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»Verbrechen wollen unterhalten.« Das ist das Motto der Schmunzelmord-Reihe. Und so präsentieren sich die Gauner und Ganoven in den neuen kurzen und längeren Erzählungen nicht blutdürstig, sondern überraschend sympathisch. Überraschend ist auch die Auflösung eines jeden Falles, egal, ob es darum geht, verschwundene Senioren wiederzufinden, ein illegales Straßenrennen auszutragen oder in der Muckibude Testosteron-Junkies abzuzocken. Ab und zu kommt dennoch jemand zu Tode, aber das grämt niemanden. Der Mord am Jagdpächter trifft den Mörder selbst viel härter, und die Witwe eines Rentners ist nach dessen Tod mehr als erleichtert. Nur die ein oder andere Geschichte wurde für einen Wettbewerb geschrieben und hat es dann bei einem Verlag ins Buch geschafft, doch ein Ziel haben alle gemeinsam: durch Originalität und Twists ein spannendes Lesevergnügen zu bereiten. »Ein erfrischender Erzählstil und überraschende Auflösungen garantieren beste Unterhaltung und machen Lust auf den nächsten Fall.« (Schongauer Nachrichten über Schmunzelmord) »Kurzweiliger Lesespaß auch für zwischendurch, aber es wird selten bei nur einer Geschichte bleiben.« (FORUM München Nord über Schmunzelmord)
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Seitenzahl: 256
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Schmunzelmord 2
17 kriminelle Erzählungen
von Michael Kothe
mit einem Gastbeitrag von Rudolf Georg
Verantwortlich: Michael Kothe
© 2022
Inhalt, Text, Lektorat, Layout, Umschlaggestaltung: Michael Kothe,
Text des Gastbeitrags: Rudolf Georg.
Autorenfotos: M.C. Iglesias Allo, Jochen Aleppo Faber
Buchcover: Verlag/Hrsg./Illustrator
Kontakt:
85716 Unterschleißheim, Friedhofstr. 4
Telefon: 0034 744 480 080
eMail: [email protected]
Internet: https://autor-michael-kothe.jimdofree.com
Handlungen und Personen sind fiktiv. Ähnlichkeiten und Namensgleichheiten sind zufällig und unbeabsichtigt. Orte und Straßennamen stehen in keinem realen Zusammenhang mit den geschilderten Fällen. Produkt- und Markennamen sind Eigentum der jeweiligen Rechteinhaber.
Inhalt
Impressum
Toastermord
Kunst und Krempel
Das Erbstück
»Boah ey!«
»Wir haben Ihre Tochter.«
Mathilde
Plätzchen
Das alte Meer und der Mann
Wenn die Katze …
Der Tote am Wasserturm
Tod dem Waidmann!
Tod am Frühstückstisch
Familienbande
Promillefahrt
Fit in Social Media
Der Schwächeanfall
Herbstniesel
Beharrlichkeit (ein Dank und Nachwort)
Über den Autor: Michael Kothe
Über den Autor: Rudolf Georg
»Ja verdammt, dann hab´ ich ihn halt umgebracht. Ich habe mich von hinten an ihn herangeschlichen und ihm das Kabel um den Hals gewickelt. Zweimal. Dann habe ich zugezogen. Mit aller Kraft.« Meine Hände vollführten die Bewegung nach. Ich sank in mich zusammen. Was mein Gegenüber auf der anderen Seite des kahlen Tisches in dem nackten Raum als Vernehmung bezeichnet hatte, war in einem Verhör ausgeufert. Mit laut hervorgestoßenen Forderungen nach meinem Geständnis, schließlich wisse man von meinem gespannten Verhältnis zu meinem Mann, von seinen Eskapaden und Seitensprüngen. Außerdem hinterlasse er mir ja ein Vermögen! Angeschrien hatten sie mich, mir gedroht und mir im gleichen Atemzug Hafterleichterung oder kürzeren Freiheitsentzug versprochen, wenn ich kooperierte. Kaum hatte ich es ausgesprochen, da bereute ich mein Geständnis bereits. Aber ich hatte keine Kraft mehr zu dementieren.
»Na endlich!« Entspannt atmete er auf, gerade in dem Moment, in dem sein Kollege mit zwei Bechern den Vernehmungsraum betrat. »Sie hat gestanden.«
»Ich hab´s mitgehört.«
Natürlich bekam ich von dem dampfenden Kaffee nichts ab.
Auch in der Gerichtsverhandlung half es mir nichts, dass ich wieder und wieder meine Unschuld beteuerte. Er sei stärker gewesen als ich, wie hätte ich ihn dann strangulieren können, ohne dass er mich erfolgreich abgewehrt hätte? Und Frauen bevorzugten ohnehin bei Tötungsdelikten eine indirektere Methode. Gift statt Toasterkabel.
»Ihr Mann war betrunken. Für eine Gegenwehr war er zu langsam, auch erkannte er Ihre Mordabsicht zu spät. Und genau mit dieser indirekten Methode, auf der Sie herumreiten, wollen Sie bloß von sich als Täterin ablenken.« Mit allen Wassern war dieser Staatsanwalt gewaschen! Sein zynisches Grinsen werde ich mein Lebtag nicht vergessen, als er auf den Tisch mit dem Beweismaterial zeigte. Zwischen den zahlreichen Liebesbriefen, die mein Mann seinen Geliebten geschrieben oder die er von ihnen erhalten hatte, seinem Smartphone mit den getippten Liebesschwüren und Verabredungen und den Tankquittungen und Hotelrechnungen, die seine erotischen Wochenenden belegten und die nun als Motiv für meine Bluttat herhalten mussten, stand der Design-Brotröster mit Edelstahlapplikationen. »Wo kam übrigens der Toaster her?«
»Aus dem Versandhandel«, erklärte ich. »Das alte Ding mit seinem vergilbten und angesengten Plastikgehäuse konnte ich nicht mehr sehen. Er kam am selben Tag an, an dem mein Mann ermordet wurde. Im Übrigen nicht von mir! Ich habe den Toaster ausgepackt und auf das Küchenregal gestellt. Danach habe ich ihn nicht mehr angerührt.«
«Aha, also griffbereit hinter den Platz Ihres Mannes! So brauchten Sie nur noch zuzugreifen, sobald er mit seinem wer-weiß-wie-vielten Bier vom Kühlschrank zurückkam und sich wieder gesetzt hatte.«
Meine Verteidigung war schwach, und ich hatte das Gefühl, nicht einmal mein eigener Anwalt glaubte mir. Zumindest schritt er nicht ein, sondern überließ dem Staatsanwalt kampflos das Feld, der mir weiterhin im Brustton der Überzeugung seine Vermutungen entgegenhielt.
»Wir haben das nachgeprüft: Am Toaster und seinem Kabel befanden sich lediglich Ihre Fingerabdrücke. Keine sonst. Was auch kein Wunder ist. In der Fabrik tragen alle Mitarbeiter von der Teileherstellung über die Montage bis zur Verpackung Vinyl- oder Latexhandschuhe.« Er drehte sich um. »Hohes Gericht, da die KTU …«
Mein Verteidiger hatte meinen ratlosen Gesichtsausdruck bemerkt. »Die kriminaltechnische Untersuchung«, raunte er mir zu.
»… am gesamten Gerät samt seiner elektrischen Zuleitung ausschließlich Fingerabdrücke der Angeklagten gefunden hat …« Kurz wandte er sich mir zu, und wieder erschreckte mich sein zufriedener, triumphierender Gesichtsausdruck. »… ist die Beweiskette abgeschlossen. Ich beantrage für die Angeklagte …«
Das Gericht folgte seinem Antrag, und so endete auf lange Sicht mein Leben in Freiheit.
***
Diesem Prolog folgten als Rückblende gut 400 Romanseiten über das Leben einer verurteilten Mörderin. Der erfrischend lockere Schreibstil gefiel mir. Gut unterhalten legte ich das Buch für einen Moment auf meinem Schoß ab, bevor ich von dem Tischchen den Cognacschwenker griff und mich nach einem kurzen Kontrollblick zum knisternden Kamin in meinem Ohrensessel zurücklehnte und weiterlas. »Toastermord« war der autobiografische Debütroman von Martha Brandt, die wegen Mordes an ihrem Ehemann eine langjährige Freiheitsstrafe verbüßte und die sich vor einem halben Jahr kurz nach der Abgabe des Manuskripts an einen Verlag in depressiver Stimmung in ihrer Zelle erhängte. Noch am Tag seines Erscheinens hatte ich mir das Buch besorgt. Von der örtlichen Buchhandlung war es beworben worden und hatte nicht nur mich neugierig gemacht, sondern gleichfalls die gesamte Nachbarschaft. Von der ersten Seite an fand ich es interessant. Obwohl wohlhabend, lebte die Autorin mit ihrem Mann in einer einfachen Etagenwohnung in einem heruntergekommenen Mietshaus. Arbeiten mussten beide seit Jahren nicht, die Mieteinnahmen aus mehreren Eigentumswohnungen und ihrem Bungalow am Stadtrand gewährten ihnen ein großzügiges Auskommen. Ihren Mann hatte sie treffend beschrieben: trunksüchtig und unbeherrscht, ein ungepflegter, ich-bezogener Charakter. Aber mit einem Doppelleben, das sich ihr erst nach und nach offenbarte: Für seine Liebschaften wurde er zum gut gekleideten, weltgewandten Kavalier. Doch war sie besser? Als ständig gereizte, keifende Hausfrau hatte ich meine Tante in Erinnerung. Ihr Erscheinungsbild stand dem meines Onkels in nichts nach. Und die unordentliche Wohnung war ein Abziehbild beider.
Anfangs war ich ihnen dafür dankbar gewesen, dass sie mir die freie Mansardenwohnung in dem Altbau vermittelt hatten, in dem sie wohnten. Mehr konnte ich mir als Berufsanfänger damals nicht leisten. Die Harmonie währte jedoch nicht lange. Zu oft hatten sie sich mit mir angelegt. Meine Tante nicht so häufig wie mein Onkel und auch ohne Körpereinsatz. Dennoch: Nie hatte ich ihnen etwas recht machen können. Entweder war ich im Treppenhaus zu laut an ihrer Wohnungstür vorbeigetrampelt oder ich hatte sie an der Haustür nicht gegrüßt. Ihr Vorwurf, ich hätte alle Werbezettel, die in meinem Briefkasten lagen, einfach in ihren umgesteckt, war genauso unzutreffend wie alle anderen.
An jenem Abend hatte meine Tante bei den Mülltonnen ihre Lieblingsnachbarin getroffen. In Gedanken daran, dass dieser Tratsch wieder Stunden dauern konnte, schüttelte ich den Kopf. Gerade in dem Moment kam mir mein Onkel auf der Treppe entgegen. »Was glotzt du so? Überhaupt, du bist ein richtiges …« Seine Beschimpfung verstand ich nur ansatzweise, zu sehr war ich darauf konzentriert, mich nicht ernsthaft zu verletzen: Er hatte mir unvermittelt beide Hände auf die Brust gelegt und mich rückwärts die Treppe hinuntergestoßen, bevor er an mir vorbeistampfte. Bei Bewusstsein, aber benommen, war ich solange auf dem Treppenabsatz liegengeblieben, bis mein Onkel mit mehreren Flaschen Bier aus dem Keller wieder nach oben schnaufte und in seiner Wohnung verschwand. Die Wohnungstür ließ er offen, schließlich musste Tante Martha auch wieder zurück. In einem plötzlichen Aufbegehren folgte ich ihm, um ihn zur Rede zu stellen; nach den jahrelangen Demütigungen war sein neuerlicher Angriff der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Ihm gegenüber stand ich nun vor dem Küchentisch, als er sich von seinem Stuhl aufstemmte. »Verpiss dich, du Hurensohn!« war nur der Anfang unflätiger Ausdrücke, mit denen er mich belegte.
Als ich meinen Blick von ihm löste, bemerkte ich im Regal hinter ihm etwas verändert: Der alte Toaster mit seinen Brandflecken war verschwunden. An seiner Stelle stand ein neuer. Ausgepackt, aber noch unbenutzt, das Kabel in losen Schlaufen abgelegt. Eigentlich hatte ich ihn nur betrachten wollen, als mein Onkel sich lauthals darüber beschwerte, dass ich hinter ihn getreten war. »Fass da nichts an, du Nichtsnutz. Da hast du nichts dran verloren!« An ein Anfassen hatte ich in dem Augenblick nicht einmal gedacht, aber seine Boshaftigkeit setzte in mir einen Reflex frei: Ich rastete aus, als er mit dem Bierkrug nach mir schlug. Als er sich gleich wieder der Flasche auf dem Tisch zuwandte, um den Krug aufzufüllen, griff ich spontan den Toaster, wickelte das Kabel um seinen Hals und zog die Schlinge zu.
Später hatte meine Tante seinen Fall vom Stuhl auf seinen Alkoholkonsum zurückgeführt und den Notarzt gerufen.
Mein Onkel und meine Tante waren kinderlos gewesen und ich ihr einziger lebender Verwandter. Dank dieses Umstands konnte ich bald das Erbe des Paares antreten. Nach und nach löste ich seinen und meinen Hausstand auf und zog nach Ablauf der Kündigungsfrist in das Haus am Stadtrand. Seitdem lebe ich von den Mieteinnahmen der übrigen Objekte und von den Tantiemen für Tante Marthas Buch. Warum mir niemand auf die Schliche gekommen ist? Wegen der Fingerabdrücke meiner Tante. Auf dem Toaster und dem Kabel hatte ich keine hinterlassen. Ich wurde mit einem äußerst seltenen Gendefekt geboren, der Adermatoglyphie: Mir fehlen die Kapillarlinien an den Fingerkuppen.
Düster reckte sich die Villa über die mannshohe Ligusterhecke, gerade so, als wolle sie beobachten, was auf der anderen Seite im Nachtdunkel vor sich ging. Unbeugsam streckte sie dem Novemberniesel ihren Giebel entgegen. Gerade wie aus Trotz, weil er das gedämpfte Licht, das sich durch die Lamellen der Fensterläden quälte, zur Gänze aufsog. Bei diesem Wetter jagte man keinen Hund vor die Tür, wobei bekanntermaßen niemand im Viertel seinen Hund selbst Gassi führte. Das besorgten tagsüber die Hundesitter. Hätte dennoch jemand hier draußen etwas zu erledigen gehabt, hätte er ohnehin von dem lautstark geführten Disput hinter den Läden nichts mitbekommen. Was die Hecke an Geräuschen nicht schluckte, spülte der Regen beharrlich fort.
»Krempel, Krempel, nicht als Krempel!« Wie immer, wenn Charly erregt war, bildeten sich rote Flecken auf seiner Stirn und seinen Wangen. »Du hattest behauptet, er würde unsere Sore so im Wert hochtreiben, dass wir nicht einmal einen Abschlag für seine Hehlerdienste befürchten müssten. Und nun hast du ihn umgebracht, bevor er …«
»Es war ein Unfall! Er ist ein angesehener Antiquitätenhändler und ein anerkannter Kunstsachverständiger. Da hätte es ihm leicht fallen sollen, unsere Beute zu einem guten Preis abzusetzen. Manchmal macht er das auch über Tauschgeschäfte. Aber als er sagte, ‚Ich hab für euch auf Pferde gesetzt‘ und dabei ironisch grinste, habe ich Rot gesehen.« Die Nasenflügel von Charlys Kumpan bebten und versetzten seine buschigen Nasenhaare in Aufruhr.
»Wenigstens hättest Du ihm noch die Gelegenheit geben sollen, uns zu sagen, wo er den Wettschein deponiert hat! Das ganze Haus haben wir durchsucht und nichts gefunden. Auch sonst nichts von Wert. Das ganze Porzellan in den Vitrinen ... Wenn es wenigsten Meißner wäre oder meinetwegen auch Fürstenberg! Aber was steht auf dem Boden jeden Stücks? ‚Made in China‘! Jetzt stehen wir mit leeren Händen da, und er liegt erschlagen vorm Kamin. Morgen früh haben wir die Polizei auf dem Hals.«
Der mit den Nasenhaaren grinste. »Nee! Wir beseitigen alle Spuren. Den Wettschein finden wir ohnehin nicht, also können wir die Hütte auch abfackeln. Außerdem …« Verschwörerisch beugte er sich zu Charly und sprach mit gesenkter Stimme weiter. »Außerdem kann ich mir vorstellen, wo er den Wettschein versteckt hat. Er hat da noch eine Ferienwohnung. Und die ist ziemlich schlecht gesichert.« Schon kniete er sich neben den Leichnam und richtete ihn so aus, dass eine Hand beinah in die Flammen reichte. Den Zwischenraum überbrückte er mit einem Holzscheit. »Das sollte uns Zeit genug verschaffen. Bis der Ärmel seines Hausmantels Feuer fängt, sind wir über alle Berge.« Befriedigt grinsend richtete er sich auf und stapfte Richtung Haustür. »Was stehst du noch rum, Charly? Willst dich wohl verabschieden?«
»Eher weniger. Dass du impulsiv und unsensibel bist, wusste ich, aber wenigsten bist du auch gründlich. Nur, wenn die Polizei den zerschmetterten Hinterkopf untersucht … wir brauchen noch irgendetwas, womit …« Ein Lächeln flog über Charlys Gesicht, und zufrieden mit seinem Einfall griff er die schwere Porzellanfigur vom Kaminsims und schlug sie dem Verblichenen mit Wucht auf den Hinterkopf. Während er noch klatschend die Hände aneinander rieb, als wolle er die Scherben abklopfen, folgte er seinem Komplizen nach draußen.
Die fahle Morgensonne ließ in dem kleinen Luftkurort die Nebelkristalle weiß glitzern. Der matte Schein, der seinen Weg durch die transparenten Stores fand, ermöglichte Charly und Nasenhaar ihre Suche, ohne dass sie drinnen das Licht hätten anschalten müssen. Am Ende erwies sich die Ferienwohnung als nicht ergiebig. Frustriert und wütend überlegten sie, was sie sich zum Ausgleich für ihren Verlust aneignen könnten, als Nasenhaar Charly abrupt an beiden Schultern packte und hinter einem Sessel auf den Boden zwang.
»Der Zeitungsjunge! Gerade schaut er herüber. Wenn er uns bemerkt, ist der nächste Weg der Polizei von der Villa hierher. Und noch ein Brand wäre verdächtig. Lass uns verschwinden, wenn er außer Sicht ist.«
Lange mussten sie nicht warten, und so fühlten sie sich sicher, als sie kurz darauf unbemerkt durchs Treppenhaus nach draußen schlichen. Nasenhaar hatte beinah den Bürgersteig erreicht, als Charly ihn zurückrief.
»Das musst du gesehen haben! Die Presse ist wirklich auf Zack.« So heftig wedelte er mit der Zeitung, dass sein Kumpan tatsächlich umkehrte. Minuten später saßen sie im Wohnzimmer auf der Couch und studierten aufgeregt die erste Seite des Kreisboten.
Charly wehrte sich nicht, als er die Hände seines Komplizen um seinen Hals spürte. Zuerst, weil er zu überrascht war, um den Angriff ernst zu nehmen, und schließlich, weil er dazu keine Kraft mehr hatte.
Wäre die Nachbarin aufmerksamer gewesen, als sie um 7 Uhr 56 vor die Haustür trat, hätte sie Nasenhaar noch die Straße hinabeilen gesehen. So aber stand sie mit offenem Mund und mit in die Hüften gestemmten Fäusten vor dem leeren Briefkasten ihres Nachbarn und fluchte leise. Eigentlich, so hatte ihr der Eigentümer der Ferienwohnung erlaubt, dürfte sie sich seine Zeitung erst um 10 Uhr holen, so sie denn noch da sei, denn dann sei er nicht anwesend. Sie aber wusste, dass er nicht vorgehabt hatte, diese Woche überhaupt in dem Kurort zu verbringen. Was sie nicht wissen konnte, war, dass Charlys lebloser Körper den Kreisboten vom Tisch auf den Boden gewischt hatte, als er von der Couch sank. Als hätte der Artikel für ihn noch im Tod eine Bedeutung, wies der Zeigefinger seiner erschlafften Hand auf die Schlagzeile der Titelseite und den Aufmacher darunter:
Antiquitätenhändler und Kunstexperte stirbt bei Zimmerbrand.
Nachdem sich in der vergangenen Nacht die Feuerwehr gewaltsam Zugang in eine brennende Villa in der Kreisstadt verschafft hatte, konnte sie den Zimmerbrand schnell eindämmen. Für den Bewohner des Hauses, einen stadtbekannten Preziosenhändler, kam jedoch jede Hilfe zu spät. Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen. Nach ihrer vorläufigen Einschätzung gehen die Brandermittler davon aus, dass der Hausherr Kaminholz nachlegen wollte und dabei mit dem Schürhaken eine schwere Porzellanfigur vom Kaminsims stieß, die ihm den Hinterkopf zertrümmerte. Der Stempel am Boden des zersplitterten Porzellans, einer Pferdegruppe, weist die Buchstaben KPM der Königlichen Porzellanmanufaktur auf. Experten schätzen den Wert des Dekorationsstücks in unbeschädigtem Zustand auf 340.000 Euro.
»Ein Vermögen hatte sie mir versprochen, und nun? Nichts, nada, niente!«
»Deshalb hättest du sie nicht gleich erschlagen müssen.«
»Ich habe …«
Sarah hörte nicht mehr zu. Noch immer stand sie unter Schock. Hannes kannte sie schon länger, seit zwei Jahren gingen sie miteinander. Zu seiner Patentante hatte sie ihn nur begleitet, um ihn notfalls zu bremsen. Sie wusste, wie hitzköpfig ihr Freund war. An dem neuen Auto hatte er einen Narren gefressen, und Tante Hilda sollte ihm heute finanziell unter die Arme greifen. Einen Vorgriff auf sein Erbe hatte er gewollt. Vergebens. Sowohl sein Fordern und Betteln als auch Sarahs Begleitung konnten sie nicht erweichen.
»Sie hat mich abblitzen lassen. Nicht einmal zugehört hat sie mir.«
»Nicht zugehört hast du! Sie hat gesagt, sie hätte nicht so viel. Nicht zu Hause und nicht auf der Bank.« Sarah zog die Nase hoch. »Und nun ist sie tot!«
Sarah stand starr, war unfähig sich zu bewegen. Sie wusste, wenn sie das Wohnzimmer verlassen wollte, kam unweigerlich Hannes‘ tote Tante in ihr Blickfeld. Wie sie da so lag, hingestreckt auf der altmodischen Chaiselongue, den rechten Arm lässig herabhängend wie eine Diva. Es fehlte nur die Zigarettenspitze, die sie immer benutzte. Aber Sarah musste hinaus. Sie schluckte, würgte. Solange, bis es nicht mehr ging und sie mit zugekniffenen Augen zur Tür rannte. Rechtzeitig hob sie die Lider, sah sich einen Schritt von der Tür entfernt und wusste die Verblichene hinter sich. Verzweifelt presste sie die Hand vor den Mund, um es bis ins Bad zu schaffen.
Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, nahm sie mit Erleichterung wahr, dass Hannes so feinfühlig gewesen war, die Husse vom Sessel der Sitzgruppe abgezogen zu haben. Vollständig war seine Erbtante darunter verborgen.
»Na, wie sieht‘s aus?«
»Klasse, nicht einmal die Konturen sind mehr zu erkennen«, lobte sie. »Aber hier …« Sie zog einen Zipfel weiter hinunter, sodass die Kante der Husse nun auf ganzer Länge mit der Teppichkante abschloss. Sie erhob sich und schaute Hannes erwartungsfroh an. »Vielleicht hat sie‘s ja irgendwo versteckt. Sag mir, wo ich suchen soll!«
Das Häuschen war schnell auf den Kopf gestellt. Nur das Erdgeschoss, zwei Zimmer, Küche, Bad. Kein Keller, kein Speicher, keine Garage. Und der kleine Hinterhof war betoniert. Zwar mussten die beiden diaboloförmigen Blumenkübel ebenso dran glauben wie das Sitzpolster der Hollywoodschaukel, aber die ersehnte »Tasche mit den kleinen, gebrauchten Scheinen«, wie Hannes sich ausdrückte, blieb unentdeckt. Auch die alte Porzellandose in der Küche – eine der üblichen Verdächtigen – war leer bis auf zwei schon weiche Kekse.
»Die Echten mit den 53 Zähnen«, stellte Sarah fest.
»Hast du sie etwa gezählt?«
»Nö, aber du kennst doch die Werbung.«
»Hm, ja. – Du, ich hätte nicht übel Lust, hier alles abzufackeln. Und sei es, um der Alten posthum noch eins auszuwischen.«
»Keine schlechte Idee, dann sind auch all unsere Spuren vernichtet. Aber sag mal«, bohrte Sarah, »woher kommt dein Zynismus?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte. Setz dich erst mal, ich hol uns ein Bier.«
Sarah hatte mit dem Rücken zum Sofa gestanden, nun streckte die Hände nach hinten, um sich beim Hinsetzen abzustützen. Mit einem spitzen Schrei fuhr sie auf, fiel beinah vornüber, als sie unter dem Stoff der Sesselhusse den noch warmen Leib der Erbtante spürte. Unwillkürlich fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dann rückte sie einen Sessel so herum, dass sie nun das Sofa hinter sich hatte, als sie Platz nahm.
Von all dem hatte Hannes nichts mitbekommen. Er stand im Türrahmen von der Küche her und hatte zwei geöffnete Flaschen in der Hand. Eine reichte er seiner Freundin, während er mit dem Fuß den zweiten Sessel zu ihr herumdrehte. Das Möbel ächzte, als er sich hineinfallen ließ. So recht wusste er nicht, wie er anfangen sollte. Dann erhellte sich sein Gesicht.
»Tja, herrschsüchtig war sie ja immer schon. – Ich war ein Kind, als meine Mutter starb. Mein Vater war viel unterwegs. Auf Montage. Also zog mich Hilda, äh, Tante Hilda auf. Sie betrieb ihren kleinen Gemüseladen, und nun rate mal, wer in der Erde wühlen durfte und je nach Jahreszeit mal Salat setzte und mal erntete. Genau. Sobald ich aus der Schule kam, wurde ich in Gummistiefel gesteckt und in die Beete geschickt, während meine Schulkameraden Fußball spielten. Als ich älter war und mal mit einem Mädchen hätte ausgehen können, musste ich immer noch kurze Hosen tragen. Weil die nicht so schnell schmutzig wurden, wenn ich in der Erde wühlte. Einen technischen Beruf wollte ich ergreifen, aber sie hat durchgesetzt, dass ihr Gewächshaus als Lehrbetrieb anerkannt wurde, nur damit ich mich weiter für sie abrackerte. Bis man ihr auf die Schliche kam und meine so genannte Lehre für null und nichtig erklärte. Verlorene Jahre, weshalb ich mich endlich auf eigene Beine gestellt habe. Aber mit ihrer Versprechung des Erbes hielt sie mich immer noch an sich gebunden. Nach der Arbeit ging ich ihr regelmäßig zur Hand.«
Sein Mund war trocken, er nahm einen Schluck aus der Flasche.
»Eigentlich hab ich dir nun alles erzählt. Außerdem: Ich habe sie nicht absichtlich erschlagen. An den Schultern habe ich sie gerüttelt, weil sie mir nicht zuhören wollte. Dabei stieß ich ihren Kopf an das wacklige Regal über dem Sofa. Der Bronzepanther ist runtergefallen und hat ihr das Hirn aufgeschlagen. Das erzählen wir der Polizei besser nicht, sondern sagen, wir hätten sie schon tot gefunden.«
»Sei nicht so respektlos! Aber wenigstens bin ich beruhigt. Und was machen wir nun? Dein versprochenes Erbe haben wir ja nicht gefunden.«
»Wir nehmen ein paar Sachen mit, die wir zu Geld machen können. Dann hat sie zumindest teilweise ihren Willen, was das versprochene Vermögen angeht. Und jetzt rufen wir endlich den Notarzt. Wegen der Verletzung wird der die Polizei einschalten, aber sie wird einen Unfall annehmen.«
»40 Euro! Das ist alles? Und davon gehen noch die Standgebühren ab. Was hat eigentlich am meisten gebracht?«
Hannes war enttäuscht. Auf einen sonnigen Tag auf dem Flohmarkt hatte er sich gefreut, wollte mit Sarah einen kurzweiligen Tag in dem Trubel verbringen. Doch hatte ihnen das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht, und sie hatten kaum etwas verkauft.
»Das teuerste Einzelstück? Warte mal!« Sarahs Finger fuhr auf der Liste abwärts. »Am meisten eingebracht hat diese Bronzefigur, der Panther. Der Rest waren Pfennigartikel, und auch die Figur war Nippes. Aber immerhin 15 Euro hat der Typ bezahlt. Hatte sie auch eine geschlagene Viertelstunde lang in seinen Händen hin- und her gedreht. Weißt du was? Lass uns einpacken!«
Schnell fand die Flohmarktware ihren Platz in den Bananenkartons, das Abbauen der Klapptische dauerte keine fünf Minuten.
Sarah ärgerte sich, hatte sie doch fast alles allein machen müssen. Nach dem zweiten Karton hatte sich Hannes verzogen, sie hatte ihn plötzlich nicht mehr gesehen. Nun entdeckte sie ihn auf dem Fahrersitz ihres Kombis. Musste der Kerl jetzt unbedingt lesen, während sie sich abmühte?
»Nett ist das nicht gerade, dass du mir alles überlässt. Auch wenn das Buch spannend ist. Daheim kannst du weiterlesen.«
»Das Buch ist alles andere als spannend.«
Seine Stimme klang weinerlich. Hannes schluchzte, dann blieb seine Stimme für einige Augenblicke ganz weg.
Sarah war nähergetreten, beugte sich nun ins Wageninnere. »Was ist?«
Statt einer Antwort hielt er ihr einen Zettel hin. Geräuschvoll zog er die Nase hoch und sah sie aus verheulten Augen an.
»Das Papier habe ich in dem Buch gefunden, in Tante Hildas Lieblingsroman.«
»Lieber Hannes«, las Sarah, »Dein Leben lang hast Du mir geholfen, und ich habe es Dir nicht immer leichtgemacht. Wenn ich nicht mehr bin, sollst Du aus meinem Nachlass ein besonderes Stück haben, das Dir meine Kinder und Enkel nicht wegnehmen dürfen. Es ist der Art Deco-Panther, den ich auf dem Regal über meinem Sofa stehen habe. Ich bin mir sicher, dass Du die Bronzefigur verkaufen willst. Nach Katalogangaben ist sie über 12.000 Euro wert. …« Sarah las nicht zu Ende. Der Zettel fiel ihr vorher aus der Hand.
»Boah ey!« oder »Münchhausens Schreckensfahrt«
»Scharfe Sache! Was hast du dafür gelöhnt?«
»Ach, das willst du gar nicht wissen!«
»Komm, nun sag schon!«
»Gut zweimal dein Jahresgehalt.«
»Seit ich in die Teppichetage eingezogen bin oder vorher?«
»Seit. Und mit Prämie.«
»Boah ey!« Dieser Spruch, den Hans-Peter aus der Ära der Manta-Filme und Manta-Witze ins Erwachsenenalter herübergerettet hat, drückt alles aus. Anerkennung, ein bisschen Neid, aber noch mehr Freude für Heinz und eine Portion Stolz darauf, mit dem Besitzer dieses Boliden befreundet zu sein. Ein »Wie wär´s mit ´ner Probefahrt?« reißt ihn aus seinem kurzen Tagtraum.
»Klar, aber wie komm´ ich da rein und nachher wieder raus?»
»Der Schuhlöffel liegt im Fußraum. Und raus? Da gab es mal einen, der hat sich an den Haaren aus dem Sumpf gezogen, da wirst du das wohl aus ´nem Auto schaffen!«
Amüsiert über ihre eigenen platten Bemerkungen grinsen beide sich gegenseitig an.
»Wollen wir?«
»Klar, ich leg´ nur schnell noch mein Jackett in den Jaguar.«
Mit sonorem Schnurren rollt der italienische Sportwagen die breite Einfahrt vor dem Luxusbungalow hinunter und rauscht keine 10 Minuten später durch die scharfe Kurve des Zubringers auf die Autobahn. Heinz wirkt locker, Hans-Peter aber weiß, wie konzentriert er in Wirklichkeit ist. Zwar lässt der Verkehr hier noch kein Freilassen der unbändigen Pferdchen zu, aber die linke Spur muss einfach sein. Einige Kilometer später – eine Strecke, die die Geduld der beiden reichlich strapaziert – sind sie fast allein auf der Piste. Eine dritte Spur öffnet sich, die Geschwindigkeitsbeschränkung endet, der Motor hat seine Betriebstemperatur erreicht.
»Nu´ lass laufen! Freie Fahrt für freie Bürger!«
»Hast recht! Solange die Regierung einen noch lässt.«
»Eben. Es kann nur schlimmer kommen.«
Das »Ach so« von Heinz klingt lässig, wird aber Lügen gestraft durch das ironische Lachen, das er nicht unterdrücken kann.
Hans-Peter ist neugierig, was das neue Spielzeug seines Freundes hergibt. Angst hat er nicht. Er ist hohe Geschwindigkeiten gewohnt, als Beifahrer genießt er das exponentielle Ansteigen der Adrenalinkurve. Nervenkitzel wie in der Achterbahn! In seinem Sitz versteift registriert er mit einem Seitenblick auf die traditionellen Rundinstrumente die zunehmende Geschwindigkeit.
»Gleich biegt sich die Tachonadel um den kleinen Stift da unten. Da, wo hinter der 320 die Zahlen aufhören.«
Heinz grinst, dreht das Gesicht seinem Freund zu. »Noch nicht ganz, das kommt aber noch. Wozu habe ich denn ´nen Biturbo, Resonanzauspuff, zwei polierte Nockenwellen und ausgefräste Stirnräder? Übrigens alles eingetragen. Sch…« Ruckartig korrigiert er den Lenkradausschlag, um den Augenblick seiner Unaufmerksamkeit auszugleichen.
»Hape, kannst du bitte mal das Autoradio ausschalten? Es nervt. Die Lautstärke wird geschwindigkeitsabhängig hochgeregelt. Muss ich noch einstellen.«
Mit einem breiten Grinsen beugt sich Hans-Peter in seinem Sitz nach vorn und drückt die »Off«-Taste.
»So ein Armleuchter! Der sieht doch auch, dass der Laster da vorn überholt. Und ich fahr´ hier nicht mehr rechts ´rüber.«
Hans-Peter hört zu, dreht sich in dem Sportsitz so weit nach hinten, wie es geht, schaut durch das schmale Heckfenster. »Porsche 997« kommentiert er. Das Modell erkennt er an den ovalen, schräg liegenden Scheinwerfern, denen die markanten »Tränensäcke« seines Vorgängers fehlen. »Du, der Spoiler! Das muss ´was Besonderes sein. Der normale is´ das nich´.«
»Na und? Deswegen muss er mir nicht am Auspuff nuckeln.«
Die LKW sind überholt, Heinz weicht auf die rechte Spur aus, der Porsche beschleunigt, überholt und zieht vor ihm nach rechts, schneidet ihn.
Heinz fühlt sich provoziert. Das Manöver weckt seinen Jagdtrieb. Er greift das Lenkrad fester, spannt Arm- und Nackenmuskeln an, rutscht mit Rücken und Hinterteil hin- und her, bis er mit dem Schalensitz verschmilzt. Dann tritt er das Gaspedal durch.
Der Italiener macht einen Satz, presst nun auch Hans-Peter an die Rückenlehne. Der winzige Heckspoiler reckt sich ins Freie, der cw-Beiwert duckt sich. Der Motor fühlt sich wohl mit seiner neu gewonnenen Freiheit, endlich darf er zeigen, was in ihm steckt. Die Hufe von 500 Pferden hämmern auf den Asphalt. Das Dröhnen des Mittelmotors erstickt alle anderen Geräusche im Fahrgastraum.
Heinz und Hans-Peter erfasst der Geschwindigkeitsrausch. Der Porsche hat keine Chance, Heinz holt auf, setzt zum Überholen an.
Nur der Tatsache, dass Heinz sein neues Auto noch nicht richtig kennt, verdankt es der Porsche, dass er mithalten kann. Kilometer um Kilometer rasen beide Fahrzeuge nebeneinander her über die autofreie Piste. Fahrer und Beifahrer des 997 schauen nach links zum Italiener hinüber. Grinsend erwidert Hans-Peter ihren Blick.
Heinz hält seinen auf die Fahrbahn geheftet – hunderte Meter voraus. So erkennt er vor dem Porschefahrer das potenzielle Hindernis, einen Lastzug, der immer wieder auf die Mittelspur gerät. Heinz tritt das Gaspedal aufs Bodenblech. »Nur weg von dem Porsche! Wenn wir an dem Lastwagen vorbei sind, hört das Spiel auf. Dann soll der Idiot machen, was er will.«
Der Porschepilot sieht den Ruck nach vorn, erkennt die Gefahr und hat den gleichen Gedanken: vor seinem Konkurrenten an dem LKW vorbei! Er beschleunigt, ist wieder gleichauf.
Seite an Seite preschen beide Sportwagen über die Autobahn. Der Lastzug ist erreicht. Einen halben Meter ragt er in den mittleren Fahrstreifen, in die Fahrspur des Porsche!
Der Fahrer bekommt Panik, weicht nach links aus, touchiert Heinz´ Italiener, prallt nach rechts ab. Zum Glück ist der Lastwagen nun hinter ihm. Aber sein Fahrzeug hat er nicht mehr im Griff. Der Porsche driftet über die rechte Spur auf den Standstreifen und schmirgelt funkensprühend an der Leitplanke entlang, bis er zum Stehen kommt.
»Hast du das gesehen? Das Arschloch hat mir den Außenspiegel abgefahren! Den Kerl krall´ ich mir.« Seine Stimme klingt eine Oktave zu hoch. Im Innenspiegel sieht Heinz, wie der Porsche an Tempo verliert. Er steuert nach rechts, sein Bremsmanöver reibt ein Viertelpfund Gummi in den Seitenstreifen.
Mit der sturen Beharrlichkeit eines Ozeandampfers zieht der Lastzug auf seinem Kurs an Heinz und Hans-Peter vorbei. Seine Hupe dröhnt wie ein Nebelhorn.
Langsam zählt Heinz bis zwanzig, und als er sicher ist, dass die Turbos stillstehen, dreht er den Zündschlüssel auf Stellung »null«. Ein weiterer Blick in den Spiegel zeigt Blaulichter, die sich vom Horizont her unendlich langsam nähern. Ein Polizeihubschrauber landet hinter dem Porsche auf der Standspur.
»Scheibenhonig! Jetzt haben sie uns erwischt. Illegales Straßenrennen.«
Hans-Peter sitzt starr, einzig sein Adamsapfel bewegt sich, hüpft auf und ab, soweit er Bewegungsfreiheit hat. Er selbst berührt das Auto nur an drei Punkten. Seine Fersen haben sich mit einem Fußbreit Abstand in den Veloursboden gegraben, sein Hinterkopf liegt hart an die Nackenstütze gepresst. Stocksteif schwebt sein Körper über dem Sitz, seine Hände hält er, da er in der ersten Schrecksekunde nichts zum Festhalten gefunden hat, immer noch wie zum Gebet gefaltet über der Brust. Er schluckt und würgt. Plötzlich kommt wieder Leben in ihn. Gerade noch rechtzeitig drückt er die Beifahrertür auf und stemmt sich aus dem Sportsitz. Sekunden später übergibt er sich über die Leitplanke.
Heinz spürt sein Herz bis zum Hals pochen. Langsam schält er sich aus dem Auto, verliert beinah das Gleichgewicht. Als er seine Schnappatmung einstellt, wird ihm bewusst, dass er sich mit dem ganzen Gewicht seines Oberkörpers auf dem Fahrzeugdach abstützt. Das hat nichts damit zu tun, dass er mit dem Hintern fast auf der Fahrbahn gesessen hat und seine Füße auf gleicher Höhe waren. Er hat schlicht weiche Knie.
Nun erst hört er das dröhnende Geräusch über sich. Ein zweiter Helikopter bleibt in der Luft und kreist über der Autobahn.
***
Am Abend folgt im Fernsehen auf die Nachrichtensendung eine Sonderberichterstattung. Ein Fernsehteam im Hubschrauber verfolgt zwei Sportwagen, die sich offenbar ein Rennen liefern, das nach einem Rempler abgebrochen wird. Für den Porsche endet es an der Leitplanke, der italienische Renner verlangsamt seine Fahrt und hält weiter vorn auf dem Seitenstreifen. Ein Helikopter landet in unmittelbarer Nähe des Porsche.