling. Ich werde dich immer lieben.

Hallo.

Ich möchte mich vorstellen. Ich bin die Mama von Mika. Mika ist mein Schmetterlingskind. Er ist diesen Sommer in den Himmel geflogen. Wie ein kleiner Schmetterling hat er nur kurz bei uns verweilt und sich dann wieder auf den Weg gemacht. Wie ein Schmetterling an einem Sommertag hat er uns Freude gespendet, und umso schwerer ist der Verlust. Dieses Buch hat als Blog zur Verarbeitung begonnen. Aber er ist gewachsen, hat sich entwickelt, und ein Buch wurde geboren. Ich will unsere Geschichte erzählen, von Schmetterlingspapa, Schmetterlingsmama und Schmetterlingsmika. Davon, wie es begonnen hat und wie es endete. Ich will in kleinen Häppchen erzählen, was passiert ist, wer er war, wie er gekämpft hat. Wie tapfer und liebenswert er war. Wie er uns auch jetzt noch nicht alleine lässt, obwohl er wegflog. Ich will meine Liebe, meine Trauer, meine Wut, meine Verzweiflung, meinen Hass und meine Hoffnung aufschreiben, in der Hoffnung, dass das Rauslassen etwas hilft. Außerdem will ich meine spirituelle Erfahrung, die mit seinem Tod erst begann, teilen. Dieses Buch hat ein paar Ziele. Ich wünsche mir, dass Mika so viele Menschen treffen wird, wie er hätte treffen dürfen, wäre ihm ein normales Leben vergönnt gewesen. Danke, dass ihr mit dem Lesen dabei helft. Ich wünsche mir, dass es euch helfen kann, euch anderen Eltern die in Trauer sind, und die leiden. Ich möchte euch sagen: „Ihr seid nicht allein in eurem Schmerz. Wir teilen das gleiche Leid.“ Ich möchte mit der Geschichte zeigen, wie wir gefallen sind, gelitten haben und immer noch leiden, und wie wir wieder aufstehen. Ich möchte zeigen, dass man es schaffen kann. Ich kann nur unseren Weg zeigen, aber vielleicht werdet ihr euch darin wiederfinden. Seid willkommen, aus welchen Gründen auch immer ihr dieses Buch in der Hand haltet. Ob aus eigenem Schmerz, aus Neugier, durch Zufall, aus Langeweile … Willkommen.

Inhaltsverzeichnis

Mikas Geschichte

Schmetterlinge im Bauch

Flatterherz

Zauberlächeln

Zwischen Traumgeburt und Geburtstrauma

Sonntagskind

Dunkle Wolken

Lichtgeschwindigkeit

Nahrung und Nähe

Lieder

Heilende Seele

Der Anfang vom Ende

Arbeitsdiagnose: Wird schon wieder

Scherben

Freier Fall

Wegweiser

Loslassen

Auf in den Kampf

Achterbahn

Das Auge des Sturms

Eskalation

Intensivstation

Gemeinschaft

Bergauf?

Diagnose? Fehlanzeige

Worst case

Hiobsbotschaften

Ready – set – go!

Vorbereitungen

Tintenschmerz

Halbe Chemo

Die letzte OP

Neue Wege

Kleine Schritte

Junge Seele

Zerstörung

Sonnentag

Déjà-vu

Letzte Versuche

Abschiedsgruß

Flieg, mein Schmetterling

Fotoalbum

Fort

Zu Hause?

Aussegnung

Ruhestätte

Schmetterlingswachen

Getragen für immer

Asche und Staub

Teddybär

Glaubensfragen

Beerdigungsvorbereitungen

Schmetterlingsbeisetzung

Das Ende?

Verarbeitung

Erbe

Nichts mehr

Dunkeltage

Wünsche

Die Farben der Trauer

Was ich noch wollte

Yolo?

Für immer

Jeden Tag neu

Wer ich bin

Schwarze Gedanken

Folgewunder

Kämpfer

Geburtstag

Atmen

Dilemma und Zwiespalt

Zeichen von Mika

Besuch

Regenbogenzeichen

Trost

Schmetterlinge

Bauchgefühl

Gewissheit

Weihnachten mit Schmetterling

Mika – Challenge: Lichter in der Dunkelheit

Briefe an Mika

ATRT – Angels

Mikas Geschichte

Schmetterlinge im Bauch

Dein Schmetterlingspapa und ich sind im Februar umgezogen und wollten schnell ein Baby haben. Genug Platz hatten wir ja jetzt und auch die sonstigen Gegebenheiten, was Arbeit etc. anging, passten einigermaßen. Wir haben uns gesagt: „Den richtigen Zeitpunkt gibt es sowieso nicht.“ Ich hatte mich informiert, auf was man so achten muss, um zu erkennen, wann mein Körper fruchtbar ist und wir haben es von Anfang an sehr darauf angelegt, dass es schnell klappt. Wir haben also nicht einfach mal geschaut was passiert, sondern direkt auf die Signale geachtet. Eines Tages hatte ich dann ein komisches Pieksen im Bauch. Ich weiß jetzt, dass das der Zeitpunkt war, als du, mein kleiner Schmetterling, dich in mir festgekrallt hast. Im Endeffekt habe ich schon vor dem Test gewusst, dass ich schwanger bin. Ich habe Pickel bekommen, mir war ein bisschen komisch und als dann meine Tage einen Tag auf sich warten ließen, wo ich sonst immer wie ein Uhrwerk funktioniert hatte, habe ich einen Test gemacht. Morgens, als dein Schmetterlingspapa noch geschlafen hat. Ich habe im Bad gesessen, hielt den Test in der Hand und zitterte am ganzen Körper. Ich habe geweint wie ein Schlosshund. Kleiner Schmetterling, da wusste ich, dass du in mir wächst und ich war so unendlich glücklich! Dein Schmetterlingspapa dachte erst, ich wäre unglücklich, weil ich so weinte. Aber im Gegenteil, ich war außer mir vor Glück! Wir haben es auch direkt allen erzählt. Mein kleiner Schmetterling, deine Omi war so froh, dass sie draußen auf dem Parkplatz in Dortmund geschrien hat. Wir haben viele Glückstränen gesehen, von all deinen Großeltern. Sie kannten dich zwar noch nicht, aber sie haben sich schrecklich über dich gefreut. Es stand uns noch eine lange Wartezeit bevor, doch der Traum war bereits in Erfüllung gegangen: Du warst da. Ich habe dich von der ersten Sekunde an geliebt, auch als du noch ein kleiner Haufen Zellen warst, so klein, dass man dich mit bloßem Auge nicht einmal sehen konnte. Zum Glück wussten wir nichts davon, dass du uns so früh schon wieder verlassen würdest. Wir waren die glücklichsten Menschen der Welt.

Flatterherz

Die Schwangerschaft mit dir war toll. Du warst sehr vorsichtig mit mir, ich hatte keine Schwierigkeiten und mir ging es einfach nur gut. Wir mussten ein ganzes Weilchen warten, einen Bluttest machen, um zu bestätigen, dass du auch wirklich da warst; auch wenn wir es im Grunde längst schon wussten. Und dann sollten wir dich endlich sehen! Dein Schmetterlingspapa ist mitgekommen, wie auch danach zu allen weiteren Untersuchungen. Er wollte alles von dir mitkriegen. Ich hatte dich in mir und spürte dich, aber er musste dich sehen, um zu realisieren, dass du wirklich da bist. Sie sagten uns vorher, dass es sein kann, dass dein Herzchen noch nicht schlägt, weil es noch zu früh ist, und dass ich dann auch meinen Mutterpass noch nicht bekommen würde. Aber wir haben es gesehen. Dein kleines Flatterherz schlug wie wild, du warst am Leben. Und wie du gelebt hast! Der Moment, in dem ich dein Leben mit meinen eigenen Augen sehen konnte, war unglaublich. Du warst noch so klein, aber hattest schon ein so kraftvolles Herz. Es ist jedes Mal ein Wunder, aber das war unser ganz persönliches Wunder. Ich habe von da an jeden Tag in mich reingefühlt und war ganz von Freude erfüllt. „Vorfreude ist die schönste Freude“, sagt man. Und so haben wir einfach auf dich gewartet, uns auf dich gefreut und uns gesehnt nach dem Tag, an dem wir dich endlich kennenlernen durften, kleiner Schmetterling.

Zauberlächeln

Langsam, ganz langsam bist du in mir gewachsen, bist immer größer und spürbarer geworden. Stück für Stück bist du zu einer kleinen Person herangewachsen. Jede Woche habe ich nachgelesen, wie du jetzt wohl aussiehst, was an dir hinzugekommen ist, was du gelernt und wie du dich entwickelt hast. Ich habe mich immer schrecklich auf die Ultraschalluntersuchungen gefreut; zu sehen, wie du immer weiter gewachsen bist und immer sichtbarer wurdest. Entspannt hast du in mir gelegen wie in einer Hängematte. Immer wieder haben uns die Ärzte bestätigt, wie gesund und kräftig du bist. Ein großes, schlankes Kind, haben sie gesagt. Wie die Eltern. Alles an dir schien perfekt. Dann haben wir erfahren, dass du ein Junge wirst. Ich habe deine ersten Bewegungen gespürt und dein Schmetterlingspapa konnte dich auch endlich von außen spüren. Dich streicheln und mit dir reden. Du hast ihm gerne ins Ohr getreten, wenn er seinen Kopf auf meinen Bauch gelegt hat. Du warst ein ganz aktiver Zappelmann. Und eines Tages ist noch ein kleines Wunder passiert. Wir haben dich dank moderner Technik das erste Mal in 3D sehen dürfen. Und durften dein Lächeln sehen. Es war wunder-wunderschön, zu wissen, dass du in meinem Bauch liegst und zufrieden lächelst. Du hast dich geborgen und sicher gefühlt, mein kleiner Schmetterling, und dein Zauberlächeln hat auch uns verzaubert.

Zwischen Traumgeburt und Geburtstrauma

Du solltest laut allen Berechnungen am 13.02.2015 zur Welt kommen. Hätte man mich ein Jahr vorher gefragt, wie ich ein Kind zur Welt bringen möchte, hätte ich aus tiefster Überzeugung gesagt: geplanter Kaiserschnitt. Wie schlecht ich mich da doch selbst kannte. Ich habe mich, während du in mir gewachsen bist, ganz viel damit auseinandergesetzt, wie du auf die Welt kommen sollst – und vor allem wo. Ich habe viele Dinge gelernt. Zum Beispiel, dass du durch einen Kaiserschnitt ein höheres Risiko gehabt hättest, Asthma und andere Probleme zu bekommen. Oder dass eine PDA nur bedeutet hätte, dass ich weniger Schmerzen habe. Du aber hättest mehr gehabt, weil meine Endorphine gefehlt hätten, um dir zu helfen. Ich habe überlegt, gegrübelt – und eine Entscheidung getroffen. Im Geburtshaus solltest du kommen, ganz natürlich, ohne viel Schnickschnack. Ohne Ärzte, ohne Zeitplan, ohne Druck. Geborgen und schön. Ich war mir der möglichen Konsequenzen bewusst, aber ich habe in dich und mich tief vertraut. Ich habe dem Termin entgegen gefiebert. Und pflichtbewusst kam am 13. Februar um 22 Uhr meine erste Wehe. Die erste von sehr, sehr vielen. Du hattest nämlich Zeit, kleiner Schmetterling, und mein Körper wollte sich auch Zeit nehmen. Die Wehen kamen und gingen. Mal alle 15 Minuten, mal alle 8, mal alle 5. Geschlafen habe ich nicht viel. Deine Hebamme kam, wir waren baden und entspannen. Der Muttermund wollte einfach nicht aufgehen, ich wollte dich noch nicht loslassen. Der Samstag kam und ging. Deine Hebamme kam und ging wieder. Die Wehen wurden immer stärker. Mal alle 7 Minuten, mal alle 4. Ich habe nachts das Haus zusammengeschrien. Am Sonntagmorgen um 5 Uhr war meine Kraft zu Ende – so dachte ich. Unsere Hebamme sagte: nicht aufgeben. Wir treffen uns und dann sehen wir. Um halb 7 waren wir im Geburtshaus. Dein CTG war in Ordnung, du warst so stark! Über 30 Stunden Wehen hast du weggesteckt wie einen Waldspaziergang. Wir sind wieder baden gegangen. Ich habe geschrien, geweint, war verzweifelt. Wusste nicht, wie ich weitermachen soll. Dachte, ich sei am Ende. Dann kam das Ergebnis: 8 cm hatten wir geschafft. Über Nacht passiert. Ich habe wieder geweint, diesmal vor Erleichterung. Ich wusste, du bist bald da. Du bist auf dem Weg. Dein Schmetterlingspapa hat getan was er konnte, um uns zu helfen. Am Ende mussten wir aus der Wanne raus, weil ich nicht wusste, wie ich dir raushelfen sollte. Positionswechsel nach Positionswechsel. Zwei Meter laufen, unter den Wehen auf die Knie fallen. Becken kreisen lassen, Raum schaffen. Dann zum Geburtsraum. Vor dem Bett auf die Knie fallen. Ich konnte dich schon fühlen! Noch 3, noch 2, noch eine Wehe. Und dein Kopf war da! Du hast kurz gequakt, wusstest du doch nichts damit anzufangen, dass dein Kopf nun frei war und der Rest noch gefangen. Eine letzte Wehe. Und du warst da. Ich habe dich zwischen mir hervor geholt, vor mich gelegt. Dich bewundert. Du warst so schön! So wunderschön. So klein und so perfekt. Du hast nicht geweint, nicht eine Sekunde. Du hast dir das Fruchtwasser aus den Augen geblinzelt und uns angeschaut, mit deinen traumhaft blauen Augen. Wo warst du da? Du wolltest sehen, bei wem du gelandet bist. Als wir dann auf dem Bett lagen, du auf meinem Bauch, recht weit unten, weil deine Nabelschnur sehr kurz war, hast du deinen Kopf gehoben und mich angeschaut. Direkt nach deiner Geburt hattest du dafür noch Kraft. Dein Schmetterlingspapa hat deine Nabelschnur durchgeschnitten, nachdem sie auspulsiert war, unser gemeinsamer Kreislauf nicht mehr gebraucht wurde, weil du jetzt mehr ein Du warst und weniger ein Wir. Dein Papa hat geweint, als er dich sah. Er hat dich so geliebt mein Schmetterling. Er hat sich so gefreut, dich kennenzulernen. Kurz danach hattest du das erste Mal Hunger. Es fühlte sich trotz der Schmerzen alles so gut und so richtig an. Du warst bei mir, in meinem Arm. Da, wo du sein solltest. Entspannt und geborgen warst du, weil du die Liebe spüren konntest, die dich von allen Seiten umfangen hat. Die Geborgenheit in mir wurde ersetzt durch einen Kokon aus Liebe, mit dem wir dich umsponnen haben, von der ersten Sekunde bis zur letzten.

Sonntagskind

Du warst ein Sonntagskind. Sonntagmorgen, am 15.02.15 um 10:48 Uhr hast du das Licht der Welt erblickt. Zur besten Frühstückszeit. Am Nachmittag waren wir schon wieder zu Hause. Kuschelzeit. Kennlernzeit. Wieder-auftanken-Zeit. Du warst so neu und so bewundernswert. Und wie wir dich bewundert haben! Stundenlang haben wir dich angesehen, vorsichtig und am Anfang ängstlich betastet. Deine kleinen Hände, dein zartes Gesicht, dein dünner Körper. Deine feinen, flaumigen Haare. Wir haben dich berührt, gestreichelt, deinen Geruch in uns aufgenommen. Wie wunderbar du gerochen hast. So weich und warm. Ich wünschte, man könnte den Geruch neugeborener Babys einfangen, er ist das tollste auf der Welt. Du hast uns angesehen und wir haben dich angesehen. Haben weitere Stränge zu dem Band hinzugefügt, das uns verbunden hat. Du warst sehr aufmerksam für ein so kleines, neues Wesen. Hast alle Reize in dich aufgesogen. Deine Großeltern sind dich besuchen gekommen und haben dich ebenso bewundert wie wir. Und du hast auch sie so intensiv betrachtet, wolltest sie ganz in dich aufnehmen. Als es Abend wurde und du den ersten Tag auf der neuen Welt erlebt hattest, konnten wir schon sehen, was für ein Mensch du werden solltest. Dein Charakter war schon sehr deutlich. Du warst ein ruhiges, ausgeglichenes und zufriedenes Kind. Aufmerksam und klug, aber auch sehr empfindlich und sensibel. Laute Geräusche mochtest du nicht und du brauchtest viel, viel Körperkontakt. Du solltest zwischen uns im Bett schlafen, geborgen zwischen unseren beiden Körpern, aber in der ersten Nacht war dir das noch zu schwer. Dein Schmetterlingspapa hat dich auf seine Brust gelegt und hat die Nacht halb sitzend im Bett verbracht, damit du schlafen konntest. Sein Rücken und seine eigene Erholung waren ihm ganz egal, damit du dich sicher fühlst. So hast du am Anfang die allermeiste Zeit verbracht: auf und an uns. Du mochtest es nicht, wenn man dich ablegen wollte. Und heute weiß ich, warum. Du wusstest, dass deine Zeit kurz war und wolltest sie so intensiv nutzen wie möglich. Ich bin froh, dass wir dir das gegeben haben. Auch wenn wir zu Beginn manchmal verzweifelt waren, weil du nicht so „funktioniert“ hast, wie wir es erwartet hatten, wie man es uns erzählt hatte und wie man es manchmal liest. Wir haben nicht versucht, dich in eine Form zu bringen, dich an unser Leben anzupassen, sondern wir haben uns und unser Leben an dich angepasst. Dafür bin ich heute sehr, sehr dankbar.

Dunkle Wolken

Mein kleiner Schmetterling, ich habe am Anfang viel, viel geweint. Ich wusste lange Zeit nicht warum. Schon in der Schwangerschaft habe ich das weltschlimmste Thema gefunden und mich ganz darin versenkt: Sternenkinder. Ich habe so viel getrauert, um Kinder die nicht leben durften. Man hat mich nach dem Warum gefragt und mich ermahnt, mich nicht damit zu quälen. „Es kann auch alles gut gehen”, hat jemand zu mir gesagt. Ja. Kann. Muss aber nicht. Ich wusste selbst nicht, warum ich mich damit so quäle, wo du doch so gesund warst und ich mit dir so glücklich. Aber es hat mich einfach nicht losgelassen und mich bis in die Nacht und in meinen Schlaf verfolgt. Als du dann da warst, habe ich dich manchmal angesehen, und musste so schrecklich weinen. Ich hatte solche Angst, dass dir etwas passiert, dass ich dir nicht helfen kann. Ich habe dich ganz fest umarmt, dich geküsst und gestreichelt und dir versprochen, dass ich immer für dich da sein werde. Und dass ich so lange ich lebe und so sehr es in meiner Macht steht versuchen werde, alles Übel von dir fernzuhalten. Aber warum nur war ich so traurig? „Wochenbettdepression“, hab' ich gedacht. Hormone. Ganz normal, geht weg. Einfach aushalten, Zeit nehmen zum Traurig sein und dann verschwindet der Spuk. Jetzt weiß ich es besser. Ich wusste, dass du gehen würdest, irgendwann. Dass ich dich nicht beschützen kann. Bauchgefühl, sagt man zu sowas. Instinkt vielleicht. Aber man erlaubt sich nicht, darauf zu hören, denn die Vorstellung ist zu schrecklich. Man schiebt es weg. Und das ist gut und richtig. Wir haben die wunderbarste Zeit gehabt, alle zusammen. Hätte ich die dunkle Wolke über unseren Köpfen nicht weggepustet, hätte sie die ganze Zeit auf uns geregnet. Ich wollte aber Sonne, für dich, mein Schmetterling, für mich und deinen Papa. Und davon hatten wir eine Menge. Bis die dunklen Wolken irgendwann am Horizont wieder aufgetaucht sind und meine Puste nicht mehr ausgereicht hat. Aber bis dahin hatten wir die allersonnigste Zeit der Welt.

Lichtgeschwindigkeit

Eine Sache ist sicher: Du hast deinem Namensvetter aus dem Rennsport alle Ehre gemacht. Denn eins warst du immer: schnell. Schnell, schnell, drehen lernen, schnell greifen lernen, schnell lächeln lernen, schnell, schnell, schnell. Mit drei Wochen hast du angefangen, dich auf die Seite zu drehen. Ich dachte, mich trifft der Schlag. Du hast deine kleinen Ärmchen und Beinchen hochgereckt und dich auf die Seite fallen lassen. Du hast von Anfang an deinen Kopf gehalten. Du warst ein richtig starker Kerl. Als du begonnen hast, zielgerichtet zu greifen, hat man mir gesagt, ich bilde mir das ein, das könne noch nicht sein. Und doch hast du es gemacht und ich habe es gesehen. Als du dich das erste Mal herumgedreht hast, hast du mich verschmitzt von unten angeschaut, als wolltest du sagen: „Schau mal, was ich kann!“ Das Bild ist verschwommen, aber ich liebe es. Mit knapp 4 Monaten hast du begonnen empathisch zu sein. Es ist unglaublich, hatte ich doch gelesen, das lernst du so mit 3. Ich war sehr traurig an dem Tag und habe geweint. Und was machst du? Du bist nicht unruhig, du weinst nicht. Nein, du schaust mich an und lächelst mich an. „Mama, sei nicht traurig“, hat das Lächeln gesagt. Es hat mir fast das Herz zerrissen, dieses Lächeln. Und dass es keine Einbildung war, habe ich danach viele Male sehen dürfen, das letzte Mal war dein Abschiedsgruß. Aber davon will ich jetzt noch nicht sprechen. Jetzt soll es darum gehen, was du für ein Rennfahrer auf der Lebensstrecke warst. Mit 5 Monaten hast du noch im Krankenhaus den Pinzettengriff gelernt, auf einmal war er da. Unglaublich, wie schnell du sein wolltest. Manchmal, noch bevor alles passiert ist, habe ich dich gefragt: „Warum willst du denn nicht klein sein?”. Jetzt weiß ich es. Du wusstest, du hast keine Zeit zu verlieren. Deshalb bist du gerannt, durch alle Entwicklungsschritte. Wie ein Blitz. Und das unglaublichste daran ist: das Monster in deinem Kopf war ja schon da. Du hättest langsam sein sollen, entwicklungsverzögert, besonders in der Motorik. Aber du kleiner, tapferer Junge hast dem Monster den Finger gezeigt und gesagt: „Interessiert mich nicht, was du da machst. Du kannst mich nicht ausbremsen.“ Mein kleiner Kämpfer, ich hab es dir oft gesagt, ich bin so unendlich stolz auf dich. Du hast dein kleines Leben in vollen Zügen ausgenutzt, mit vollen Händen deine Zuneigung ausgeschüttet. Und ich bin so froh, dass wir dich dabei begleiten durften, dein Schmetterlingspapa und ich.

Nahrung und Nähe

Wir hatten eine tolle Stillbeziehung, wir zwei, aber sie war nicht ganz ohne Startschwierigkeiten. Denn aller Anfang ist schwer und es tat weh ohne Ende. Du hast es immer prima gemacht, wusstest genau, wie du zupacken musstest und warst so vorsichtig, wie du konntest. Gierig zwar, aber auch sehr zärtlich. Aber ich war einfach noch nicht daran gewöhnt. Meine Hebamme hat mir hinterher irgendwann verraten, dass sie sich nicht sicher war, ob es bei uns klappen würde. Aber wir haben durchgehalten. Wunde Stellen eingecremt, Stilltee und Malzbier getrunken und immer weitergemacht. Du armer Junge musstest am Anfang so viel Geduld haben mit mir. Mein Milchspendereflex ließ sich einfach nicht auslösen und du hast manchmal 10 Minuten gearbeitet, bis ich dir etwas Nennenswertes geben konnte. Aber geduldig warst du ja bis zum Schluss. Und Übung macht den Meister, das haben wir gelernt. Mal wollte die eine Seite nicht, dann die andere, aber zusammen haben wir es geschafft. Nach 2 Monaten waren die Schmerzen weg und es pendelte sich langsam alles ein. Wir haben gestillt, wo und wann wir wollten. In Meetings im Büro, im Kaufhaus, im Restaurant, im Garten, im Auto, zu Hause im Bett, es war uns ganz egal. Es war abends immer so schön, wenn du dich an meiner Brust entspannt hast und langsam in den Schlaf geglitten bist. Du hast dich ganz sicher gefühlt. Und ich hatte dich so nah bei mir. Wir waren zwei Teile eines Ganzen.

So wenig ich es will, so kommen wir in deinem Leben langsam immer wieder zu der Zeit, in der es nicht mehr schön war. Noch will ich nicht ganz dahin, nicht alles beschreiben, aber ich will davon erzählen, wie schlimm es war, dich nicht mehr stillen zu können. Mein armer, armer Junge, wir waren so traurig, wir beiden. Das Monster in deinem Kopf hat dich nicht mehr gelassen. Von einem Tag auf den anderen nicht. Du musstest so schlimm spucken. Ich musste abpumpen, habe Tag und Nacht gepumpt, damit die Menge nicht zurückgeht. Ich wollte doch da sein für dich, wenn du wieder gesund wirst. Es hat mir so wehgetan, dass es nicht mehr ging, obwohl du und ich beide so gern wollten. Ernährung hatte bei uns so viel mit Nähe zu tun. Wieder sitze ich hier und die Tränen laufen nur so, wenn ich daran denke. Manchmal musstest du schon brechen, wenn du nur eine Brust gesehen hast. Der Terrorist in deinem Kopf war so grausam. Am Ende habe ich nicht mal 10 ml mit der Flasche in dich herein bekommen. Auch eine Magensonde half nichts. Du hast gebrochen und gebrochen, bis nur noch Blut kam. Von einem Tag auf den anderen war unsere herrliche Stillbeziehung zertrümmert. Unsere Symbiose zerschlagen. Mit großer Gewalt zerstört. Bis zum Ende habe ich alles versucht für dich, aber nichts hat geholfen. Sie haben mir hinterher Tabletten gegeben, gegen die Milch, als alles vorbei war. Mein Körper wollte nicht akzeptieren, was mein Kopf nicht verstehen konnte: du warst weg. Die Milch, die für dich sein sollte, und die ich so sorgsam gepflegt hatte, war einfach überflüssig. Sinnlos. Ich habe dort gesessen, mit meiner vollen Brust und meinem leeren Herz, und es war so, so schwer. Vierzehn lange, schmerzvolle und grausame Tage hat es gedauert, bis es vorbei war. Aber ganz am Ende haben wir dem Monster noch einmal den Finger gezeigt. Denn ich habe dir noch etwas von deiner Milch mitgegeben. Du hast ein bisschen davon mit in dein neues zu Hause genommen, unter deinen Baum. Wenigstens das konnte ich noch für dich tun.

Lieder

Eigentlich müsste ich langsam hin zu dem kommen, was schlimm ist. Aber ich trau mich nicht. Ich tänzle um das Thema herum wie um ein Feuer. Komme ihm mal näher – und dann entferne ich mich wieder. Bloß nicht zu nah, bloß nicht verbrennen. Und auch heute betrachte ich es nur aus der Ferne, von wo es zwar auch Angst macht, aber noch nicht so heiß ist, dass die Haut aufspringt und die Haare Feuer fangen. Deshalb will ich heute von der Musik erzählen. Du hast eine besondere Beziehung zur Musik gehabt, kleiner Schmetterling. Deine Schmetterlingsmama singt viel und laut. Im Auto, zur Musik. Damit hast du dich entwickelt, in meinem Bauch. Hast es sicher manches Mal gehört. Wie du es gefunden hast, weiß ich nicht, denn reagiert hast du darauf damals noch nicht. Irgendwann, als du dann da warst, habe ich begonnen, für dich zu singen. Erst Schlaflieder: „Laa, lee, luu“, „Guten Abend, gute Nacht“. Du warst immer ganz ruhig, wenn ich für dich gesungen habe. Manchmal haben wir auch getanzt zusammen. Du auf dem Arm oder im Tragetuch und ich zur Musik aus dem Radio. Das hat dir gut gefallen. Manchmal, wenn du schlecht gelaunt warst, hat dir das Singen und Tanzen geholfen. Später kamen dann mehr Lieder dazu, denn mir sind immer mehr wieder eingefallen. „Hoppe hoppe Reiter“, da musstest du immer grinsen. „Häschen in der Grube“, „Die alte Moorhexe“, „Ein Mann, der sich Kolumbus nannt“. Kinderlieder, aber auch Erwachsenenlieder. „I see fire“, „Glücklich“, „Phänomenal egal“. Deine Omi hat „Wie das Fähnchen auf dem Turme“ für dich gesungen, ganz schief, und du fandest es toll. Das war dein Lieblingslied später. Das und das von Pippi Langstrumpf, was du erst kurz vor dem Krankenhaus kennengelernt hast. Du wurdest immer ganz ruhig und hast zugehört. Und wenn dir ein Lied gefallen hat oder du schon wusstest, dass du es kennst und magst, hast du gelächelt. Ganz entspannt und freudig warst du. Auch dein Opa hat für dich gesungen, auf der Intensivstation, in der Nacht und am Tag. Du selbst warst auch ein Kind der Töne. Du hast nicht gebrabbelt, nicht wie andere Kinder in deinem Alter. Du hast Töne gemacht. „Hmmmmmm“ gesummt. Gebrummelt wie ein kleiner Bär. Geknurrt hast du zuletzt und wir haben zurück geknurrt. Das fandst du toll. Die Musik hat uns verbunden, bis zuletzt. Als du nicht mehr viel spielen konntest, weil du zu schwach und müde warst, habe ich für dich gesungen. Leise und laut. Manchmal fröhlich und manchmal mit einer Stimme, die immer wieder gebrochen ist, einfach nicht funktionieren wollte, weil die Augen schon übergelaufen sind vor Schmerz. Bis zum Ende hast du es geliebt. Als die zwei Krankenhaus-Clowns dich besucht und für dich zur Gitarre gesungen haben, hast du ganz genau gelauscht; so ernst, dass alle um dich herum sehr beeindruckt waren, denn das Lied war ein langes. Und auch als du gehen musstest, habe ich gesungen. Dich in meinem Arm gewiegt und gesungen, während du dich auf den Weg gemacht hast. Ich habe meinen ganzen Schmerz in diese Lieder gesteckt und ihn so in etwas Schönes umgewandelt. Auch auf deiner Beerdigung haben wir für dich gesungen. „Halleluja“. Alle zusammen. Und ich bin sicher, du hast zugehört, ich war extra laut für dich. Und auch jetzt singe ich. Ich weiß, manchmal sitzt du dann irgendwo und hörst zu. Und ich weiß, manchmal lächelst du mich dann an, mit deinem liebenswerten, zahnlosen Lächeln. Auch wenn ich es nicht mehr sehen kann.

Heilende Seele

Ich möchte davon erzählen, wie du mich gesund und frei gemacht hast, kleiner Schmetterling. Ich hätte dir so gern persönlich irgendwann davon erzählt und mich bei dir bedankt, aber vielleicht hörst du mit, wenn ich das hier schreibe. Ich war selber noch ziemlich jung, nicht so jung wie du, aber auch noch nicht ganz erwachsen, da ist die Angst bei mir eingezogen. Sie hat nicht angeklopft, hat sich nicht vorgestellt, hat kein Gastgeschenk mitgebracht, sie ist einfach eingezogen und hat sich breit gemacht. Sie hat sich ausgebreitet und immer mehr Raum eingenommen. Mal hat sie sich für eine Weile ein bisschen zurückgezogen, aber meistens war sie da, saß dick und fett auf meiner Brust und hat mir die Luft zum Atmen genommen. Es war keine Angst vor irgendwas Bestimmtem, trotzdem war sie einfach da. Ich habe viele Jahre sehr darunter gelitten, habe alles Mögliche versucht. Mal ging es besser, mal schlechter. Aber besiegen konnte ich sie nie. Dann kamst du. Du hast heller gestrahlt als alles andere. Schon bevor ich dich in den Armen halten durfte hast du so hell geleuchtet, dass die Angst es selbst mit der Angst bekam und sich in das Loch zurückzog, aus dem sie gekommen ist. Das, was ich jahrelang, ja fast ein Jahrzehnt lang versucht hatte, das hast du innerhalb von ganz kurzer Zeit geschafft. Du hast Frieden und Gelassenheit geschenkt und wenn du bei mir warst, deine kleinen Hände mein Gesicht gestreichelt haben, ich deine kleinen Laute hören und dein Lächeln sehen durfte, du beim Stillen gedankenverloren und mit geschlossenen Augen alles ertastet hast, dann war es, als hätte es sie nie gegeben. Du hast mich heil gemacht. Und auch wenn sie vielleicht ab und zu nochmal ihr schmutziges Haupt aus dem Loch strecken wird, dann werde ich sie hoffentlich anschauen können und dein Licht auf sie leuchten lassen, sodass sie sich ganz schnell wieder verzieht. Dahin, wo sie herkam. Du hast eine heilsame Seele. Auch als du schon im Krankenhaus warst, haben Menschen, die dir gern positive Energie schicken und dir helfen wollten, die Krankheit zu besiegen, oft das Gefühl gehabt, nicht sie hätten dich geheilt und gestärkt, sondern du sie. Du bist so ein friedliches, starkes, gelassenes und schönes Kind gewesen, von außen und von innen. Die Ärztin, die dich behandelt hat, sagte, Kinder, die so ein Schicksal tragen müssen, zeichnen sich immer durch einen besonderen Charakter, eine besondere Reife aus, egal wie alt sie sind. Das konnte man an dir ganz deutlich sehen. Und wenn wir uns wiedersehen, kleiner Schmetterling, und du mich abholst, wenn ich gehe, dann werde ich dich fest in die Arme nehmen und Danke sagen.

Der Anfang vom Ende

Heute muss ich anfangen zu erzählen, was passiert ist. Wie und warum. Irgendwann muss ich mir ja ein Herz fassen. Ich würde gern eine andere Geschichte erzählen, eine mit Happy End. Und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage. Leider endet unsere Geschichte nicht so.

Eigentlich war alles ganz in Ordnung. Du hattest ab und zu morgens mal gespuckt, kleiner Schmetterling. Ziemlich viel auf einmal sogar. Aber ich hatte ja gelernt: Kinder spucken halt mal nach dem Stillen. Morgens hatte ich immer viel Milch und ich dachte, du hast dich halt überfressen. „Speikinder sind Gedeihkinder.“ Und weil der restliche Tag immer gut war, dachte ich, das sei schon okay so. Bei den U-Untersuchungen sagten sie uns: ab und zu spucken ist normal. Nicht im Strahl, nein? Dann ist alles okay. Das hab ich geglaubt und das Thema in meinem Kopf abgehakt. Im Nachhinein gab es jedoch ein paar Zeichen, dass es dir nicht so gut ging. Du warst nicht so agil wie vorher, mochtest nicht mehr so gern auf dem Bauch liegen, dein Kopf war dir dabei zu schwer. Ich habe mich gewundert und nachgelesen. Bei dem Wachstumsschub, der anstand, ganz normal. Alles in Ordnung, alles in der Norm. Im Kopf abgehakt. Du warst ein bisschen unleidlich. Im Schub alles normal, alles in der Norm. Du hast ab Mittwoch viel gejammert. Nicht geweint, nur so vor dich hin gejammert. Aber du warst auch geimpft worden, also alles normal. Alles in der Norm. Im Kopf abgehakt. Ich habe dich einfach extra viel gekuschelt, du hast im Tragetuch gewohnt und dort warst du zufrieden. Stillen wolltest du nicht mehr viel, aber auch das ist im Schub ja manchmal normal. Du hattest ein gutes Gewicht, 7 kg, alles bestens. Dachten wir. Ich habe sogar einmal gestöhnt und mich beschwert: „Wenn das nicht bald aufhört, werde ich bekloppt“, habe ich gesagt. Wie leid mir das jetzt tut, kleiner Schmetterling! Wenn ich nur gewusst hätte, was du mitmachst und wie tapfer du eigentlich warst. Du musst schreckliche Kopfschmerzen gehabt haben. Aber du hast nie geschrien, du warst so hart im Nehmen. Ich hab dein Gejammer auch auf die Temperatur geschoben. Es war extrem heiß, nicht dein Lieblingswetter. Am Samstag waren wir noch bei deinen Großeltern eingeladen. Du hast zum ersten Mal Mineralwasser probiert, weil es dich so interessiert hat, hast selbst das Glas zum Mund geführt, und deine Reaktion war nicht gerade von Begeisterung geprägt. Am Sonntag dann hatten wir Besuch, wollten Grillen. Nachmittags hast du auf einmal begonnen zu erbrechen. Und hast einfach nicht mehr aufgehört. Als du dann das erste Mal im Tragetuch erbrochen hast, wusste ich: irgendwas ist nicht in Ordnung. Ich habe versucht, dich anzulegen, immer wieder. Habe versucht, dir etwas mit dem Löffel einzuflößen. Absolut nichts hast du bei dir behalten. Du hast richtig gekrampft, mein armer Junge. Ganz laut gewürgt. Es war so schwer, dich so leiden zu sehen. Wir haben dann alles stehen und liegen gelassen und uns auf den Weg ins Krankenhaus gemacht. Mit nichts als ein paar Handtüchern fürs Erbrechen und der Angst im Gepäck. Das war der erste Tag, die erste Stufe auf deinem Weg in den Himmel, mein kleiner Schmetterling. Ich wünschte, ich hätte es verhindern können, aber dein Schicksal war schon besiegelt und keine Macht der Welt hätte es noch ändern können.

Arbeitsdiagnose: Wird schon wieder